Dark Circle von Darklover ================================================================================ Kapitel 6: 6. Kapitel --------------------- Schweigend ging Ryon voraus, drehte sich dabei kein einziges Mal um, um nachzusehen, ob sie ihm folgte, sondern behielt seinen Blick stets auf seine Umgebung gerichtet. Er musste sich nicht vergewissern, ob die Diebin immer noch hinter ihm war, denn auch wenn sie ziemlich lautlos sein konnte, so wusste er doch, dass sie sich immer noch in seiner Nähe befand. Nicht etwa, weil er sie wittern konnte, sondern weil sie selbst keine andere Wahl hatte. Sie wollte zu ihrer Freundin. Er konnte sie zu ihr bringen. Bei dem schwarzen Sportwagen in der Nähe des Eingangs angekommen, ließ er sich fast schon etwas zu schnell auf den Fahrersitz gleiten und kaum, dass die Diebin die Tür zu gemacht hatte, startete er auch schon den Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen los. Das hatte nichts mit Angeberei zu tun, sondern viel mehr mit dem intensiven Brennen in seinem Arm, den er in seinem Schoß abgelegt hatte. Zum Glück fuhr er Automatik, sonst wäre das Schalten und Fahren mit nur einer Hand schwierig geworden. Kaum aus der Stadt raus, fuhr er weit über jede Geschwindigkeitsbeschränkung hinaus, machte sich aber keine Sorge darüber, von irgendwelchen Polizisten angehalten zu werden. Das taten sie nie. Trotz des halsbrecherischen Tempos dauerte die Fahrt mehr als eine Stunde, doch schließlich bog er an einer unscheinbaren Straße in einen noch unscheinbareren Waldweg ein. Hier musste er wieder gemächlicher fahren, da der Untergrund aus glatt gepresstem Kies und Schotter bestand, wie es bei den meisten Waldwegen in der Gegend der Fall war, um die Forststraßen für die Lastwagen gut befahrbar zu halten. Das erste Gattertor öffnete sich noch wie bei einer Garage auf Knopfdruck, sah dabei aber recht unscheinbar aus, als wäre es schon seit Ewigkeiten Wind und Wetter ausgesetzt gewesen. Danach hielt Ryon den Wagen vor einem wuchtigen Eisentor an, das von dicken Steinmauern umschlossen war und das ganze Grundstück umzäunte. Sicher war sicher. Dahingehend hatte er noch nie mit sich reden lassen. Die Nachtluft war kühl und erfüllt von den köstlichsten Düften des Waldes, als er das Fenster öffnete, um sein Gesicht der Kamera in einem verborgenen Winkel zu zeigen. Kurze Zeit später konnte es weiter gehen. Trotz der Sicherheitsmaßnahmen war die Fläche innerhalb des Schutzwalls noch immer riesig groß und fast zur Gänze mit Waldfläche bedeckt, weshalb es noch weitere Minuten dauerte, bis er den Wagen endlich in der Einfahrt abstellte. Fast überall in dem 450 m² großen Haus brannten die Lichter. Auch die Einfahrt war von kleinen Solarleuchten erhellt, die in einem sanften Orange glühten. Ryon wusste, die Lichter würden dem Weg bis in den Garten und dann anschließend zu dem kleinen See folgen. Er selbst hätte sie nie nötig gehabt, da er auch bei schwarzem Mond perfekt sah. Aber wie man ihm einmal gesagt hatte, war nicht nur reiner Nutzen der Sinn und Zweck dieser kleinen Lämpchen, sondern auch, weil es einfach nur schön aussah. Wie hätte er da widersprechen können? Jetzt jedoch stieg er ohne Umschweife aus und ging auf den überdachten und mit Weinstöcken umrankten Eingang zu. Schon öffnete sich die Tür und Tyler kam in Form eines jungen stillen Mannes mit rötlichem Haar und Sommersprossen heraus. Ryon sagte nichts zu seinem Butler und engen Freund, obwohl er dessen Aufmachung etwas seltsam fand. Normalerweise zog er eine ältere Gestalt vor. Denn auch wenn Tyler ganz und gar wie ein Mensch aussah, so war er es doch absolut nicht. Das nannte Ryon einen echten Gestaltwandler. Tyler konnte sich wirklich in jede beliebige Person jedes beliebigen Alters und Geschlechts verwandeln. Sehr praktisch, manchmal aber auch verwirrend. „Wie ich sehe, hast du einen weiteren Gast mitgebracht. Soll ich schon einmal das zweite Gästezimmer herrichten?“, wollte Tyler ohne Umschweife wissen. Er war zuverlässig, korrekt, aber nicht immer höflich, wenn es um gesellschaftliche Gepflogenheiten ging. Selbst wenn es nur so etwas wie ein einfaches ‚Hallo‘ war. Ryon drehte sich zum ersten Mal seit der langen Autofahrt zu seiner Begleitung um und schüttelte dann den Kopf. „Nein, ich denke du bringst sie am besten gleich zu der werdenden Mutter.“ Während Ryon sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern würde. Die Diebin würde ohnehin nicht unbemerkt vom Grundstück kommen und es bestand noch immer die Hoffnung, dass sie wenigstens über Nacht hier zu halten war, wenn sie sah, dass es ihrer Freundin gut ging. „Wo ist Tennessey?“ „Sitzt in deinem Büro und schreibt seinen Bericht. Soll ich ihn nachher zu dir schicken?“, fragte Tyler mit einem leicht schelmischen Lächeln, weil er sich die Frage natürlich ohnehin sparen konnte. Er sah auch so, dass Ryon ärztliche Hilfe gerade bevorzugen würde. Allerdings schien er nicht gerade viel Mitleid mit seinem Herrn zu haben. Was auch nichts Neues war. Jeder in diesem Haus, der Ryon kannte, wusste, sofern er sich noch auf seinen eigenen Füßen ins Haus schleppen konnte, war alles nicht weiter schlimm. Er würde schon wieder werden. „Nein, nicht nötig.“ Da er ohnehin in die Richtung musste, in der sein Büro lag, konnte er das auch gleich selbst erledigen. „Gibt es irgendwelche Einwände, wenn du einfach mit Tyler mit gehst und er dich zu deiner Freundin bringt?“, fragte er schließlich aalglatt wie immer, an seine Peinigerin gewandt. Bestimmt war sie froh, wenn er sich für eine Weile verzog, denn er konnte auch nicht gerade etwas Besseres von ihr behaupten. Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wo genau sie hier gelandet war. Eins wusste sie mit Sicherheit, nämlich dass sie sich alles Andere als wohl bei der Sache fühlte. Schon als sie in das Waldstück eingebogen waren, hatte Paiges Körperabwehr die Führung übernehmen wollen. Wie ein Haufen Ameisen kribbelten die Schuppen unter ihrer Haut, um hervorzubrechen. Allerdings äußerte sich der Kampf in Paiges Innerem nach außen nur dadurch, dass sie in dem harten Schalensitz des Sportwagens hin und her rutschte und ihre Füße fest gegen den Boden stemmte. In dem winzigen Gefährt fühlte sie sich sowieso mehr als nur eingesperrt mit diesem durchgeknallten Typen an ihrer Seite. Bestimmt hatte sie durch ihre unterdrückte Angst mehr Kalorien verschwendet, als sie normalerweise an einem Tag zu sich nahm. Zumindest jetzt hatte Eisschranks glatte Art etwas Gutes. Nicht einmal während der Fahrt sprach er sie an oder schenkte ihr auch nur einen Blick. Ganz im Gegensatz zu Paige selbst, deren Augen an dem Fremden klebten und gleichzeitig versuchten sich zu orientieren. Wenn sie fliehen musste – es überhaupt konnte – würde sie den Weg nach Hause finden müssen. Jetzt stand sie aber erst einmal mitten in einem ihr unbekannten Gebiet auf einem Grundstück herum, das von allen Seiten von dichtem Wald umschlossen war. Für die Verhältnisse von der World Underneath war das kein Haus, was vor ihr aufragte, sondern ein Palast. Es war riesig und mit seinem Garten, der gepflegten Einfahrt und den beleuchteten Wegen hatte es für Paige schon fast etwas Märchenhaftes. Womit sich ihr die Frage aufdrängte, warum Eisschrank in dieser halb herunter gekommenen Wohnung bei ihnen im Untergrund gewohnt hatte. Warum nicht hier, wo es schön war? Immerhin schien der Mann, der ihnen aus der Tür entgegentrat den Riesen zu kennen und so, wie sie sich unterhielten, drängte sich sogar der Gedanke auf, dass Eisschrank der Besitzer dieses Hauses war. Er hatte ein Büro? Paige stellten sich sämtliche Härchen auf, als sie daran dachte, was sich hinter der schönen Fassade des Gebäudes verbergen mochte. Immerhin hatte sie dem Kerl einen Tag lang hinterher spioniert. Und was sie mitten in der Nacht gesehen hatte, drängte sich ihr jetzt sehr stark ins Gedächtnis. Ihre blühende Phantasie ließ sie an Käfige denken. Räume, in denen Wesen hier, weit ab von der Zivilisation, gequält wurden. Beinahe wurde ihr schlecht bei dem Gedanken, dass Ai irgendwo da drin war. Die emotionslose Stimme von Ais Entführer ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken. Mit unverhohlenem Misstrauen sah sie zwischen ihm und dem kleinen Rothaarigen hin und her. Sollte der jetzt etwa Eisschranks Drecksarbeit erledigen? Na gut, mit dem würde sie nach seinem Herren locker fertig werden, wenn es denn sein musste. Und an der Tatsache, dass sie in dieses Haus musste, gab es leider nichts zu rütteln. Also nickte sie nur kurz, schob sich den Rucksack auf die Schultern und kam ein paar Schritte auf den jungen Mann zu, der sie begleiten sollte. Dem Eisschrank entging sicher nicht, dass man an jedem ihrer Schritte die Bereitschaft zu Flucht oder Kampf ablesen konnte. Je nachdem, was sie erwarten würde. Aber in die Falle würde sie ihm sicher nicht gehen. Selbst wenn sie dem Rothaarigen direkt in die Höhle des Löwen folgte. Drinnen sah es nicht weniger beeindruckend aus als draußen. Hätte sie es sich erlaubt, wäre Paige mit vor Staunen offenem Mund durch die Gänge und Zimmer gelaufen. Sie hatte so etwas noch nie gesehen, geschweige denn hatte sie je ein derartiges Haus betreten. Selbst bei ihren Raubzügen war ihr nichts derart Prunkvolles untergekommen. Ein paar schöne Penthäuser, Hotelsuiten, die doppelt so groß waren wie ihre Wohnung, aber das hier schlug alles um Längen. Scheiße, wenn sie nur eines der Bilder hätte klauen können, wären sie und Ai für Monate versorgt gewesen. Und sie hätte Ai endlich etwas Anständiges zu Essen kaufen können. Paiges Gesichtsausdruck wurde finster. Seit ihrem Ausbruch in dem kleinen Bad waren ihr Eisschranks Worte nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Was sie am meisten wurmte war, dass er Recht hatte. Ai hätte so viel mehr gebraucht, als Paige besorgen konnte. Selbst mit Doppelschichten im Fass und ihren gelegentlichen Diebstählen, konnte sie für die Schwangere nicht ordentlich sorgen, wenn sie selbst überleben wollte. Und dennoch hatte er kein Recht ihr das an den Kopf zu werfen! Mit ihrem inneren Zwiegespräch so beschäftigt, hatte sie gar nicht gemerkt, dass der Mann vor ihr stehen geblieben war. Erst als sie beinahe auf ihn auflief, machte sie wie angewurzelt Halt. Der Rothaarige lächelte und öffnete ihr eine große, dunkle Holztür, hinter der Paige warmes Licht erkennen konnte. Zögernd trat sie ein und hätte als nächstes am liebsten vor Freude losgeheult. In der Eingangshalle blickte Ryon den Zweien noch einmal hinterher. Er war besorgt darüber, ob das Haus wirklich vor Flames Gefühlsausbrüchen sicher war, aber diese Frage beantwortete sich natürlich selbst. Weswegen er nur hoffen konnte, dass sich die beiden Frauen gegenseitig etwas beruhigen würden. Er selbst ging nicht die Treppe zu den Schlafzimmern hoch, sondern durchquerte die Eingangshalle, um auf die andere Seite des Hauses zu gelangen. Alles sah noch immer so aus, wie er es vor langem verlassen hatte. Die Topfpflanzen waren gewachsen und größer geworden, aber das war auch schon alles an Veränderung gewesen. Bestimmt waren inzwischen die jungen Obstbäume, die er selbst gepflanzt hatte, ebenfalls heran gewachsen, genauso wie der Rest des Gartens. Zumindest was die vielen Kräuter anging. Gemüse würde Tyler sicherlich nicht angebaut haben, wenn sonst niemand hier war. Das passte auch nicht wirklich zu dem Formwandler. Mit den Augen eines Fremden, musste die Einrichtung des Hauses wie aus einem Hochglanzmagazin für Innenausstattung erscheinen. Was vor allem wohl daran lag, dass es hier nichts Persönliches mehr gab. Keine Fotos, Lieblingsgegenstände, oder sonst etwas, das ein Zimmer erst so richtig gemütlich gemacht hätte. Natürlich, es war von allem das Feinste. Nur das beste Holz, die besten Stoffe und Materialien, aber ohne persönliche Dinge, würde es einem immer fremd erscheinen. Genau dafür hatte Ryon sorgen wollen. Es hingen auch so schon genug Erinnerungen an diesem Haus, er musste es nicht auch noch durch Kleinigkeiten verstärken. An der geräumigen Küche vorbei, betrat er schließlich ohne anzuklopfen sein eigenes kleines Büro. Wie erwartet saß hinter dem wuchtigen Mahagonischreibtisch Tennessey mit einer Lesebrille auf der Nase. Doch statt einen Bericht zu schreiben, wälzte er irgendein dickes Buch durch. Der Kerl war die reinste Leseratte, selbst in Krisenzeiten. Als er Ryon herein kommen hörte, hob er den Blick, der sich sofort auf den verletzten Arm richtete. Aber auch die Kratzer und Brandspuren in seinem Gesicht blieben nicht unerkannt. „Hast du dich mit einem Drachen angelegt?