Shiken Jigoku von Phantom (性能試験場) ================================================================================ Kapitel 1: Erster Salut ----------------------- Noch eine Explosion! Der ohrenbetäubende Knall zerriss die Luft und ließ nur einen einzigen Gedanken zu: Weg hier! Keuchend hechtete er in eine dreckige Mulde und entkam auf diese Weise nur scharf der über ihn hinwegsausenden Wolke aus knisternder Asche. Schreie wurden laut, sobald der Schreckensmoment vorüber war; eine Kugelsalve durchsiebte die falben Staubdämpfe über ihm. Es war heiß und trocken, der Sand hatte sich auf seine Schleimhäute gelegt und hinderte ihn am Atmen. Gehetzt fuhren seine blassgrünen Augen über die ihn umgebenden Felswände. Die dumpfen Töne fallender Körper hämmerten wie Steine auf sein Trommelfell, ungeachtet ihrer Entfernung. Schreie. Explosion. Ächzend vergrub er den Kopf zwischen den Armen. Eine neue Welle Kriegsdreck brach über ihn herein. Er war drauf und dran, einfach abzuwarten, doch da riss ihn eine Hand vom Boden auf die Füße. Das wutgezeichnete Gesicht des Generals war dem seinen so nahe, dass er die feuchte Hitze des anderen spüren konnte. „Was lungerst du hier herum, Junge? Nimm deine Waffe und verteidige dich!“ Die Worte schnitten schärfer als das gewaltige Schwert, welches der blonde Befehlshaber führte. Er schluckte trotz feuriger Kehle und war für einen Augenblick erleichtert, da er losgelassen wurde und beinahe zurück in den Schmutz plumpste. Im zweiten Augenblick musste er schon wieder vor einem feindlichen Anschlag fliehen. Als er sich aufrappelte, sah er den General bereits in eben jene Richtung stürmen, in welcher die zahllosen Detonationen wie Gewitterblitze wüteten. „Sir!“, rief er ihm unter dem unnachgiebigen Tosen des Kampflärms hinterher, tastete mit bebenden Händen nach seiner schweren Schusswaffe und setzte ihm nach. Zurück auf dem geplätteten Schlachtfeld vermochte er den schnellen Bewegungen des tiefblauen Umhangs bloß mit Mühe zu folgen, der über die Steppe fegte und mit silbernen Streifen in irdenroter Atmosphäre nach und nach einen ganzen Zug von gegnerischen Soldaten niederstreckte. „Genech…!“ Er hustete, und der Kampf um Sauerstoff schüttelte ihn komplett durch. Seine Finger wollten die Maschinenpistole fallen lassen und sich um seinen Hals klammern. Ihn überkam das Bedürfnis, sich wieder hinzuwerfen, voll auf die Abwehr der Schmerzen zu konzentrieren, doch er wusste, dass er ihm auf keinen Fall nachgeben durfte. Er zwang seine brennenden Augen auf und suchte sich taumelnd rennend einen Weg zwischen den großen Mehlsäcken, nicht daran denkend, dass es Leichen waren. Aufgeben kam nicht in Frage. Er würde es ihm niemals verzeihen. Etwas anderes als es durchstehen war inakzeptabel, schließlich ging es hier um mehr als um sein Leben. Die höhnisch verzerrten Mäuler der anderen erschienen vor seinem inneren Auge, stakkatoartig bewegt durch ein einstimmiges, schallendes Gelächter, das den Gefechtskrach übertönte. Mehr als nur… sein Leben! „General Logi!“ Kapitel 2: Zweiter Salut ------------------------ Der Angesprochene schwang sich zu ihm herum. Ehe ein weiteres Wort entsendet werden konnte, riss der Junge die MP zielbereit vor sein Auge und presste den Abzug zurück. Sein Herz schlug im gleichen Abstand wie die Kugeln in den gesichtslosen Soldaten. Sich jeglichen Lebens verweigernd, sackte dessen Körper puppenhaft in sich zusammen. Schneider war eiskalt geworden. Zitternd suchte er das Antlitz seines Generals, suchte so etwas wie Anerkennung darin. Zum ersten Mal hatte er die Grenze überwunden, und er hatte nicht einmal gezögert. Doch der General enthielt ihm die Erleichterung durch einen stolzen Blick vor. Ehernen Ernst las er stattdessen in den himmelblauen Augen, der den Infanteristen weiter frösteln ließ, ohne dass er begriff, weshalb er dem standhalten musste. Polternde Schritte ließen den Kommandanten aufmerken, und auch dessen Schützling wirbelte herum, als sie für ungeübte Ohren wahrnehmbar wurden. Erblicken konnte er allerdings nur noch eine Art schwarzen Kreis, der wie eine bösartige Sonne am Himmel hing, ehe er zu spät registrierte, dass es eine Kanonenkugel war. Die Energie ihres Einschlags riss ihn von den Beinen und ließ ihn über die Ebene fliegen, schien seinen mageren Leib zu verformen; spitze Splitter kratzten seine Haut auf. Er fühlte sich verloren – nicht zum ersten Mal an diesem grauenhaften Tag. "Bewährungsprobe" hatten sie es genannt. Wollten anscheinend wissen, was er konnte – und was nicht. Bewährungsprobe. Zwei Mann gegen eine Horde von Feinden. Der Kommandant packte ihn grob und beendete damit seine ungewisse Reise. Er zog den Jungen hinter sich, ohne die Ankömmlinge aus den Augen zu verlieren, und umfasste in der nächsten Sekunde den Griff seines Schwerts fest mit beiden Händen. Schneider konnte sich vor Entsetzen nicht mehr rühren. Auch General Logi wirkte inzwischen deutlich angespannt. Vermutlich weniger der eigenen Erschöpfung wegen denn der ständigen Mühe um die Sicherheit seines Rekruten. „Suche dir eine geeignete Position und nimm sie ins Fadenkreuz!“ Er versuchte es, jedoch… „I-ich kann nicht!“ „Mach schon!“, donnerte er, dass Widerspruch nicht nur zwecklos, sondern auch gefährlich wäre. Tatsächlich schienen allein die wetternden Worte zu bewerkstelligen, dass sich seine Beine wieder kontrollieren ließen. Ohne weitere Umschweife rannte er los. Er stürzte auf eine steile Anhöhe und begann, sie unter abbrechenden Kieseln zu erklimmen. Zusammenreißen! Reiß dich zusammen! Seine Gedanken hatten den herrischen Ton des Generals angenommen. Mit gekniffenen Augen warf er sich auf dem Hügel nieder und richtete das Visier gen Schlachtfeld, auf dem er Logi kämpfen sah. Die Zahl an Gegnern schien trotz dessen Erfolge immer bloß zuzunehmen, doch als sie ihn einzukreisen drohten, spannte er sich an und ließ unvorhersehbar eine übergroße Gestalt aus seinem Schatten wachsen. Ein furchtsames Raunen fuhr durch die Menge, deren erste Reihen gegen die hinteren stießen, als sie zurückstolperten. Schockiert und fasziniert zugleich verfolgte Schneider die fließenden Bewegungen des Schattens in völliger Verbundenheit mit denen seines Meisters. Unaufhaltsam glitt Nenes General durch die Truppen von Gibral, während Walküre ihre schützenden Schwingen über ihn breitete und sein Schwert mittels des ihren förmlich verlängerte. Grelle Schreie, wann immer die blitzende Schneide in butterweichen Widerstand traf. Es schien ein Spiel für ihn zu sein. Nichts weiter als ein Zeitvertreib. So wie andere ihr Gartenbeet umpflügen oder Kiesel über den See hüpfen lassen, schien er Leute zu ermorden. Ob er im Nachhinein so etwas wie Reue verspürte? Würde er später an die Toten und deren Familien zurückdenken? Die Fragen lenkten den unerfahrenen Schützen ab. Sein General wirkte wie ein ganz anderer Mensch, sobald er in die Schlacht zog. „Nimm Platz.“ Gehorsam ließ Schneider sich auf den Sessel nieder. Gerade war der General eingetreten und schritt nun mit majestätischer Anmut an ihm vorüber, um sich an seine Position zwischen den Zenturionen zu begeben. „Gestattet mir die Bitte, Sir: Es wäre mir lieber, mit Euch allein zu sprechen“, murmelte er mit düsterem Blick auf Logis Gefolgsleute. Dessen Augen zeigten keinerlei Regung. „Ich denke nicht, dass das nötig ist. Wir haben nichts zu verbergen.“ Ein süffisantes Kichern seitens seiner direkten Untergebenen. Schneider verzog das Gesicht. „Kommen wir zur Sache: Dir wurde eine Mission überantwortet, wenn ich richtig informiert bin.“ „Das stimmt“, bestätigte er kleinlaut. „Meine erste.“ „Die "Bewährungsprobe"“, säuselte ein muskulöser Kerl mit langem, dunklem Haar herablassend dazwischen. Sein Vorgesetzter ignorierte die Bemerkung. „Was weißt du über deinen Auftrag?