Dark Circle von Darklover ================================================================================ Kapitel 10: 10. Kapitel ----------------------- Mit einem Grummeln zog sich Paige das dünne Laken über den Kopf und hielt die Augen noch eine Weile geschlossen. Als sie aufgewacht war, hatte sie flach auf dem Rücken gelegen, ihr Gesicht zum Fenster gedreht. Wenn sie bedachte, wie sehr ihr die Sonne ins Gesicht schien, wollte sie lieber gar nicht wissen, wie spät es schon war. Noch dazu, da sie sich einbildete, Ai vor einiger Zeit gehört zu haben, wie sie aufgestanden war und das Zimmer verlassen hatte. Aber im Halbschlaf hatte man oft ein sehr verschobenes Zeitgefühl. Also konnte das auch nur einige Momente her sein. Fakt war, dass sich Paige allein im Zimmer befand, denn sie konnte ihre Mitbewohnerin nicht hören und im Bad schien sich auch nichts zu rühren. Das passte ihr, wenn sie ehrlich war, gerade auch ganz gut in den Kram. Direkt nach dem Aufwachen wollte sie die Diskussion der letzten Nacht bestimmt nicht weiter führen. Dabei wäre nicht wirklich etwas Konstruktives heraus gekommen. Also lag sie noch eine Weile unter dem Laken, das wie ein Zelt über ihr Gesicht hing und sich bei jedem ihrer Atemzüge ein wenig blähte. Ihr Kopf war einigermaßen leer, wenn sie auch nicht sagen konnte warum. Es hätte mehr als genug Dinge gegeben, die sie hätten beschäftigen müssen. Und doch genoss sie nur den weichen, glatten Stoff, der sich an ihre Haut schmiegte und die Wärme der Sonne, die auf das Bett schien. Am liebsten wäre sie noch einmal eingeschlafen und erst in ein paar Tagen wieder aufgewacht. Oder noch besser, wenn das alles hier vorbei war. Sollte Eisschrank – nein, sollte Ryon – sich doch allein um die Sache kümmern. Ihre eigene Rolle in dem ganzen Durcheinander verstand sie sowieso nicht. Ein paar Male warf sie sich noch von einer Seite auf die andere, versuchte sich einzureden, dass schon jemand kommen würde, wenn man sie brauchte und versuchte trotz immer größer werdender Gewissensbisse wieder einzuschlafen. Als alles nichts brachte, zog sie sich doch das Laken vom Kopf und sah nur mit einem geöffneten Auge auf die große Uhr, die über der Tür zum Badezimmer hing. Es war gerade mal halb zehn. „Oooh man...“ Da jetzt sowieso nicht mehr an Schlafen zu denken war, raffte sie sich hoch, hüllte sich in ihr Bettlaken und stand endgültig auf. Hier im Raum würde sie bestimmt niemand beobachten. Darum war es auch nur zweitrangig, dass sie mitsamt Laken ins Bad schlurfte. Sie hatte einfach schon viel zu lange nicht mehr so gut geschlafen und wollte das Gefühl mit dem Bettzeug noch ein wenig mit sich herumtragen. Sehr seltsam, dass sie gerade hier die ständig nagenden Sorgen ein wenig los wurde. Dabei war sie zuerst davon ausgegangen, dass es sich hier um eine Art Gruselvilla handelte. Wie es aussah, weit gefehlt. Allerdings ging Paige immer noch stark davon aus, dass hier ein paar Geheimnisse im Argen lagen. Mit einem Schulterzucken ließ sie das Bettlaken schließlich fallen und stellte sich unter die Dusche. Nachdem sie sich ordentlich eingeseift und gewaschen hatte, rubbelte sie sich mit einem der weichen Handtücher ab und stellte sich dann vor den Spiegel. Irgendwann in den nächsten Tagen würden ihr ihre Klamotten garantiert zu viel werden. Zu allererst bei Unterwäsche angefangen, würde sie für Ai und sich selbst gern etwas Frisches besorgen. Darauf, dass in diesem Haus auch noch Frauenkleidung zu finden war, konnte man ja beim besten Willen nicht hoffen. Wenige Minuten später schlich Paige durch den Flur. Einfach nur aus dem Grund, dass es überall im Haus – eigentlich wie immer – unglaublich still war. So etwas war sie aus ihrem Viertel überhaupt nicht gewöhnt. Da musste man sich eher mit den dauernden Geräuschen anfreunden, die selbst mitten in der Nacht nicht abrissen. Als sie schließlich die Küche betrat, fand sie nur Tyler vor, der bereits an der Arbeitsfläche stand und vor sich hin werkelte. „Guten Morgen. Schlafen Sie denn nie?“, wollte sie in freundlichem Tonfall wissen und kam auf den Mann zu, der heute blond war und ihr Lächeln erwiderte. Ihre nächste Frage war, ob sie irgendwie helfen konnte, nachdem sie gestern nach dem Abendessen so sang- und klanglos verschwunden war. Paige konnte gar nicht so schnell gucken, wie sie eine Pfanne und einen ganzen Teller voll Speck zum Anbraten in die Hände gedrückt bekam. Mit einem Grinsen nahm sie stillschweigend an, dass Probieren erlaubt war. Er erwachte mit hämmernden Kopfschmerzen und empfindlichen Augen. Man könnte fast schon meinen, dass er einen Kater hatte. Zumindest fühlte es sich teilweise so an. Dass sein Unterbewusstsein vermutlich nur nach Ausreden suchte, um noch länger im Bett zu bleiben, entging Ryon keineswegs. Weshalb er sich folterte, in dem er sich die warme Decke vom Leib riss und nackt ins Bad schwankte. Dort genehmigte er sich erst einmal eine warme Dusche, um den Kopf wieder halbwegs frei zu bekommen. Doch alles woran er denken konnte, war sein heutiges Vorhaben und dass er kurz davor stand, zu kneifen. Nein, noch hatte er niemandem gesagt, dass er auf den