The last Night von Saria-chan (..before we fall) ================================================================================ Kapitel 1: The last Night (before we fall) ------------------------------------------ Das gelbliche Licht der Petroleumlampe erhellte Deutschlands Arbeitszimmer nur spärlich; war gerade hell genug, um den massiven Schreibtisch des blondhaarigen Landes, an dem es saß, nicht vollkommen im Dunkel verschwinden zu lassen. Blätter und Dokumente lagen wahllos über die schwere Tischplatte verstreut und waren fern der Ordnung, die man von Ludwig gewöhnt war. Seit Tagen hatte er hier schon keine Papierarbeit mehr erledigt. Es hatte ohnehin keinen Sinn mehr. „Wir werden verlieren.“ Endlich lösten sich die Worte von Deutschlands Lippen – Worte, die so schwer auf ihm gelastet hatten. Aber was er als eine Frage in den Raum hatte stellen wollen, endete als bittere Feststellung. Anscheinend hatte es ebenfalls keinen Sinn mehr, sich noch etwas vorzumachen oder falsche Hoffnungen zu hegen. Dafür sprachen Kriegsberichte vor seinen Augen mit ihren nüchternen, gedruckten Lettern eine viel zu deutliche Sprache, deren Aussage unmissverständlicher gar nicht hätte sein können. Außerhalb des schmalen Lichtkreises, irgendwo im Dunkel des Raumes, bewegte sich jemand. Schritte knarrten über den Dielenboden und vor dem Sternenhimmel, der klar durch das gesprungene Fenster an der Kopfseite des Zimmers leuchtete, zeichnete sich der Umriss eines schlanken Männerkörpers ab. „Sieht so aus“, erwiderte Preußen. Ludwigs Blick ruhte auf dem Rücken seines Bruders und für einen Moment fragte er sich, was so falsch an diesem Bild wirkte – von den im Halbdunkel schimmernden Bandagen an Gilberts Körper einmal abgesehen – bis die ungeliebte Erkenntnis den Weg in sein Bewusstsein fand. Es war die völlige Abwesenheit von Stadtlichtern. Doch wie sollten sie auch scheinen, wenn alles, was dort draußen unter dem Deckmantel der Nacht lag, Schutt und Trümmer waren? Gilbert drehte sich ein wenig. Sein helles Haar und der weiße Verband über seinem linken Auge wirkten kränklich gelb im Schein der Lampenflamme und die Schatten unter dem blutfarbenen Seelenspiegel durch das unstete Flackern ihrer einzigen Lichtquelle, seitdem heute morgen der Strom ausgefallen war, tiefer als sie von den zahllosen, ruhelosen Nächten ohnehin schon waren. Ludwig spürte, wie sich sein Herz krampfhaft zusammenzog. Obwohl es nicht das erste Mal war, dass ihm sein Bruder mit Kampfeswunden gegenüberstand – seitdem Deutschland zurückdenken konnte, hatte Gilbert Schlachten geführt – , so übel wie die letzten Angriffe Russlands hatte Preußen noch niemals etwas zugesetzt und der muskulöse Mann hatte das Gefühl, dass der sorgenvolle Knoten in seiner Brust mit jeder Minute anwuchs und es nicht mehr lange dauerte, bis er ihm vollkommen die Luft zum Atmen nahm. „Hast du Angst?“ fragte der Albino. Ludwig antwortete nicht unmittelbar. Rein logisch gab es kein anderes Wort für diese Empfindung in seinem Inneren, die seinen Brustkorb so zusammenschnürte und seinen Körper mit einer solchen Anspannung erfüllte, dass ihm jeder einzelne Muskel schmerzte. Aber zum einen war er schon immer schlecht darin gewesen, sich seine Gefühle einzustehen und zum einen war es ein denkbar unpassender Zeitpunkt, dies nun ändern zu wollen. Er musste stark sein. Gerade jetzt durfte er sich keine Schwäche leisten. „Hast du welche?“, fragte der blonde Mann stattdessen. Gilbert gab einen Ton der Entrüstung von sich. „Ich und Angst?