“ Schneider zog die Schultern zusammen und stellte fest, wie sein Haupt mehr und mehr sank. Er konnte nichts dagegen tun. „In ungefähr einer Stunde und fünfundvierzig Minuten auf dem Schlachtplatz der Alten. Eine unklare Anzahl Gibral-Truppen. Es werden nur Infanteristen erwartet, darunter ein paar Schwertmeister. Keine Schattennutzer und keine schweren Geräte. Die Truppen glauben sich im Vorteil, wurden aber in eine Falle gelockt. Der beste Schlag gelingt voraussichtlich von Süden.“ „Gut“, beendete Logi seinen Vortrag. „Aber warum bist du hier, wenn dir das alles klar ist?“ Er hüllte seinen Anlass in Schweigen. Bis eben hatte er sich vorgenommen, selbstbewusst vor seinem Anführer zu stehen und ihm den Grund dieser Audienz ohne viel heißen Brei mitzuteilen, doch kaum hatte er diesen Raum betreten, kaum war er hinter ihm gewesen, war aller Schneid verflogen. Nun saß er wortkarg in dem großen Sessel, schrumpfend unter den erniedrigenden Blicken der Unterkommandanten und der diamantharten Miene des Oberoffiziers. Es vor ihnen allen zu entblößen, wäre ein Fehler. Viel zu oft für seinen Geschmack hatte er die Schikanen durch die Zenturionen über sich ergehen lassen müssen. Sie waren durch die Reihe Schattennutzer, genossen daher einigen Respekt im Großen Königreich sowie die damit verbundenen Freiheiten. Schneider hingegen besaß keinerlei magische Kräfte. Er war ein austauschbarer Infanterist in der Grundausbildung, und sicher trug auch sein extravagantes Erscheinungsbild zu seiner Eignung als Zielscheibe für allerhand Sticheleien bei. Er zweifelte daran, ob seine die richtige Entscheidung gewesen war. „Hast du ’ne dicke Kröte in deinem Schwanenhals stecken?“, forderte eine der Erwähnten ihn heraus, woraufhin er die Zahnreihen aufeinanderpresste. Er war dankbar für seine Einsicht, dass blinde Gewalt seinen gekränkten Stolz nicht heilen würde, sodass er in Augenblicken wie diesem nicht wutentbrannt aufsprang und seine Körperkraft antworten ließ… Obwohl: Hin und wieder wäre die Genugtuung eines optimal platzierten Faustschlags vielleicht ganz gesund gewesen. Diesen Gedanken nicht erahnen könnend, beugte sich die Frau mit ihren aufreizenden Merkmalen vor. „Was ist, Kindchen, hm?“ Er verkrampfte die Fäuste in seinem Schoß. Blitze hätten aus seinen Pupillen schießen können, so geladen war er, aber sie schien diese Art von Duell nicht führen zu wollen. Natürlich – der Höhenunterschied jener Stufen, auf denen sie jeweils standen, war enorm. Sie hatte keinen Grund, Angst vor ihm zu haben. Egal, wie zornig er gerade war. Eine behandschuhte Hand erhob sich zwischen ihnen. Aus ihrem ungleichen Kräftemessen gerissen, stierten sie beide sie perplex an. Solange, bis sie wieder sank. „Schneider?“, machte ihr Besitzer auf seine noch immer im Raum schwebende Frage aufmerksam. Der Gemeinte entsann sich. Auf einmal von Unruhe getrieben, stemmte er seine Hände auf die Lehnen, drückte sich in den Stand, riss den Kopf empor und starrte zur Decke. „General Logi, Sir!“, begann er, sämtliche Scheu von sich werfend, die ihn bisher gehalten hatte. „Wie es für Bewährungsproben üblich ist oder auch nicht, werden mir für diese Mission keinerlei Truppen zur Seite gestellt! Ich verstehe, dass der Große Nene aufgrund des derzeit begrenzten Kontingents an freien Soldaten seine Prioritäten sehr gewissenhaft setzen muss, allerdings – bitte verzeiht mir! – sehe ich mich noch nicht in der Lage, diese mir erteilte Aufgabe allein zu bewältigen. Deswegen wollte ich Euch, General, um Unterstützung bitten… Nur noch dieses eine Mal.“ „Um alles bündig zusammenzufassen: Er hat Schiss“, kam es aus der hinteren Reihe. Schneider knirschte mit den Zähnen. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. „General, hört mich an! Ich habe keine Angst! Ein Junge, der Angst gehabt hätte, würde heute hier nicht stehen, das wisst Ihr selbst! Ich wäge lediglich die Fakten ab und bin besorgt um unseren Sieg auf diesem Schlachtfeld, wenn ich wegen der zu hohen Einschätzung meiner Person doch versage!“ Logi sah wie das marmorne Abbild eines Kriegsgottes auf ihn nieder. Statur, Gesten, Mimik – die Rolle des unantastbaren Feldherrn saß ihm dermaßen überzeugend, dass Schneider glaubte, er füllte sie seit Menschengedenken aus. Man sagte ihm nach, im Alleingang einen Verband von hundert Schwertmeistern besiegt zu haben. Dass allein sein Erscheinen ausreichte, um die Gegner auf ihre Knie zu zwingen. Der Junge, der in diesem Moment vor ihm stand, wollte sich nicht einmal ausmalen, was für Arten und Grade von Training und Askese auf diesen Körper, diesen Geist eingewirkt hatten – und über welche Zeitspanne. Es schien vollkommen irreal – ja, beinahe lächerlich, anzunehmen, dass auch er irgendwann einmal ein Kind gewesen war und Eltern gehabt hatte. Dann schloss er die Augen. „Also gut: Ich begleite dich.“ Schneider konnte kaum Luft holen. „Ihr persönlich?!“ Auch den Unteroffizieren war die Überraschung deutlich abzulesen. „A-aber General! König Nene erwartet Ihren Einsatz schon morgen auf dem Hochplateau! Da können Sie doch jetzt nicht noch diesem Knirps bei seiner Drecksarbeit helfen!“ Ein kühles Lächeln bildete sich auf den schmalen Lippen. „Nene hat sich hinten anzustellen. Ich brauche endlich eine Beschäftigung, die Spontaneität erfordert und wenigstens halb so lange dauert wie das Trocknen meines Haars.“ „Bitte?!“ Die Furie zog ihre Augenbrauen empor. „Beruhig’ dich, Cynthia“, sprach eine raue Stimme hinter ihr. „Hier war in der jüngsten Zeit echt wenig los. Und du weißt ja, wie König Nene tickt: Alles genau nach Plan. Ich kann unseren General da verstehen, wenn er sich mal wieder so richtig austoben will.“ „Schon, aber…“ „Mach dir keine Gedanken; ich werde mich nicht verausgaben. Ihr könnt Nene benachrichtigen lassen, dass ich mich heute Abend gegen achtzehn Uhr bei ihm melden werde, um die letzten Einzelheiten zu besprechen.“ Sie gab seufzend nach. „Ist gut. Immerhin braucht der Kleine nun keinen Schiss mehr um sein Leben zu haben.“ „Wie öde“, meinte der Muskelprotz mit dem minutiös gepflegten Gesicht. „Hey, aus dem wird noch was!“, warf die dunkle Stimme unter absinthgrünen Brillengläsern ein. „Und wenn nur ’n neuer Sandsack auf dem Übungsplatz!“ Seine Finger suchten Halt am Stoff der weiten Hose. Ohne sich um die ausartende Lästerei seiner Untergebenen zu kümmern, setzte sich der General mit wehendem Umhang in Bewegung. An der Tür winkte er den Rekruten zu sich. Der verspürte Erleichterung – und Scham eben darüber. Er war nicht schwach und hatte es nicht verdient, umhergeschubst zu werden. Er war zwar kein Schattennutzer, doch er… er…! Kapitel 3: Dritter Salut ------------------------ Gewandt entglitt der Oberkommandant einem Breitschwerthieb. Schneider rückte die Handfeuerwaffe zurecht und legte den Kopf an. Leider musste er sich eingestehen, dass seine Bewährungsprobe aus dem Ruder gelaufen war. Er befand sich aktuell in Sicherheit – die meisten Gibral-Kämpfer warfen sich auf den General, als würde auf dessen Stirn "Bösewicht" geschrieben stehen. Es gibt kein eindeutig zuzuweisendes Gut oder Böse, das wusste Schneider ebenso wie sein Anführer. Jeder verteidigt lediglich das, was ihm wichtig ist: Seine Überzeugung, Ruhm, die Familie… oder das eigene, so leicht verletzliche Leben. Obwohl… Etwas raste durch die Luft. Schneider sprang auf die Füße, vermochte es jedoch nicht zu identifizieren. Dies wurde in selber Sekunde auch eher nebensächlich, als er erkannte, worauf es abzielte – oder auf wen! „Passt auf!“ Er drückte die Waffe an sich und schlitterte den Hügel hinunter. Auf seine Worte hin drehte sich Logi zwar um, doch da war es zu spät: Nicht einmal sein Schatten Walküre konnte verhindern, dass sich dieses fliegende Objekt in seine Schulter fraß. Vom Schmerz betäubt, verlor er die Balance und sank auf ein Knie, wodurch er glücklicherweise der horizontalen Attacke eines Schwertmeisters entging. Er nutzte den Schwung seiner eigenen noch wirbelnden Waffe, um zum Konter auszuholen und sich gleichzeitig wieder auf die Beine zu hieven, während sein Rekrut den verborgenen Schützen ausmachte. Die Klingen prallten gegeneinander. Über sie hinweg lachte der Schwertmeister ihn siegessicher an. „Reichlich übermütig von Eurem Herrn, bloß zwei Mann auszusenden, Angriffsvorteil hin oder her! Ihr seid naiv, falls Ihr glaubt, Gibral würde sich nach Jahrhunderten der Kriegserfahrung noch in dieses Tal begeben, ohne eine Versicherung im Rücken zu haben!