Magdalenas Passion von Erzsebet (Eine Herbstromanze) ================================================================================ 5: Sühne -------- Das Elisabethstift lag nur zehn Autominuten von uns, aber da ich das ungewohnt große Auto von Familie Brandner fuhr und es durch die ebenso ungewohnte Automatik-Schaltung auch noch schaffte, es zweimal in Kurven absaufen zu lassen, brauchen wir dorthin fast zwanzig Minuten. Frau Brandner erzählte irgend etwas von einem Anruf aus dem Krankenhaus, aber da ihre Stimme zunächst noch von ihren Tränen erstickt wurde und später so leise war, daß das Motorengeräusch sie übertönte, erfuhr ich nichts Genaueres über Beas Zustand. Daß sie einen Motorrad-Unfall hatte, erschloß ich mir eher selbst, als es wirklich zu verstehen. Aber auch das bereitete mich nicht auf den Anblick vor, der sich bot, als ich ihre Mutter in den Behandlungsraum der Notaufnahme begleitete. In dem hell erleuchteten, weiß gekachelten Raum, umgeben von drei Gestalten in weißen Kitteln, lag auf einer fahrbaren Liege eine schlanke Frau mit geschlossenen Augen, ganz bleich aber mit auffällig roten Stellen am hellen T-Shirt, im Gesicht und am rechten Arm, wie eine kaputte Porzellanpuppe, die in Ketchup gefallen war. Natürlich war es Blut, hauptsächlich wohl aus einer Platzwunde oberhalb des rechten Auges, die gerade genäht wurde, der Hals war von einer Kunststoffmanschette umgeben, wie von einer merkwürdigen Halskrause. Nur mit Mühe erkannte ich in dieser Frau Beatrix, vor allem, weil sie noch immer das gelbe T-Shirt und die geknöpfte Jeans trug. Das rechte Hosenbein war bis zum Knie aufgeschnitten, das Bein darin anscheinend gebrochen, denn gerade wurden Fuß und Wade von zweien der Ärzte oder Krankenpfleger mit Gipsbinden umwickelt. Beatrix wimmerte leise, in meinen Ohren klang es eher ängstlich, als schmerzerfüllt und es erinnerte mich sehr an ihr eigenes kindliches Selbst. Frau Brandner umklammerte meine Hand. "Das arme Kind", stöhnte sie und war wieder den Tränen nahe, vermied auffällig, zu ihrer Tochter zu schauen. Der bebrillte Mann, der die klaffende Wunde in Beas Gesicht nähte, sah zu uns. "Sie sind die Mutter der jungen Frau?", fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf und mußte mich räuspern, bevor ich einen klaren Ton hervorbrachte. "Ich bin die Nachbarin. Ich habe Frau Brandner hergefahren." Anscheinend war der Brillenträger nun fertig, denn er stand von dem fahrbaren Hocker am Kopfende der Liege auf, streifte seine Handschuhe ab und warf sie in einen Eimer. "Kommen sie doch bitte eben mit, Frau Brandner, wir brauchen noch ein paar Angaben zur Krankenversicherung ihrer Tochter, außerdem möchte die Polizei mit ihnen sprechen." "Könnten sie bei Beatrix bleiben?" bat die Mutter mich, und ich nickte. Der - angesichts eines aus seiner Kitteltasche baumelnden Stethoskops – mutmaßliche Arzt gab erst Frau Brandner dann mir die Hand, dann zeigte er auf den Hocker, den er verlassen hatte. "Setzen sie sich da hin, reden sie ihr gut zu, das wird sie trösten, auch wenn sie durch die starken Sedativa jetzt nicht viel mitbekommt." Dann ging er mit Frau Brandner durch die Tür hinaus, durch die wir den Raum betreten hatten. Ich schob den Hocker um Bea herum, um nicht ihre offensichtlich verletzte rechte Hand, sondern ihre Linke zu nehmen, die sich sofort um meine Finger schloß. Ganz unangemessen ging mir der Gedanken