Fullmetal Alchemist - Was danach geschah von abgemeldet (Was hätte passieren können...) ================================================================================ Kapitel 9: SZENEN EINER EHE DER BESONDEREN ART ---------------------------------------------- SZENEN EINER EHE DER BESONDEREN ART Während des Ishbal-Krieges – Unmittelbar nach dem offiziellen Ende – Ishbal Major Mustang suchte seine Partnerin in den Trümmern einer zerstörten Stadt. Oberst Reine Hamilton. Sie war eine der wenigen Staatsalchemistinnen. Und sie war die einzige, die man direkt an die Front geschickt hatte. Sie war der Siren Alchemist und der Name passte auch, denn ihr Spezialgebiet war Wasseralchemie. Sie war sehr begabt, das sagten alle. Und sie war auf dem Schlachtfeld sehr effektiv, deswegen hatte man sie auch direkt in die schlimmste Stadt geschickt, um sie auszulöschen. Ihre Effektivität wurde nur noch von der des Steel Blood Alchemist, des Flame Alchemist, des Crimson Alchemist und dem Ice Alchemist übertroffen. Sie war hundertprozentig tödlich. Und das, obwohl ihre Forschung noch nicht vollständig abgeschlossen war. Mustang fand sie nach einer halbstündigen Suche in einem der Außenbezirke der vollkommen zerstörten Stadt. Hier lebte kein einziger Mensch mehr. Nur fünf Soldaten hatte man hergeschickt. Die beiden Staatsalchemisten und drei Scharfschützen. Mustang war froh gewesen, dass die Tochter seines Lehrmeisters nicht dabei gewesen war. Hamilton kniete auf dem Boden und als er näherkam, sah er, dass ihre Schultern zuckten. „Geht es Ihnen gut, Madam?“, fragte er unsicher, während er stehenblieb. „Es ist … pervers“, sagte sie grimmig, bevor sie aufstand und ihre Kapuze zurückschlug, sodass ihr silbernes Haar, das hier in der Wüste jeglichen Glanz verloren hatte, über ihre Schultern fiel. „Wasserleichen inmitten einer Wüste. Es ist gegen die Regeln, verdammt!“ „Kommen Sie, Oberst“, sagte er. „Wir sollten zurückgehen.“ „Ich komme ja schon, Flame“, sagte sie und kam auf ihn zu. Sie war wesentlich älter als er, einundvierzig Jahre alt. Sie war groß und schlank gebaut und sie hatte ein weiches Gesicht, obwohl auch sie nun die Augen eines Mörders hatte – wie alle hier. Sie sah ihn aus schwarzen Augen herausfordernd an. „Wieso kämpfst du, Junge?“, fragte sie. „Ich kämpfe, um mein Land zu verteidigen“, sagte er wie mechanisch, „und um eines Tages selbst an der Spitze zu stehen und ein solches Blutbad zu verhindern.“ Sie durfte die Wahrheit erfahren. Sie war nicht der Typ, der ein solches Massaker billigte. Sie war als einzige Alchemistin mit Staatsqualifikation eingezogen worden, weil ihre besonderen Talente hier in Ishbal besonders gut als Waffen benutzt werden konnten. Genau wie Mustang selbst trug sie ihre Transmutationskreise auf ihren Handschuhen, während sie meisten anderen sie als Tätowierungen trugen, weil das praktischer war. Aber so konnten der Wasser- und der Flammenalchemist die Handschuhe nach beendeter Arbeit ablegen und mussten die Kreise nicht beim Essen sehen. Das machte es für sie ein wenig leichter – auch wenn sie sich beide fragten, was das hier sollte. „Wieso kämpfen Sie eigentlich, Madam?“, fragte Mustang. Sie runzelte für einen Moment die Stirn. „Weil man meine Töchter töten würde, wenn ich es nicht täte“, sagte sie sachlich, „und weil ich hoffe, dass es irgendwann Frieden geben wird. Und weil es meine Befehle sind, auch wenn ich es hasse.“ „Sie sehnen sich also nach Frieden?“ „Welche Mutter tut das eigentlich nicht?“, fragte Hamilton zurück, während sie ihre hellblauen Handschuhe abstreifte. „Ich kämpfe, damit meine Töchter eines Tages in Frieden leben können. Meine älteste Tochter ist älter als du. Seit zehn Jahren assistiert sie mir inzwischen bei meinen Forschungen. Selbst wenn ich in diesem verdammten Krieg noch falle, wird diese Form der Alchemie, mit der ich eigentlich heilen und nicht zerstören wollte, nicht in Vergessenheit geraten.“ Sie seufzte schwer. „Arme Nerissa. Sie muss all meine Berichte hier vom Schlachtfeld auswerten – und ich bin ziemlich genau. Sie muss mich inzwischen vermutlich hassen.“ Die beiden Alchemisten gingen schweigend durch die tote Stadt, als Mustang die Stille wieder brach. „Und Sie glauben noch immer an den Frieden?