“ Ein paar gezielte Schüsse beendeten die Euphorie des Schwertmeisters schließlich. Japsend holte Schneider zu seinem Vorgesetzten auf. Ihm lag die Frage bereits auf der Zunge, da erinnerte er sich jener Worte, die er ihm kurz vor der Abreise mit auf den Weg gegeben hatte. Ihr von Logi bestimmter Pfad führte sie durch einen schier endlos langen Korridor ohne viel Lichteinfall. Ein dezenter Duft nach frisch geschnittenen Rosen blies in des Jüngeren Nase. Unschlüssig spähte er an der Erscheinung seines Führers hinauf. Einerseits war er ihm dankbar für die Unterstützung – andererseits blähte sich in ihm der Druck einer Frage auf wie ein Ballon. Ein Offizier muss seine Leute stets im Griff haben, so viel stand fest. Warum aber schwieg General Logi dann in diesen Fällen so beharrlich? Wieso gebot er ihnen keinen Einhalt, wenn es erforderlich war, geradezu so, als verhehlte er… Feigheit? „Sir?“ „Ja?“ „Erklärt mir…“ Erneut sank sein Gesicht instinktiv gen Boden. Nicht, dass die hin und wieder von feinen Linien durchzogenen Platten auf irgendeine Weise interessant anzusehen wären. Selbst seinem Rücken gegenüber fühlte er sich nicht würdig. Er war nie scheu gewesen, auch vor dem notgedrungenen Verlassen seiner Heimat nicht. Doch in der Anwesenheit des großen Generals König Nenes schien plötzlich alles Bisherige Kopfstände zu vollführen. „Was ist los, Schneider?“ „Warum seid Ihr nicht dazwischengegangen, als die Unterkommandanten sich über mich lustig gemacht haben?“ Kaum war die Frage ausgesprochen, blieb der Heerführer stehen. Schneiders letzte beiden Schritte hallten in die vor ihnen liegende Dunkelheit, dann war es still bis auf das leidlich wahrnehmbare Surren einer Glühbirne. Er lugte an ihm hinauf, sah das Profil seines markanten Antlitzes, die lange Narbe über dem Auge, welches ihn musterte… und ließ seinen Blick wieder fallen. „Warum nicht, General?“ Schon oft hatte er über diese Frage nachgedacht – und natürlich auch über die möglichen Antworten. Darunter gab es etliche enttäuschende, doch nun, da er sie zum ersten Mal geäußert hatte, schien ihm die schlimmste aller Antworten das Schweigen zu sein. „General!“ -Al! -Al! -Al. -Al… Sein Echo blieb die einzige Erwiderung. Der zitronenblonde Junge spreizte seine Arme und drückte die Fingernägel so fest in das Fleisch seiner Handflächen, dass allein es anzusehen schmerzhaft war. Wut hatte seine Pupillen befallen und ließ sie haltlos zittern. General Logi zeigte sich nach wie vor unbeeindruckt. „Antwortet mir, General! Warum habt Ihr nichts unternommen?! Warum lasst Ihr das zu?! Habt Ihr mich in das Große Königreich geholt, damit sich alle über mich lustig machen können?! Bin ich nicht mehr als… als eine Witzfigur?!“ Mut fassend, trat er einen Schritt auf ihn zu. Logi hatte ihn damals als letzten Überlebenden einer zerbombten Siedlung gefunden, umgeben von niedergeschlagenen Soldaten, hatte sich seiner angenommen. Hübsche grüne Augen. Aus dem Rohmaterial seiner Verzweiflung hatte er ihm die Illusion einer aussichtsvollen Zukunft gesponnen, hatte ihn Nene höchstpersönlich vorgestellt… und das soll es gewesen sein? „Ich habe zugesehen!“, brüllte er dem stoischen Konterfei entgegen. „Ich habe sie alle sterben sehen! Durch die Hände Eurer Soldaten, Logi! Auf Euren bloßen Befehl hin haben sie mir meine Familie, meine Heimat, mein ganzes Leben genommen! Ich habe nur noch mich selbst, versteht Ihr?! Und mich interessiert nichts anderes mehr! Ich will mächtig werden, General; ich will all meine bisherigen Grenzen sprengen und mir nie wieder etwas nehmen lassen müssen!“ Mit der Energie und Geschwindigkeit eines Wasserschwalls, der durch den Damm bricht, riss er das Schwert des Ritters aus der Scheide, holte aus und ließ es auf seinen Besitzer zufahren. „Das ist für meine Familie!“ Etwas Feuchtes verklärte seine Sicht, während der silberne Stahl über die Erscheinung des Kommandanten streifte. Sobald sein Wahrnehmungsvermögen zurückgekehrt war, spürte Schneider einen bebenden Widerstand am anderen Ende der Klinge. Entgeistert blinzelte er. Ein tiefrotes Rinnsal schlich die Schneide des Schwerts entlang, bis es die Parierstange erreicht hatte. Er war unfähig, seine Augen davon abzuwenden. Und er fürchtete sich. Er fürchtete sich vor dem, was er getan hatte. „Es ist in Ordnung“, sagte eine Stimme beruhigend. „Ich habe verstanden.“ Endlich erkannte Schneider das Ergebnis seiner Raserei: General Logi hatte das ihm vertraute Schwert mit einer Hand von Schlimmerem abgehalten. Wo der Stahl auf das Material seines Handschuhs getroffen war, hatte er selbigen zerklüftet. Zwischen ihnen tropfte das Blut zu Boden. „Das tut mir so Leid“, flüsterte der Junge, schluckend gegen den widerspenstigen Klumpen in seiner Kehle. „Ich wollte das nicht. Wirklich. Bitte vergebt mir.“ „Es ist in Ordnung“, wiederholte General Logi in einem Ton, der gar nicht der seine zu sein schien. Auch etwas in seiner Miene hatte sich gewandelt: Sie sandte eine nahezu väterliche Wärme aus – obgleich sich ihre Merkmale kaum verändert hatten. Es war auch nicht das Äußere, was der Waise jenen Eindruck vermittelte… Es war etwas geringfügig Ersichtliches. Etwas Tiefes. Tief in diesen hellblauen Augen verborgen. Schneider sackte schluchzend zusammen. Das Schwert klirrte auf den Grund. Blind bekam er die verwundete Hand des Generals zu fassen, zog sie zu sich und lehnte seine Stirn dagegen. Ein Junge weint nicht. Er ließ den Tränen freien Lauf. „Der Weg eines Soldaten des Großen Königreiches wird niemals ein einfacher sein“, erklärte ihm der erfahrene Feldherr mit dem Klang eines Pastors, der eine empathische Rede für die Verstorbenen hält. „Wenn du glaubst, durch ein dir gegebenes Schwert schon stark zu sein, dann irrst du dich. Du musst es erst zu führen lernen; ansonsten stellt es sich als für deine Ziele nutzlos heraus.“ Die Augen des Rekruten, zu ihm aufschauend, wurden groß. „Gram und Schmach peinigen deinen Geist, weil du dein Zuhause nicht retten konntest. Deshalb sehnst du dich nach Macht. Um Rache zu nehmen – und um diese als schwach diskreditierten Gefühle loszuwerden. Du wolltest Macht, die wir dir gegeben haben. Aber noch hast du nicht verstanden, woraus sie eigentlich besteht, wozu sie in der Lage ist… und was sie nicht kann.“ Er gewährte seinem Schützling Zeit, die Worte in seinen Verstand sickern zu lassen. Schneider ahnte, wie wichtig die folgende Lektion sein würde, auch wenn er jetzt noch außerstande sein mochte, sie zu begreifen. „Diese Macht kann deine Gefühle nicht ausschalten“, fuhr der General dann fort. „So wie nichts und niemand das vermag, wie sehr du es dir manchmal auch wünschst. Aber Gefühle sind nichts, für was man sich schämen muss, Schneider; im Gegenteil: Sie sind der Nährboden jener Macht, von der ich spreche. Hochmut, Angst, Zorn… Sie lassen uns erstaunliche Energien freisetzen, wie du eben am eigenen Leib gespürt hast.“ Der Soldat ließ seine Affekttat Revue passieren: Wie er seinem Meister dessen Waffe entzogen und sie gegen ihn gewendet hatte. Wie er ihn verletzt hatte. Es war tatsächlich erstaunlich, dass er ihn hatte überraschen können. Und es war nur geschehen, weil sich eine unbeschreibliche Wut in ihm gestaut hatte. „Bedauerlicherweise bedarf es in der Regel bestimmter Auslöser, um ein Gefühl derart zu intensivieren, dass die daraus resultierende Energie den Aufwand lohnt. Aus diesem Grund lernen wir, sie zu durchschauen, zu unterdrücken und schließlich bewusst für unsere Zwecke einzusetzen. Dies erfordert allerdings eine beinahe unmenschliche Synthese zwischen Flexibilität und Stabilität, wie wir sie sonst nur von Wasser kennen. Und dafür bilden wir dich aus. Betrachte die physischen Übungen dabei als nebensächlich. Sie kräftigen deinen Körper, doch dein Geist benötigt andere Methoden, um sich die schwierige Technik der emotionalen Kontrolle anzueignen. Das System der Schattennutzung funktioniert nach demselben Prinzip. Ein Schatten ist nur dann stark, wenn er auf die innere Ausgeglichenheit seines Meisters vertrauen kann, da er aus dessen Geist seine gesamte Wirksamkeit zieht. Du wolltest doch einen Schatten haben, nicht wahr?