Gemälde von J-chan ================================================================================ Er saß an einem Tisch dieses kleinen Studentencafés und starrte in das blasse Licht, welches der vor ihm befindliche Notebookbildschirm ausstrahlte. Zwar ließ dieses seine sowieso schon nicht sonderlich sonnenverwöhnte Haut nur noch fahler erscheinen, doch in der Regel kümmerte er sich nicht um solche Nebensächlichkeiten. Draußen regnete es in Strömen. Man konnte das leise rauschende Geräusch der Regenschwaden, welche sich wie ein grauer, undurchdringlicher Vorhang um die Häuser legten, selbst hier drinnen noch gut hören. Manuel war nahezu der einzige Kunde. Nur ein kleines Grüppchen Menschen hatte sich in eine der hinteren für ihn kaum einsehbaren Ecken verzogen und unterhielt sich mit gedämpften Stimmen. Es war auch kein Wunder, dass niemand kam bei diesem Dreckswetter, doch es war Manuel nur recht. So konnte er immerhin dem lautstarken Treiben in seinem Studentenwohnheim für ein paar Stunden entkommen und sich zudem ungestört auf seine Hausarbeit konzentrieren. Das hieß, sobald er nur endlich fähig wäre einem klaren Gedanken zu fassen. Der Earl Grey neben seinem Notebook war jedenfalls schon zum Großteil ausgekühlt und noch immer war ihm nicht so recht klar, wie er die auf der anderen Seite ausgebreiteten Berichte, Bücher und anderweitige Ausarbeitungen gemeinsam zu einem sinnvollen Text verarbeiten sollte. So verschwendete er weitere kostbare Minuten damit, sein Kinn auf dem Handballen abzustützen, um nachdenklich in den Regen hinaus zu starren und sich zu fragen, ob dies hier wirklich das war, was er wollte. Sicher, er hatte ganz zum Stolz seiner Eltern dieses Studium begonnen und das nicht einmal mit geringem Erfolg. Es war auch nicht so, dass es ihm so gar keine Freude bereitete. Doch immer wieder beschlich ihn das Gefühl, er müsse ausbrechen aus diesem düster-grauen Betongefängnis. Raus aus dieser Stadt, welche ihm an diesem Tag so trostlos vorkam wie schon lange nicht mehr. Freilich, er war hier geboren, ein echtes Stadtkind sozusagen, aber dennoch ... "Darf ich mich setzen?" Die Stimme eines Mannes riss Manuel aus seinen trüben Gedanken. Verwirrt blickte er auf und direkt in ein markant geschnittenes Gesicht, dessen auffälligstes Merkmal, ein paar schmale Augen von tiefer, wasserblauer Farbe, eine so kühle Dominanz ausstrahlten, dass es Manuel schwer fiel, den Blick von ihnen abzuwenden. Gerahmt wurde dieses Gesicht von halblangem, in leichten Wellen fallendem Haar, dessen pechschwarze Farbe jene dieser Augen nur noch mehr betonte. Am Kinn des Mannes zeichnete sich in Dreitagebartlänge ein kleiner Ziegenbart ab, nur vermochte Manuel nicht so recht zu sagen, ob dieser nicht nur Ergebnis einer zu nachlässigen Rasur war. Er versuchte das Alter des Anderen einzuschätzen, was ihm jedoch nicht leicht fiel. Denn im Gegensatz zum Rest seines Körpers, welcher eher jugendlichen Elan und ein Alter nicht viel höher als sein eigenes ausstrahlte, schienen diese hellen blauen Augen ein tiefes Wissen zu verbergen, welches nicht so recht zu der übrigen Ausstrahlung passen mochte. Der Andere hatte bereits eine Hand auf der Lehne des Stuhls schräg gegenüber von ihm gelegt und räusperte sich nun. Erst jetzt fiel Manuel erschrocken auf, dass er diesen bis eben noch unverblümt angestarrt hatte, ohne auch nur ansatzweise auf dessen Frage zu antworten. Und ehe er auch nur ein mehr der Peinlichkeit des Moments geschuldetes, zustimmendes "Bitte" begleitet von einem leichten Kopfnicken über die Lippen gebracht hatte, hatte der Andere auch schon den Stuhl zurückgezogen und den Platz neben ihm in Beschlag genommen. "Sie schreiben?", fing der Andere nun auch ohne große Umschweife ein Gespräch an. Seine