“, wollte er mit einem langgezogenen Seufzen wissen, ehe er das Buch zuschlug. „So etwas in der Art.“ Ryon trat an ein Gemälde an der Wand. Es war ungefähr so hoch wie er, aber nur die Hälfte davon breit und zeigte ein buntes Farbenspiel aus roten, schwarzen, gelben und weißen Linien auf goldgelben Hintergrund. Das Bild war sehr ausdrucksstark und hatte eine seltsame Anziehung auf jeden Betrachter. Die Künstlerin hatte offensichtlich kein Problem damit gehabt, mit dem Pinsel Stimmungen einzufangen, für die sie ein ganz besonderes Auge hatte. Es war ein Geschenk gewesen. Um es nicht länger als nötig ansehen zu müssen, schob er einfach den Rahmen beiseite, woraufhin ein Safe in der Wand sichtbar wurde. „Warst du erfolgreich, bei was auch immer?“, bohrte Tennessey weiter, während er sich gelassen in dem schwarzen Ledersessel zurücklehnte und Ryon keinen Moment lang aus den Augen ließ. „Mehr oder weniger.“ Tennessy schnaubte. „Oh Gott, womit hab ich bloß deine Gefühle verletzt, damit du mich mit dieser Ignoranz bestrafst?“ Man hätte dem Arzt den fast schon theatralischen Tonfall abkaufen können. Ryon hingegen ignorierte die offenkundige Stichelei über seine ohnehin schon gewohnte Wortkargheit. Er war nicht unbedingt der gesellige Typ und das wusste sein Freund. Er wusste aber auch, dass das nicht immer so gewesen war, weshalb er trotz der unzähligen Fehlschläge immer wieder versuchte, Ryon aus der Reserve zu locken. Die Hoffnung starb immerhin bekanntlich zu Letzt. Mit fliegenden Fingern tippte der Hüne den Code auf dem Display ein, woraufhin sich die massive Tür des Safes öffnete. Dahinter befand sich lediglich ein einziger Gegenstand. Das dicke Buch mit den vergilbten Seiten, dem schweren Ledereinband und dem seltsamen Geruch nach verschiedenen Kräutern, Säften und Rauch, lag schwer in seiner gesunden Hand, aber auch auf bittere Weise sehr vertraut. Wie viele Hände auch schon den Einband mit ihren Fingern durch jahrelange Benutzung weich und nachgiebig poliert hatten, es würde nur ein Händepaar sein, woran er sich stets zurück erinnern würde. „Aha. Du pfeifst also wie immer auf meine Pillen und Pulver und benutzt lieber ‚das Buch‘. Hast du tatsächlich so wenig Vertrauen in meine Fähigkeiten?“ Diese Frage von Tennessey war nun ernst gemeint, weshalb Ryon auch gewissenhafter als nötig den Safe wieder Schloss und das Bild davor gerade rückte. „Nein, ich vertraue dir und deinen Fähigkeiten vollkommen, das weißt du auch. Aber eben alles zu seiner Zeit. Im Augenblick kannst du mir dafür anders zur Hand gehen.“ „Ich bin also gut genug, um für dich den Mörser zu betätigen, was? Vielen Dank auch.“ Mit gespielt schmollender Miene erhob sich der ältere Mann aus dem Stuhl und fegte an Ryon vorbei, hielt ihm dann aber mit einem sanften Lächeln die Tür auf. „Du wirst dich wohl nie ändern, nicht wahr?“ „Unwahrscheinlich.“, bestätigte der Hüne und ging mit eiligen Schritten voraus, womit der Arzt gezwungen war, ihm hinterher zu hetzten, wenn er auf seinen kurzen Füßen Ryon hinter her kommen wollte. „Kann ich mich dann später wenigstens um das Loch in deinem Arm kümmern?“ „Welches Loch?“ „Na, das in deinem Oberarm, wo dich offensichtlich eine Kugel angebumbst hat.“ Da Ryon immer noch nicht wusste, was sein Freund damit meinte, blickte er an sich herab und stellte fest, dass im Leder seines Mantels tatsächlich ein Loch klaffte. Und die klebrige Flüssigkeit rund herum wohl gestocktes Blut sein musste. Daher war also beim Betreten der Wohnung das Brennen gekommen. „Wenn du mir währenddessen erzählst, was du in meiner Abwesenheit über die schwangere Frau erfahren hast, nur zu.“ „Wie großzügig…“, grummelte der Arzt leise vor sich hin. In der ‚Kräuterküche‘ war es immer angenehm warm. Die Luft war spürbar trocken, aber nicht unangenehm. Dafür war sie geschwängert von den unterschiedlichsten Duftgemischen aus getrockneten Kräutern und Früchten, Ölen und Kerzen. An den Wänden standen Holzregale die sich unter den vielen Glasbehältern mit getrocknetem Inhalt beinahe bogen. Über einem altmodischen Kamin und einem kupfernen Kessel darin, hingen ganze Büschel von getrocknetem Lavendel, Salbei, Ringelblumen, Kamillen und noch anderen herrlich duftenden Heilkräutern. Vor Ryon lag das Buch auf einer Seite aufgeschlagen, die mit einer feinen Handschrift beschrieben war. Neben ihm stand Tennessey und zerstampfte die Kräuter, die er ihm in den richtigen Mengen beimischte. Inzwischen konnte er seinen Arm kaum noch bewegen, ohne dass ihm jedes Mal der Schweiß erneut ausbrach und ihm unangenehm den Rücken hinunter lief. Er hatte von Natur aus eine höhere Körpertemperatur, doch mit den Verbrennungen schien er buchstäblich in seinen eigenen Säften zu kochen und der Schmerz ließ dabei keinen Moment lang nach, sondern schien stattdessen nur noch zuzunehmen, obwohl er sich bereits Eis aufgelegt hatte, um weitere Schäden zu verringern. Es half aber nicht wirklich. Die Kräuterpaste, die sie nach einem natürlichen Rezept zusammen brauten, würde es jedoch tun. Ryon würde diesem Buch sein Leben anvertrauen. Es gab wirklich so gut wie keine Gebrechen, gegen die man darin nicht etwas finden konnte. An den Anfangsseiten des dicken Buchs standen sogar