“ Gedankenverloren nickte Schneider. Er sog die Worte des Generals wie Sauerstoff zum Atmen auf und versuchte, sie zu ordnen. Gegenwärtig fühlte er sich fast zu erschöpft, um die etwas nebulöse Ausdrucksweise zu entschlüsseln, die logische Antworten auf all seine Fragen parat zu haben schien. Der General verschwieg noch viel vor ihm. Doch er würde ihm deshalb nicht nachtragend sein, weil er sich bewusst war, dass er ihm nicht mehr zumuten konnte als diese portionierten Almosen. „Absolute Disziplin“, sprach Logi betont aus. „Sie ist das Ziel deiner Ausbildung. Sie ist der Schlüssel zum unvorstellbaren Potenzial, das in jedem von uns seiner Entdeckung harrt. Andere zu kennen, bedeutet Weisheit. Doch sich selbst zu kennen, bedeutet Erleuchtung. Andere zu meistern, erfordert Kraft. Sich selbst zu meistern, erfordert Stärke. Verneine deine Gefühle nicht, aber halte sie unter Verschluss. Werde ein Spiegel, wenn du angegriffen wirst – sei es durch Waffe oder durch Worte. Und wenn dann der Moment gekommen ist, reflektiere und strahle das aus, was du in dir konzentriert hast!“ Die ganzen Demütigungen! General Logi erwartete, dass er sie absorbierte und speicherte wie eine schwarze Fläche das Sonnenlicht. War er deswegen nie eingeschritten? Weil sie seinen Geist stärkten, indem er lernte, mit ihnen umzugehen? „General“, hauchte er verblüfft, während seine Hände von jener seines Mentors glitten. Unverändert stand Logi vor ihm, sah auf ihn hernieder, ohne dass es abfällig oder hochmütig wirkte, und führte die eigene Hand an seine Seite, schenkte dem tiefen Schnitt darin keinerlei Aufmerksamkeit. Tadellose Beherrschung… Er hatte etwas Königliches an sich. Es musste dieselbe Aura sein, die manche seiner Gegner noch vor dem Waffenzug zum Kapitulieren zwang. „Es ist falsch, der Überzeugung zu sein, dass Soldaten gewissenlos Befehle ausführen sollen. Diese Annahme existiert sowohl außerhalb als auch intern des Militärs, aber ich werde mich hüten, jemals verständnislose Kampfmaschinen heranzuziehen. Doch Soldaten sind Mörder, das lässt sich nicht leugnen, und genau deshalb brauchen sie einen eisernen Panzer, der sie selbst schützt. Unterschätze niemals die Folgen eines Mordes, Erik Schneider… Und unterschätze nicht die Macht des Schweigens. Bewahre Ruhe. Vermeide es, zu sprechen, wenn es dir nicht notwendig erscheint – und erkenne, wann etwas notwendig ist. Verzichte auf jegliche Fragen, die nicht deiner Bereicherung dienen. Begehre nicht gegen deinen Ernährer auf, solange du von ihm abhängig bist, und gestehe dir in diesem Zug exakt ein, von wem du abhängig bist. Doch vergiss nicht, nachzudenken. Würdige dich selbst nicht herab und verliere deine Ziele nicht aus den Augen. Verliere deine Empfindsamkeit nicht…“ „Meine Empfindsamkeit… nicht verlieren“, wiederholte er noch etwas träge. Logi nickte sanft. „Vielleicht verstehst du nun, weshalb sich niemand hier in die Angelegenheiten eines anderen einzumischen pflegt. Konflikte kräftigen, vergiss das nicht. Kümmere dich nicht um die anderen, frage nicht nach ihrem Befinden oder ob du ihnen irgendwo behilflich sein kannst. Hier wird jeder mit sich selbst fertig. So funktioniert das Große Königreich seit jeher.“ „Ich… verstehe.“ Er wischte sich die schon getrockneten Überreste der Tränen aus dem Gesicht. „Gut. Ich bin gespannt auf die Ernte deiner Arbeit. Reichst du mir bitte mein Schwert?“ Er tat es. Es war schwer. Anschließend machte der Empfänger auf dem Absatz kehrt, um ihren Weg fortzusetzen. Luft schnappend, hielt Schneider ihn noch einmal auf: „Sir! Eure Hand!“ „Hm?“ War es nicht offensichtlich? „Du tätest gut darin, das Besprochene sofort in die Tat umzusetzen, Kleiner.“ „Ähh – was?“ Die Konfusion unter dem dichten Blondschopf ließ Logi lächeln. Schneiders ungewollte Naivität amüsierte ihn. „Komm jetzt. Das Schiff wartet auf uns.“ Kapitel 4: Vierter Salut ------------------------ Die Frage zerfloss ihm noch im Mund, ehe er seinen General erreicht hatte. Bewährungsprobe. Jetzt war die Gelegenheit gekommen, sich zu beweisen. Nicht nur anderen gegenüber. Er musste verinnerlichen, sich mit seinen Genossen ohne zeitraubende Worte zu verständigen. Er musste gefasst und konzentriert sein. Das Geräusch aneinanderreibender Stahlketten lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die kupferfarbenen Felswände. Maschinen! Schneider fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen, hatte man ihm doch versichert, es würde kein schweres Kriegsgerät erwartet, und er hatte es geglaubt, bis der zwar geglückte Überraschungsangriff durch unverwechselbares Kanonenfeuer aus der Ferne eine ungeahnte Wendung genommen hatte. Nun kamen dessen Verursacher näher… Mit seiner Schusswaffe würde er machtlos sein. Schon vibrierte die Erde, sodass die kleinen Steine und manch menschlicher Überrest darauf morbide zu tanzen begannen. Anthrazitfarbene Dämpfe stiegen bedrohlich hinter den Hügeln empor, derweil der Lärm unerträglich wurde. Dann rollten sie herüber: Großkalibrige Geschütze – sechs gusseiserne, Kartätschen spuckende Drachen auf Gleisketten, die von fünfköpfigen Mannschaften angetrieben und bedient wurden. Schneider zog scharf die Luft ein, doch seinem Gefährten schienen die frontal auf sie zudonnernden Haubitzen mitnichten zu imponieren: „Das soll die "Versicherung" sein?“, rief er spöttisch, aber mit einem deutlich schimmernden Schweißfilm auf der Stirn. „Fahrende Wunderkerzen! Dass ich nicht lache! Die sind ja beinahe so furchteinflößend wie eine Ladung Konfetti! Walküre!“ Der waldgrüne Frauenschatten mit dem gnadenlosen Antlitz spannte seine Muskeln an und hielt sich bereit. Bisher hatte Schneider stets auf seinen Anführer vertrauen können; der Anblick der gewaltigen Artillerie ließ allerdings ernste Zweifel durchscheinen. Selbst wenn sie keinen Schuss abgäbe, würden die gigantischen Rollen sie bequem plattwalzen können. In der Überzeugung, dass dies das Finale darstellte, sammelte sich der General für den vermeintlich letzten Vorstoß dieser Schlacht. Es schien, als würde er sich trotz der rasant auf sie zubretternden Gefahr überaus viel Zeit dafür nehmen – oder gerade deshalb, um sie nahe genug an sich zu lassen. Schneider verfolgte das Schauspiel aus Hitze, Druck, Dampf und Krach wie ein Zuschauer auf seinem verschatteten Sitz, obschon er mittendrin stand. Eine blaue Aureole bildete sich um den Schattennutzer, und die anschwellende Energie hob sein langes Haar, seinen Umhang gleich dunklen Schwingen an. Der Boden unter den unausgewogenen Kontrahenten schien zu brennen, als Schneider reflexartig die Augen zusammenkniff, um sie Millisekunden später gebannt aufzureißen. „Dann wollen wir sie doch mal auspusten!“, rief Logi seinem Schatten zu. „"Rosen im Mai"!“ Die loyale Hünin ließ ihre Waffe vor sich zirkulieren, und da die Maschinen sie fast erreicht hatten, wirbelten auf ihre dem menschlichen Auge nicht nachvollziehbaren Hiebe hin strahlende Lichter wie eiskantenscharfe Blütenblätter durch die Atmosphäre. Regengleich prasselten sie auf die Geschütze samt deren Verwendern ein; gellende Schmerzensschreie und Blut speiende Explosionen trieben in dem Sturm der nicht enden wollenden Klingen mit, der mühelos auch die fortrennenden Kanoniere erfasste. Das Spektakel endete mit sechs lauten Knallgeräuschen, sechsmal feierlich aufsteigendem Feuersmog sowie einem halben Dutzend zurückbleibender Schrottdeponien. Dazwischen der unversehrte Schwertkämpfer, über und über mit der Asche der Feinde bedeckt. Walküre war in der Zwischenzeit nicht mehr auszumachen. Die beiden Diener des Großen Königreiches sahen sich achtsam um. Keine Zeit für vorfreudige Entspannung. Noch immer war die Präsenz des Feindes zwischen dem beißenden Geruch nach Kupfer und verkohltem Fleisch zu wittern. Soldaten, die aus dem Krieg zurückkehren, sei es passiert, dass sie sich die beklemmenden Eindrücke der geschlagenen Schlachten im Nachhinein weiterhin einbilden, selbst im heimischen Garten. Doch da sein Befehlshaber unvermittelt in eine bestimmte Richtung zu laufen begann, wusste Schneider, dass es wirklich noch nicht vorbei war. „Wartet, General!