Stimme war von einer angenehmen Tiefe und passte in gewisser Weise zu seiner gesamten geheimnisvollen Erscheinung. Manuel, welcher sich noch immer etwas überrumpelt fühlte von der direkten Art des Fremden und sich noch nicht so recht sicher war, was er von dieser überraschenden Begegnung nun halten sollte, nickte zunächst auf die Frage hin, nur um dann rasch den Kopf zu schütteln. Wo war dieser Mann überhaupt so plötzlich hergekommen? "Nicht direkt. Eine Hausarbeit" "Sie studieren also", stellte der andere fest und lehnte sich etwas in seinem Stuhl zurück, nur um einen Moment den Blick abwesend und sichtlich überlegend über die nahezu menschenleeren Räumlichkeiten gleiten zu lassen. Es wurde still zwischen ihnen und Manuel fragte sich, worauf dieses Gespräch nun eigentlich hinauslaufen sollte. Er nickte abermals, das Schweigen wurde ihm unangenehm. "Richtig", ergänzte er seine Kopfbewegung. "Aber ich komme im Moment nicht so recht vorwärts." Der Blick des Anderen klärte sich wieder und wanderte zurück in Manuels Richtung. Er lächelte und das in einer solch seltsam vertraute Art, welche Manuel zumindest bei einem Fremden, dem er erst vor ein paar Minuten begegnet war, kalte Schauer über den Rücken jagte. "Eine kleine Denkblockade also?", stellte der Andere fest und strich sich nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger über den dünnen Kinnbart. "Vielleicht hilft da eine kleine Zerstreuung?" Der Fremde rückte noch einmal auf seinem Stuhl hin und her, als würde er es sich nun erst recht bequem machen und zu einem längeren Verweilen einrichten. Manuel war alles andere als begeistert von der Sache. Was wollte dieser Fremde, der sich hier so dreist an anderer Leute Tische setzte, zudem überall rundherum noch genügend Platz gewesen wäre? Der Andere schien regelrecht seine Gedanken zu lesen, denn er winkte mit der einen Hand ab wie auf genau die Frage, welche Manuel nicht gestellt hatte. "Keine Angst, ich will Ihnen nichts. Nur eine kleine Unterhaltung an einem tristen Regentag." Für überzeugender hielt Manuel das nicht gerade. Aber wenn er es recht bedachte, hatte der Fremde vielleicht Recht. Eventuell konnte eine kleine Unterhaltung ihm tatsächlich helfen, sich anschließend besser auf seine Arbeit konzentrieren zu können. Im schlimmsten Falle hätte er ein wenig Zeit mit einem Verrückten vertrödelt, was letzten Endes auch nicht zu einem anderen Ergebnis führen würde als weiterhin ideenlos auf seinen Bildschirm zu starren. Entschlossen klappte er sein Notebook zu, welches sich mit einem leisen Surren in den Ruhemodus versetzte. "Na gut", antwortete er in stärker herausforderndem Ton als er eigentlich gewollt hatte. "Worüber möchten Sie sich unterhalten?" Der Fremde schien ihm den aggressiven Tonfall nicht übel zu nehmen. Im Gegenteil amüsierte er ihn sogar sichtlich, denn für einen Moment stahl sich ein schelmisches Grinsen auf seine Lippen, jedoch gerade nicht lange genug, um Manuel dazu zu verleiten es als überheblich einzustufen. Er fühlte sich ein Stück weit getadelt, obwohl er nicht so recht sagen konnte, was die Ursache für dieses Gefühl war und so wartete er einfach Stumm auf eine Antwort, um dem anderen nicht noch mehr Grund für sein freches Grinsen zu liefern. Jener hatte seine Gesichtszüge jedoch schneller als befürchtet wieder unter Kontrolle. "Wie wäre es mit einer kleinen Geschichte? Sie bestellen sich ein frisches Getränk, lehnen sich zurück und hören einfach zu." Manuel konnte sich eines weiteren misstrauischen Blickes dem Fremden gegenüber nicht erwehren, doch bei aller Vorsicht siegte auch langsam die Neugierde darüber, was dieser ihm wohl zu erzählen hatte. Und auch wenn er mit dem Anderen bisher nur wenige Worte gewechselt hatte, so lullte ihn seine