Rezepturen für Dinge, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Man hatte ihm mal erklärt, wofür ein paar dieser Mixturen gut waren. Sofern er sich erinnern konnte, handelte es sich hierbei teilweise um psychische Probleme, die damit gemildert oder ganz geheilt werden konnten. Aber da die meisten Seiten des Anfangs schon so vergilbt und kaum noch leserlich waren, wäre es zu gefährlich, damit herum zu experimentieren, solange man nicht wusste, was wirklich dort stand. Es war ohnehin nicht so, dass er sich gut damit auskannte. Aber mit Verbrennungen, Schnittwunden, Abschürfungen und Ausschlägen hatte jeder in seinem Leben schon einmal zu tun gehabt. So auch er, weshalb er sich diese einfache Handhabung des Rezepts durchaus zutraute. Er hatte auch schon oft beim Vermischen zugesehen und wusste somit, wie die einzelnen Schritte und Ergebnisse auszusehen hatten. „Du hast Probleme am Hals, hab ich recht?“ Tennesseys Stimme riss ihn so abrupt aus seinen Gedanken, dass er beinahe ein Glasflakon mit reinstem Zedernöl fallen gelassen hätte. „Ich meine, du bist auch sonst nicht sehr gesprächig, aber normalerweise muss ich dir nicht jede noch so kleine Einzelheit aus der Nase ziehen. Findest du nicht, mich würde interessieren, wieso du so verletzt bist? Weshalb wir hier eine schwangere Frau im Haus haben und was wohl noch seltsamer ist, weshalb du nach all den Jahren wieder einen Fuß auf dieses Grundstück gesetzt hast? Soweit ich mich nämlich erinnern kann, machtest du den Eindruck, als würdest du dir eher die Kugel geben, als noch einmal hier her zu kommen.“ *** „Geht's dir gut?“ Nach einer festen Umarmung und gegenseitig prüfenden Blicken hatte Paige sich wieder aufgerichtet und sah misstrauisch zu ihrem Schatten hinüber, der immer noch an der Tür stand. Der junge Mann hatte ein nichts sagendes Lächeln aufgesetzt und schien sich ein wenig über den neuen Gast zu amüsieren. Wäre Ai nicht gewesen und die Ungewissheit, wer sich hier im Haus aufhielt, wäre Paige wahrscheinlich schon wieder explodiert. Der Gesichtsausdruck des Fremden erinnerte sie einfach zu sehr an die überhebliche Miene seines Herren. Hier hielt sich wohl alles und jeder für etwas Besseres. Da überraschte es Paige doch sehr, dass dem Rothaarigen folgende Worte über die Lippen kamen. „Entschuldigen Sie mich für einen Moment. Ich werde die Sachen für Ihre Übernachtung holen.“ Nach einem kurzen Blick auf das leere zweite Bett im Raum und einem angedeuteten Nicken, verließ er das Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich. Paige lief zur geschlossenen Tür und lehnte ihr Ohr daran, um zu überprüfen, ob er auch wirklich ging. Die sich entfernenden Schritte brachten es tatsächlich fertig sie ein wenig zu beruhigen. Allerdings war dieses Gefühl schnell dahin, als sie sich wieder neben das Bett ihrer Freundin gestellt und auf sie herabgesehen hatte. Die rot geschwollene Stelle auf ihrer Wange, war nicht zu übersehen. „Haben die das getan?“ In ihrer Stimme schwang Wut vermischt mit Angst mit. Was, wenn die schöne Fassade wirklich Schlimmes verbarg? Sie konnte die Schwangere nicht einfach so hier rausbringen. Der Wagen in der Einfahrt wäre schnell kurzgeschlossen, aber was dann? Wenn sie es überhaupt bis in die Auffahrt schafften. Ais warme Hand legte sich auf die von Paige und die Asiatin lächelte ihre Freundin an. „Nein, nein, keine Sorge. Das ist in der Wohnung passiert, als...“ Sie seufzte leise und blickte dann so direkt in Paiges Augen, dass dieser die Röte ins Gesicht stieg. „Es tut mir leid, Ai. Ich wollte dich sicher nicht in Gefahr bringen.“ Und doch hatte sie es getan. Das schlechte Gewissen nagte noch mehr an ihr, als die Angst davor, was noch alles passieren könnte. Selbst Ais beruhigend weiche Stimme half da nicht viel weiter. „Mir ist wirklich nicht viel passiert. Ein Mann kam in die Wohnung gestürzt und hat sie aufgehalten.“ Ihr Blick wurde leer, als sie kurz überlegte, wie sie weitermachen sollte. „Ich weiß gar nicht, ob er mich hierher gebracht hat. Das habe ich angenommen.“ Jetzt sah sie Paige wieder direkt an. „Er war ziemlich groß, schwarz gekleidet. Er hatte wild gescheckte Haare und...“ „Und seltsame Augen.“, unterbrach Paige, da sie schon längst wusste, um wen es sich handelte. Er hatte Ai also gerettet und dieses Blutbad in ihrer Wohnung angerichtet? Scheiße, jetzt musste sie Eisschrank auch noch dankbar sein. Bloß warum? Warum hatte er seine Haut riskiert, um Ai vor den Einbrechern zu schützen? „Ja, genau. Kennst du ihn denn?“ Da lag Hoffnung in Ais Stimme. Paige fing leicht an zu zittern, als ihr klar wurde, dass die Asiatin glaubte, sie wäre hier in Sicherheit. Als wäre das Ganze mit der Rettung durch den seltsamen Hünen vorbei. Wie sehr sie sich doch irrte. „Na ja... Er... Ich hab ihn beklaut.“ „Was?“ „Und ich hab ihn ziemlich angefackelt.“ „Paige, aber...“ Die dunklen Augen der Asiatin hatten sich erschrocken geweitet und ihre vollen roten Lippen waren leicht geöffnet. Paige drückte ihre Hand und setzte ein Grinsen auf. „Naaah, keine Angst, ich hab ihn nicht gebraten. Bin sicher der ist zu zäh, um lecker zu sein.“ Mit großer Geste, die mehr Sicherheit ausstrahlte, als sie ansatzweise besaß, winkte sie ab und zwinkerte ihrer Freundin zu. Zäh konnte man sagen. Und sicher nicht gerade erfreut darüber, dass Paige ihm zum Dank für Ais Rettung derartige Schmerzen zugefügt hatte. „Hör zu, ich werd mich hier mal ein wenig umsehen, ok?