“ Er hielt in der Bewegung inne und blickte leicht irritiert über die Schulter zu ihm. Der Junge war froh, dass er ihn stets und sofort wahr- und damit als Kameraden ernst nahm – ein Zeichen von Respekt. Linkisch, weil seine hageren Hände noch immer vor Aufregung zitterten, schüttelte er sich den Rucksack vom Leib, öffnete ihn und hob einen Erste-Hilfe-Kasten hervor. Er brauchte nicht zu sprechen, um den Kommandanten an dessen Schusswunde zu erinnern, an die er selbst anscheinend keinen weiteren Gedanken verschwendet hatte. Ostentativ rollte der Rekrut einen Streifen des Verbands ab. Eine eindeutige Kopfbewegung erteilte ihm die Erlaubnis, die abrupt Zweifel in ihm weckte. Er war der Einzige, der es machen konnte. Aber war es nicht eine zu große… Ehre für ihn? Dumme Erwägung! Sie befanden sich inmitten eines Feldzugs, in dem kein Teilnehmer von geringerem Wert war als ein anderer. Außerdem wurde seine Assistenz gerade dringend benötigt, riesiger Rangunterschied hin oder her! Sie waren nun einmal nur zu zweit; außerdem hatte er es ihm gestattet; außerdem…! Ein leises, beabsichtigtes Räuspern holte ihn zurück. Erwartungsvoll musterten ihn die hellblau eingefassten Pupillen. Mit Flammen hinter den Wangen konzentrierte sich Schneider auf die Verletzung, und der Anblick gereichte ihm sich zu wundern, wie dieser Mann ihr derart klaglos standhalten konnte: Der Bolzen, als den sich das vorher unidentifizierte Geschoss herausstellte, steckte noch im Fleisch; das Blut hatte ein abstraktes Mandala auf die betroffene Schulter gemalt. Es war selbstverständlich, dass General Logi der Verarztung nicht allzu viele Minuten opfern wollte. Die Gibral-Truppen konnten jede Sekunde aus ihrem nächsten Versteck schnellen. Schneider versuchte, seine Ehrfurcht in den Griff zu kriegen. Die Fransen klebten ihm im Gesicht und das Herz wummerte in seinem Brustkorb, als er näher an seinen Gefährten rutschte. Dort zupfte er an seinem Kragen. Ihm war heiß geworden. Dann inspizierte er den Fremdkörper in der Wunde. Und atmete tief durch. „Ich muss das…“, doch der General nickte bereits. Ach ja: Nicht unnötig reden. Dennoch war es ihm lieber, wenn Logi wusste, was nun folgte, denn schmerzfrei würde es bestimmt nicht werden. Mit beiden Händen umschloss er das Objekt. Doch sein Vorgesetzter ließ Hinweise auf Leid weder hören noch sehen; sein Gesicht wirkte bis zu den spannungslos gesenkten Lidern höchstens konzentriert. Dank der rücksichtslosen Vorgehensweise war der Bolzen zügig draußen. Das Bedürfnis, insbesondere sich selbst eine Pause zu gönnen, überkam Schneider, doch nein: Nicht zögern. Handeln. Nicht reden. Machen. Er rief sich die korrekte Verbandstechnik ins Gedächtnis. Dann brachte ihn etwas aus dem Konzept. „Ähhm… Darf ich…?“, fragte er verlegen im Hinblick auf die platinblonde Haarsträhne, welche – die Behandlung behindernd – im Eifer der flinken Aktionen vorne über die Schulter des Generals geglitten war. Er fühlte sich deplatziert. Unwürdig, ihn zu berühren. Doch die Hoffnung, dass er den theoretisch geringen Störfaktor nach seinem vorsichtigen Deut selbst rasch beseitigen würde, erfüllte sich nicht. Womöglich sollte es eine Herausforderung darstellen. Sicher war ihm die ungewohnte Hemmung seines Rekruten bereits aufgefallen. Und womöglich wollte er ihm helfen, sie loszulassen. Verklemmt führte Schneider eine Hand an das überliegende Haar. Er presste die blassen Lippen aufeinander, als er es mit einem Zug zurückstrich, und schon war es aus dem Weg. War das nun wirklich so schwierig gewesen? Er legte den Streifen der werdenden Bandage an. Irgendwie sonderbar, dem General so nahe zu sein, welcher sich ihm auszuliefern schien. Eine Erinnerung, aufblitzend, brachte ihm ein verschwommenes Bild seiner Familie in die Gegenwart. Dieser Mann war es aller Kenntnis nach gewesen, der die Auslöschung seines Dorfs angeordnet hatte. Es wäre ein Leichtes, ihn jetzt zu überwältigen. Rache zu nehmen. Und eigentlich musste er sich dessen bewusst sein nach dem, was an diesem Vormittag geschehen war. Dennoch unternahm Logi nichts. Seine Haltung deutete auf keinerlei Obacht hin, kein Misstrauen wider den Untergebenen, der ihn schon einmal ohne Skrupel attackiert hatte. Ein nicht unangenehmes, professionelles Schweigen befand sich stattdessen zwischen ihnen, derweil der Junge Lage um Lage band. Noch immer war er verkrampft, inzwischen mehr der qualvollen Erinnerung wegen. Andererseits bestand kein Verlangen danach, es jemandem heimzuzahlen, und das verblüffte ihn. Er kam sich vor wie ein Verräter an seiner Sippe, aber den General zu hintergehen, ihn zu enttäuschen und alles, was er in der vergangenen Zeit – einem neuen Lebensabschnitt – gelernt hatte, mit Füßen zu treten, kam nicht in Frage. Er wollte sich nur noch bewähren. Vor General Logi, vor sich selbst… vor den anderen. Vor den Bewohnern seiner Siedlung. Er wollte stark sein, wollte für seine Familie leben, ihr Blut, ihren Namen, ihre Prinzipien in die Zukunft tragen. So in Gedanken versunken, merkte er nicht, dass Logi ihn die ganze Zeit über nachdenklich betrachtete. „Nicht zu fassen…“, atmete er aus. Der streng uniformierte Schwertkämpfer stand an einem der unzähligen Bedienungspulte in diesem Raum, der irreal futuristisch anmutete. Überall blinkten bunte Lichter in fehlerfreien Abständen zueinander auf, während sich Knöpfe und Hebel wie wuchernde Pilze aus Metall von den glatten Untergründen abhoben. Seit er in das Luftschiff jenes blonden Herrn gestiegen war, der ihn wie aus dem Nichts gefragt hatte, ob er ihn nicht begleiten wollte, schien er sich in einer anderen Welt zu befinden. Tatsächlich musste er sich eingestehen, dass wohl seine die "andere Welt" gewesen war, denn diese Festung, in welcher sie sich nun aufhielten, wirkte gar nicht anders als das Schiff. Er war nie viel herumgekommen, hatte schon fliegende Maschinen gesehen, aber dass die Technik dermaßen vorangeschritten war, hätte er bisher nicht für glaubwürdig gehalten. „Wofür sind all diese Knöpfe?“, wollte er wissen. In der Mitte des Raums befand sich ein Podest, über dem eine noch eigenartigere Vorrichtung bewegungslos hinabhing. Sie wirkte schwergewichtig und kompliziert… Mehr konnte er nicht über sie sagen. „Das ist ein spezielles, von unserem König Nene entwickeltes System, das es uns erlaubt, fähigen Menschen die Kraft der Schatten zu verleihen“, klärte ihn der Mann, welcher sich als General Logi vorgestellt hatte, lapidar auf. Schneider stutzte. „Schatten? So einer wie der Eure?“ „Ganz recht.“ „Und Ihr wollt“, murmelte der Dorfjunge weiterhin skeptisch, „sie auf mich anwenden?“ „Du wolltest doch Macht“, erinnerte der General ihn und besichtigte konzentriert das vor ihm liegende Steuerbrett. „Jetzt kannst du sie haben… Wenn du noch immer an ihr interessiert bist.“ „Natürlich!“, platzte es aus ihm. „Gib sie mir!“ Er hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren. Zudem konnte er sich nicht vorstellen, aus welchem Grund der General ihn betrügen sollte. Der würde daraus keinerlei Eigennutzen ziehen können – oder überschätzte er die Moralität dieses Manns? „Es könnte allerdings etwas unangenehm wer…“ „Egal!“ „Du könntest ste…“ „Ich bin bereit! Ich will einen Schatten!“ „Eine enorme Tapferkeit beseelt dich, Junge“, vermerkte der Kriegsherr anerkennend. „Es bleibt zu hoffen, dass der Rest deiner Persönlichkeit ihr in nichts nachsteht. Begib dich in den Kreis.