Menschen sind nicht lösbar von Elster (Eine Sherlock BBC Fanfic) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Ungefähr zweimal pro Monat treffen sich Lestrade und Sherlock zum Lunch. Es ist kein Arrangement als solches, nicht etwa 'jeden ersten und dritten Dienstag' oder so etwas, es ist nur Sherlock, der eine SMS schickt. Ungefähr zweimal pro Monat. Meistens dienstags. Das Geheimnis um mit Sherlock zurecht zu kommen besteht darin ihn machen zu lassen. Es gibt einfach keine Alternative. In dem Moment, in dem Sherlock das Gefühl bekommt, dass jemand versucht Regeln aufzustellen, ist er weg. Zutiefst frustrierend, ja, aber Lestrade hat diese Technik entwickelt, bei der er von dem Grundgedanken ausgeht, dass man von Sherlock immer in etwa das Verhalten eines besonders schwierigen Fünfjährigen zu erwarten hat, und das funktioniert bisher ziemlich gut. Wenn Sherlock also von sich selbst als impulsiv und unberechenbar denken will, dann lässt Lestrade Nachsicht walten. Das ist letztendlich das, was er in Bezug auf Sherlock sowieso immer tut, und es gibt einfach keinen Grund, das für eine Bagatelle wie die Lunchtreffen zu ändern. Der Hauptgrund für diese gemeinsamen Mahlzeiten ist natürlich das Spionieren. Am Anfang ging es darum, ob Sherlock immer noch clean ist und ob Lestrade ihm interessante Fälle vorenthält. Heutzutage geht es mehr darum, ob Sherlock versucht das neueste von ihm verursachte Chaos vor Lestrade geheim zu halten, und ob Lestrade irgendetwas getan oder erlebt hat, das Sherlock für beachtenswert befindet. Die meisten Leute würden vermutlich denken, dass das nicht viel sein kann, aber Lestrade weiß, dass Sherlock ein neugieriger Bastard ist und seine Aura von reservierter Ennui gegenüber allem und jedem die Hälfte der Zeit reine Augenwischerei ist. Sherlock ist nur selten so gelangweilt von dir, wie er dich glauben machen will; wäre er es, wäre er nicht da. Es ist nur eines dieser Psychospielchen, die er aus Gründen spielt, die zu verstehen Lestrade vermutlich nicht wahnsinnig genug ist. Normalerweise funktioniert es also so: Lestrade bekommt eine SMS, die ihn zu irgendeinem unbekannten Restaurant (mit großartigem Essen) beordert. Lestrade taucht dort zwischen 12.00 und 12.10 Uhr auf. Sherlock verspätet sich. „Du bist zu spät“, sagt Lestrade, weil er es mag konsequent zu sein. „Bauarbeiten. Musste die Kanalisation nehmen“, antwortet Sherlock, obwohl er nicht riecht, als hätte er die Kanalisation genommen. Lestrade findet es plausibel anzunehmen, dass Sherlock einen Sinn für Humor besitzt und dass er auch tatsächlich von Zeit zu Zeit Witze macht. Das Problem ist nur, dass er auch all die wahnwitzigen Sachen, die er sagt, völlig ernst meinen könnte. Macht das geistige Bild von Sherlock, der mit derselben Nonchalance, als würde er aus einem Bus treten, aus einem Abwasserschacht klettert, nicht weniger amüsant. Heute sind sie in einem winzigen indischen Restaurant, kaum mehr als ein Loch in der Wand, und Lestrade hat die Wartezeit genutzt, um schon etwas Naan zu bestellen. Sherlock pickt an einem der Brote herum, was Lestrade als gutes Zeichen nimmt, obwohl allein schon die Tatsache, dass er hier ist, bedeutet, dass es Sherlock vermutlich gut geht. Lestrade hatte sich Sorgen gemacht, in letzter Zeit gab es keine mysteriösen Morde, nur einen deprimierend banalen Raubmord, der mithilfe von CCTV innerhalb weniger Stunden aufgeklärt wurde. Es ist nicht so, dass Lestrade blutige Verbrechen ernsthaft einem bis zur Verzweiflung gelangweilten Sherlock vorziehen würde – er macht sich aber nunmal Sorgen. Es bedeutet außerdem, dass Sherlock etwas gefunden hat, das seinen nimmermüden Verstand auf Trab hält, was Lestrade potentiell alarmierend findet. „Würdest du sagen, dass wir Freunde sind?