“, fragte er. „Für mich wird es niemals wieder wirklichen Frieden geben“, sagte Hamilton. „Solange ich lebe, muss ich damit zurechtkommen, dass ich das Gesetz des Äquivalenten Tausches in schändlicher Weise missachtet habe. Ich habe hier viele Leben genommen und nichts im Tausch dafür gegeben. Falls diese Militärdiktatur jemals ein Ende findet, wird man uns alle für das, was wir hier getan haben, anklagen. Wir sind eigentlich nichts anderes als Kriegsverbrecher, so leid es mir auch tut, dass so viele junge Menschen schon so früh von diesem Makel behaftet werden. Es ist dir hoffentlich klar, dass man uns alle zum Tode verurteilen wird. Aber … was immer auch mein Urteil sein mag, ich werde es annehmen und nicht darüber klagen.“ Sie hatte kaum ausgesprochen, als zweimal geschossen wurde. Der erste Schuss traf die Alchemistin direkt unter ihrem Herzen und der zweite schlug in ihrer Schulter ein. Blut spritzte. Es wurde noch ein drittes Mal geschossen, diesmal hatte einer der Scharfschützen entschieden, etwas für sein Geld zu tun. „Hamilton!“, rief Mustang entsetzt. „Sieht so aus, als ob ich mein Urteil schon bekommen hätte“, sagte sie, bevor sie nach vorne überkippte und sich noch so drehte, dass ihr Gesicht nach oben wies. „Es tut mir leid, Nerissa, ich … ich kann mein … Versprechen … nicht halten. Pass auf dich auf, Liebling. Und … bring es zu Ende…“ „He, nicht sterben, Hamilton!“, brüllte er. „Tut mir leid, Mustang. Ich … ich werde wohl nicht mehr sehen, wie deine Ideale dieses Land wandeln werden. Ich hätte es gerne gesehen.“ Sie hob die rechte Hand zu einem schlaffen Salut. „Ich gehe voraus – und wage es nicht, mir sobald zu folgen, Junge!“ Es sollten ihre letzten Worte bleiben. Ihre tiefschwarzen Augen, die zuletzt nicht mehr die eines Mörders, sondern die einer Mutter gewesen waren, schlossen sich und auf ihr sonnengebräuntes Gesicht fiel der letzte Hauch eines Lächelns. „Du verrücktes Huhn!“, murmelte Mustang. „Wie kannst du nur so glücklich sein, obwohl du gerade gestorben bist? Aber du hast wohl deinen Frieden gefunden.“ Auch wenn es nicht der war, den du dir erhofft hast, dachte er. Weil sie im Dienst gefallen war, wurde Oberst Reine Hamilton posthum zum Brigadegeneral befördert. Ihre Töchter schlugen jedes Hilfsangebot des Militärs aus und kamen nicht einmal zur feierlichen Beisetzung ihrer Mutter. Hamilton war der einzige Staatsalchemist gewesen, der während des gesamten Krieges gefallen war. Ishbal City – Gegenwart Scar sonnte sich während seiner Mittagspause vor dem Hauptquartier, als ein Schatten auf ihn fiel. Langsam öffnete er die Augen und sah die Frau an. Oder nein, es war eher ein Mädchen. Maximal neunzehn, eher siebzehn. „Bin ich hier richtig, wenn ich beim Wiederaufbau helfen will?“, fragte sie. „Wer bist du?“, fragte er perplex. „Und wieso willst du helfen?“ „Mein Name und mein Motiv sind meine Sache“, sagte sie abgeklärt. „Ich bin eine Alchemistin und auf Wasser spezialisiert.“ „Aber du bist nicht der Siren Alchemist, oder? Du bist nicht Hamilton…“ „Ich bin lebendig“, sagte sie. „Reine Hamilton ist hingegen ziemlich tot.“ „Stimmt auch wieder.“ Er stand in einer flüssigen Bewegung auf. „Und wie willst du uns beim Wiederaufbau eines vollkommen zerstörten Landes helfen, Mädchen?“ „Wasseralchemie ist mein Spezialgebiet“, sagte sie, „aber mein Interesse gilt seit meiner Kindheit eigentlich der Heilalchemie. Und Ärzte werden überall gebraucht, nicht wahr?“ „Wie sollen wir dich nennen?“, fragte er, während er die Hand ausstreckte. „Der letzte Name, den ich trug, war Darlene“, sagte sie und ergriff die dargebotene Hand, „aber ihr könnt mich nennen, wie immer ihr mich nennen wollt. Als ich meine Heimat verlassen habe, um Ishbal wiederaufzubauen, habe ich alles zurückgelassen, was mir wichtig war. Ich habe alles abgelegt, was mich auf meiner Mission behindern könnte. Ich habe nichts mehr zu verlieren – und deswegen alles zu gewinnen.“ Er musterte sie. Auch wenn sie wie ein Mitglied der gebildeten Klasse Amestris’ sprach, passte sie in kein Schema, das er kannte. Sie hatte kurzgeschnittenes schwarzes Haar und war sehr blass. Sie war größer als die Frauen Ishbals und kleiner als die Frauen Amestris’. Ihre Augen waren mandelförmig und verschiedenfarbig. Eines war saphirblau und das andere war rubinrot. Wenn er sich nicht sehr irrte, musste in ihr das Blut mindestens drei Völker fließen, auch wenn die Gene Amestris’ zu überwiegen schienen. In ihr floss das Blut des Landes, an dessen Wiederaufbau sie sich beteiligen wollte: Ishbal. Aber nicht nur ihre Gene, sondern auch ihre Kleidung war außergewöhnlich. Sie trug eine kurze Hose, die schon zerfetzt war, und darüber ein kurzärmliges Oberteil. Um den Hals hatte sie sich einen schwarzen Schal geschlungen, der im Sonnenlicht glitzerte. „Du wirst dir einen Sonnenbrand holen, Darlene“, warnte Scar, während er sie zu Doktor Marcoh führte, der die Leitung des Wiederaufbaus übernommen hatte, als Miles nach Briggs zurückgekehrt war. „Das bezweifle ich“, erwiderte die junge Frau. „Ich bin vielleicht sehr blass, aber ich war schon mal in Xerxes, um mich dort ein bisschen umzusehen, und auf der Reise dorthin musste ich einmal quer durch die Wüste reisen – und ich habe mir keinen Sonnenbrand geholt. Und selbst wenn ich einen bekommen würde, kenne ich den Transmutationskreis, um ihn wieder verschwinden zu lassen.