Stimme bereits jetzt auf seltsam angenehme Weise ein. So kam es, dass Manuel sich dabei ertappte, ein weiteres Mal zu nicken und die Bedienung herbeizurufen, um einen zweiten Tee zu bestellen. Der Andere bestellte nichts, und zu Manuels Verwunderung quittierte die Dame dies noch nicht einmal mit einem ärgerlichen Blick, was so ganz seinen bisherigen Erfahrungen in diesem Café widersprach. Manuel nippte an dem frischen Tee, und verzog das Gesicht, denn das Getränk war noch sehr heiß und hätte ihm glatt die Zunge verbrüht, hätte er einen größeren Schluck genommen. Der Fremde registrierte dies mit einem spöttischen Blick, ersparte sich jedoch jeglichen Kommentar. Verärgert über sich selbst wischte sich Manuel über die Lippen und stellte die Tasse wieder ab. Was für ein erbärmliches Bild musste er wohl die ganze Zeit über abgeben? "Also was ist nun mit Ihrer Geschichte?" Der Andere lachte kurz. Es war kein Hohn in seinem Lachen. Vielmehr schien er sogar ein gewisses Verständnis für die Ungeduld seines Gegenübers zu haben. "Sie haben Recht, also fangen wir an." Es folgte ein Räuspern und wieder lehnte sich der Fremde entspannt in seinem Stuhl zurück. Hinter ihm konnte Manuel durch die großen Schaufenster noch immer die trüben Regenschwaden sehen und es schien ein wenig stiller um sie herum geworden zu sein, sodass wieder das leise Rauschen von abermillionen Wassertropfen zu vernehmen war, welche auf grauem Betonboden zerschellten. Dann begann der Andere zu erzählen: Schicksalsschläge, welche einen aus der Bahn werfen und so hart treffen, dass sie einen sogar am Sinn dieses Lebens zweifeln lassen, begegnen jedem mindestens einmal im Laufe seines Daseins. Für jene Frau, welche sich an einem angenehm milden Frühlingsnachmittag auf einer abgelegenen Lichtung des Waldes in der Nähe ihres Elternhauses einfand, war ein solcher verhältnismäßig früh gekommen. Sie hatte sich für einige Wochen aus ihrer städtischen Wahlheimat verabschiedet, da die Erinnerungen an jenes Ereignis ihr dort nahezu an jeder Ecke wieder ins Gedächtnis zurück gerufen wurden. So entsann sie sich wieder eines Hobbys, welchem sie vor nicht allzu langer Zeit noch eifrig gefrönt hatte und stand nun hier in der warmen Frühlingssonne, voll bepackt mit Staffelei und allerlei Arbeitsutensilien, welche sie fein säuberlich in einem Mäppchen untergebracht hatte. Doch konnte sie sich trotz aller Schönheit, welche sie umgab, das leise Zwitschern der Vögel, das Rauschen des Blätterdachs und dem leisen Plätschern eines kleinen versteckt vor sich hin fließenden Baches nicht so recht freuen oder auch nur diese Schwere, welche ihren Geist einnebelte, für einen Moment ablegen. Und eigentlich wollte sie auch einfach nur allein ihre Gedanken sortieren, weshalb sie diesen Ort ein ganzes Stück abseits der üblichen Wanderwege gewählt hatte. Eine ganze Weile stand sie dort, starrte auf den Waldboden, auf welchem es vor lauter Leben nur so wimmelte und schien zu überlegen, ob sie nun wirklich anfangen oder doch besser wieder zurück und sich in einer dunklen Ecke verkriechen sollte. Seufzend entschloss sie sich dann doch zu ersterem, stellte die mitgebrachte Staffelei deutlich umständlicher auf als es nötig gewesen wäre, nahm ein Stück Kohle zur Hand und begann zu skizzieren. Ein knorriger, alter Baum war unter anderem ihr Motiv, dessen Stamm und Äste sich in beeindruckenden Formen wanden und in ihr den Eindruck erweckten, als wäre er ein Wesen aus Fleisch und Blut. Zu Fuße seines Stammes reihten sich Pilze in verschiedensten Formen zwischen dickem, dunkelgrünem Moos. Dichtes Buschwerk umschloss die Rückseite wie auch den Rest der gesamten Lichtung. Es tat ihr wohl gut, endlich wieder ihre Hände dieser kreativen Arbeit nachgehen zu lassen. Ihr