“ Der Griff um ihre Hand wurde fester, was Paiges Züge nur noch sanfter werden ließ. Sie glaubte nicht, dass sie Ai bis jetzt gut behandelt hatten, um dann unerwartet über sie herzufallen. Zuerst würden sie bestimmt Paige ausschalten wollen. Wenn das überhaupt der Plan war. Um genau das heraus zu finden, wollte sie ein wenig auskundschaften, was hier los war. Nur widerwillig ließ Ai sie gehen, aber so wirklich konnte sie auch nichts gegen Paiges Dickkopf tun. Also schob sich Paige durch die große Holztür und ging auf den Gang hinaus, der sie zu diesem Zimmer gebracht hatte. Es schien der Hauptflur des Hauses zu sein, der in mehrere andere Räume abzweigte. Leise, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, schlich Paige von einem zum anderen und sah sich gründlich um. Der Stil erinnerte sie an Eisschranks Wohnung, auch wenn hier eine zusätzliche Note untergemischt schien. Ein paar der Bilder an den Wänden wollten so gar nicht zu dem passen, mit dem er sich in diesem kargen Zimmer in der World Underneath umgeben hatte. Sie besaßen Ausdruck und mehr Gefühl, als sie an dem Kerl bis jetzt gesehen hatte. In einem großen Raum, der wohl eine Art Wohnzimmer war, mit großem Kamin, gemütlichem Sofa und Sesseln und einem Klavier, blieb Paige vor der riesigen Terrassentür stehen. Sie sah hinaus in den Garten, der von winzigen Leuchten in warmes Licht getaucht war. „Seltsam...“, verlieh sie ihren Gedanken leise Ausdruck. „So eine Reaktion gab es bisher noch nicht. Normalerweise kommt eher so was wie: wunderschön, übertrieben, kitschig, bezaubernd und mein absoluter Favorit: Wie oft landen hier Ufos?“ Tyler lächelte verschmitzt, als er das Wohnzimmer betrat. Ihm war nicht entgangen, dass er den neuen Gast erschreckt hatte, aber das war er schon gewohnt. Immerhin legte er es meistens darauf an, sich heran zu schleichen, obwohl er eigentlich schon viel zu alt für derartige Späße wäre. Mit gebührendem Abstand zu dem Gast, stellte er das kleine Blumenbouquet, das er bis jetzt in den Händen gehalten hatte, auf einen kleinen Tisch neben dem Sofa ab und zupfte noch ein paar Blätter daran zurecht. Es war dieses Mal zwar kein Ikebana, aber mit den Blumen dieser Jahreszeit sah das Arrangement auch sehr hübsch aus. Frisch aus dem Garten natürlich. Jetzt wo offenbar endlich wieder Leben in dieses Haus kam, konnte er endlich mit guter Begründung wieder seine ganzen Fähigkeiten entfalten. Putzen, Gartenarbeit und das bisschen Kochen alleine, war auf die Dauer furchtbar langweilig. Weshalb er auch mitten in der Nacht noch fröhlich am Herumwerkeln war. „Wenn ich schon einmal hier bin, kann ich Ihnen vielleicht etwas bringen? Eine warme Mahlzeit vielleicht? Ich hätte da noch diverse Köstlichkeiten, die im Kühlschrank darauf warten, beachtet zu werden.“ Von wegen. Er war zeitweise seit Ryons Ankunft kaum noch vom Herd wegzubekommen gewesen. Wusste er doch, wie riesig der Appetit dieses Mannes war. Den Arzt, sich selbst und die schwangere Frau hinzugerechnet, kam er beim Kochen endlich wieder einmal ins Schwitzen. Das wurde aber auch wirklich Zeit. *** „Du hast wirklich Glück, dass du diese Lederkluft getragen hast. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie du sonst aussehen würdest.“, schimpfte der Arzt leise vor sich hin, während er Ryon die Wunde am Oberarm desinfizierte. Die Brandverletzungen an seiner Hand waren die schlimmsten gewesen und als erstes versorgt worden, aber wie sich heraus gestellt hatte, war sein Körper von Verbrennungen ersten und teilweise auch zweiten Grades nur so überzogen. Trotz des Leders. Die Blitze dieses Magiers waren natürlich auch nicht ohne gewesen, aber hauptsächlich war es wirklich dem Werk dieser Feuerdämonin zu verdanken, dass er so aussah, als hätte er Partienweise zu lange in der Sonne gebraten. Wenn Tennessey sich schon wegen dieser Verbrennungen so aufregte, war Ryon garantiert nicht so dumm, ihm auch noch von den Herzrhythmusstörungen zu erzählen, die die Stromschläge verursacht hatten. Das würde den Arzt garantiert auf die Palme bringen. „Was glaubst du, weshalb ich dieses Zeug trage? Ich kann dir versprechen, ich bin sicher nicht unter die Biker gegangen.“ Tennessey schnaubte wütend. „Wenn du jetzt auch noch versuchst, witzig zu sein, schlägt das ganz schön fehl, mein Lieber. Selbst wenn das der erste Anflug von Humor seit langem bei dir sein sollte.“ „Keine Sorge. Ist es nicht.“, erwiderte Ryon so ausdruckslos wie möglich. Immerhin hatte er die Atmosphäre mit seinen Worten nur etwas auflockern wollen. Aber das schien ja wohl nicht geklappt zu haben. Fester als nötig zog Tennessey den Verband fest und griff ruppig nach Ryons Gesicht, der sich diese Behandlung ohne Gegenwehr gefallen ließ. Wenn der Arzt einmal wirklich seine Ruhe verlor, legte man sich besser nicht mit ihm an. Er war ein guter Mann, konnte aber auch ganz schön ausrasten, wenn die richtige Motivation vorhanden war. „Du hast Glück, dass du kein normaler Mensch bist, sonst hättest du ab heute ein schönes Andenken für den Rest deines Lebens auf deiner finsteren Miene. Aber von dem Kratzer sieht man kaum noch was.“ Der Arzt ließ ihn endlich los und packte seine Tasche wieder zusammen. Währenddessen begutachtete Ryon den Ledermantel und entschied, dass auch dieser reif für den Müll war. So wie der Rest von den Klamotten die er am Leib trug. „Du solltest mir lieber etwas vom Zustand der schwangeren Frau erzählen, anstatt mir Vorträge zu halten.“, wies er Tennessey zurecht und stand von dem Stuhl auf, auf den er die ganze Zeit während der Behandlung gesessen hatte. Noch einmal betastete er prüfend den Verband um seine Hand und stellte fest, dass der Druck ihm schon weitaus weniger Schmerzen verursachte als vorhin noch. Die Salbe wirkte also und zugleich kühlte sie unglaublich angenehm. Endlich hatte er das Gefühl nicht in seiner eigenen Haut gegart zu werden. „Da gibt es nicht sehr viel zu erzählen. Mutter und Kind geht es gut. Sie ist bei Bewusstsein und hat sogar schon etwas gegessen. Tyler hat’s mal wieder mit dem Kochen übertrieben, also ist auch für dich genug übrig. So wie dein Magen knurrt, vermute ich mal, dass du schon seit ein paar Stunden nichts mehr gegessen hast.“ „Stimmt.“ Wann war das letzte Mal gewesen? Seit dem Frühstück? Ryon könnte es im Augenblick nicht einmal so genau sagen. Inzwischen schien so viel Zeit vergangen zu sein, dass es ihm wie eine Ewigkeit vorkam. „Du weißt, was du mir versprochen hast?