“ Er tat dies. Mit Blick auf den glänzenden Boden übertrat er die klar sichtbare weiße Linie, welche die besagte Form bildete, und fand sich dadurch auf dem Podest wieder, das ihn eingangs eingeschüchtert hatte. „Es wird einige Zeit verlangen, deinen Schatten rufen und über ihn gebieten zu können. Nene weiß hiervon noch nichts, aber das soll dich nicht besorgen.“ Der Heerführer des Großen Königreiches, von jenem der Jugendliche bereits einiges gehört zu haben meinte, widmete sich wieder den Armaturen. Daraufhin setzte sich die Maschine über ihm in Gang. Mit heiseren Geräuschen drehte sie sich, brachte sich in Position; vier dünne Greifarme klappten heraus und zeigten auf ihn wie die Krallen eines riesigen Adlers, der im Begriff war, nach ihm zu packen. Er zitterte, versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen. Er musste stark sein. „Keine Angst“, sagte der General. „Hab’ ich nicht!“, erwiderte er ungehalten, die Hände ballend, bevor er sein Haupt emporriss, von Angesicht zu "Angesicht" mit der Vorrichtung seiend. „Na mach schon, du Ding! Gib mir einen Schatten!“ Wider Erwarten reagierte sie tatsächlich: Die spitzen Krallen schossen auf ihn zu, spießten in sein Fleisch, während sich über ihm Energie bündelte, ungebremst Blitze schleudernd, die wie aufgescheuchte Katzen durch den Raum sausten. Ihm wurde heiß. Er glaubte, zu verbrennen, schier explodieren zu müssen, als sich etwas nie Dagewesenes in seinem Körper breit machte, seine Organe verschluckte, seine Knochen zerbrach. Er schrie. Für Reue blieb bereits kein Platz mehr. Die Energie entlud sich, gleich Gift in ihn fahrend, wo sie sich mit dieser schrecklichen Empfindung vermischte, selbige auf einen Schlag expandieren ließ. Ein somatisches Feuerwerk, an dessen Ende sich sein Schatten um ein Vielfaches vergrößerte, verzerrte, zuletzt wieder verringerte, als hätte er seinen Kampf abgeschlossen. Der Geruch von Qualm. Schneider fiel weich. Kapitel 5: Fünfter Salut ------------------------ Er zog die Schleife der Bandage fest. „Danke.“ Die Blicke der beiden trafen sich. Auf das leichte, ehrlich dankbare Lächeln des Generals zog auch Schneider schüchtern die Mundwinkel in Richtung einer sanften Röte. Auf ungeahnten Wegen machte sein Mentor ihm Mut, wofür eine simple und darüber hinaus nur provisorische Verarztung keineswegs Quittung genug war. General Logi erhob sich ein wenig kraftlos und zog die Teile der Uniform wieder über. Als er gerade den Gürtel mit der Schwertscheide gerichtet hatte, verhärtete sich sein Ausdruck augenblicklich. Schneider schloss daraus, dass eine erneute Offensive bevorstand. Er verstaute die Verbandsrolle, schulterte den Rucksack und hob seine Maschinenpistole auf. Dies war längst mehr als eine Bewährungsprobe. Die Informanten hatten sich, was die Kapazität des feindlichen Korps betraf, reichlich verschätzt, und wer wüsste, ob er ohne den General überhaupt noch am Leben gewesen wäre? Ein enttäuschter Gedanke versuchte, ihn davon zu überzeugen, dass es Absicht gewesen sein könnte. Von wem auch immer. Sie hatten einander den Rücken zugekehrt, um jede Richtung im Blick zu haben. So bemerkte Schneider nicht, dass jener seines Kameraden nun gen Himmelsgewölbe stieg. „Eigenartig… Wir sind schon seit geraumen Stunden hier, und doch scheint sich die Sonne nicht ein Stück weit bewegt zu haben.“ Es wurde wieder ruhig. Totenstill. Zwar vernahm Schneider die misstrauische Feststellung seines Vorgesetzten, wusste mit ihr allerdings nicht viel anzufangen. Er selbst hatte nicht auf den Stand der Sonne geachtet; dafür war er zu überfordert gewesen. Falls es stimmte, was der General mutmaßte, dann war es in der Tat merkwürdig. Und er glaubte nicht, dass er sich vertan hatte. Aber was bedeutete es? Sollte die Position der Sonne mit ihrem Gefecht in Zusammenhang stehen? Wo blieben die Feinde? „Sie kommen!“ Alarmiert fuhr er auf. Tatsache! Eine neue Schar Soldaten stürmte in einem blauen Strom auf sie zu! Entschlossenheit stand ihnen in die Gesichter geschrieben. Ihre vereinten Kampfschreie wirkten wie der Krach einer heranrollenden Lawine. „Verschwinde von hier!“, ordnete der General ihn grob an. Ihm war klar, dass dies das Beste wäre, da er hier sonst nur im Weg stehen würde, doch es gab bereits keine Gelegenheit zur Flucht vor dieser tosenden Masse aus Mundöffnungen und Schwertern. Starr vor Aussichtslosigkeit ließ er zu, dass sie ihn regelrecht überrannte. Sofort traf er hart auf den Boden auf, überall stampfende Stiefel um ihn her, Männer, die sich auf ihn stürzten und ihn schroffer festnagelten, als es nötig gewesen wäre. Ihr unverständliches Gebrüll dröhnte in seinen Ohren, während sein Kopf auf und ab gerissen wurde, ohne dass er den Sinn dahinter erkannte, sie an seinen Extremitäten zerrten, als wollten sie ihn an Ort und Stelle in Fetzen teilen. Der General war lange aus den Augen verloren; vermutlich kämpfte er sich gerade seinen Weg frei, hoffentlich den zu ihm. Die Einsicht ließ ihm vor Erbitterung das Blut in den Kopf steigen, aber wieder einmal war er auf ihn angewiesen. Ständig das Weite suchen und aus dieser feige ballern… Manch einer hatte es ihm wie sich selbst schönreden wollen: Aus den Schatten töten. Unsichtbarer Mörder. Doch sämtlicher Euphemismus half nicht, über die Wahrheit hinwegzutrügen: Er war ein Insekt unter vielen, ein Soldat wie jeder andere, dessen Tod weder irgendjemanden berühren noch irgendwen vermissen lassen würde. Das Große Königreich hatte ihn zu dem degradiert, was er selbst zu sein geglaubt, nachdem man ihm alles genommen hatte, jedoch ohne ihm eine reelle Chance auf Verbesserung zu gewährleisten, an welche er sich geklammert hatte. Logi hatte ihm leere Versprechungen gemacht. Keine Ahnung, warum oder wozu. Es ist bestimmt nicht die gewöhnliche Vorgehensweise, neues Kanonenfutter zu rekrutieren, indem der General einer titanischen Armee persönlich anfragt. Nein. Dahinter musste mehr stecken. Bewährungsprobe. Vielleicht hatte die wahre Ausbildung noch gar nicht angefangen. Das gegebene Schwert zu führen lernen. Er musste sich erst beweisen. Und genau das würde er jetzt tun, verdammt noch mal! Schneider versuchte, sich herumzuwälzen, die bellenden blauen Hunde von sich zu werfen. Es gelang ihm, in dem Wirrwarr den Bolzen zu ergreifen, und er stach ihn in die Schläfe eines seiner Angreifer, durch dessen Helm. Nicht nur er selbst war überrascht. Die Gelegenheit erfassend, verschaffte er sich mittels eines Fausthiebs weiteren Raum und sprang auf die Beine. Die MP lag in unerreichbarer Ferne, aber das war egal. Er hatte es nicht zum ersten Mal unbewaffnet bis auf die Hände mit einer Horde Soldaten zu tun, erinnerte er sich und dachte an die Belagerung seiner Siedlung. Ein Schlag ins Gesicht warf ihn nieder. Ungewollt überschlug er sich auf dem von Dreck überzogenen Grund, dann stemmte er sich in die Höhe und teilte einen Konter aus. Der Getroffene torkelte, stieß gegen zwei andere und fiel mit ihnen um. Ein paar langten nach ihren Schusswaffen, doch ehe sie zielen konnten, hatte er sie bereits erreicht. Von Zorn geleitet, schrie er und rammte, trat, schlug sie um wie schlecht ausbalancierte Kegel. Die körperlichen Beschwerden wies er von sich, spürte allein noch diese wahnsinnige Erregung in seiner Brust, die ein flammendes Elixier durch seine Adern jagte, ein Rauschgift, das verboten war, sich jedoch beispiellos anfühlte. Ob es ihn letztlich genauso zerstören würde, war unrelevant. Ihn interessierte bloß, dass es ihm Macht verlieh – jene Macht, nach der er gestrebt hatte. „S-seht doch!