durch den Kopf, daß ihren schönen Brüsten, ihrem duftenden Körper glücklicherweise nichts passiert war - und natürlich fragte ich mich, wieviel Schuld ich an ihren Verletzungen trug, an der Platzwunde, dem verschwollenen Gesicht, ihren gebrochenen und aufgeschürften Gliedmaßen. So oft hatte ich ihre Hand gehalten, als sie noch viel kleiner war, wenn kleine oder größere Wunden mit Pflastern oder zwei Stichen versorgt werden mußten, die sie in Auseinandersetzungen mit seinen Söhnen davongetragen hatte. Aber nie war ihre Hand dabei so kühl gewesen, und nie so groß wie meine. Sie war inzwischen erwachsen und hatte mir ihre Liebe offenbart – aber ich hatte sie fortgeschickt. "Erzählen sie ihr einfach irgendwas, es wird sie beruhigen", sagte der Mann, der nun seltsamerweise den frisch gemachten Gips um den Fuß wieder der Länge nach aufschnitt. Daß meine Stimme Bea beruhigen würde, bezweifelte ich stark. War sie wirklich so wie sie da lag Motorrad gefahren - ohne Lederkleidung, ohne Helm? Wie konnte sie nur so leichtsinnig sein! Hatte sie es wissentlich darauf ankommen lassen, umzukommen? Dann traf mich die ganze Schuld an den Verletzungen, als hätte ich sie ihr persönlich zugefügt. "Bitte verzeih mir", flüsterte ich und betete im stillen darum, daß Bea es nicht hörte, sondern nur spürte, daß ihre Hand gehalten wurde. Irgendwie verging die Zeit, vielleicht wurde Beas Wimmern leiser, vielleicht gewöhnte ich mich auch nur daran. Der aufgeschnittene Beingips war inzwischen mit einer elastischen Binde umwickelt, der zerschundene Arm ebenfalls mit einem Stützverband versehen, und Frau Brandner kam mit dem Arzt zurück. Sie stellte sich neben mich, sah auf ihre inzwischen anscheinend mehr oder weniger schlafende Tochter hinunter. "Sie wird jetzt auf die Intensivstation gebracht", erklärte sie mir dann flüsternd, als habe sie Angst, ihr verletztes Kind mit diesem Wissen zu belasten. Dann drückte sie mir ihre Autoschlüssel, die ich ihr nach dem Abstellen des Wagens auf dem Parkplatz zurückgegeben hatte, in die Hand. "Fahren sie mit dem Wagen nach Hause, ich bleibe erst einmal hier. Vielleicht... vielleicht werfen sie die Schlüssel einfach bei uns in den Briefschlitz, dann findet mein Mann sie vor." Nur zögernd konnte ich Beas Hand lassen, legte den unverletzten Arm vorsichtig auf der Liege neben ihre wohlgeformte Hüfte. Was hatte ich nur getan? Drei Leben hatte ich an einem einzigen Vormittag zerstört. Was nur möglich war mußte ich wieder gutmachen, an Bea, an Bruno. Aber wie sollte mir das gelingen? Wenn Bea nun auf die Intensivstation mußte, war es wohl doch ernster, als nur gebrochene Knochen und Schürfwunden, aber ich wagte nicht zu fragen, da ich nicht wußte, ob ich mit der Anwort würde leben können. Es war besser, für den Augenblick zumindest daran zu glauben, daß sich niemand die Mühe gemacht hätte, ihre Wunden zu versorgen, wenn nicht eine Chance auf Heilung bestand. "Wenn irgendetwas... wenn ich helfen kann...", doch dann versagte mir die Stimme. Frau Brandner lächelte gequält. "Danke für ihr Angebot. Aber hier wird ja alles, was menschenmöglich ist, für sie getan. Wie oft ich ihr zugeredet habe, diese Motorradfahrerei zu lassen. Aber davon wollte sie ja nie etwas hören." Die letzten Worte waren gar nicht mehr an mich gerichtet, so leise wie Beas Mutter sie gesprochen hatte, und ich ließ Mutter und Tochter allein. Langsam und vorsichtig fuhr