“ Tennessey funkelte ihn todernst an, woraufhin er nur gelassen den Blick erwiderte. „Ich hatte ein Frühstück, also reg dich wieder ab, alter Mann.“ Mit einem lauten Poltern stellte der Arzt seine Tasche auf dem Tisch ab. „Verdammt, Ryon! Es ist mir zwar meistens scheißegal, dass du dich so zurichten lässt, aber die Sache mit dem Essen hast du mir geschworen. Ich will dich nicht noch einmal wochenlang hochpäppeln müssen, nur weil du dir selbst vollkommen egal bist. Also sie zu, dass du deinen Arsch in die Küche schiebst und anständig isst, bevor ich dir das Zeug persönlich in den Rachen stopfe!“ *** Zum wie es ihr vorkam hundertsten Mal an diesem Tag fuhr Paige erschrocken herum und konnte ihre beschuppten Finger mit den schwarzen Nägeln nur in letzter Sekunde vor dem Butler in ihren Ärmeln verstecken. Besser, wenn er nicht sofort wusste, was sie war. Auch wenn das niemand außer ihr so genau wusste. Manchmal war es von Vorteil, nicht den Normen zu entsprechen, selbst wenn diese sowieso außerhalb aller menschlichen Vorstellungskraft lagen. Mit zusammen gepressten Lippen und den konzentrierten Blick immer auf den Mann gerichtet, zog Paige sich noch ein Stück vor ihm zurück. Er arrangierte Blumen auf einem kleinen Tischchen, was ihr völlig skurril vorkam. Sie war doch kein Gast, der zum Kaffee trinken vorbei gekommen war. Schon allein bei dem Gedanken wurde ihr Magen auf den Plan gerufen, der laut knurrend zu verstehen gab, dass er das Angebot des Butlers zu schätzen wusste. Allerdings würde Paige den Teufel tun und den Leuten hier die Chance geben sie zu vergiften oder zumindest mit irgendwelchen k.o.-Tropfen auszuschalten. „Danke. Aber Sie können mir den Ausgang zeigen.“, antwortete sie daher verkniffen und bewegte sich langsam auf den Durchgang zum Flur zu. Verdammt, wenn dieses Haus nicht so riesig wäre. Selbst an den Rückweg zu Ais Zimmer konnte sich Paige nur noch mit Mühe erinnern. Als sie den Raum schon fast verlassen hatte, sah sie ihre Freundin allerdings bereits über den Gang auf sie zulaufen. Sie sah wirklich erstaunlich gesund aus. Die rosigen Wangen standen ihr ausgezeichnet und machten sie nur noch schöner, als sie ohnehin war. Paige war bereit die Waffen zu strecken und Eisschrank Recht zu geben. So gut, wie Ai nach nur so wenig Zeit und Zuwendung hier aussah, hatte Paige sie noch nie gesehen. Es war wohl so, dass sie sich wirklich schlecht um sie gekümmert hatte. „Tyler sagte, dass es Abendessen gibt.“, war die einzige Erklärung, die Ai für ihr Auftauchen vorbrachte. Ihre Augen schienen bei der Aussage aufzuleuchten. Der Butler, den Paige hinter dem Namen vermutete, war wohl ein besserer Koch, als sie selbst. Keine Kunst, wenn man sich überlegte, mit welchen Mitteln sie normalerweise arbeitete. Mit einem Seufzen und einem stechenden Blick, drehte sich Paige zu dem Rothaarigen um. Er musste schon an ihrer Miene ablesen können, dass er bloß nichts Falsches tun sollte. Trotzdem lächelte er und deutete mit einer fließenden Handbewegung in Richtung einer weiteren Tür, die am Ende des Gangs lag. Kaum dort angekommen, wollte sich Paiges Magen wegen der leckeren Düfte, die ihr entgegen schlugen, mehrmals aus Vorfreude überschlagen. Spätestens jetzt hatte der Butler sie am Haken, denn sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal mehr als ein halbes Sandwich zu sich genommen hatte. Geschweige denn etwas Warmes. Aber ganz ließ sie ihre Vorsicht nicht fallen, stellte sich schützend vor Ai und ließ den Mann vorgehen. Ganz langsam und mit wohlgesetzten Schritten folgte sie ihm in den Raum, der ihr vor köstlichen Gerüchen fast den Atem stocken ließ. Irgendetwas blubberte in einem Topf auf dem Herd und der Backofen lief leise mit den Geräuschen der Speise um die Wetter. Auf dem großen, alten Holztisch, der die Mitte des Raumes füllte, standen bereits wunderschöne, weiße Teller und glitzerndes Besteck. Bei der Auswahl an Gläsern funkelte der Kerzenschein des Leuchters in schillernden Farben. Paige blieb die Spucke weg. Was äußerst selten passierte. Während Tennessey ihm die Nährwerttabelle einimpfte, nach der er so und so viele Kalorien in so und so vielen Zeiträumen am Tag, bei so und so vielen Aktivitäten zu sich nehmen sollte, schweiften Ryons Gedanken absichtlich in gänzlich andere Richtungen. Er zermarterte sich den Kopf darüber, wie er mit seinen wirklichen Problemen weiter vorgehen sollte. Wäre es nicht so wichtig, er würde das Amulett freiwillig den Auftraggebern der Diebin überlassen. Denn im Grunde war es ein Schmuckstück und somit auch nicht mehr wert, als alle anderen, die er sich hätte leisten könnte. Doch er war nun einmal ein Mann, der sich an Versprechen hielt, die er einmal gegeben hatte und somit war er dazu verpflichtet, den Anhänger zu beschützen. Egal was es ihn kostete. Denn obwohl er all die Jahre nicht wirklich etwas Ungewöhnliches an dem Amulett hatte feststellen können, so musste es doch etwas an sich haben, was es so wichtig machte, dass man sich freiwillig dafür mit ihm anlegen würde. Die Diebin war nicht die Erste, die versucht hatte, es ihm zu stehlen und so wie er das sah, würde sie auch sicherlich nicht die Letzte sein. Bevor er also einfach nur blind versuchte, es zu beschützen, sollte er sich zunächst auch darauf konzentrieren, mehr darüber in Erfahrung zu bringen. Wenn er wusste, womit er es zu tun hatte, würde sich zeigen, wie tief er wirklich in der Tinte saß. „Du hast noch jemanden mitgebracht?“ Tennessey hielt seinen Arm zurück, als er gerade die Küche betreten wollte, die inzwischen wohl vom weiblichen Geschlecht infiltriert worden war. Immerhin trug Tyler gerade das Essen auf, während die zwei Frauen an einem Ende am Tisch saßen und die Neuankömmlinge beäugten. Ryon ging es eiskalt den Rücken runter, als er dem Blick der Diebin begegnete. Er bildete sich fast schon ein, die unerträgliche Hitze ihrer Haut noch immer auf sich spüren zu können, obwohl einige Meter sie von einander trennten. Vermutlich die Nachwirkungen ihres Angriffs, den er sicherlich nicht so schnell vergessen würde. Nächstes Mal musste er noch besser aufpassen, um nicht endgültig als Braten zu enden. Wobei er hoffte, dass es kein nächstes Mal geben würde. „Sieht so aus.