“, stammelte einer der Infanteristen und erhöhte den Zeigefinger gegen ihn. Irgendetwas blendete ihn. Eine Granate? Nein, die hätte er hören müssen. Böen entwickelten sich, und jetzt registrierte er, wie sich der Puls in seinem Inneren dermaßen beschleunigte, dass er dabei fast sein Herz aus dem Rhythmus brachte. Ein Druck schwoll in seinem Kopf, seinem Torso. Dadurch selbst verängstigt, wähnend, dass hier etwas nicht wurde, wie es sein sollte, versuchte er angestrengt, sich zu beherrschen. Doch seine Glieder reagierten nicht länger auf die mühevollen Befehle, die er ihnen erteilte. Es war eine Explosion. Eine brutale Entladung, alles in einem schussweiten Radius umfegend. Ein Tornado, so geschwind, dass man ihn kaum identifizieren konnte. Ein Licht, ein Knall – und dann war es vorbei. Als er wieder zu sich kam, meinte er sich an einem anderen Ort. Leblose Körper umgaben ihn wie niederkniende Lakaien. Geistesabwesend suchte er mittels seiner Augen nach einer Erklärung. Keuchte. Rang nach Luft, die diesem Platz allmählich auszugehen schien. Sie fingen General Logi ein, der sich in einiger Entfernung schützend den Umhang vor das Gesicht gerissen hatte und nun sichtlich perplex zu ihm schaute. Dann stieg sein Blick, und Schneiders folgte ihm ebenso sprachlos. Über ihm schwebte eine Schattenkreatur. Ein gepanzerter Humanoide, der sein Gesicht nicht zu erkennen gab. Eine unbeschreibliche Aura ging von ihm aus, senkte sich wie ein erfrischender Regen auf seinen jungen Meister. Bereit, sie zu empfangen, spreizte dieser seine Arme und schloss die Augen. Nichts – das wurde ihm in diesem Moment klar – würde jemals wieder so sein wie früher. Er veränderte sich gerade – genau jetzt – daran führte nichts vorbei, dachte er und grinste zufrieden. Krieger des Großen Königreiches. Schattennutzer. Und seine Vergangenheit würde Vergangenheit sein. Ein maschinelles Brummen. Unbestimmter Richtung, wie ein weiter Donner. Durch seinen vor Ermattung scheinbar ins Nichts entschwindenden Schatten beobachtete er, wie sich die Sonne um die eigene Achse drehte und dabei etwas in jeglicher Hinsicht vollkommen Bizarres zu erkennen gab. Und was immer es war: Es begann zu leuchten. „Schneider!“ Die dumpfen Schmerzen eines Sturzes. Schneiders Sichtfeld wirbelte herum; zuletzt erblickte er seine Hände, dann nur noch weiß. Grelles Weiß. Eine ungebändigte Hitze hüllte ihn ein, sein Schrei ging im Getöse unter. Alles sauste umher; die Luft schien zu brennen, sein Körper wurde schwer, ein langer, blonder Haarfaden, der nicht von ihm war. Der General! Langsam nahm die Energiesäule ab. Dann verlor sich das unnatürliche Chaos so rasch, wie es sich aufgebaut hatte, und eine Sonne thronte wieder über ihnen, sich keiner Schuld bewusst. Ein bemühtes Atmen. Schneider drehte seinen Kopf zur Seite. Das Antlitz des Generals hing über seiner Schulter, seine Hände stützten sich neben denen des Jüngeren auf dem Boden ab, doch sie zitterten. Kaum eine Sekunde später gab die Kraft endgültig nach, und Logi brach mit einem leisen Stöhnen über ihm zusammen. „S-Sir?“ Der intensive Geruch von Verbranntem erklärte Schneider ihre jetzige Situation: General Logi hatte sich auf ihn geworfen, um diesen Beschuss schier buchstäblich aus heiterem Himmel abzufangen. Unter dem zusätzlichen Gewicht des Schwertkämpfers streckte der Schütze die Arme durch und blickte über sich hinweg: Walküre hing gebeugt über ihnen; in ihren Augen spiegelte sich ein Böses erahnen lassender dunkler Fleck auf dem Umhang seines Mentors. Er wollte nicht erfahren, wie es darunter aussah. „Sir?“ Frische Erleichterung, da Logi die Augen öffnete, doch der Anblick entsetzte Schneider. Zum ersten Mal sah er diesen Mann in ernster Bedrängnis, Ratlosigkeit und Pein. Er spürte etwas hektisch um Fassung Ringendes an seinem Rücken, von dem er nie gedacht hatte, dass jemand dieses Rangs es besitzen könne, trotz aller unbestreitbaren Weisungen der Architektin Natur. Hellblaue Iriden ermittelten die blassgrünen. „Es sind noch im… immer noch ein paar. Gib nicht auf, Schneider. Du hast… den Schatten. Nutze ihn… Nicht… aufgeben.“ Schneider wusste, was er ihm zu verstehen geben wollte: Eine Bewährungsprobe musste erfolgreich abgeschlossen werden, sonst galt sie nichts. Selbst wenn sie kurz vor dem Sieg abgebrochen wurde. Selbst wenn etwas so Unerwartetes geschehen war. Selbst wenn es den Großen Nene einen Kommandanten kosten würde, der eigentlich überhaupt nicht hier sein sollte. „Sir! Wenn ich jetzt weitermache, dann…!“ „Ist okay“, fiel Logi ihm, um Geduld bemüht, in den Satz. „Nein! Ihr müsst behandelt werden! Sofort!“ „Geht… schon.“ Allein seine Wortwahl bewies das genaue Gegenteil. „Ich werde die Mission nicht fort- und dabei Euer Überleben aufs Spiel setzen!“, wurde Schneider laut. „Willst du etwa, dass alles umsonst war?“, entgegnete der General. „Wir sind nicht so weit gekommen, damit dein überflüssiges Mitgefühl am Ende alles kaputt machen kann! Du wolltest Soldat werden, also benimm dich wie einer!“ Hinter den Hügeln grollten weitere mechanische Bestien. „Ein ehrloser und stumpfer Soldat wollte ich nie werden!“ „Du Dummkopf! In einem Ernstfall würde dir deine Sturheit zum Verhängnis werden!“ „Und in diesem Ernstfall wird deine Sturheit zu deinem Verhängnis!“, brüllte Schneider. In noch immer unveränderter Position schnauften sie einander an. „Nicht… abbrechen“, atmete General Logi letztlich. Bereit, die unangebrachte Kontroverse fortzuführen, suchte der Junge nach der Aufmerksamkeit seiner Augen. „General, Ihr…!“ Doch er fand sie nicht mehr. „General? General! Sir! Logi! General Logi!“ Keine Antwort. Zum ersten Mal seit Stunden brach die dichte, gräuliche Wolkendecke für die Sonne dahinter auf. Epilog: Letzter Schuss ---------------------- Mit dem Kinn auf dem Brustbein schlenderte er durch einen der Korridore. Geduscht und lockere Kleidung tragend, fühlte sich sein Körper viel besser, haftete nur seiner Seele noch der Schmutz und das Blut der vergangenen Schlacht an wie einem traurigen Clown seine tägliche Schminke – ehe sie sich ganz abgelöst hat, wird sie schon wieder erneuert. Das generöse Lampenlicht warf seinen Schatten auf die ihn flankierende Wand, sofern nicht gerade Kameraden dazwischen vorbeizogen, mit immer anderen, aber niemals ignoranten Grimassen. Überall echoten die Gerüchte, flitzten dumme Sprüche durch die Gänge gleich Ratten. "Schuldig! Bitte ablästern!" schien ihm auf die Stirn geschrieben worden zu sein. Zu allem Übel passierte auch noch Lemaire seinen Weg, einer der fähigsten Schattennutzer des Königreiches und – damit einhergehend – überaus blasiert. „Na, Kleiner?“ Schneider vermied es, ihn anzuschauen. „Was willst du?“ „Wie war der Ausflug?“ Die Stimme strotzte vor Belustigung. Lemaire wusste genau, wie die Mission verlaufen war. Jeder in der Basis wusste es. „Sitzt du schon an deinem Text fürs Kondolenzbuch?“, stichelte der dunkelhaarige Mann weiter. Der blonde schnaubte. Unauffällig wuchs der Schatten an der Wand, und eine kurze Anstrengung genügte, um Isabel erscheinen zu lassen. Unmittelbar wandelte sich die Miene des Hochgewachsenen. Statt diesem auf seine scheinheiligen Fragen zu antworten, befahl Schneider seinem Schatten wortlos den Rückzug und setzte seinen Weg fort, einen verblüfften Lemaire hinter sich stehen lassend. Erst, als er um die nächste Abbiegung war, erlaubte er sich ein kleines Grinsen. Er würde nie wieder alles mit sich machen lassen. Nie wieder. Der Korridor wurde leerer, während er seinem Ziel näher kam, und damit verebbte auch die unverhohlenste Diffamie. Er mündete in eine Fläche, die den Zugang offerierte zu drei Türen, an deren mittleren ein Wachmann postiert war. Schneider nickte ihm zu und klopfte danach an die Tür, ehe er, ohne eine Reaktion abzuwarten, hineintrat. Ziemliche Düsternis empfing ihn. Einer einzelnen Lampe war die Aufgabe der Beleuchtung zuteilgeworden, während die hohen Fenster verdeckt waren. Der junge Mann meinte, ihre leidlich erfolgreiche Bemühung spüren zu können. Dass er sich auf irgendeine Weise mit ihr verbunden zu fühlen begann, vermied er, sich einzugestehen. Stattdessen richtete er sein Augenmerk auf das, worauf sie ihren spärlichen Schein warf: Zwei inzwischen wieder tief versunkene Köpfe, in deren Frisuren sich scharfe Schatten vor den winzigen Glanzpunkten auf einzelnen Haarfäden verbargen. In ihrem Fachjargon faselten die Leute darunter sich gegenseitig zu, tauschten ihre filigranen Instrumente untereinander aus. Vielleicht auch gehässige Witze über ihn, doch Schneider sagte nichts. Nach sich ziehenden Minuten des Abwartens und Zuschauens tat sich endlich etwas: Die beiden Herren hoben ihre Hintern, zupften die Kittelschöße darunter hervor und pickten ihren Kleinkram auf. Als sie an ihm vorbeikamen, fühlten sie sich offenbar verpflichtet, ihren aktualisierten Kenntnisstand auszuplaudern: „Die Therapie zeigt unvermutete Erfolge; seine Werte haben sich eingependelt. Er hat Glück, einen Schatten zu haben, der ihn beschützen konnte. Es war knapp.