“ „Ich habe dich gewarnt“, sagte er, während er gegen die Tür klopfte. „Ich habe dir jemanden mitgebracht, Tim!“, rief er. Der entstellte Mann öffnete die Tür und sah hinaus. „Eine Patientin?“, fragte er dann und sah das Mädchen an. „Nein, sie sagt, dass sie uns helfen will“, sagte Scar. „Kannst du dich um sie kümmern? Meine Mittagspause ist jetzt vorbei und ich wollte die Stadt kurz verlassen, um den Leuten mit dem neuen Brunnen zu helfen. Mit ein bisschen Zerstörungsalchemie dürfte das mit Sicherheit um einiges leichter sein, nehme ich an.“ „Mit Sicherheit“, sagte Dr. Marcoh und sah Darlene an. „Du scheinst das Erbe vieler Völker in dir zu tragen, Mädchen. Darf man fragen, wie das kommt?“ Sie nickte kurz. „Mein Urgroßvater väterlicherseits kam aus Ishbal“, sagte sie und wies auf ihr rotes Auge. „Und die Familie meiner Mutter kam zwar größtenteils aus Amestris, aber meine Großmama kam aus Xing. Und nachdem meine Mutter tot war, hat sie sich um uns alle gekümmert. Deswegen bin ich daran gewöhnt, zwischen den Kulturen zu pendeln und alles so zu akzeptieren, wie es ist.“ „Eine bemerkenswerte Lebenseinstellung“, sagte Scar nüchtern. „Nur aus Neugierde: Du hast ja nur dieses eine Auge … wie hast du das versteckt, während der Kampagne gegen die Menschen meines Volkes?“ Sie drehte sich zu ihm um und grinste. „Ich hab den Bradley gemacht“, sagte sie. „Augenklappe?“, fragte Scar. Sie nickte. „Und keiner hat jemals daran gezweifelt“, sagte sie mit einem sehr selbstgefälligen Grinsen. „Außerdem bin ich ohnehin nicht viel aus dem Haus gegangen. Meine älteste Schwester hat mich nie gehen lassen, weil sie Mutter versprochen hatte, auf mich aufzupassen, aber als Mutter dann starb, hat sie noch die Forschungen beendet und danach hat sie einfach nicht mehr weitergelebt und ist gestorben. Es war die Hölle.“ „Wieso hat sie einfach nicht mehr weitergelebt – und geht das überhaupt?“, fragte Scar. „Nerissa hat bewiesen, dass das geht“, sagte Darlene grimmig. „Als die Nachricht von Mutters Tod kam, hat sie nicht geweint. Schon damals muss sie entschieden haben, ihr zu folgen, sobald sie ihren Auftrag erledigt hatte. Und so hat sie die Wasseralchemie bis zum bitteren Ende perfektioniert und als sie damit fertig war, hat sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, um dort in aller Ruhe zu sterben. Ihre letzten Worte waren: ‚Es tut mir leid, Mutter, aber du bist vorausgegangen und ich habe gesagt, dass ich dir an jeden Ort folgen würde, an den ich dir folgen kann.’“ Sie schüttelte langsam den Kopf. „Mit der Wasseralchemie verhält es sich vermutlich nicht anders als mit dem Stein der Weisen“, sagte sie düster. „Wer immer der Vollendung zu nahe kommt, übertritt eine Grenze. Und nach allem, was sie und Mutter dafür geopfert haben, ist Nerissa gestorben, weil sie es selbst so gewollt hat. Und sie hat mir diese Bürde auferlegt.“ „Hasst du sie dafür?“, wollte Scar wissen. „Hasst du deine Schwester dafür, dass sie dir etwas auferlegt hat, worum du nicht gebeten hast?“ Darüber dachte die Fremde für einen Moment nach, dann griff sie in ihre Hosentasche und zog zwei Handschuhe heraus, die sie schnell überstreifte und dann drehte sie sich weg, um ihre Alchemie zu wirken. Was sowohl ihre Mutter als auch Nerissa bei ihren langjährigen Forschungen niemals berücksichtigt hatten, war die Tatsache, dass Wasser auch in der Luft enthalten war. Sie zog die Luftfeuchtigkeit aus der Luft heraus und verdichtete das Wasser, bevor sie es als Regen auf die aufgerissene Erde niedergehen ließ. Doktor Marcoh sah sie anerkennend an. „Ich hatte einmal eine Kollegin, die sich in erster Linie mit Wasseralchemie auseinandergesetzt hat“, sagte er, „aber auch wenn es in ihrer Familie Tradition hatte, die Forschungen weiterzuführen, war sie bis zu ihrem Tod nie weit genug gekommen, um die Luftfeuchtigkeit zu benutzen. Reine Hamilton.