“ Er löste sich aus Tennesseys Griff und ging ans andere Ende des Tisches, den beiden Frauen gegenüber. Eigentlich hätte er lieber auf dem Dachboden gegessen, als hier bei ihnen. Aber da musste er wohl einfach durch, da der Arzt seine Drohung mit dem Füttern ernst gemeint hatte. Um der Dämonin nicht länger in die Augen sehen zu müssen, richtete Ryon seine Aufmerksamkeit auf Tylers roten Haarschopf. Der Diener war offensichtlich gerade im siebten Himmel, da er ein äußerst zufriedenes Lächeln aufgesetzt hatte, während er die Porzellanteller mit den köstlichen Speisen garnierte und damit zuerst die Gäste bediente. Ab und zu konnte man ihn leise etwas Fröhliches summen hören. Ganz die zufriedene Hausfrau. „Wie geht’s der werdenden Mutter?“, erkundigte sich Tennessey freundlich bei der Schwangeren, während er ihr ein fürsorgliches Lächeln schenkte. Wenn es um seine Patienten ging, war der Arzt immer ein Herz und eine Seele. Ryon einmal ausgeschlossen, bei ihm konnte er auch ein wahrer Teufel sein. Was aber im Grunde nur ein Ausdruck verstärkter Sorge war. Zum Glück übernahm Tennessey das Gespräch, er selbst hatte ganz und gar keine Lust dazu. Er hing lieber seinen Gedanken nach und grübelte über die Möglichkeiten nach, die er hatte, um die beiden Frauen länger hier zu behalten. So wie er das sah, könnte das fast ein Ding der Unmöglichkeit sein. Aber in einem Punkt, würde er so oder so nicht nachgeben. Die Dämonin konnte gehen, wenn sie es wirklich wollte, weil sie sehr überzeugende Methoden kannte, aber die werdende Mutter einfach so der Gefahr dort draußen auszusetzen und vor allem den niederen Umständen, das würde er nicht tun. Das konnte er einfach nicht. Genauso gut hätte man von ihm verlangen können, er solle mit dem Atmen aufhören. Erst als Tyler ihm einen Teller mit einer riesigen, bereits in Mundgerechte Stücke geschnittenen Portion vor ihm abstellte, kam Ryon wieder in die Realität zurück und war im nächsten Augenblick seinem Freund sehr dankbar für dessen Aufmerksamkeit. Mit dem dick einbandagierten Arm konnte er unmöglich sein Essen klein schneiden, ohne sich dabei wie ein absoluter Tölpel anzustellen. Leise bedankte er sich bei dem Wandler, der ihm daraufhin verstohlen zu zwinkerte, ehe er sich selbst an den Tisch setzte. „Na dann, guten Appetit. Ich hoffe es schmeckt allen und falls nötig, könnt ihr jederzeit noch nach haben. Es ist ohnehin viel zu viel da.“ Ohne mit der Wimper zu zucken oder auch nur das polierte Besteck anzurühren, beäugte Paige die Szene. Es war wirklich lächerlich hier zu sitzen, im Haus des Mannes, den sie bestehlen sollte und mit dem sie schon zweimal gekämpft hatte. Und dabei war es nicht um harmlose verbale Attacken gegangen. Wie sollte sie jetzt so einfach ihr Misstrauen abstellen, nur oder gerade weil man ihr etwas zu Essen gegeben hatte? Ai wollte gerade zulangen, als Paige ihre Hand schnappte und sie davon abhielt einen Bissen abzuschneiden. Die Asiatin sah sie verständnislos und beinahe entsetzt an, während Paiges dunkle Augen den Männern am Tisch zu funkelten. Sie hatten alle bereits etwas gekaut und hinunter geschluckt. Jetzt hieß es noch zwei Sekunden warten. Nichts passierte. Außer dass sie von allen Seiten angestarrt wurde, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf. Hatten diese Typen denn wirklich gedacht, sie würde dieses Risiko eingehen? „Du...“ Sie überlegte und ließ dann ihre Stimme um einen Deut weicher werden. „Tyler. Nichts gegen dein Essen, aber ich will, dass du mit meiner Freundin tauscht.“ Da er bis jetzt weder grün um die Nase geworden, noch vom Stuhl gekippt war, hoffte Paige annehmen zu können, dass seine Portion frei von Giften war. Und wenn die drei zuvor ein Gegengift genommen hatten, dann war das verdammtes Pech. Aber so wie ihr Magen rumorte, würde sie dieses letzte Risiko in den Wind schreiben müssen. Kraftlos konnte sie keinen weiteren Kampf überstehen. Und vor allem konnte sie dann auch Ai nicht mehr beschützen. Ohne jegliches Murren tauschte der Rothaarige den Teller mit Ai und machte sich dann lächelnd daran weiter zu essen. Jetzt war Paige selbst dran und sie wusste nur zu genau, mit wem sie tauschen wollte. Noch während sie Ais Hand losließ, machte sie den Mund auf, um Eisschrank anzusprechen. Seinem Essen hatte der Koch, außer zusätzlicher Edelgewürze, sicher nichts zugemischt. Da fiel ihr Blick allerdings auf seine verbundene Hand, die die Gabel leicht zitternd hielt. Mit einem bereits geschnittenen Stückchen Fleisch daran. Wie gut, dass niemand ihre geröteten Wangen der wirklichen Emotion zuordnen konnte, die sie gerade empfand. Sie hielt dem Mann ihren eigenen Teller hin und schenkte ihm zusätzlich ein gewinnendes Grinsen. „Doc, würden Sie bitte?“ Am Anfang hatte Paige noch winzige Stücke von jeder einzelnen Speise abgeschnitten, um den Geschmack richtig genießen zu können. Dann hatte sie kleine Kunstwerke aus Fleisch, Beilage und Sauce auf ihre Gabel geschichtet und sie sich genüsslich im Munde zergehen lassen. Inzwischen war sie in der Phase angelangt, in der sie ihren Hunger nicht mehr nach dem Genuss hinten anstellen konnte. Zumindest hielt sie einigermaßen die Tischmanieren bei, während sie so viel Essen wie sie vertragen konnte, in sich hinein stopfte. Es war aber auch einfach großartig! Hätte er ihre Vorgehensweise nicht im Ansatz verstanden, so wäre er nun wirklich beleidigt gewesen. Misstrauen war das eine, aber jemanden hinterrücks zu vergiften, wäre wohl das Letzte, was er tun würde. Außerdem, selbst wenn er es gewollt hätte, Tyler würde die sorgsam zubereiteten Speisen doch niemals mit irgendwelchem Gift