Blick wurde entspannter, während sie sich der Vorstellung eines kleinen Elfenvolks hingab, welches wohl möglich in diesem Wunderwerk der Natur hauste und für wenige Augenblicke schaffte sie es tatsächlich die Gedanken an dieses traurige Ereignis, welches sie so quälte, zu verscheuchen. Ein leises Knacken war es, was sie erschrocken aufhorchen ließ und mit einem Mal spürte sie die Präsenz einer anderen Person. Das war jedoch auch nicht weiter verwunderlich, denn der Mann, welcher sich wie aus heiterem Himmel zu ihr gesellt hatte, stand direkt neben ihr und betrachtete leicht vorn über gebeugt und mit interessiertem Blick ihre bisherige Arbeit. Mit einem erstickten Schrei wich sie zur Seite, holte sogar halb zu einem abwehrenden Schlag aus, den sie jedoch nicht zu Ende führte. Der Fremde ließ sich von dieser Reaktion wenig beeindrucken, legte sogar noch interessiert den Kopf zur Seite, während er weiterhin ihre Skizze musterte. "Was soll das, sich einfach so anzuschleichen?", empörte sie sich über den ungebetenen Gast ohne ihrer Stimme wirklichen Nachdruck verleihen zu können. Vielmehr schwang eine große Unsicherheit in jedem einzelnen ihrer Worte mit. "Sie scheinen das kleine Zaubervolk sehr zu mögen", stellte der Andere mit freundlicher Stimme fest, ohne auch nur ansatzweise auf ihre Empörung einzugehen. Die Frau war nun sichtlich verwirrt, starrte ihn einen Augenblick lang verständnislos an und wandte dann den Blick von ihm ab, auf ihr eigenes Werk. Kleine, filigrane Wesen schwirrten dort zwischen Pilzen, Blumen und Baumkronen und schienen einen fröhlichen Tanz in den langen Schatten der Abendsonne aufzuführen, welche dort mit groben Kohlestrichen bereits angedeutet waren. Die Frau konnte sich nicht erinnern, diese Figuren gezeichnet zu haben, so sehr musste sie in ihren Träumereien versunken gewesen sein. Zumindest war dies ihre Erklärung. "Ach das", bemühte sie sich um ein unsicheres Lachen und stellte sich schräg zwischen dem Mann und ihre Zeichnung, sodass sie zumindest einen Teil vor seinen Blicken abschirmte. Eine leichte Enttäuschung machte sich auf seinen Gesichtszügen breit. "Das ist gar nichts, nur ein kleiner Zeitvertreib, eine Ablenkung", fuhr sie fort und ärgerte sich innerlich über sich selbst, dass sie es für nötig erachtete, einem vollkommen Fremden gegenüber irgendwelche Rechenschaft über ihr Tun abzulegen. Der Andere blickte sie zwar prüfend, aber noch immer freundlich an. "Eine Ablenkung benötigt man meistens, um zu vergessen. Was wollen Sie vergessen?" "Darüber möchte ich nicht reden." In Gedanken fügte die Frau noch hinzu: "Schon gar nicht mit einem Wildfremden" und blickte zur Seite, um ihm dabei nicht in die Augen sehen zu müssen. Dennoch, ihre Antwort kam zu hastig, zu verräterisch. Der Mann zuckte nur mit den Schultern: "Ich verstehe. Dürfte ich Ihnen trotzdem bei Ihrer Arbeit zuschauen? Sie scheinen wirklich Talent zu haben." Obwohl die Frau am liebsten weiterhin allein mit ihren Gedanken geblieben wäre, schmeichelte ihr sein Kompliment offenbar doch genug, um ihn mit einem unsicheren "Na gut", in der Nähe verweilen und ihr über die Schulter schauen zu lassen. Bis zum Abend vollendete sie ihre Skizze zu einem großen Teil, ohne dass sie mit dem Fremden auch nur ein weiteres Wort gewechselt hatte. "Sie kommen wieder?", wollte der Mann wissen, als sie ihre Sachen zusammen räumte und sich zum Gehen bereit machte. Sie nickte. "Ich werde noch eine Weile hier in der Nähe wohnen." Die nächsten Tage und Wochen trafen sie sich regelmäßig auf dieser abgelegenen Lichtung. Sie sprachen nie eine Uhrzeit ab, dennoch war es die Regel, dass sie egal zu welcher Tageszeit zuerst dort auftauchte und kurz darauf fast wie abgesprochen erschien er wie aus dem Nichts, sodass