“ „Er wird es überstehen“, berichtete der andere ihm über ein Trinkservice hinweg. „Doch als Soldat wird er erst einmal für eine ganze Weile ausfallen. Der einzige Krieg, den er in der kommenden Zeit führen wird, ist der gegen die Bettruhe. Das wird König Nene überhaupt nicht gefallen. Der General sollte ihm heute einen bedeutenden Feldzug leiten.“ „Ich weiß“, murmelte Schneider schuldbewusst. Er ließ die Ärzte abziehen. Sobald sich die Tür hinter ihnen schloss, überbrückte er die Entfernung zum Bett ohne Eile und neigte sich über den Patienten, der zu schlafen schien. „Du hast sie also doch abgebrochen“, wusste eine Stimme aus dem einen Grund, dass sie noch erklingen konnte, und ließ ihn zusammenfahren. Zwei hellwache blaue Augen musterten ihn. „General…“ „Setze dich.“ Logi nickte in Richtung des Stuhls, den einer der Heiler geräumt hatte. Beklommen ließ er sich darauf nieder. „Dafür sollte ich dir dankbar sein. Schließlich würde ich…“ Der Satz wurde nicht beendet. Schneiders Haupt sank tiefer zwischen seine Schultern. „Nein, Sir. Ich bin überhaupt erst dafür verantwortlich, dass Ihr Euch in dieser Lage befindet. Ich konnte zwar meine Mission nicht abschließen, aber Ihr werdet auch nicht an der Euren teilnehmen können. Wir sind mindestens quitt.“ Der General lächelte. „Werdet Ihr großen Ärger bekommen?“, fragte sein Schützling vorsichtig nach. „Mach dir darum keine Gedanken. Du solltest dich ab jetzt dem Training mit deinem Schatten widmen.“ „Ich habe schon angefangen!“, posaunte der Schütze da nicht ohne Stolz heraus. „Tatsächlich? Wie lange war ich bewusstlos?“ „Zirka einen Tag, Sir.“ Er stöhnte. Man könnte meinen, es klang genervt. Blind führte er seine Hand zur Platte des Bettschranks und fasste ins Leere. Unverhüllte Irritation war die Folge. „Wo ist das Wasser?“ „Soll ich…?“ Ein vernichtender Blick drohte, ihn auf der Stelle zu pulverisieren. Nicht fragen… Galt es auch jetzt noch? „Ich habe es nur gut gemeint…“ Konsterniert musste Schneider beobachten, wie sein Vorgesetzter die Decken zurückschlug, sich unter Strapazen aufsetzte und – sobald geschafft – die Hand über die Augen legte, weil ihm offensichtlich schwindelig geworden war. „Ihr wollt doch nicht…?!“, formulierte er bestürzt die aufkeimende Ahnung. „Es scheint noch früh zu sein. Ich habe keine Zeit zu verlieren.“ „Sir, mit Verlaub: Ihr dürft jetzt nicht aufstehen. Das wäre absolut unvernünftig.“ Eiskalte Pupillen funkelten ihn an. „Was willst du denn tun? Dich mir etwa in den Weg stellen?“ „Nein“, widersprach er ruhig. „Ich habe Euch einen Rat gegeben. Mehr werde ich nicht unternehmen.“ Der General stieß einen kurzen Laut aus, der nicht eindeutig als würdigend oder abwertend einzuordnen war. „Du hast keine Ahnung, worum es hier geht, Junge.“ Schneider hielt seinen Blick aufrecht. Es klopfte. „Herein.“ Im Lichtspalt der sich öffnenden Tür war die Silhouette eines Ordonnanzoffiziers auszumachen. Er transportierte ein Funkgerät. „König Nene verlangt, Euch zu sprechen, General.“ „Auch das noch“, flüsterte der, sodass Schneider der Einzige war, der es vernehmen konnte. Trotzdem nahm er den Fernsprechapparat entgegen. „Zu Euren Diensten.“ Instinktiv rückte Schneider den Stuhl näher an die Bettkante. „Ich bin unentschuldbar, großer Meister. Doch ich werde mich sofort auf den Weg machen. Gewährt mir nur eine halbe Stunde.“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang erstaunlich amüsiert: »Nein, nein, mein lieber Logi. Überschätze dich nicht. Nimm dir die Auszeit; du hast sie nötig.« „Aber…!“ »Schhh. Du hast Glück, noch am Leben zu sein. Und man soll sein Glück bekanntlich nicht so oft herausfordern, nicht wahr?« „Ja…“ Der Griff um den Hörer festigte sich. Schneider verstand nicht, was an den Worten des Großen Nenes derart anspannend sein sollte. »Du wirst sehen: Morgen werden sich deine zehrenden Reuegefühle schon etwas gelegt haben. Denke gut darüber nach, was du getan hast. Aus Fehlern lernt man, General.« »General, General!«, tönte Nenes ständiger Begleiter Deathroy hämisch durch die Leitung. Der Angesprochene senkte die Lider. „Ich habe verstanden, Meister.“ Er wollte auflegen, ehe er Schneider an seiner Seite gewahrte, als wäre dieser zuvor noch nicht dagewesen. Noch einmal hob er den Hörer. „Meister Nene. Erlaubt mir, Euch an meiner Stelle einen begnadeten Schattennutzer zur Seite zu befehlen. Er ist noch unerfahren, doch er wird sich zu profilieren wissen.“ Mit großen Augen starrte der Besagte ihn an. Es bestand keinerlei Zweifel daran, wen General Logi meinte. Gleichzeitig harrte er der Rückmeldung aus dem Apparat wie des gepriesenen Anfangs eines neuen Jahrs. »Hmmm… Ich glaube, ich weiß, von wem du sprichst. Also gut, schicke ihn zu mir. Ich werde ihn sicher beschäftigen können.« Wärme staute sich hinter seinen bleichen Wangen. „Zu Befehl. Er wird Euch nicht enttäuschen.“ Und ihm wurde schlecht. Welch schwere Verantwortung lud ihm der General da auf? Jetzt stand nicht bloß sein eigenes, sondern auch das Ansehen eines ungefähr tausendmal wichtigeren Manns auf dem Spiel! »Ach, und Logi?« „Ja, Meister?“ »Es gibt wirklich nichts, für was du dich nun zu Tode schämen musst. Nur eurem selbstlosen Einsatz haben wir die Kenntnis über die neue Technik der Feinde zu verdanken. Was hätte alles passieren können, wenn sie uns heute mit dem Sonnenlaser überrascht hätten?« Logi traute der süßen Gunst der Stimme nicht. Es war glaubwürdiger, dass Nene selbst diesen sogenannten Sonnenlaser auf sie gerichtet hatte, als dass er ihm seine vermeidbare Niederlage folgenfrei verzieh. Allein das Eingeständnis, dass Nene die anstehende Kampagne auch ohne ihn wie geplant durchführen konnte und würde, zeigte ihm bereits, wie ersetzlich er geworden war. Ersetzlich. Ersetzlich war fast gleichbedeutend mit nutzlos. „Danke, Meister.“ Er legte auf. „Aber General!“, wollte Schneider die Chance ergreifen, um seinen Sorgen Luft zu machen, doch der Angerufene winkte ab. „Sieh es als Bewährungsprobe, während der dir dieses Mal niemand im Weg steht. Die erforderlichen Informationen findest du in den Unterlagen auf meinem Schreibtisch. Und nun lass mich bitte allein.“ Der junge Schattennutzer zögerte. Schließlich jedoch neigte er sein Haupt. „Wie Ihr wünscht, Sir.“ Er schob den Stuhl zurück, stand davon auf und begab sich zur Tür. Die Befürchtung, dass man ihm zu viel zutraute, war noch nicht beschwichtigt. Er hatte trainiert, ja, und das nicht wenig, aber es würde niemals genug sein, um jemanden wie General Logi zu ersetzen. General Logi war nicht zu ersetzen, durch nichts und niemanden. Vermutlich hatte ihn deshalb die Ahnung, er hätte tatsächlich sterben können, ihn nicht mehr ansehen, nicht mehr sprechen hören oder seine Anwesenheit spüren zu können, wie ein frostiges Schwert zwischen die Rippen getroffen. Ein Gefühl… so wie damals, als er seine Familie verloren hatte. Unerwartet ging das Licht der kleinen Lampe an. Logi öffnete die Augen. Es beruhigte, zu sehen, dass er noch immer im Bett lag und nicht wie verdächtigt entwischt war, nachdem man ihn unbeaufsichtigt gelassen hatte. Schneider beugte sich ihm zu. Alles, was sich zu diesem Zeitpunkt zwischen den beiden Soldaten des Großen Königreiches befand, war eine klare, leicht wippende Flüssigkeit in einem Glas. Der Blick des verwundeten Ritters verriet Erstaunen. Schneider lächelte. „Euer Wasser, Sir.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)