verschandeln. Selbst wenn es nur ein neutralschmeckendes Schlafmittel gewesen wäre. Als hervorragender Koch könnte man ihm nie wieder richtig trauen und soweit würde er es niemals kommen lassen. Trotzdem, Ryon hielt den Mund und aß einfach weiter. Er war sauer, das konnte er nicht leugnen, aber zum Glück sah man es ihm nicht an. Es war jedoch eine Tatsache, dass ihn das alles zusehends immer mehr anstrengte. Erst der Kampf mit den Auftragskillern, dann die Auseinandersetzung mit der Dämonin. Alleine die Tatsache, hier in der Küche zu sitzen und zu essen, machte ihn auf eine Weise fertig, die tiefer saß, als körperliche Erschöpfung. Für die anderen mochte das vielleicht ein schönes Haus sein, für ihn war es die reine Hölle. Weshalb er auch sehr froh war, als er seinen Magen endlich gefüllt und auch die anderen ihren Hunger gestillt hatten. Tyler war sofort aufgesprungen, um die Teller abzuservieren. „Als Nachtisch gibt es Schokoladensorbet.“, verkündete er dabei begeistert, doch Ryon wischte sich den Mund an der Stoffserviette ab und stand schließlich auf. „Entschuldigt mich. Ich verzichte auf den Nachtisch.“ Er wollte sich nur noch waschen und ins Bett, obwohl es noch viel zu besprechen gebe. Aber es war schon unglaublich spät oder ziemlich früh, je nach dem wie man es sah. Bestimmt konnten sie diese Angelegenheit auch noch um ein paar Stunden verschieben. Die beiden Frauen konnten ohnehin nicht so einfach das Grundstück verlassen und bestimmt brauchten sie ebenfalls Ruhe nach diesen ganzen Ereignissen. „Wir reden morgen.“ Sein Blick grub sich in den der Dämonin. Seine Worte machten deutlich, dass das keine Bitte gewesen war. Danach sah er sich noch ein letztes Mal in der ganz und gar seltsamen Runde um, ehe er die Küche verließ. „Na da hat einer aber schlechte Laune.“, murmelte Tyler vor sich hin, während er jedem der Anwesenden ein Schälchen mit dem Dessert hin stellte. Normalerweise verließ Ryon niemals während des Essens den Tisch und obwohl das letzte Mal schon sehr lange her war, konnte sich der Wandler auch nicht daran erinnern, dass sein Herr sich jemals zurückgezogen hätte, während die Gäste noch anwesend waren. Für gewöhnlich wartete er ab, bis alle versorgt waren. Aber der seltsamen Atmosphäre am Tisch nach zu urteilen, waren das ohnehin keine normalen Gäste. Nach all den Überraschungen in den letzten Stunden wäre das auch sehr verwunderlich gewesen. Automatisch hatten ihn seine Füße den gewohnten Weg entlang getragen, ohne dass er darüber nachdenken müsste. Hätte er es getan, er wäre sofort umgedreht. Da seine Gedanken jedoch immer noch bei der seltsamen Gesellschaft bei Tische waren, wurde ihm fast zu spät klar, welche Tür er gerade öffnen wollte. Seine Hand zuckte vor dem Metallgriff zurück, als hätte ihn eine Klapperschlange gebissen, eine Sekunde später stand er mit dem Rücken an der Fensterfront, direkt gegenüber davon. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er begann zu zittern, während sein Puls in die Höhe schnellte. Nicht diese Tür … nicht dieser Raum… Vollkommen blass und mit kaltem Schweiß auf der Stirn drehte er sich um und eilte davon, um sich in eines der Gästezimmer zu flüchten. Erst als der leicht befremdliche Eindruck des Raumes auf ihn einzuwirken begann, beruhigte sich seine Atmung wieder. Hier hafteten nur sehr wenige Erinnerungen an den Möbeln und Wänden. Alles vollkommen belanglose Dinge. Dennoch wäre es ein Wunder, wenn er überhaupt ein Auge in diesem Haus zu tat. Doch irgendwie hatte er es gewusst. Er hätte das Haus schon vor Jahren verkaufen können und hatte es dennoch nicht getan. Irgendwann musste einfach dieser Augenblick kommen, in dem er sich nun befand. Seine Vergangenheit drohte ihn einzuholen und hier war der Ort an dem er sich ihr stellen musste. War das nun Schicksal oder Zufall? Nachdem sie auch noch das leckere Dessert genossen und keinen Hauch davon in der kleinen Schüssel zurück gelassen hatte, war Paige aufgestanden und hatte sich zwischen den beiden verbleibenden Männern umgesehen. Sie verstand es immer noch nicht, aber hier in diesem Haus schien weder für sie noch für Ai von irgendjemandem Gefahr auszugehen. Selbst Eisschrank hatte sich derart zurückgezogen, dass sie keinen neuen Auftritt vor dem Morgen von ihm erwartete. Nur gut so. Denn ob Paige es nun wollte oder nicht, sie hatte Schulden bei ihrem Gastgeber. Und die würde sie vielleicht nicht mit dem passenden Entgelt begleichen, sie aber zumindest mit einem Dank abtragen müssen. Denn gerade bei diesem Kerl würde ihr ehrlicher Dank ziemlich schwer fallen. Jetzt saß sie auf dem frisch bezogenen Bett und sah Ai dabei zu, wie sie sich mit einer weichen Decke zudeckte und das Licht an der kleinen Lampe auf dem Nachttisch herunter dimmte. Verwunderlich, dass die Asiatin hier wirklich einfach ruhig schlafen konnte. Da war sie Paige offensichtlich einen Schritt voraus, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie hier auch nur ein Auge zutun würde. Dafür spürte sie die drohende Gefahr doch noch zu sehr. Es steckte ihr so zu sagen tief in den Knochen. Die Szene, wie sie selbst an Eisschrank hing, um in zu verletzen, ging ihr nicht so leicht aus dem Kopf. „Willst du dich nicht auch hinlegen?“ Ais Stimme klang besorgt und durchaus mütterlich. Obwohl sie nur drei oder vier Jahre älter war als Paige. Mal von ihrem sonstigen Verhältnis, wo Paige die Führung übernahm, völlig abgesehen. „Nein, aber schlaf du nur. Du musst dich ausruhen.“ Mit einem Lächeln lehnte sie sich an die Rückwand des Bettes und setzte sich bequem hin. Die Tatsache, dass sie viele Gedanken hatte, denen sie nachhängen konnte, würde ihr dabei helfen, wach zu bleiben. Bald konnte sie in der warmen Atmosphäre des Raumes Ais gewohnt ruhige Atmung hören und entspannte sich deshalb ein wenig. Morgen würde sie hier abhauen. Und Ai würde sie mitnehmen. Wenn sie nur wüsste, wohin... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)