sie sich zwischendurch fragte, ob er nicht den ganzen Tag auf der Lauer lag, nur um ihr den geheimnisvollen Fremden vorzugaukeln. Die Arbeit an ihrem Bild kam zunächst rasch, dann immer langsamer voran. Gleichzeitig wuchs die Anzahl der Worte, welche sie mit ihm wechselte und mit Ihnen das Vertrauen. Das Bild erhielt die ersten Farbtupfer und sie öffnete sich ihm über das, was ihr widerfahren war. Von einer wundervollen Partnerschaft erzählte sie, wie verliebt sie gewesen war. Dann eine Schwangerschaft, welche sie zwar nicht gewollt, aber mit der Zeit doch akzeptieren gelernt hatte. Sie beide hätten nach dem ersten Erschrecken gemeinsam den freudigen Ereignis der Geburt entgegengefiebert, doch es hatte nicht sein sollen. Ein schwerer Sturz habe das Schicksal des Ungeborenen besiegelt. Sie gab sich die Schuld daran und auch daran, dass ihre Partnerschaft diese schwere Zeit nicht hatte überstehen können. "Das Schicksal hält sicher auch wieder glücklichere Tage für Sie bereit", versuchte er sie einmal zu trösten. Sie schwieg dazu, doch schienen ihr seine Worte dennoch gut zu tun. Ein kaum sichtbares Lächeln verriet sie. Eines Tages, das Bild war fast fertig, blieb sie der Lichtung ohne Vorwarnung für einige Tage fern. Und als sie diese nach dieser Zeit abermals betrat, um ihr Werk endlich zu vollenden, fürchtete sie fast, der Fremde würde sich nicht mehr zeigen. Hoffnungsvoll blickte sie sich um und begann die Staffelei aufzustellen, wie sie es schon so oft getan hatte. Ein nahezu vollendetes Bild stellte sie auf, welches in warmen roten und grünen Farbtönen einen auf wunderbare Art verschlungenen Baum darstellte, um welchen ein kleines Zaubervolk einen mystischen Tanz aufführte und welcher schon kaum mehr etwas mit ihrer ursprünglichen Vorlage gemein hatte. "Sie sind wieder da", sprach eine vertraute Stimme hinter ihr. Und obwohl sie diese Art einfach aufzutauchen mittlerweile gewöhnt war, fuhr sie erschrocken herum. "J... ja", antwortete sie unsicher und traute sich offensichtlich nicht, ihm in die Augen zu schauen, als fragte sie sich wie er wohl reagieren würde. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. "Es ist etwas geschehen", stellte er fest. "Etwas Gutes." Er freute sich sichtlich für sie, obwohl sie ihm noch gar nicht von der Neuigkeit erzählt hatte. Sie nickte, wusste wohl noch nicht so recht wie sie es ihm genau mitteilen sollte, doch konnte man jetzt die Freude in ihren Augen aufblitzen sehen. "Er ist zu mir zurückgekommen", fing sie dann ohne Umschweife an. "Wir haben lange, so lange miteinander geredet, wir werden uns nie wieder trennen. Ich werde wohl wieder zurück in meine alte Wohnung ziehen.", flossen die Worte nur so aus ihr heraus. Für einen Moment blickte der Andere sie mit undeutbarer Miene an und sie befürchtete fast, er würde sich nun vielleicht von ihr zurückziehen. Hatten Männer, welche sich um einen kümmerten doch häufig noch höhere Erwartungen als nur ein anregendes Gespräch. Doch nichts dergleichen geschah. "Das ist wunderbar", sprach er mit einer Ehrlichkeit, die aus tiefstem Herzen kam und tat etwas gänzlich Unerwartetes. Er streckte seine Hände aus und berührte sanft ihre Wangen, welche sogleich erröteten. Sie wirkte unsicher, wusste nicht, wohin sie blicken sollte, wand sich ein bisschen, machte jedoch auch keine Anstalten seiner Berührung zu entkommen. Sein Gesicht näherte sich dem ihren und ihr Puls ging mit jedem Zentimeter ein wenig schneller. Als seine Stirn die ihre berührte ohne dass es zu dem von ihr erwarteten Kuss gekommen war, schlug sie verwundert die Augen zu ihm auf. "Ich wünsche dir ein gutes Leben." Sie hatte nicht viel Zeit sich zu wundern, denn plötzlich jagte ausgehend von dem Berührungspunkt ein unglaublich starker