“ fragt Sherlock unmittelbar nachdem sie ihr Essen bestellt haben und es erweist sich wiedereinmal als hilfreich, dass Lestrade es schon lange aufgegeben hat, über irgendetwas, was Sherlock sagt, überrascht zu sein. „Solange ich nicht zu viel darüber nachdenke“, sagt er mit einem flüchtigen Blick über die Karte. Sherlock ist für einen Moment sehr still. „Was bedeutet, dass du es eigentlich nicht sagen würdest“, stellt er dann fest und schafft es tatsächlich, ein bisschen verletzt zu klingen. Der Ton bringt Lestrade dazu aufzuschauen. Sherlock guckt ihn demonstrativ nicht an, beobachtet ihn aber in der Reflektion des Fensters und schmollt ziemlich unsubtil. Lestrades zweite Taktik um mit Sherlock fertig zu werden, ist es so zu tun, als wäre er ein Außerirdischer, der menschliches Verhalten nur aus schlecht recherchierten Büchern gelernt hat. Manchmal funktioniert diese Technik besser als die mit dem Fünfjährigen. Heute scheint einer dieser Tage zu sein. „Nein, ich würde“, sagt Lestrade. „Wir sind Freunde, ich war nur nie sicher, ob dir das klar ist.“ Sherlock sieht ihn an, ohne zu lächeln. „Natürlich war mir das klar.“ Noch verletzter. Lestrade ist sich ziemlich sicher, dass es eine Lüge ist. „Schön, dass wir mal drüber geredet haben,“ sagt er. Es ist ein schlecht getarnter Versuch, Desinteresse zu heucheln, während er im Grunde ziemlich neugierig ist, was Sherlock derart aus der Bahn geworfen hat. Sherlock ist normalerweise nicht für Dinge wie Freundschaft zu haben. Es ist normal und daher ein ihm fremdes Konzept. Lestrade hat keinen Schimmer, wie Sherlocks Definition aussehen würde, aber er würde auf „würde mir helfen, ohne es mir unter die Nase zu reiben“ oder etwas ähnlich Egomanisches tippen. „Du wolltest dir nicht mit mir die Wohnung teilen,“ bemerkt Sherlock schließlich. Lestrade ist froh, dass er dabei weder beleidigt noch vorwurfsvoll klingt, und Lestrade somit nicht an seinem Verstand zweifeln muss. Er kennt diesen Ton: Sherlock legt gerade die Grundlagen für eine Schlussfolgerung. „Nein“, ist alles, was Lestrade dazu sagt und es ist dieselbe Antwort, die er Sherlock getextet hat, als dieser vor ungefähr einem Monat einen Mitbewohner gesucht hat. Dieses eine Wort erscheint ihm immer noch als das Höflichste, was er angesichts dieses speziellen Alptraums zustande bringen kann. Sherlock beobachtet ihn misstrauisch, während der Kellner (der auch der Koch ist) ihnen ihr Essen bringt. „Du denkst, ich wäre ein schlechter Mitbewohner!“ „Aber das bist du, ich weiß, wovon ich rede! Du hast immerhin zwei Wochen lang meine Wohnung belagert!“ Lestrade hat keine Ahnung, warum Sherlock das so schockieren sollte. Mit ihm zu leben ist wie auf eine besonders schlecht erzogene Katze aufzupassen. Er erwartet Essen und Aufmerksamkeit, wenn es ihm gerade passt, ruiniert die Möbel und schleppt ständig irgendetwas Totes an. „Das ist Ewigkeiten her und du hast mir nie gesagt, dass ich gehen soll!“ - was die Konversation schlagartig an den Punkt bringt, wo sie für Lestrade zu absurd wird, um sie weiter zu verfolgen. Weil er Sherlock nicht nur mindestens fünfmal aufgefordert hatte, zu verschwinden, sondern zum Schluss sogar Mycroft angerufen hat. „Vergiss es. Du hast doch jetzt deinen Doktor, oder?“ Sherlock gibt ein indigniertes Husten von sich und sieht plötzlich zehnmal so arrogant aus, wie normalerweise. Gespräche mit Sherlock bestehen großteils aus Verteidigungen, Ablenkungen und Missverständnissen, aber Lestrade ist sich ziemlich sicher, dass er weiß, was das hier ist. „Oh, will er schon wieder ausziehen?“ Er rät nur, aber von seiner Warte aus betrachtet, ist es die naheliegendste Annahme. Fünf Wochen mit Sherlock sind ehrlich gesagt sogar eine sehr respektable Zeit. „Was hast du gemacht?