Dachboden gehen würde, um sich dort umzuschauen. Also müsste er auch niemanden enttäuschen, wenn er es nicht tat. Außer sich selbst natürlich. Zudem musste er sich eingestehen, dass er ein verdammter Schwächling war, der vielleicht nach etwas aussah, aber was diese Sache anging, alles andere als mutig sein konnte. Verzweifelt lehnte er die Stirn gegen die kalten Fließen und schloss die Augen. Er würde diesen Tag nicht schadlos überstehen und das wusste er. Dennoch konnte er sich dem nicht entziehen, also brachte es auch nichts, sich noch länger unter der Dusche zu verstecken. Wenn er schon leiden musste, dann wollte er es nicht noch mehr in die Länge ziehen. Äußerlich ruhiger denn je, stieg er nach einigen Minuten schließlich aus der Kabine, trocknete sich ab und zog sich frische Sachen an. Inzwischen hatte Tyler den Kleiderschrank gefüllt. Wie der Kerl das immer anstellte, wollte er gerne einmal wissen, aber sicherlich nicht heute. Bevor er sich dazu durchringen konnte, jemanden an diesem Morgen zu begegnen, begab er sich in die Bibliothek und nahm sich viel Zeit dafür, die Bücher wegzuräumen und wieder an ihren Platz zu stellen. Als letztes hielt er den Folianten in den Händen, den Flame zuletzt gelesen hatte. Einen Moment dachte er an gestern zurück und wie sie gedankenverloren auf der Bank vor dem Fenster gesessen hatte. Was ihr da wohl durch den Kopf gegangen sein mochte? Ryon legte schließlich auch dieses Buch zurück und machte sich schließlich auf den Weg in die Küche. Zwar hatte er absolut keinen Appetit, aber es würde auffallen, wenn ein Mann seiner Statur am Tisch fehlte. Tennesseys Strafpredigt wollte er sich auch nicht anhören, erst recht nicht nach dem gestrigen Vorfall. Er würde sich noch bei seinem Freund entschuldigen müssen. Natürlich stieß er als Letzter zur Frühstücksgesellschaft, weshalb sich auch die Blicke aller Anwesenden bei seinem Eintreten auf ihn richteten. Er wünschte nur ein knappes guten Morgen, ehe er sich auf seinen Stuhl setzte und sich eine riesige Portion Kaffee einschenkte. Obwohl er im Augenblick keinen Anlass dazu gehabt hätte, wäre er in diesem Moment am liebsten vom Erdboden verschluckt worden. Er konnte den Doc noch nicht einmal ansehen, geschweige denn den Rest des Quartetts. Eigentlich wollte er niemanden sehen, weshalb er lieber ausgiebig mit dem Omelette auf seinem Teller flirtete. 'Seltsam.', dachte sie bloß wieder, als sie ihr Müsli löffelte und genauso wie alle anderen immer wieder einen prüfenden Blick zu Ryon hinüber warf. Egal, ob sie ihn nun kannte oder nicht, dass er es war, der mit seinem Eintreten gewaltsam die Stimmung auf den Gefrierpunkt gezogen hatte, musste ihr niemand erklären. Es wurde auch auf keinen Fall besser, während er jeglichen Blickkontakt mied und sich aus den ohnehin schon kargen Gesprächen völlig heraus hielt. So interessant konnte sein Essen auch wieder nicht sein. Und genau deshalb konnte Paige gut nachvollziehen, wie es in ihm aussehen mochte. Bloß warum, wusste sie nicht. Keiner würde es ihr verraten, deshalb hielt sie auch lieber den Mund und aß ihr Frühstück. Das Klimpern von Besteck auf den Tellern erstarb nur langsam. Tyler war bereits aufgestanden und räumte ab, während die Anderen noch damit beschäftigt waren, sich den Mund mit einer Serviette abzutupfen oder – in Ryons Fall – den Zustand seiner Fingerspitzen zu überprüfen. Das Klima in der Küche behagte Paige überhaupt nicht. Selbst in ihrer menschlichen Form konnte sie es so schockgefrostet einfach nicht lange ertragen. Daher tat sie das Einzige, das immer zuverlässig eine Reaktion hervor rief. Sie schob ihren Stuhl zurück, stand auf und sah direkt zu Ryon hinüber. „Ich weiß nicht, wie's dir geht, aber ich würde gern weiter kommen. Wieder in die Bibliothek, nehme ich also an?“ Sie war nie davon ausgegangen, dass es eine gute Reaktion sein musste, die sie bekam. Im Nachhinein wusste er noch nicht einmal, was er alles gegessen hatte. Weiter als bis zu dem Omelette reichte seine Erinnerung nicht, danach war da nur ein großes schwarzes Loch. Weshalb er auch wie ertappt zusammen zuckte, als Flame ihn direkt ansprach. Sein Herz begann schneller zu schlagen, während sich sein Puls zugleich beschleunigte. Wusste sie etwas? Ahnte sie es? Warum fragte sie sonst, ob sie wieder in die Bibliothek gehen würden? War das eine indirekte Frage für etwas ganz anderes? Hatte Tennessey ihr etwas über den gestrigen Vorfall erzählt? Allein dieser Gedanke traf ihn wie eine eiskalte Keule in den Bauch, auch wenn er einen Moment später selber zu der Erkenntnis kam, dass er sich nur verrückt machte und seine Gedanken absoluter Schwachsinn waren. Vermutlich war sie einfach nicht sicher, ob er gleich wieder an die Arbeit gehen wollte und fragte lieber noch einmal nach. Sie selbst schien entschlossen zur Tat schreiten zu wollen. Genau diesem Beispiel musste er ebenfalls folgen, wenn er nicht an der Sitzfläche seines Stuhls anwachsen wollte. Ryon stand auf, hob seinen Blick und erstarrte beim Anblick der Diebin. Ihn traf soeben eine weitere erschreckenden Erkenntnis, an die er bisher noch gar nicht gedacht hatte – sie würde auch dort sein… Sein Herz setzte einen Schlag lang aus, ehe es pochend weiter raste. Das war aber auch schon das Einzige, das wieder in die Gänge kam. Ganz im Gegensatz zum Rest seines Körpers. Seine goldenen Augen starrten unverwandt in die ihren, bis er sie schloss, um sich endlich wieder zusammen zu reißen. So konnte das nicht weiter gehen. Er war absolut nicht mehr zu retten, wenn ihn diese Sache nach sieben Jahren immer noch umzubringen drohte. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, den Geistern der Vergangenheit gegenüber zu treten, um endlich damit abzuschließen. Er konnte nicht ewig so weiter machen. Entweder er stellte sich diesen Ängsten oder er ließ es endgültig bleiben und schloss hier auf der Stelle mit seinem Leben ab. So war das nichts Ganzes und nichts Halbes. Er konnte nicht ewig auf einem Fleck stehen bleiben. Entschlossen stellte er sich schließlich erneut dem Blick der Diebin. Während seine schwarzen Augen sie herauszufordern schienen, meinte er äußerlich vollkommen gelassen: „Ich habe die Bücher weggeräumt. Es wäre Zeitverschwendung, noch weiter dort nach Informationen zu suchen. Heute werden wir in der … Galerie unser Glück versuchen.“ Tyler ließ ein Teller fallen, so dass dieser laut krachend auf dem Boden zerschellte, während Tennesseys Kinn auf seine Brust sank und er Ryon fassungslos anstarrte. Ryon ignorierte sie beide, als er sich umdrehte und mit ruhigen Schritten aus dem Raum ging. Darauf vertrauend, dass die Diebin ihm folgen würde. Immerhin war sie es gewesen, die sich wieder ans Werk machen wollte, also sollte sie jetzt bloß nicht trödeln. Der Weg von der Küche aus bis zur Treppe die in die Galerie führte, kam ihm einer Prozession zu seiner Hinrichtung gleich, nur dass das Urteil noch nicht gefällt und der Ausgang dieser Passion noch nicht festgelegt war. Würden seine Gefühle ihn ans Kreuz nageln, oder geschah am Ende doch noch ein Wunder? Er konnte es nur herausfinden, in dem er den Sprung ins Unbekannte wagte. Dennoch zitterten seine Finger, als er die Tür zur Galerie mit einem Schlüssel aufsperrte und den Türknauf herumdrehte. Ryon zögerte. Sein Herz donnerte ihm nun bis zum Hals und das Blut rauschte ihm so laut wie ein Orkan in den Ohren. Er konnte das. Er musste einfach… Die Tür schwang nach innen auf und gab den Blick auf einen hellen, lichtdurchfluteten Raum mit hoher Decke frei. Ryon erkannte ihn kaum wieder. Vorsichtig tat er ein paar Schritte ins Zimmer, während er sich zögerlich umsah. Die Staffelei und die Ölfarben waren verschwunden. Verhängte Bilder in verschiedenen Größen lehnten an der Wand. Kartons und stabile Holztruhen standen geschützt unter großen, weißen Tüchern in den Ecken und ließen dadurch den Raum sogar etwas kleiner wirken, als er für gewöhnlich war. Ryon hatte keine Ahnung, was er nun wirklich erwartet hatte. Aber dieser Anblick zwang ihn nicht in die Knie. Es sah nicht mehr aus wie eine Galerie, in der eine Künstlerin ihrer Inspiration nach ging, sondern war einfach zu einer Abstellkammer geworden. Dennoch, die Sachen unter den Tüchern die sie vor Staub schützen sollten, gehörten definitiv nicht ihm persönlich. Sie gehörten dem Anlass, der seine Brust sich schmerzhaft zusammen ziehen ließ und ihm das Atmen schwer machte. Da Ryon nur zu deutlich wusste, dass er nicht viel Zeit hatte, bis ihn alles wieder einholen würde, ging er zu den gut verstauten Sachen hinüber, zog das weiße Tuch herunter und ließ so unbeteiligt wie möglich einen Blick über die darunterliegenden Gegenstände schweifen, um nach einer einzigen, kleinen Holzkiste Ausschau zu halten. Den ersten Schlag bekam er von einer großen Truhe aus honigfarbenem Holz mit kunstvollen Schnitzereien daran. Es war eine Truhe für die Aussteuer einer Braut. Beim Anblick eines zusammen gefalteten Paravents wurde ihm schlecht und hätte er nicht rechtzeitig, das gesuchte Objekt gefunden und an sich gebracht, die bunte Ecke eines halb verdeckten Gemäldes hätte ihn auch ohne besagten Gegenstand aus dem Raum vertrieben. Im letzten Moment konnte er Flame noch ausweichen, sonst hätte er sie mit der kleinen Holzkiste in den Armen nieder gerannt. Egal für wie bekloppt sie ihn nach dieser kurzen Episode in der Galerie halten würde, er ging trotzdem weiter, ohne auf sie zu warten. Wenn er schon den Inhalt dieser Truhe durchwühlen musste, dann wollte er das in der Bibliothek tun, in der er sich gestern halbwegs normal gefühlt hatte. Nachdem er die Truhe auf den Tisch abgestellt und mehrmals tief durchgeatmet hatte, riss er einfach das Vorhängeschloss ab, da er den dazugehörigen Schlüssel nicht hatte. Danach öffnete er rasch den Deckel, damit er nicht in Versuchung kam, diese Aufgabe lieber Flame zu überlassen, sollte er selbst nicht den Mut dazu aufbringen. Der Inhalt entsprach ungefähr dem, was er erwartet hatte. Schriftrollen, Landkarten, allerhand loser Blätter, ein paar Bücher und ... das Notizbuch. Wenn Ryons Herz schon vorher wie wild gepocht hatte, so schnappte es nun förmlich über, als er nach dem ledernen Einband griff und das Buch beinahe ehrfürchtig in Händen hielt. Da seine Füße nachzugeben drohten, ließ er sich schwer auf das Sofa fallen, während er das kleine Buch in seinen Händen eine ganze Weile einfach nur anstarrte, ohne es zu öffnen. Inzwischen war auch Flame zu ihm gestoßen, weshalb er sich dazu zwang, einen Moment lang, den Gegenstand in seinen Händen zu vergessen und die Frau ihm gegenüber anzusehen. „Wenn es Informationen gibt, dann werden wir sie in dieser Truhe finden.