“ Er sah Scar an. „Sie war die einzige Staatsalchemistin, die man direkt nach hier geschickt hat“, sagte er erklärend. „Soweit ich weiß, wurde sie von der Regierung erpresst, weil sie ansonsten keinen einzigen Menschen deines Volkes umgebracht hätte. Aber leider wurde ihre Effektivität nur von vielleicht vier anderen Staatsalchemisten übertroffen: Mustang, Grand, Kimblee und MacDougall. Flame, Steel Blood, Crimson und Ice.“ Darlenes Schultern spannten sich an und sie zog die Handschuhe wieder aus. „Ich bin hergekommen, weil ich etwas wiederaufbauen will“, sagte sie. „Gewissermaßen ist das die dritte Stufe der Alchemie, nicht wahr?“ „Bei diesem Klima hier wirst du mit Handschuhen ganz schön ins Schwitzen geraten“, warnte Scar. „Viele andere Alchemisten lassen sich die Handflächen tätowieren … Hast du schon mal darüber nachgedacht?“ Sie nickte. „Aber ich bevorzuge es, Handschuhe zu haben“, sagte sie. „Wenn man eine Tätowierung hat, muss man immer sehen, was man ist. Man hat keine Möglichkeit, auch mal etwas anderes auszuprobieren. Und ich bin noch jung. Ich will mich jetzt noch nicht auf einen Lebensentwurf festlegen müssen. Vielleicht mache ich eine Reise nach Xing oder Drachma, sobald ich hier fertig bin…“ „Kann ich deine Transmutationskreise sehen?“, bat der Arzt. „Klar“, sagte sie und reichte ihm ihre Handschuhe. „Ich gehe zwar nicht davon aus, dass Sie verstehen, was der Kreis aussagt, aber…“ „Er ist tatsächlich außergewöhnlich komplex“, sagte der alte Mann seufzend. „Ich nehme an, dass das das Element für die Isolierung der Luftfeuchtigkeit ist … und das da ist für die beiden Aggregatübergänge, nicht wahr? Vereisen und Verdampfen … Und trotz allem ist der Kreis nicht so wie der, den Reine hatte. Dieser hier ist sehr viel ausgereifter. Wie lange hast du daran gearbeitet, um ihn derartig zu perfektionieren?“ Darlenes Blick war plötzlich nicht mehr fokussiert. „Ich habe es nur zu Ende gebracht“, sagte sie bitter. „Ich habe wieder einmal getan, was meiner Schwester vorherbestimmt gewesen ist, doch sie hat auf dem halben Weg aufgegeben. Sie hatte geplant, eine Staatsalchemistin zu werden, aber nach dem Krieg hat sie Abstand von diesem Vorhaben genommen und damit hat sie ihren Traum aufgegeben. Vielleicht hätte es sie am Leben erhalten, wenn sie einen Traum gehabt hätte, ich weiß es nicht…“ Scar, dessen Beziehung zu seinem älteren Bruder auch nicht immer so leicht gewesen war, spürte ein seltsames Verständnis für die junge Frau in sich aufkeimen. Wenn ihn nicht alles täuschte, dann hielt sie sich für die Verantwortliche dafür, dass die ältere Schwester schon gestorben war – auch wenn das Unsinn war. Aber Schuldgefühle besaßen ohnehin nur selten eine logische Grundlage. Er musterte ihr Gepäck. Es bestand nur aus einem einzigen Koffer und einem großen Rucksack. Wo sie auch herkam, sie schien es mit ihrer Entscheidung, nicht mehr zurückzugehen, ernst zu meinen. Und sie war namenlos, genau wie er selbst auch. Beziehungsweise hatten sie ihren Namen beide abgelegt, um keine Fesseln an ihr altes Leben mehr zu haben. „Wie lange bist du schon unterwegs?“, fragte Scar schließlich und sah sie an. „Drei Wochen“, sagte sie. „Ich bin viel zu Fuß gegangen, weil ich mir das Land ansehen wollte. War einer von euch schon mal in Reole? Diese Stadt hat ein Flair, das einfach unbeschreiblich ist. Sie ist fast vollständig zerstört worden, aber … sie ist auferstanden und hat sich der Zukunft zugewandt. Die Leute dort lächeln alle…“ „Bring sie bitte im Hauptquartier unter, Marcoh“, sagte Scar. „Miles’ Zimmer müsste noch frei sein. Sie soll sich erst ausruhen. Morgen fängst du erst an, Darlene.“ Sie nickte kurz. „Danke“, sagte sie schlicht. „Du musst mir nicht danken“, sagte er. „Du könntest mir nur einen Gefallen tun. Wir haben unseren militärischen Befehlshaber verloren. Wir brauchen irgendwen, der in unserem Namen mit East und mit Central City in Verbindung bleibt. Marcoh hier hat die Armee verlassen. Auch wenn das aus dem Munde eines ehemaligen Staatsalchemistenmörders ein bisschen komisch klingen muss … du hast nicht zufällig Interesse an einer Karriere als Staatsalchemistin, oder? Ich könnte das ganz unbürokratisch organisieren.“ Sie hielt seinem Blick länger stand als die meisten anderen, dann schüttelte sie langsam den Kopf. „Eine solche Qualifikation würde mir kein Glück bringen“, sagte sie. „Und selbst wenn ich eine hätte, habe ich keine militärische Erfahrung. Und an einem Aufenthalt auf der Militärakademie bin ich nicht interessiert.