“ „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ein Freund mitfühlender sein sollte“, schnappt Sherlock. „Du kannst das nicht besonders gut.“ Lestrade zuckt die Schultern. „Hat vermutlich Gründe, warum ich nicht viele Freunde habe. Du kannst dir jederzeit jemanden suchen, der mitfühlender ist.“ Sherlock schmollt für zwei Minuten, bevor die Ungerechtigkeit zu viel wird, um sie still zu erdulden. „Ich habe gar nichts getan!“ Lestrade hebt eine Augenbraue. „Er ist absolut irrational!“ „In Bezug auf was?“ „Im Bezug auf die Ohren in der Badewanne! Er hat mir nie gesagt, dass er eine besondere Abneigung gegen Ohren hat, woher soll ich sowas wissen? Ich habe ihm erklärt, dass mein Gedächtnis eine begrenzte Ressource ist, die ich an solche Banalitäten nicht verschwenden kann, aber hört er mir zu? Er erwartet, dass ich mir Zeug merke. Zeug übers Wäschewaschen!“ Lestrade sieht das Problem. „Ich habe mir dreizehn Regeln gemerkt, allein darüber, was ich nicht zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens machen darf. Ich habe sogar daran gedacht, Milch zu kaufen!“ In Sherlocks Welt (die niemals, unter keinen Umständen, mit der allgemein anerkannten Realität gleichgesetzt werden kann) ist er damit tatsächlich nahe daran, der perfekte Mitbewohner zu sein. Lestrade ist sich ziemlich sicher, dass Sherlock unter der Illusion lebt, dass er selbst nicht mehr von einem Mitbewohner verlangt, als an die Wäsche zu denken und gelegentlich Milch zu kaufen. Er neigt zu solchen Wahnvorstellungen. Aber es ist beinahe rührend, dass er es versucht. „Die meisten Menschen hätten etwas gegen Ohren in der Badewanne“, stellt Lestrade fest. Jahre von Sherlock-Gesprächen haben ihn gelehrt, sich nicht daran zu stören, wie verrückt und/oder banal ein Satz klingt, es ist immer gut, gewisse Dinge einfach erstmal klar zu stellen. „Aber er hatte nichts gegen die Augen“, argumentiert Sherlock. „Das ist inkonsistent.“ „Die Augen in der Mikrowelle?“ „Sie waren nicht immer in der Mikrowelle.“ „Klar. Warum sollten sie?“ Sherlock ignoriert ihn. „Sie waren dort um aufzutauen. Als er sie fand, waren sie im Gefrierschrank.“ „Und was hat er dazu gesagt?“ „Er fragte, warum da Augen im Gefrierschrank sind. Ich erklärte es. Wir hatten eine sehr erhellende Unterhaltung über Zellschädigung durch Gefrierbrand.“ Sherlock klingt glücklich. Und das ist der Moment, in dem Lestrade eine Epiphanie hat. Eins. Er hat noch nie gehört, dass Sherlock glücklich klingt, ohne dass Mord oder Drogen involviert sind. Zwei. Doktor John Watson ist entweder ein Heiliger oder beinahe so wahnsinnig wie Sherlock Holmes, möglicherweise beides. Drei. Irgendwas in Bezug auf Töpfe und Deckel, wenn er nicht wieder Sprichwörter durcheinanderbringt. Wie dem auch sei, das Problem scheint klar. John Watson, der Sherlock besser tolerieren kann, als irgendjemand sonst, will ausziehen. Wegen der Ohren in der Badewanne. Wobei die Ohren möglicherweise nicht das Problem sind. Verblüffenderweise. „Vielleicht wollte er die Badewanne benutzen?“ rät Lestrade. Sherlock sieht überrascht aus, so als wäre der Gedanke, dass man die Badewanne für andere Zwecke als die Lagerung von Ohren benutzen könnte, ihm nicht gekommen. „Baden soll entspannend sein“, sagt er und Lestrade denkt, dass das ein Zitat aus dem schlecht recherchierten Alienbuch sein könnte. „Er wirkte tatsächlich gestresst.“ „Bevor oder nachdem er die Ohren gesehen hat?“ „Sowohl als auch. Er hatte Überstunden, die wohl größere Mengen Erbrochenes beinhalteten.“ „Also ging es vielleicht gar nicht um die Ohren.“ „Ich denke, ich erinnere mich sehr gut an die Diskussion“, sagt Sherlock skeptisch, „und an eine auffallende Häufung des Wortes 'Ohren'.“ Lestrade unterdrückt ein Seufzen. „Lass uns annehmen, dass es nicht um die Ohren ging.