“ Ryon machte sich nicht die Mühe, Flame darüber aufzuklären, weshalb er ihnen nicht schon gestern Zeit erspart und die Truhe geholt hatte. Stattdessen forderte er sie mit einem Blick auf, ruhig zuzugreifen. Er würde ihr sicherlich nicht die Hand abbeißen, solange er dieses Buch in seinen Händen hielt, auf das er nun wieder vollkommen seine Aufmerksamkeit richtete. Eigentlich dürfte er nicht hinein blicken. Sie hatte es stets von ihm fern gehalten, als hätte sie Angst, er würde es heimlich lesen. Was er jedoch niemals getan hätte. Und doch würde er es jetzt tun? Was, wenn das eigentlich ihr Tagebuch gewesen war und ihre Gedanken nicht für ihn bestimmt waren? Ryon kämpfte mehrere Minuten lang mit seinem Gewissen, bis er schließlich einfach den Einband öffnete und ohne Umschweife zu lesen begann. Dabei den heftig aufflammenden Schmerz unterdrückend, der ihm beim Erkennen der feinen Handschrift einholte, bis er schließlich vollkommen erstarrte, während seine Augen wie besessen nicht mehr fähig waren, sich von den Worten los zu reißen. Es waren nicht ihre Notizen. Es war nicht ihr Tagebuch. Stattdessen war es ... für ihn... -Dinge, die ich dir niemals sagen kann … von deiner Gefährtin Marlene- Es tut mir leid, Ryon, dass ich überhaupt damit angefangen habe, in dieses Buch zu schreiben. Immerhin konnte ich dir bisher immer alles sagen, da du der aufmerksamste Zuhörer in meinem Leben bist. Doch seit Kurzem habe ich festgestellt, dass es Dinge in unserem gemeinsamen Leben gibt, die ich dir nicht mitteilen kann, ohne dir das wunderschöne Lächeln aus dem Gesicht zu wischen, das ich so gerne an dir sehe… Manchmal füge ich dir mit einem einzigen Satz Wunden zu, ohne es zu wollen, da ich Zweifel in dir wecke. Dabei gibt es keinen Grund für deine Zweifel. Du bist das einzig Wichtige in meinem Leben. Darum muss ich das hier tun. Weil ich dich liebe und nur das Beste für dich möchte. Da ich es jedoch nicht ertrage, Geheimnisse vor dir zu haben, kam mir die Idee zu diesem Buch. Ich bete dafür, dass die Seiten leer bleiben mögen, doch sollten sie sich nach und nach dennoch füllen, so werden meine Worte nicht verloren sein. Der Zeitpunkt wird kommen, an denen du sie liest. So habe ich es vorausgesehen … danach werden keine Geheimnisse mehr zwischen uns stehen und dieses Buch hoffentlich aufhören, seinen Zweck zu erfüllen… 7. Jänner Ich bedaure es zu tiefst, dass erst drei Wochen vergangen sind, seit ich dieses Buch zum ersten Mal aufgeschlagen habe. Aber gerade eben kommst du von oben bis unten voll geschneit zur Tür herein, mit diesem strahlenden Funkeln in deinen goldenen Augen, das mir inzwischen nur zu vertraut ist. Dabei wolltest du noch Brennholz für den Kamin holen, aber offenbar hast du es auf deinem Weg hier her vollkommen vergessen. Es ist mein Geruch, nicht wahr? Seit gestern kannst du keine Minute lang von meiner Seite weichen. Das ist mir nicht entgangen. Immer wieder treibst du mir die Röte auf die Wangen, wenn du mich mit diesem hungrigen Blick beschenkst. Obwohl ich mir der Auswirkungen deiner Natur sehr genau bewusst bin, kann ich nicht widerstehen. Doch im Augenblick scheinst du dagegen anzukämpfen. Ich sehe ganz genau, wie du den Atem anhältst, oder versuchst, nicht zu oft in meine Richtung zu schauen und dabei kaum fähig bist, die Knöpfe deines Mantels richtig zu öffnen. Deine Gedanken sind ganz wo anders. An einem Ort, an dem wir keine Kleidung benötigen. Gerne wäre ich jetzt ebenfalls dort, um die E-Mail aus meinen Kopf zu bekommen, die ich während deiner Abwesenheit empfangen habe. Anstatt mich sofort davon abzulenken, verschwindest du jedoch gerade in der Küche. Mach mir doch bitte auch einen Kaffee, ja? Mit viel Milch und Zucker, so wie wir ihn beide kennen und lieben. Während du weg bist, muss ich unbedingt los werden, was mich bedrückt, denn spätestens wenn du dicht neben mir sitzt, weißt du, dass etwas nicht stimmt. Ich kann es dir aber nicht sagen. Diese Bürde muss ich alleine tragen. Kylie ist konvertiert. Du kennst sie sicher noch vom Abschlussball auf dem College. Die kleine Dunkelhäutige mit den bernsteinfarbenen Augen und dem feenhaften Aussehen. Sie war unserem Zirkel lange Zeit eine treue Begleiterin während der Zeremonien, bei denen du nicht mitmachen darfst, da du keine Frau bist. Darum weißt du auch nicht, dass wir inzwischen Konkurrenz bekommen haben. Ich weiß, die Menschen halten uns für irgendeinen bekloppten Esoterikverein, aber mir wäre diese Bezeichnung sogar ganz recht, wenn ich wüsste, dass diese andere Gruppe ebenfalls nichts anderes als kräuterfanatische Hexen wären. Aber das sind sie nicht. Ich habe sie in meinen Träumen gesehen. Habe gesehen, dass sie nicht dem Wohle ihrer Mitmenschen dienen, sondern sich