“ Sie ging mit Marcoh davon und Scar machte sich auf den Weg zur nächsten Telefonzelle, um einen seiner alten Feinde anzurufen. „Hier ist Generalmajor Mustang“, verkündete der Alchemist. „Falls du es bist, Elizabeth, es besteht kein Grund, weshalb du mich wecken müsstest. Wir haben heute frei!“ „Deine Freundin, Mustang?“, fragte Scar fast schon amüsiert. „Ich bin’s.“ „Nein, nicht meine Freundin“, seufzte der andere. „Schlimmer. Meine Untergebene. Ich bin noch nicht aufgestanden und ich weiß, dass sie mich in spätestens zehn Minuten notfalls mit Gewalt aus dem Bett holen wird … dabei habe ich Kopfschmerzen.“ „Ich würde zu gerne sehen, wie sie dich an den Füßen aus dem Bett zerrt, aber dafür müsste ich mich auf den Weg nach East City machen…“ „Weswegen rufst du mich überhaupt an?“, fragte Mustang gähnend, dann seufzte er schwer. „Ja, ich stehe gleich auf, Hawkeye! Kein Grund, so ungemütlich zu werden!“ „Wir haben heute ein sehr wichtiges Meeting, Sir, und wenn Sie nicht wollen, dass wir zu spät kommen, sollten Sie jetzt aufstehen, verdammt noch mal!“, brüllte eine gewisse Blondine im Hintergrund. „Ich sage es Ihnen schon seit drei Stunden, aber der große Generalmajor hält es wohl für überflüssig!“ „Ich hätte nie gedacht, dass ich sie mal so laut erleben würde“, sagte Scar und war milde beeindruckt. „Weshalb ich aber anrufe … besteht die Möglichkeit, irgendwen nach hier zu schicken, mit dem ich zusammenarbeiten kann? Eben ist eine Alchemistin angekommen, aber auch wenn Marcoh ihr ein bemerkenswertes Talent attestiert, will sie nicht Staatsalchemist werden und alle Unterschriften leisten…“ „Die letzte Staatsalchemistin, die Ishbal betreten hat, ist nicht lebend zurückgekommen“, sagte Mustang sachlich. „Reine Hamilton ist gefallen, nachdem der Krieg offiziell zu Ende war, wie du vielleicht weißt. Sie wurde erschossen. Sie hatte gerade gesagt, dass man sie für ihre Kriegsverbrechen verurteilen würde, als sie erschossen wurde. Dann meinte sie, dass sie ihr Urteil offenbar schon bekommen hätte.“ „Wie bekannt ist die Geschichte?“, fragte Scar mit einer gewissen Sorge in der Stimme. „Tja, ihre letzten Worte sind nur mir und ihrer ältesten Tochter bekannt, weil sie an uns beide gerichtet waren. Sie kannte meinen Traum. Ich hatte ihn ihr anvertraut, weil wir sehr ähnlich gedacht haben. An dem Tag, an dem sie starb, habe ich unter ihrem Kommando gestanden und wir waren gerade auf dem Rückweg, als sie erschossen wurde. Sie hatte keine Chance. Die Wunde war hundertprozentig tödlich. Und das Schockierende war, dass sie richtig … friedlich aussah, als ihre Augen zufielen. Sie sah so aus, als wäre sie eingeschlafen, auch, wenn ihre Uniform immer roter geworden ist.“ Mustang seufzte. „Ja, ich stehe sofort auf, Ladyhawk, aber lässt du mich bitte erst in Ruhe telefonieren? Du kannst Hayate rauslassen, während du auf mich wartest – oder du könntest mir die Unterlagen heraussuchen, die ich für das Meeting brauche.“ „Das habe ich schon gestern Abend erledigt, Sir“, sagte sie ruhig. „Und Sie wissen, dass ich Sie nicht ohne Frühstück aus dem Haus gehen lasse. Sie haben noch eine Stunde, bevor wir uns mit den anderen treffen, und ich würde vorschlagen, dass Sie sich ein bisschen beeilen. Ich mache jetzt das Frühstück. Der Kaffee steht auf Ihrem Schreibtisch.“ „Du bist so gut zu mir, Elizabeth“, seufzte er. „Danke, ich beeile mich. Und du musst das Frühstück nicht machen. Ich werde mich persönlich darum kümmern. Das hatte ich dir vor ein paar Tagen versprochen und ich halte mich an das, was ich verspreche.“ „Und ich habe Ihnen gesagt, dass ich lieber selbst koche, weil ich persönlich nicht so darauf stehe, verkohltes Essen zu essen“, erwiderte sie. „Deswegen werde ich wohl das Frühstück machen. Außerdem koche ich gerne, wie Sie wissen. Deswegen … kommen Sie in einer halben Stunde bitte herunter, dann müsste ich fertig sein. Guten Morgen übrigens.“ „Guten Morgen, Ladyhawk“, sagte er amüsiert, dann wandte er sich wieder Scar zu. „Ich muss dringend ihr Gehalt erhöhen. Inzwischen arbeitet sie vierundzwanzig Stunden täglich und das sieben Tage die Woche. Und das nur, weil ich darauf bestanden habe, dass sie bei mir einzieht. Wenn ich gewusst hätte, dass das so viel Stress für sie bedeutet, hätte ich sie in ihrer winzigen Wohnung gelassen, aber ich musste ja wieder einmal meinen Willen durchsetzen…“ „Weißt du, wie man das gerade nennen könnte?“, fragte Scar. „Nein“, erwiderte der Staatsalchemist arglos. „Szenen einer Ehe.“ „Ich lege gleich auf!“ „Dann tust du das eben, aber es ändert nichts daran, dass du sie in naher Zukunft nach einer Verabredung fragen solltest, bevor ein anderer dir zuvorkommen kann!