Impuls durch ihren Körper, welcher ihren Geist überwältigte und jede Faser ihres Körpers erfasste wie ein Schwall warmen Wassers, welchen man über sie ausgeleert hatte, nur noch eingehender, tiefer. Sie japste erschrocken und stieß ihn instinktiv von sich. Benommen stolperte sie rückwärts zu Boden und brauchte einige Augenblicke, um sich von dem eben Erlebten wieder zu erholen. Als sie immer noch hastig nach Luft schnappend wieder in die Richtung blickte, in welcher sie den Anderen vermutete, war dieser jedoch verschwunden. Schnell blickte sie nach links und rechts, doch war niemand mehr zu sehen. Mit einem Mal spürte sie, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief, als die warme Abendsonne, welche bis eben noch auf sie geschienen hatte, von einem kühlen Schatten abgeschirmt wurde. Sie schluckte, drehte sich langsam, sehr langsam in die Gegenrichtung und hätte wohl laut aufgeschrien, wenn die Silhouette, welche sie im Dämmerlicht erspähte nicht auf dem ersten Blick Ähnlichkeit mit etwas hatte, was sie eigentlich schon kannte. Das Wesen, welches nun eingetaucht im roten Dämmerlicht nicht mehr war, als ein verschwommenes, schwarzes Schemen wirkte zunächst wie ein Pferd, nur wies es signifikante Unterschiede auf, die einem Anderes glauben machten. So waren die vier Läufe sehr viel schmaler und länger als die von gewöhnlichen Pferden. Überhaupt war der Körper von sehr zierlicher aber dennoch kraftvoll wirkender Statur. Wo gewöhnliche Pferde einen aus langen, kräftigen Haarsträhnen bestehenden Schweif hatten, war der dieses Wesens eher schmal und kompakt wie der eines Raubtieres, eines Löwen etwa. Das auffälligste Merkmal jedoch, welches sie immer noch ins Gegenlicht blinzelnd wahrnehmen konnte, war das überragend lange, filigrane Horn auf der schmalen Stirn des Wesens. Dieser gesamte Anblick bot sich ihr jedoch nur einen kurzen Moment lang in dem sich beide Seiten stumm anzustarren schienen. Dann wandte sich das Wesen ruhig um und verschwand ohne ein einziges Geräusch in dem roten, warmen Sonnenlicht. "Auf Wiedersehen", flüsterte die Frau. Seit diesem Ereignis war sie für eine Weile nicht mehr auf der Waldlichtung gewesen, denn sie war ihrem Partner wohl zurück in die Stadt gefolgt. Erst zwei Monate später verschlug es sie wieder dorthin zurück, da sie eine freudige Mitteilung zu machen hatte. Ihre Augen strahlten eine inständige Hoffnung aus, dass sie den Fremden oder das Wesen noch einmal wiedersehen möge, um von dem neuen Leben in ihr zu berichten. Doch wie sie es eigentlich schon erwartet hatte, traf sie dort draußen niemanden mehr. Sie wartete noch eine ganze Weile, doch bald schon kehrte sie diesem Ort im warmen Licht des Abendrots zum endgültig letzten Mal den Rücken zu. Es wurde still und nur noch das Plätschern des unermüdlich fallenden Regens war von draußen zu hören. Nur wurde dieses nun von einem leichten Donnergroll begleitet, welcher aus weiter Ferne zu ihnen hinüber zu rollen schien, als der Fremde seine Erzählung beendete. "Was hältst du von meiner kleinen Geschichte?" Manuel war bereits seit der Passage, in welcher das wunderliche Wesen erschienen war, so weggetreten, dass er weder die Frage noch die Tatsache, dass der Andere ungefragt zum Du gewechselt war so recht begreifen konnte. Er kannte die dort beschriebene Szene sehr viel besser und genauer als ihm lieb war. Und das machte ihm Angst. "Junge?", fragte der Fremde mit besorgtem Unterton und wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht, um seine Aufmerksamkeit zurück zu gewinnen. Manuel blinzelte verwirrt, gewann dann jedoch schnell seine Fassung zurück. "Wollen Sie damit sagen, dass diese Frau einem leibhaftigen Einhorn begegnet sein soll?" Der Fremde lächelte wissend. "Es sieht