finsteren Mächten hingeben. Sie benutzen geopfertes Blut für ihre Rituale, machen sich unsichere Hexen untertan und locken andere magische Geschöpfe mit falschen Versprechungen in die Falle, so wie sie es mit Kylie getan haben. Ich weiß nicht, was mit ihr geschehen wird. Ich weiß nur, dass die Zukunft dieses dunklen Zirkels keine gute ist. Noch bestehen sie aus wenigen Mitgliedern, doch das wird sich schon bald ändern. Ich sehe Bilder von vergangenen Zeiten, kann sie aber nicht richtig deuten. Die Zukunft ist mein Gebiet, weshalb mich die Vergangenheit immer wieder frustriert. Aber eines weiß ich ganz genau. Es hat vor langer Zeit einen Orden von Heilerinnen gegeben, die sich diesen Ausgeburten des Bösen in den Weg stellten. Sie waren es, die das Gleichgewicht erhalten haben, doch was ist aus dieser Zusammenkunft von mächtigen Frauen geworden? Im Augenblick komme ich mir wie ein kleiner verzweifelter Lichtfunke vor, der von einem riesigen Schatten erstickt zu werden droht. Wenn es mir nicht gelingt noch andere kleine Lichtfunken zu finden, wird der Schatten die Oberhand gewinnen und danach kann niemand mehr sagen, wie das für die guten Hexen, ja vielleicht sogar für die Menschen enden wird. Ich habe Angst um unsere Zukunft, Ryon und dennoch lächle ich liebevoll, als du mit zwei dampfenden Bechern randvoll mit Milchkaffee herein kommst. Dein Blick sagt mehr als tausend Worte… 8. Jänner Es ist vier Uhr morgens. Du bist gerade völlig erschöpft eingeschlafen, aber das zufriedene Lächeln kann dir selbst der Schlaf nicht nehmen. Was würde ich nicht dafür geben, das gleiche zu empfinden… Versteh mich nicht falsch, ich bin wund, ich bin gesättigt und körperlich spüre ich immer noch die köstlichen Nachwirkungen deiner Präsenz, aber mein Kopf … der lässt mir einfach keine Ruhe. Kylie hast du mich im Augenblick vergessen lassen, dafür nagt etwas anderes an mir. Was wirst du denken, wenn ich in ein paar Tagen unsere Erwartungen nicht erfüllen kann? Wirst du einfach darüber hinwegsehen und dich in ca. 29 Tagen auf eine weitere Reihe schlafloser Nächte einstellen? Was, wenn ich niemals schwanger werde? Hättest du dann das Gefühl, ich sei unvollkommen, da ich nur ein Mensch bin? Ich kann es nicht sehen, Ryon. Ich kann kein Kind in unserer gemeinsamen Zukunft sehen. Dabei hatte ich bisher nie Probleme mit meiner Gabe. Immerhin wusste ich schon ein Jahr vorher, an welchem Tag genau du mich fragen würdest, ob ich deine Freundin sein möchte und musste alles an Selbstbeherrschung zusammen kratzen, um nicht schon Tage vorher vollkommen außer mir vor Glück über beide Ohren zu strahlen. Oh… Diese Geschichte kanntest du auch noch nicht… 21. Jänner Ich kann es nicht glauben. Sollte ich mich so sehr in meinen hellseherischen Fähigkeiten getäuscht haben? Aber bisher habe ich mich bei keiner einzigen Vision geirrt. Noch nie und trotzdem… Ich bin schwanger! 22. Februar Ich bin der Verzweiflung nahe. Sarah, Michelle, Nicole und Diana sind einfach spurlos verschwunden und jetzt ist auch noch Jessica zu diesem schrecklichen Orden konvertiert. Die Reihen meines Zirkels lichten sich immer mehr. Die Plätze können bei den Ritualen kaum noch ausgeglichen werden. Manche Zeremonien müssen wir sogar ganz ausfallen lassen. Boudicca ist nicht zu stoppen. Diese schreckliche Frau beherrscht nun schon mehr als die Hälfte aller magischen Anhängerinnen. Wenn das so weiter geht, wird es in dieser Stadt keine einzige gute Hexe mehr geben! Was soll ich nur tun? Bald werde ich nur noch alleine da stehen. Unser Zuhause wird nicht mehr sicher sein, denn ich weiß, dass sie es irgendwann auf mich – den letzten Widerstand – absehen wird. Wie kann ich dich und das Baby nur beschützen? Zwar habe ich nichts in diese Richtung gesehen, aber ich mache mir Sorgen darüber, ob sie nicht auch irgendwann auf dich und deine andere Seite aufmerksam wird. Diese Magierin kann Blutlinien lesen, sie wird also schnell herausfinden, dass du von einem mächtigen Kriegerclan abstammst, auch wenn dir das selbst nicht mehr bewusst ist. Deine Vorfahren waren Jahrhunderte lang hervorragende Kämpfer und wenn ich dir so durchs Fell streichle und jeden stahlharten Muskel unter deiner Haut spüre, kann ich mir das nur allzu gut vorstellen, auch wenn ich dich seit dem Sandkasten nie etwas Bösartiges oder Zerstörerisches habe tun sehen. Umso mehr Sorgen mache ich mir um dich. Du bist so friedfertig und mitfühlend. Wirst du auf dich selbst aufpassen können? 15. März Alice ist tot. Meine beste und treuste Freundin wurde gerade grausam ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden. Die Polizei wird behaupten, jemand sei bei ihr eingebrochen und wäre von ihr ertappt worden, weshalb sie sterben musste. Ich kenne die Wahrheit. Ich habe ihren Tod in meinen Träumen gesehen und bin schreiend aufgewacht. So erschrocken habe ich dich noch nie gesehen. Du dachtest, mit dem Baby sei etwas nicht in Ordnung. Es tut mir leid, ich musste dich belügen. Aber es war doch nur ein Alptraum! Wenn auch einer, der am Ende wahr geworden ist. Dennoch erklärt das nicht, weshalb ich so schrecklich weine, nicht wahr? Morgen wirst du es in der Zeitung lesen, mich mit deinen goldenen Augen vorwurfsvoll anblicken und dann in die Arme nehmen, um mich zu trösten, egal, ob ich dich belogen habe oder nicht. Es wird dir nicht wichtig sein. Aber ich weine nicht nur, wegen dem schmerzlichen Verlust, sondern weil ich weiß, dass mit der letzten Verbündeten, auch der Zirkel der weißen Heilerinnen gestorben ist. Boudicca hat es geschafft. Sie hat ihre Gegenwehr zerschmettert. Ich habe versagt, denn nun wird sie hinter mir und allem was mir lieb und teuer ist her sein. Wie kann ich uns nur beschützen? 