“, lachte Scar, der allmählich Gefallen daran fand, Mustang zu ärgern – solange es nur übers Telefon war und Mustang keine Möglichkeit hatte, ihn durchs Telefon hinweg anzuzünden. „Ich meine, wie lange bist du schon heimlich in sie verliebt? Und versuch gar nicht erst, es abzustreiten. Wir wissen alle, dass du in sie verliebt bist!“ „Ich hatte einmal einen besten Freund, der mich immer damit genervt hat“, sagte Mustang und verzog das Gesicht, „aber auch wenn er etwa tausendmal versucht hat, mich mit ihr zu verkuppeln, sind wir beide noch immer Single.“ „Oh, wenn ich das nächste Mal in East City bin, helfe ich dir gerne dabei, einen Antrag für sie auszufeilen, falls das dein einziges Problem ist“, sagte Scar, „oder bist du der Meinung, dass du es nicht nötig hättest, dir einen schönen Antrag einfallen zu lassen?“ Mustang umfasste den Hörer fester, während er aufstand und aus dem Fenster hinaus in den Garten sah, wo eine gewisse Blondine gerade mit ihrem Hund spielte. „Sie würde ihn nie im Leben annehmen“, sagte er bitter. Er hatte mit dem Gedanken, sie zu fragen, in den letzten zehn Jahren mehr als einmal gespielt, aber selbst wenn er es vielleicht vor Ishbal geschafft hätte, wusste er, dass sie jetzt in jedem Fall ablehnen würde, auch wenn sie es vielleicht eigentlich wollen würde. Sie hatte entschieden, dass sie kein Glück verdiente. Das war es, was er in ihren Augen lesen konnte. Sie akzeptierte es. Nach Ishbal hatte sie entschieden, dass sie es nicht mehr verdiente, irgendwie glücklich zu sein. Es war tragisch, aber manchmal verstand er, weshalb sie das entschieden hatte. Sie hasste sich selbst für das, was sie getan hatte. Und auch wenn sie es nicht mehr rückgängig machen konnte, bestrafte sie sich selbst an jedem Tag ihres Lebens dafür. Es war bitter. „Wieso denkst du, dass sie ablehnen würde?“, fragte Scar perplex. „Weil sie glaubt, es nicht verdient zu haben, jemals wieder glücklich zu sein“, sagte Mustang voller Reue. „Ich kenne sie seit sehr langer Zeit und ich kenne sie gut genug um zu wissen, dass sie nur den Kopf schütteln würde. Und wenn ich sie nie frage, muss sie auch nie Nein sagen. Und wenn sie nicht ablehnen muss, können wir wenigstens Freunde bleiben. Und vielleicht ist es das, was wir verdient haben, nach allem, was wir getan haben. Zusammen und doch getrennt zu sein. Ich weiß es nicht.“ „SO EINEN QUATSCH HABE ICH JA NOCH NIE GEHÖRT!“, polterte Scar. „WENN EINE FRAU SO WAS SAGT, HAB ICH NOCH VERSTÄNDNIS DAFÜR! SIE SIND EBEN EINFACH SENSIBEL UND NEIGEN DAZU, SICH IMMER MIT SELBSTVORWÜRFEN HERUMZUSCHLAGEN! ABER DAS DU DASSELBE REDEST, ALCHEMIST, IST DAS ERBÄRMLICH! ENTWEDER MAN GEHÖRT ZUSAMMEN, WEIL ISHBALA DAS SO FÜR EUCH ENTSCHIEDEN HAT, ODER IHR GEHÖRT NICHT ZUSAMMEN UND SEID EINFACH NUR SEHR GUTE FREUNDE. UND IN EUREM FALL WÜRDE ICH SAGEN, DASS MEIN GOTT EUCH ZUSAMMENGEFÜHRT HAT! ICH KANN MIR ZWAR NICHT VORSTELLEN, DASS ER DAS GETAN HAT, DAMIT IHR MEIN VOLK FAST AUSLÖSCHT, ABER JETZT REIßT EUCH GEFÄLLIGST EIN BISSCHEN ZUSAMMEN UND GEHT IN DIE ZUKUNFT! UND IHR HABT DOCH NUR NOCH EUCH! SIE HÄTTE SICH DAFÜR GEOPFERT, DASS DU DIE WELT RETTEN KANNST, ABER DIESER SCHATTENBASTARD HAT ANDERS ENTSCHIEDEN! ICH WEIß JA NICHT, OB DU DAS SCHON REALISIERT HAST, ABER WENN MAY NICHT AUFGETAUCHT WÄRE, WÄRE DEINE KOSTBARE LEIBWÄCHTERIN JETZT NICHT MEHR UNTER UNS!“ „Ich bin beeindruckt“, sagte Mustang atemlos. „Das solltest du auch sein.“ „Und was soll ich jetzt machen?“ „Ich habe keine Ahnung! Sehe ich aus wie jemand, der viel Erfahrung im Umgang mit Frauen hat? Ich kann dir nur sagen, was dir jeder Depp sagen kann: REIß DICH ZUSAMMEN UND FRAG SIE ENDLICH! Wenn du an der Spitze bist, brauchst du jemanden, der dich auf den rechten Weg zurückführt, wenn du strauchelst, du Idiot!“ Scar atmete schwer. „Ich bin bekanntlich kein großer Fan von dem, was ihr getan habt, aber ich finde es zum Kotzen, dass ihr euer Glück derartig verschwendet!“ „ROY MUSTANG!“, rief Hawkeye unten und langsam klang sie ungeduldig. „KOMM JETZT SOFORT ZUM FRÜHSTÜCK! DER KAFFEE WIRD KALT!“ „Das ist mein Stichwort“, sagte der Generalmajor. „Ich rufe demnächst noch mal an. Sie kann richtig gefährlich werden, wenn ich nicht rechtzeitig unten bin.“ „Ich kann es mir lebhaft vorstellen“, sagte Scar. „Das letzte Mal, dass sie meinen Vornamen benutzt hat, ist schon ziemlich lange her“, sagte der Soldat und sprang auf, „und normalerweise rutscht er ihr nur raus, wenn sie kurz darauf ist, die Nerven zu verlieren. Das letzte Mal, das sie mich so genannt hat, war an dem Tag, an dem wir aus Ishbal zurückkamen und ich sie … befreit habe.