beinahe danach aus, nicht wahr?" "Und was ist bei der Berührung mit ihr passiert?" Woher wusste dieser Mann nur so genau Bescheid? Und was bezweckte er mit dieser Geschichte? Der Andere lehnte sich lässig zurück. "Nun, sie war kurz danach schwanger, oder nicht?" Manuel rümpfte nach dem ersten Schrecken ungläubig die Nase. Woher auch immer er von dieser spezielle Szene wusste, dieser Mann wollte ihn offensichtlich aus irgendeinem Grund veralbern. "Unbefleckte Empfängnis, oder wie?" Der Andere lachte in sich hinein und Manuel kam sich vor, als hätte er gerade etwas sehr Dummes gesagt. Wie ein kleines Kind, das versuchte von Dingen zu sprechen, von denen es nichts verstand. Seine Angst wandelte sich nun ein Stück weit in Wut um. "Nun, es gibt Kulturen, welche Einhörnern diese Fähigkeit nachsagen. Dort heißt es, es gäbe einzig männliche Exemplare und sie könnten Jungfrauen mit ihrem Horn Kinder bescheren. Allerdings ..." Er machte eine bewusst dramatische Pause und beugte sich mit verschwörerischem Blick zu Manuel vor. "... bist du nicht auch der Meinung, dass Einhörner heutzutage besser flexibel sind, um zu überleben? Was die Jungfrauen-Geschichte angeht, meine ich. Und eine stabile Beziehung ist doch oft ein so viel wärmeres Nest ..." Der Andere philosophierte sichtlich begeistert von seiner Theorie, obwohl es Manuel offensichtlich immer unangenehmer wurde, in was für eine Richtung sich diese Unterhaltung bewegte. Wieso hatte er auch selbst dieses Thema angesprochen? Nicht, dass er prüde war, aber solche Dinge mit einem absonderlichen Fremden zu besprechen, der ihm ebenso merkwürdige Geschichten erzählte, war ihm dann doch eine Spur zu abstrus. Ohne groß auf die sowieso wohl eher rhetorische Frage des Anderen einzugehen, versuchte er das Thema nun auf eine Sache zu lenken, die ihm viel mehr unter den Nägeln brannte: "Sie wissen nicht zufällig den Namen dieser Frau?" "Ah!", stieß der Andere aus und lachte abermals kurz und leise. "Wie ich sehe, fällt der Groschen langsam." Es folgte noch eine weitere dramatische, viel zu lange Pause. Manuel hasste diese Hinhaltetaktik schon bei diesen schlechten Fernsehsendungen, welche heutzutage so unglaublich im Trend lagen. Noch schlimmer zu ertragen war dies jedoch, wenn man solch einen Geheimniskrämer direkt vor sich sitzen hatte. Ehe er allerdings das eine oder andere scharfe Wort darüber verlieren konnte, ließ sich der Fremde zu einer Antwort herab: "Der Name ist Marianne." Ein eiskalter Schauer lief Manuel über den Rücken. Nun war klar, weshalb ihm das Einhornbildnis so klar vor Augen geführt werden konnte. Seine Mutter trug eben diesen Namen und die Schlüsselszene dieser sonderbaren Geschichte kannte er tatsächlich. Sie hing im Wohnzimmer seiner Eltern und war von seiner Mutter selbst gemalt worden. Während ihrer Schwangerschaft mit ihm, ihrem einzigen Sohn. Das behauptete sie zumindest immer mit einem gewissen Stolz. Und auch das kleine Zaubervolk, welches um den verschlungenen Baum tanzte, drängte sich ihm nun impulsartig ins Gedächtnis. Es befand sich bei seinen Großeltern, obwohl er nicht gewusst hatte, dass dieses ebenfalls ein Werk seiner Mutter gewesen sein soll. Was hatte das alles zu bedeuten? "Was wollen Sie?", fragte er misstrauisch aber auch weit weniger sicher als er es gerne gewollt hätte. Wie konnte ein vollkommen Fremder solche Details über seine Familie herausfinden und weshalb sollte er ihn danach aufsuchen, um ihm eine solch unglaubliche Geschichte aufzutischen? Irrte er sich, oder war das Donnergrollen nun eine ganze Ecke lauter geworden? Draußen schüttete es unvermindert weiter, während er in das nach wie vor hochamüsiert wirkende Gesicht des Fremden vor sich blickte. „Dass du es erkennst. Dass du zurückkehren musst, mein Junge. Nicht gleich, aber bald.