20. März Mein Glaube an etwas Höheres war in den letzten Tagen stark erschüttert worden, doch nun habe ich ihn wieder gefunden. Meine Visionen sind deutlicher als je zuvor und sie scheinen mich führen zu wollen. Ich begreife zwar nicht, weshalb die Zukunft unserer Familie für mich verschlossen bleibt, doch zumindest wurde mir ein Weg gezeigt, wie ich dich und das Baby beschützen kann. Gestern Nacht erschien mir im Traum eine wunderschöne Frau in weißen Leinengewändern. Sie kam mir seltsam vertraut vor, wie eine Verwandte oder gute Freundin. Sie trug ein wunderschönes Amulett um den Hals, das schwach golden schimmerte. Kaum fiel mein Blick darauf, nahm die Frau meine Hand und legte es auf das Schmuckstück. Es war warm und hatte eine unglaublich beruhigende Ausstrahlung. In diesem Augenblick hatte ich zum ersten Mal seit langem das Gefühl, nichts und niemand könne uns Dreien etwas antun. Als ich erwachte, war es mir, als hörte ich die seltsamen Worte: „The Dark Side of Paris“. Du warst bereits bei der Arbeit, weshalb ich mich sofort an das Notebook gesetzt habe, um dieser Eingebung zu folgen. Ich war selbst überrascht, als ich fündig wurde. Jetzt weißt du, dass ich nicht bei meiner Mutter, sondern in Paris war. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mir diese Lüge leid tut, aber dafür habe ich es gefunden … das Amulett aus meiner Vision! Ein Händler namens Crilin hat es mir förmlich aufgedrängt, dabei hatte ich noch nicht einmal danach gefragt. Wenn ich so darüber nachdenke, war die ganze Reise merkwürdig. Meiner Intuition folgend, fand ich nur zu leicht den Eingang der Anderswelt. Niemand der finsteren Kreaturen, die dort unten wohnten, belästigte mich, meine Füße schienen mich wie magisch vor die Tür des Händlers zu tragen. Ich bin mir sicher, das alles sollte so sein, sonst wäre ich niemals so weit gekommen. Egal was alles in den vergangenen Wochen und Monaten passiert ist, die lichte Seite scheint noch immer ihre Hand über mich zu halten. Darum bleib ganz dicht an meiner Seite, damit auch dir nichts geschieht, mein Geliebter. 24. April Das Baby ist sehr kräftig und scheint ständig in Bewegung zu sein. Die Tage werden wieder wärmer, vielleicht werde ich deshalb so schnell müde. Das rasche Wechseln des Wetters erschöpft mich. Aber wenigstens bist du an meiner Seite, verwöhnst mich von vorne bis hinten und leistest mir Gesellschaft. Ich kann in deinen Augen sehen, wie glücklich du bist und seit du dieses Amulett von mir angenommen hast, fühle auch ich mich beruhigter. Vielleicht ist es nur ein Schmuckstück, ohne irgendein besonderes Talent, aber für mich ist es inzwischen zu einem Talisman geworden. Solange ich es an dir sehe, habe ich das Gefühl, nichts könne dir geschehen. Vielleicht habe ich dich deshalb gebeten, darauf aufzupassen. Damit du es nie wieder ablegst. Und die verzauberte Kette daran, wirst du mir hoffentlich auch irgendwann verzeihen. Aber zumindest kannst du selbst es abnehmen, wenn du es möchtest. Ich wollte nur sicher gehen, dass es niemand stehlen kann. Dafür seid ihr beide mir zu wertvoll… 30. April Boudiccas Anhänger machen die Gegend unsicher, sind bisher aber noch nicht auf unser Grundstück gestoßen. Die Verschleierungszauber halten also stand, obwohl ich sie nur noch ganz alleine errichten konnte… Ist es falsch, mich ab und zu einsam zu fühlen, obwohl du kaum von meiner Seite weichst? Ich vermisse meine Freundinnen, den Zirkel und die stärkenden Rituale unter dem aufgehenden Vollmond. Selbst das Malen gibt mir nicht mehr den Elan zurück, wie es früher einmal gewesen war. Dir ist das bereits aufgefallen, nicht wahr? Versuchst du mich deshalb immer wieder zum Malen zu bringen, in dem du dich mir samt Fell vor die Füße wirfst und dich posierend räkelst? Dabei weißt du doch genau, dass ich nur mit der Komposition von Farben arbeite und dich niemals so perfekt auf die Leinwand bringen könnte, wie ich dich mit meinen Augen sehen kann. Niemand der meine Bilder ansieht, würde je Ähnlichkeit mit den Modellen erkennen. Aber solange man die Gefühle beim Betrachten begreifen kann, ist das für mich auch nicht wichtig. 