“ Scar horchte auf. „Wovon hast du sie befreit?“, wollte er wissen. „Sie hat mich schwören lassen, niemandem zu sagen, was ich getan habe, aber ich habe das getan, was ich tun musste, um die Entstehung eines dritten Flame Alchemisten zu verhindern. Ich werde der letzte sein. Wenn sie und ich gehen, fällt der Vorhang für diese Form der Alchemie endgültig. Nach uns wird es keinen mehr geben.“ Mustang lächelte grimmig und zog seinen Morgenmantel über. „Sie hat diese Entscheidung getroffen. Und weil es sie persönlich betroffen hat, war sie auch die einzige, die sagen durfte, dass es vorbei war. Es war ein schöner Entwurf, aber die Menschheit war noch nicht bereit.“ „Vielleicht wird sie es auch niemals sein“, sagte Scar, bevor er auflegte. Generalmajor Roy Mustang würde niemals freiwillig zugeben, dass er es genoss, wieder mit Riza Hawkeye unter einem Dach zu leben. Innerhalb weniger Wochen hatten sie sich zu einem eingespielten Team entwickelt. Er konnte nicht kochen. Beziehungsweise hielt sie das, was er kochen konnte, für ungenießbar. Die Tatsache, dass das Essen, das er kochte, meistens angebrannt war, gab ihr Recht. Aber sie konnte kochen und er half ihr, indem er das Gemüse kleinschnitt. Manchmal fragte er sich, wie lange es halten würde. Wie lange würden sie miteinander zurechtkommen, bevor sie sich gegenseitig auf die Nerven gehen würden? Meistens wünschte er sich, niemals eine Antwort zu bekommen. Er wollte, dass sie blieb. Aber er wusste auch, dass sie irgendwann gehen würde. Auch wenn sie es für den Moment akzeptiert hatte, schien sie ihre alte Wohnung zu vermissen. Sie vermisste vermutlich in erster Linie das Umfeld. Trotz der Tatsache, dass dort in erster Linie Offiziere wohnten, war es eines der lebendigsten Viertel East Citys. East City war ohnehin eine sehr lebhafte Stadt, die hin und wieder den Charme eines Dorfes hatte. Gerüchte verbreiteten sich wie Lauffeuer. Wenn ein Mann um die Mittagszeit in einen Juwelierladen ging und mit einem kleinen Kästchen herauskam, würde seine Freundin noch vor Feierabend wissen, dass er plante, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Aber das machte auch den Charme der Stadt aus, wie Mustang entschied, während er sich still an den Küchentisch setzte, wo bereits alles bereitstand. Hawkeye hatte sich wieder einmal hinter der Zeitung verschanzt, dann ließ sie sie sinken. „Ich kann nicht glauben, dass Sie selbst an einem Tag wie diesem so sehr trödeln!“, sagte sie. „Ich habe Havoc versprochen, dass wir pünktlich sein werden! Und jetzt?“ Er hob abwehrend die Hände. „Es tut mir leid, Elizabeth“, sagte er. „Ich werde nie wieder so herumtrödeln. Du machst dir deswegen zu viele Sorgen.“ Sie schwieg und krallte sich an ihrer Kaffeetasse fest. „Ich habe darüber nachgedacht, ob ich mich nicht demnächst mal um eine Verbesserung der Ausrüstung bemühen sollte“, sagte sie trocken. „Ein paar meiner alten Kameraden sind in die Waffenindustrie gegangen. Einer von ihnen schickt mit hin und wieder Ansichtsexemplare, damit ich sie unter meinen Bedingungen austesten kann.“ „Bitte, Elizabeth“, seufzte er. „Wir haben heute beide frei. Unsere Freunde haben uns zu einem Picknick eingeladen. Meinst du nicht auch, dass du vielleicht ein einziges Mal nicht über die Arbeit reden könntest? Außerdem ist der Frühstückstisch auch nicht der richtige Ort für eine Diskussion über Waffen.“ Seine Augen schmal. „Außerdem … wer schenkt dir Waffen? Hat da jemand nicht verstanden, dass der Weg zum Herz einer Frau nicht über ihren Waffenschrank führt?“ Er wollte nicht eifersüchtig klingen. Das wollte er nie. Aber manchmal schlich es sich in seine Stimme, wenn sie über andere Männer sprach, die ihr Geschenke machten. Wenn die Jungs im Büro ihr etwas zum Geburtstag schenkten, war das die eine Sache. Er kannte sie und er wusste, dass er sich keine Sorgen machen musste. Fuery war zu jung für Hawkeye, Falman zu alt. Havoc war mit Catalina zusammen und Breda war eben einfach Breda – keine nennenswerte Konkurrenz also. Hawkeye sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Wir sollten uns beeilen, wenn wir nicht zu spät kommen wollen“, sagte sie und stand auf. Sie war bereits angezogen und hatte die Haare frisch gewaschen. Sie hatte sie wieder wachsen lassen, nachdem sie ihren Chef zumindest zeitweise von seinem grauenhaften Bart befreit hatte. Er hatte ihn sich zwar wieder wachsen lassen, aber sie würde ihn sicherlich bald