ich mit dem fremden Auto nach Hause, steckte den Schlüssel in den Briefschlitz bei Brandners, stand einen Moment unschlüssig vor der Tür, überlegte, ob ich klingeln sollte, um vielleicht mit Beas Vater zu sprechen, aber was sollte ich ihm sagen - wenn er denn überhaupt zuhause war? Also ging ich hinüber zu meiner eigenen Haustür. Sie war noch verschlossen, so wie ich sie hinterlassen hatte, also waren weder Sebastian noch Bruno bisher nach Hause gekommen. Erleichtert, die Aussprache mit meinem Mann, die ich der Muttergottes versprochen hatte, noch vor mir herschieben zu können, ging ich in die Küche, um endlich mein Frühstück nachzuholen, aber angesichts der roten Tomaten verging mir mein Appetit. Also saß ich nur da, schaute auf den kaltgewordenen Kaffee in der Glaskanne. Dann vergrub ich mein Gesicht in den Händen und betete sehr inbrünstig darum, daß es Bea bald besser gehen möge und daß sie die Kraft fand, mir zu verzeihen. Ich war am Küchentisch in mich zusammengesunken und spürte plötzlich eine vertraute Hand auf der Schulter. "Was ist, meine Morgenröte?" fragte Bruno liebevoll, und ich lehnte mich wortlos an ihn, ließ mich umarmen, und endlich flossen die Tränen meiner Verzweiflung. Bruno strich mir über das Haar, ließ mich weinen, gab mir den Halt, den er mir in unsem gemeinsamen Leben fast immer gegeben hatte, doch nun steckte in mir ein entfesseltes Untier, das ihm seine Kraft für mich wohl nehmen würde. Und ich mußte ihm davon erzählen. "Ich habe schon von Beatrix' Unfall gehört", sagte Bruno leise, seine tiefe Stimme hallte in seinem Brustkorb wider. "Ich weiß, daß sie früher immer wie eine Tochter für dich war. Und nun kannst du nicht einmal bei ihr sein. Es tut mir so leid." Nein, mir sollte es leid tun, ich war Schuld an dem Unfall. Wie sollte ich das wieder gutmachen? Und wie konnte ich Bruno so etwas Entsetzliches erzählen? Hatte ich Bea deswegen von mir gestoßen, weil sie mir fast eine Tochter war? Aber was, wenn sie eine völlig fremde Frau gewesen wäre? Dann hätte ich mich doch niemals darauf eingelassen, ihre Küsse, ihre Liebkosungen überhaupt zu erwidern. Ich hätte mich gewehrt oder um Hilfe gerufen. Und Bruno erzählte weiter: "Sebastian wird sich um Beas Motorrad kümmern und will heute abend noch mal versuchen, sie zu besuchen. Es wird schon alles wieder gut werden, mein Schatz. Ein paar Brüche und Platzwunden, das heilt doch alles wieder." Ach, natürlich verstand er es nicht. "Aber ich bin doch schuld", flüsterte ich, "ich bin doch Schuld an ihrem Unfall." "Aber nein, Mama!" ließ Sebastian sich da plötzlich vernehmen. Ich hatte gar nicht gemerkt, daß auch mein ältester Sohn in die Küche gekommen war. "Bea ist doch deswegen mitten im Semester nach Hause gekommen, weil sie mit einer 'Lena' ins reine kommen wollte", erklärte er. "Sie hatte ziemliches Muffensausen deswegen, und ich hab ihr auch noch zugeredet. Wahrscheinlich lief es nicht so, wie sie es sich erhofft hatte, und kopflos wie sie in solchen Fällen nun mal ist, ist sie einfach losgefahren. Also bin ja wohl am ehesten ich schuld." Ich war versucht, ihn anzusehen, aber ich wagte es dann doch nicht, vergrub mich noch tiefer in Brunos starken Armen, denn wer wußte, ob sie mir nach meinem Geständnis noch zur Verfügung standen. Doch ich mußte endlich zu meiner Schuld stehen: "Aber 'Lena', das bin ich." * * * Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)