14. Mai Ich weiß jetzt, warum unsere gemeinsame Zukunft für mich stets verhüllt bleibt. Ich ahne es und bete doch jeden Tag dafür, dass es sich nicht bewahrheiten möge… 30. Mai Die Verschleierungszauber verstärke ich nun jeden Tag und seit heute habe ich damit begonnen eine magische Barriere um die Mauern des Grundstückes zu ziehen. Das alles schwächt mich, doch mir bleibt keine andere Wahl. Boudicca erlangt mehr und mehr an Macht. Nicht mehr lange und sie könnte auf dich aufmerksam werden. Das kann ich nicht zulassen… 12. Juni Heute hast du mich gedrängt, zu einem Arzt zu gehen. Bisher hast du es immer akzeptiert, dass ich nicht auf die moderne Medizin vertraue, sondern nur auf meine eigenen Fähigkeiten, aber natürlich ist dir nicht entgangen, dass ich Gewicht verloren habe. Dr. Tennessey ist nett und hat mich untersucht, obwohl ich ein einfacher Mensch bin. Normalerweise ist er für übernatürliche Wesen zuständig. Er meinte, dass eine Schwangerschaft wie meine nicht sehr oft vorkommt und ich mich besonders schonen sollte. Mit dem Baby ist aber alles in Ordnung. Es wächst rasch und entwickelt sich gut. Ich werde dir nicht sagen, dass es ein Mädchen wird. Sonst baust du am Ende das komplette Kinderzimmer neu um, nur weil es nicht extra auf ein Mädchen abgestimmt wurde. Ich liebe das Zimmer und besuche es immer, wenn du einmal nicht da bist. Ich weiß, das Zimmer sollte eine Überraschung für mich werden, aber ich wollte nicht bis zur Geburt warten… 21. Juli Dank dir liege ich nun meistens faul herum und lasse mich von Tyler bedienen. Ich protestiere zwar jedes Mal, aber nur, damit du dir keine Sorgen machst. Denn in Wahrheit kann ich nicht mehr genug Ruhe bekommen. Ich fühle mich geschwächt, erneuere aber immer noch einmal in der Woche die Schutzzauber. Je näher der Tag von Valerias Geburt heran rückt, umso dringender habe ich das Gefühl, wie wichtig diese Zauber sein werden. Gefällt er dir? Der Name unserer Tochter meine ich. Wie du wahrscheinlich schon selbst darauf gekommen bist, ist das der Name deiner Urgroßmutter. Sie muss nach Tylers Erzählungen eine bemerkenswerte Frau gewesen sein. Schon seltsam. Wie lange lebt ein Formwandler eigentlich? 29. August Zum ersten Mal in meinem Leben bereue ich es tatsächlich nur ein Mensch zu sein. Hätte ich nur etwas von deiner Stärke, mein Geliebter, ich würde dir nicht solche Sorgen bereiten. Nun bin ich gezwungen, dich permanent über meinen Zustand anzulügen. Selbst Dr. Tennessey erkennt noch nicht, was ich inzwischen mit Gewissheit weiß… Es tut mir leid, Ryon. So unendlich leid… 5. September Heute Nacht besuchten mich in meinen Träumen die Frauen meiner Blutlinie. Sie wachten an meinem Bett und wenn ich die Augen schließe, kann ich ihre Anwesenheit immer noch spüren. Es wird langsam Zeit. Ich weiß es. Ich fühle mich sicher in deinen Armen. Dein Herzschlag ist wie ein Schlaflied für mich… Ich möchte noch etwas schlafen… 8. September Ich bin froh, dass du meine Tränen nicht sehen kannst. Bin froh, dass du noch nicht den Schmerz fühlst, den ich nun nicht mehr länger leugnen kann. Aber er wird kommen, nicht wahr? Ich bin deine Gefährtin, ich weiß, was das für dich bedeutet. Darum quält es mich nur noch mehr. Ich wünschte, ich könnte dir den kommenden Schmerz nehmen, denn du wirst mich vermissen. Das machst du mir jeden Tag, mit jedem Blick, jedem Lächeln, jedem Kuss und jeder zarten Geste klar. Ich bin dein Leben… Warum werde ich nur dazu gezwungen, es dir zu entreißen? Warum tun die Götter dir das an? Wieso haben sie dich mit einer menschlichen Frau wie mir gestraft? Warum konntest du nicht jemand anderen lieben? Warum musste ausgerechnet ich es sein? … Dennoch kann ich es nicht bereuen, dir damals im Sandkasten die Plastikschaufel auf den Kopf gehauen zu haben. - Schade, dass du nicht sehen kannst, dass ich selbst jetzt noch darüber lachen kann… 14. September Bin müde und schlafe eigentlich nur noch. Dr. Tennessey war kurz hier und hat dir geraten, mich ins Krankenhaus zu bringen. Gerade packst du meine Sachen ins Auto. Ich werde sie nicht brauchen… 15. September Die Wehen haben eingesetzt. Ich kann vor Schmerzen kaum noch denken, dabei ist es nicht mein Körper der schmerzt, sondern mein Herz. Du bist gerade bei Dr. Tennessey, der dich über meinen schlechten Zustand aufklären wird. Kaiserschnitt. Etwas anderes wird ihm nicht übrig bleiben, um Valeria zu retten. Der Gedanke tröstet mich etwas, dass du nicht ganz alleine sein wirst. Er hat mich in den letzten Tagen aufrecht gehalten, ansonsten wäre ich schon längst am Boden zerstört gewesen. Meinen bevorstehenden Tod kann ich akzeptieren, aber dass du dadurch leiden wirst, ist für mich die pure Hölle… Ich liebe dich. Wieso muss ich dir nur so weh tun? Bitte Valeria, bitte pass auf deinen Vater auf. Sorge dafür, dass er anständig isst, dir immer eine Gutenachtgeschichte vorliest und schnell wieder glücklich wird. Ihr beide werdet für immer mein Leben bleiben, doch ihr zwei werdet ein neues Kapitel in eurem Leben aufschlagen. Sorgt für einander und denkt ab und zu an mich, aber lasst euch eurer Glück nicht nehmen. Das ist das Einzige, das ich mir für euch wünsche. Den Rest schafft ihr auch alleine. Ganz bestimmt. Ich liebe euch, meine beiden Herzen. Ich liebe euch... Ein Tropfen fiel auf das letzte Wort, das ihre Handschrift trug und ließ die Tinte leicht verschwimmen. Kurz darauf folgte ein weiterer und danach noch zwei, die dazu beitrugen, diese letzte beschriebene Seite mit Flecken zu übersähen. Das Buch fiel aus Ryons kraftlosen Händen. Verursachte auf dem