“ Die nun folgende Bewegung war viel zu schnell als dass Manuel sie hätte abwehren können. Die überraschend warmen Fingerspitzen des Fremden drückten auf seine Stirn und nun verstand Manuel das Gefühl, welches die Frau in der Geschichte bei Berührung des Einhornmannes gehabt haben musste. Es überwältigte ihn und ließ ihn hilflos aufkeuchen bis sein Körper unter der Last der nicht enden wollenden kaum einzuordnenden Impulse endlich resignierte und zusammensackte. Er spürte, wie die Ohnmacht in ihm herankroch. Was würde nun mit ihm geschehen? Die trüben Regenschwaden rauschten draußen vor sich hin und noch immer rollte der Donner, als eine hörbar ungehaltene Bedienung ihm an der Schulter rüttelte. Als er den Kopf hob, spürte er, wie sich die Tasten seines Notebooks schmerzhaft von seiner Wange lösten. Doch er verschwendete nur einen kurzen Augenblick an den Gedanken was für einen jämmerlichen Anblick er nun so mit diesen quadratischen Abdrücken im Gesicht abgab. Er war einfach noch viel zu verwirrt über das Erlebte. Mühsam blinzelte er die Bedienung an, welche ihm nun rasch zu verstehen gab, dass er hier nicht übernachten könne und er überhaupt noch seine Getränke bezahlen müsse, bevor das Café schließen würde. Manuel ließ den Redeschwall wortlos über sich ergehen. Überhaupt war das Rauschen seines eigenen Bluts in seinen Ohren viel zu laut, um der Frau wirklich aufmerksam folgen zu können. Er bezahlte noch immer sichtlich verwirrt seine Getränke, die man ihm in Rechnung stellte und bemerkte nur beiläufig, dass es zwei an der Zahl waren. Anschließend machte er sich umständlich und langsamer als nötig daran, seine Sachen zusammenzusuchen. Von dem Fremden keine Spur mehr und überhaupt: Hatte er seinen Rechner nicht zu Beginn der Erzählung ausgeschaltet? Nur sehr langsam begann er sich wieder zu sammeln. Als er hinaus auf die Straße trat, blieb er einen Augenblick lang im Regen stehen, holte tief Luft und genoss das prickelnd kalte Gefühl, welches dieser auf seiner Haut verursachte und seine Sinne langsam klärte. Noch nie hatte er die reinigende Wirkung eines Gewitters so intensiv wahrgenommen und genossen wie in diesem Augenblick. Er war mittlerweile vollkommen durchnässt, was ihm jedoch wenig ausmachte. Aber es war nicht so, dass er einfach nur zur Besinnung kam. In ihm wuchs das Gefühl, dass seine Wahrnehmungsfähigkeiten sich potenzierten. Zunächst langsam und kaum merklich, dann immer stärker und überwältigender. Überall in dieser Betonwelt glaubte er mit einem Mal Leben zu spüren. Dabei handelte es sich jedoch nicht um das offensichtliche, welches die Menschen hierher gebrachte hatten. Es war, als spräche der gesamte Mikrokosmos dieser Stadt zu ihm. Da waren bunte und so vielfältige Stimmen, dass er kaum sagen konnte, ob sie nun gut oder schlecht, laut oder leise, voller Leben oder dem Tode nahe waren. Er spürte sie einfach. Ein unheimliches Gefühl, welches sich auch dann nicht änderte, als er schon längst auf dem Weg zurück in sein lautes Studentenwohnheim war. Die Wolkendecke brach langsam auf und machte einer angenehmen, roten Abendsonne Platz, welche den Regen verdrängte und seine nasse Haut wärmte. Bald schon war Manuel auf sonderbare Art mit sich im Reinen. Irgendetwas war geschehen, was ihn mit einem tiefen inneren Frieden aber auch mit einer gewissen Unruhe gesegnet hatte. Wie der Instinkt eines Vogels, den es alljährlich zur Herbstzeit in den Süden zog. Es war ihm mit einem Mal ein vollkommen natürlicher Drang, schon sehr bald seine Großeltern zu besuchen und somit den Ursprungsort des Gemäldes seiner Mutter. Sein Herz schlug aufgeregt bei dem Gedanken. Was würde ihn wohl erwarten? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)