wieder von der Erdoberfläche verschwinden lassen – immerhin machte er kleinen Kindern Angst. „Manchmal frage ich mich wirklich, wieso du nicht schon lange Oberst bist, Elizabeth“, grummelte er, während er schnell sein Brot herunterschluckte und sich noch ein zweites Glas Orangensaft nahm. „Ich meine, du bist wesentlich gewissenhafter und fleißiger als ich. Du hast die besseren Beziehungen zur Spitze…“ Sie drehte sich in der Tür noch einmal zu ihm um. „Vergessen wir das am besten“, sagte sie. „Es hatte Gründe, dass ich Beförderungen immer wieder ausgeschlagen habe. Und diese Gründe sind meine Privatsache. Sie sollten sich jetzt beeilen, sonst fahre ich ohne Sie los und sage den anderen, Sie wären krank.“ „Wenn du behauptest, auch krank zu sein, bin ich dabei“, sagte er und stellte das Glas ab. „Ich bin gut darin, mich krank zu stellen.“ „Es wäre ja auch überhaupt nicht auffällig, wenn wir zufällig am selben Tag auf mysteriöse Weise erkranken“, sagte sie lachend. „Die meisten fänden es sicherlich nicht verdächtig, wenn wir als Begründung ‚Lebensmittelvergiftung’ angeben…“ Er grinste breit. „Wollen Sie damit andeuten, ich könnte nicht kochen, Sir?“, fragte sie scharf. „Riza, bitte!“ Er hielt sich die Ohren zu. „Nicht immer ‚Sir’, okay? Wir sind nicht auf der Arbeit. Um genau zu sein, haben wir heute beide frei. Kannst du mir nicht bitte den Gefallen tun, und mich einfach so zu nennen, wie ich auch heiße? Am besten tust du es freiwillig, sonst mache ich einen Befehl daraus!“ Für einen Moment starrte sie ihn an. Anders als sie Envy gegenüber behauptet hatte, rief er sie niemals bei ihrem Vornamen. Es war immer ihr Rang, Hawkeye, seit neustem manchmal auch ‚Ladyhawk’, womit Havoc angefangen hatte, oder ihr Codename Elizabeth. Früher war es immer Miss Riza gewesen, aber nie, nie nur Riza. Er erwiderte ihren Blick. „Ist irgendetwas falsch?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie. „Alles ist in Ordnung.“ Mustang sah ihr nach, als sie aus der Küche ging und nach Hayate rief. Sie war da. Es hatte einen Grund gegeben, weshalb er so penetrant darauf bestanden hatte, dass sie seit seinem Umzug praktisch Tag und Nacht in seiner Nähe blieb. Es war, weil er abends immer vor ihrer Wohnung gestanden hatte. Er hatte Catalina vertraut. Er war sich sicher gewesen, dass sie auf ihre beste Freundin aufpassen konnte, aber dafür musste sie Tag und Nacht aufmerksam bleiben. Und das war nicht gerade ihre Stärke. Und er selbst hatte sie einmal von der Seite ihrer besten Freundin weggeholt – mit dem Ergebnis, dass man Hawkeye … nein, Riza fast umgebracht hatte. Danach hatte er entschieden, es zur Chefsache zu erklären. Und er war eben der Chef. Wenn er jetzt abends nach Hause kam, musste er nicht lange überlegen, ob sie wohl zuhause war. Sie war meistens da. Entweder las sie noch, oder sie kam gerade von ihrem Abendspaziergang mit Hayate. Er nickte ihr nur kurz zu, wollte sie nicht stören. Nur selten gesellte er sich zu ihr, wenn er nach Hause kam und fühlte sich nur wie ein Besucher. Es war nicht sein Haus. Es war eher ihres. Immerhin gehörte es ihrem Großvater. Grumman, dieser alte Fuchs. Er war derjenige, der gewusst hatte, wen er da zur Assistentin des jungen Roy Mustangs machte. Er war derjenige, der die ganze Zeit über die Fäden in der Hand gehalten hatte. Manchmal fragte Mustang sich, was sein ehemaliger Vorgesetzter damit beabsichtigt hatte. Er erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem er das Formular abgegeben hatte. Der damalige Generalleutnant hatte es beeindruckt angesehen. „So jung, wie Sie sind, Mustang, wollen Sie sofort die beste Schützin als Leibwächterin?“, hatte er gefragt, während er seinen Füller herausgenommen hatte. „Sie haben wohl einen sehr guten Geschmack, falls man das so sagen kann. Ja, Sie schlagen sie zwar als Assistentin vor, aber ich nehme an, dass die Positionen bald … verschmelzen werden. Passen Sie gut auf die junge Frau auf. Sie werden keine bessere finden.“ Aber … wie um alles in der Welt hatte Grumman das gemeint? Hatte er gemeint: „Passen Sie auf meine Enkeltochter auf, weil ich Ihre Karriere sonst ruinieren werde?“ oder war es eher: „Passen Sie gut auf sie auf, weil Sie und Hawkeye vom Schicksal füreinander bestimmt worden sind?“ (Auch wenn das eher Scars Aussage wiedergab.) Roy Mustang hatte keine Ahnung. Er wusste nur eines: Oberstleutnant Hawkeye würde eine höllisch gute First Lady abgeben – auch wenn sie es selbst noch nicht wusste. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)