“ „Auf welcher Basis? Unbegründete Annahmen führen zu-“ „Auf der Basis von dem, was ich sage“, unterbricht er unwirsch. Weil- wirklich, warum sollte ausgerechnet Sherlock erlaubt sein, hier seine Expertise anzuzweifeln? Sherlock scheint einen Moment lang tief in Gedanken. „Du könntest eine Testfunktion sein.“ „Was?“ „Eine gelöste Annäherung an John. Wir sind auch Freunde und ihr zwei täuscht Normalität so gut vor, dass ihr euch oft genug selbst etwas vormachen könnt. Wir müssen nur einrechnen, dass du schrecklich territorial bist, was deinen Lebensraum betrifft.“ Es sind achtlos fallengelassene Bemerkungen wie diese, die Lestrade daran erinnern, dass es niemals völlig ungefährlich ist, mit Sherlock zu reden. Eines Tages könnte er dir etwas über dich erzählen, dass sich nicht mit einem Schulterzucken abtun lässt. „Sherlock, Menschen sind nicht lösbar!“ Sherlock sieht ihn an, als wäre er derjenige, der absurd ist, und zieht es vor nicht zu antworten. „Was du sagst ist also, dass das Gerede über Ohren eine Art Code war“, fasst er zusammen. Lestrade hat den Impuls, ihm zu sagen, dass das keineswegs war, was er gesagt hat, zuckt dann aber nur die Schultern. „Was genau hat er denn gesagt?“ „Schaff' die verdammten Ohren weg, oder ich bin weg“, zitiert Sherlock. Lestrade braucht einen Moment, um seiner Verwirrung Herr zu werden. „Das ist nicht unbedingt eine Absichtserklärung auszuziehen“, sagt er schließlich. Sherlock verzieht das Gesicht. „Es wäre möglich, dass ich ihm gesagt habe, ich würde lieber die Ohren behalten.“ „Warum?“ „Ich weiß es nicht! Ich war wütend, er hat mich angeschrien. Und sich geweigert, Tee zu machen!“ Lestrade starrt ihn an, Sherlock sieht verwirrt aus. Manchmal ist es schwer zu glauben, dass dieser Mann ein Genie sein soll. „Er schreit dich wegen Ohren in der Badewanne an. Und du sagst ihm, er soll Tee machen.“ Nur um das klarzustellen. „Es ist eine sozial völlig akzeptable Bitte“, erklärt Sherlock ihm und fügt, angesichts Lestrades skeptischen Gesichtsausdrucks, eine praktische Beobachtung hinzu: „Menschen machen sich ständig gegenseitig Tee.“ „Ich weigere mich, das mit dir zu diskutieren“, antwortet Lestrade. Wenn man mit ihm spricht, erreicht man einfach manchmal diesen Punkt, wo Sherlock so völlig entgleist, dass alles, was man sagen könnte, einen nur weiter in den Wahnsinn treiben würde. Sherlock funkelt ihn an. Er denkt gerade wütende Gedanken über Leute mit winzig kleinen Gehirnen, Lestrade kann das spüren. „Zwei Ratschläge“, sagt er und Sherlocks Blick verdüstert sich noch mehr. „Erstens: Du wirst die Ohren los und erwähnst sie niemals wieder. Zweitens: Wenn Leute dich anschreien, forderst du sie nicht auf, irgendetwas für dich zu tun.“ „Ich kann den ersten befolgen“, sagt Sherlock widerwillig. „Ich brauche sie sowieso nicht mehr, seit ich die Abdrücke habe. Aber der zweite hätte drastische Konsequenzen für meine Arbeit.“ Lestrade zuckt die Schultern und tupft mit dem Brot den letzten Rest des köstlichen Currys von seinem Teller. „Ich muss zurück zur Arbeit.“ „Hoffentlich hat einer dieser Möchtegern-Kriminellen sich endlich entschieden, etwas zu tun“, bemerkt Sherlock bitter, so als wäre er schrecklich enttäuscht von der Londoner Unterwelt, weil sie ihm schlechte Unterhaltung liefert. Das trifft wahrscheinlich zu. „Lass uns das Beste hoffen“, ist Lestrades einigermaßen zweideutige Antwort. Bevor er geht, wendet er sich noch einmal zu Sherlock um, der in seiner Ecke hängt und mürrisch in die Welt guckt. „Er wird nicht ausziehen“, sagt Lestrade und ist sich einigermaßen sicher, richtig zu liegen. „Erzähl ihm von den dreizehn Regeln, die du dir gemerkt hast, vielleicht gefällt ihm das.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)