dicken Teppich jedoch kaum ein Geräusch. Er hätte es ohnehin nicht hören können. Er war wie betäubt. Nein, mehr als das. Er stand vollkommen unter Schock. Erst als seine schmerzenden Lungen ihn dazu zwangen, das Atmen wieder aufzunehmen, begann er zu zittern. Zuerst leicht, dann stärker, bis sein ganzer Körper förmlich bebte und er sich langsam wieder spüren konnte. Mit dem zurückkehrenden Körpergefühl kehrte auch der Rest erneut zurück. Ryon kam taumelnd auf seine schwachen Beine, ehe er sich die Hand vor den Mund schlug und aus dem Raum stürmte. Er kam ungefähr zwei Topfpflanzen weit, bis er sich heftig würgend übergab und sein Verstand anschließend die Notbremse zog. Er brach bewusstlos zusammen. Paige kam sich ein wenig so vor, wie an dem Tag, als er das erste Mal in ihrem Leben aufgetaucht war. Von dem Zeitpunkt an, als er sie mit seinen goldenen Augen beinahe so angeflammt hatte, wie sie ihn körperlich noch vor zwei Tagen, war sie still geworden. Oft sah man es nicht, aber Paige war keinesfalls jemand, der immer über den Gefühlen anderer stand. Und dass hier gerade irgendetwas kurz vorm Explodieren stand, was viel zu lange gegoren hatte, machte nicht nur der Teller klar, dessen winzige Scherben bis zu ihren Füßen gespritzt waren. Zwischen dem Heiß und Kalt, das Ryon seiner Umgebung aufzwang, wusste Paiges Körper nicht, ob er frieren oder schwitzen sollte. Daher entschied er sich für leichtes Zittern und ein ungutes Gefühl, das sie fast aus der Haut fahren ließ. Wie damals folgte sie ihm so unauffällig wie möglich. Mit Argusaugen behielt sie seinen breiten Rücken im Blick, während sie ihm in einen Teil des Hauses folgte, den sie noch nicht gesehen hatte. Es musste nicht weit zur Bibliothek sein, aber das war nur eine Schätzung. Sie sagte nichts, als er in dem Studio, in dem verhangene Bilder wie Reliquien an den Wänden lehnten, nach irgendetwas kramte. Als er sie beinahe umzurennen drohte, tat sie einfach einen Schritt zur Seite und ließ ihn durch, um dann ordentlich die Tür hinter sich zu schließen, abzusperren und Ryon zu folgen. Im Gegensatz zu sonst bewegte er sich so laut, dass sie damit keine Mühe hatte. Die Schätzung war also goldrichtig gewesen. Paige kam in der Bibliothek an, wo er gerade die Kiste geöffnet und sich mit einem kleinen, ledergebundenen Band auf das Sofa gesetzt hatte. Sie solle sich an den Sachen in der Holztruhe bedienen, irgendwelche Hinweise suchen, von denen er sicher wusste, dass sie da waren. Hielt er sie für so dumm? Er wollte allein sein. Nicht gestört werden bei der Lektüre dieses Buches, das er in den Händen hielt, als könne es jeden Moment zu Staub zerfallen. Und er gleich mit. Je länger sie dort stand – unbeweglich und wachsam – desto stärker wurde das leise Zittern in ihrem Körper. Die Atmosphäre kühlte ab, um dann bloß noch stärker auf sie einzuschlagen. Am liebsten wäre sie aus dem Raum gegangen, aber irgendetwas hielt sie fest. Es fühlte sich so ähnlich an wie damals, als sie den Mann beobachtet hatte, der ein paar verschnürte Müllsäcke in eine Seitenstraße getragen hatte. Viel zu groß, um irgendwelchen alten Hausrat zu enthalten. Etwas hatte sich darin bewegt. Schon damals hätte Paige sich umdrehen und gehen können. Genauso wie heute, hatte sie es auch damals nicht getan. Denn er hatte sie nicht gebeten zu gehen. Sie sah das Buch fallen, hörte allerdings keinen Aufschlag. Die Tränen auf seinen Wangen, die ihm aus den goldenen Augen liefen, waren sehr viel wichtiger, als ein Buch aus einer alten Truhe. Wie in Zeitlupe trat sie ihm wieder aus dem Weg, als er an ihr vorbei aus der Bibliothek stürmte. Sie drehte sich um, noch bevor sie ihn würgen hörte und war in einem Sprint rechtzeitig bei ihm, um seinen Fall ein wenig abzufedern. Sie stürzten beide, doch Paige hatte hoffentlich dafür gesorgt, dass er sich nicht wehtat. Es war nicht leicht, ihn ein Stück auf ihr Bein zu ziehen, damit sie prüfen konnte, ob er atmete. Mit ihrem Ärmel wischte sie ihm das Gesicht um den Mund herum sauber und hielt ihn dann einfach nur fest und wiegte ihn ein bisschen in ihren Armen. Niemals hätte sie gedacht, dass dieser Mann so zerbrechlich aussehen könnte. Sie war nicht lange so dort gesessen, bevor Tyler und Tennessey mit Ai im Schlepptau angestürmt kamen. Den dumpfen Aufschlag hatte man wohl durchs ganze Haus hallen hören. Noch immer blieb Paige still, als man ihr Ryon abnahm und sie es zu dritt mit vereinten Kräften schafften ihn in sein Zimmer zu bringen. Bei dem geschäftigen Treiben, das seine Freunde veranstalteten, kam sie sich in kürzester Zeit überflüssig vor und schloss leise die Tür hinter sich, als sie sein Zimmer verließ. Als sie hoch blickte und Ais Blick traf, zeichnete sich ein mitleidiges Lächeln auf ihrem Gesicht ab. „Keine Ahnung, was passiert ist. Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass ihm die Vergangenheit gerade sein Innerstes nach außen gekehrt hat.“, beantwortete sie die stumm gestellte Frage und ging dann mit Ai in ihr eigenes Zimmer, um die Spuren der Geschehnisse zumindest aus ihrem Oberteil zu waschen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)