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und reckte das Kinn in einer symbolischen Geste Richtung Fenster, seine Haltung stolz und unnachgiebig. „Vor denen da draußen etwa? Ganz bestimmt nicht.“ Dennoch.. obwohl es so ganz und gar typisch Ludwigs Bruder war, der aus diesen Worten – seinem ganzen Auftreten sprach, war da dieses verräterische Zittern in seiner Stimme – ein untrüglicher Beweis dafür, dass der Albino seine Worte doch nicht so ernst meine wie er vielleicht selbst gern gehabt hätte. Für einen kurzen Augenblick schwand der müde Ausdruck auf Deutschlands Gesicht ein wenig und seine Mundwinkel verzogen sich zu dem Ansatz eines Lächelns ob dieser Unverbesserlichkeit Preußens, sogar in einem Moment wie diesem. Dann jedoch wurden seine Lippen wieder zu einer geraden, harten Linie und er widerstand dem Drang, das Gesicht in den Händen vergraben zu wollen. Mein Gott, wie hatte es jemals so weit kommen können? Egal, wie oft sich Ludwig diese Frage stellte, nach dem Zeitpunkt suchte, seitdem alles so grundlegend schief lief, er fand keine Antwort. Vielleicht war diese ganze, verdammte Krieg schon von Beginn an zum Scheitern verurteilt gewesen. Vielleicht hatte der Führer ... Ludwig brach mitten im Gedanken ab, weil ihm bei der Erinnerung an sein gefallenes Oberhaupt zeitgleich wieder die Gerüchte um die Konzentrationslager in den Sinn kamen, welche die letzten Tage immer öfter im Zusammenhang mit Hitlers Namen gefallen war. Gerüchte, die weitaus grausiger waren als alles, wozu Deutschlands Vorstellungskraft in der Lage war. Was, wenn sie wahr waren? Was.. „Was meinst du wird mit uns passieren?“ Der blondhaarige Mann vermochte nicht zu sagen, ob seine Stimme ängstlich klang, als diese Worte seinen Mund verließen. Wenngleich er innerlich nur noch schwerlich zu einer anderen Empfindung als jener fähig war, weigerte er sich vehement, sich dieses letzte Zugeständnis zu machen. Gilbert zuckte mit den Schultern und blickte wieder hinaus in die Nacht. „Das hängt von den Alliierten ab. Aber nur weil wir den Krieg verlieren, muss das nicht heißen, dass wir von der Landkarte verschwinden.“ Der Tonfall Preußens war ungewohnt ernst und abgeklärt, als er das in Worte fasste, was sein jüngerer Bruder insgeheim schon die ganze Zeit fürchtete. Ludwig wusste das – hatte selbst schon einmal den bitteren Geschmack der Niederlage schmecken müssen und hatte doch überlebt –, er kannte die Wahrheit hinter Gilberts Worten und dennoch.. Dieses Mal war alles anders. Er spürte es als Land und als Mensch. Dieses eine Mal konnten sie nur auf Gnade hoffen, sollten die Verbrechen, derer man sie anschuldigte, wirklich Realität sein. Und irgendwo in seinem Inneren wusste Deutschland mit einer schrecklichen Gewissheit, dass sie es waren. Dass er ihr wirkliches Ausmaß gerade erst begann zu begreifen.. Er wollte an alles außer an morgen denken. Gilberts trockenes Auflachen riss Ludwig aus den Gedanken. Nicht allein, weil es unnatürlich laut in der Stille des Raumes widerhallte. Irgendetwas an ihm war grundlegend falsch, klang einfach nicht richtig. „Kannst du dir das vorstellen? Eine Welt ohne Preußen? Ohne jemand großartiges wie mich?“ „Hör auf!“ herrschte Deutschland den Albino an, welcher darauf augenblicklich verstummte. Als hätte ihn dieser Ausbruch seine gesamte Kraft gekostet, schob Ludwig darauf beinah schon schwerfällig die Ellebogen auf die Tischplatte und ließ seinen Kopf gegen die einander verschränkten Hände sinken. Die Lider vor den azurblauen Augen waren einen langen Atemstoß über geschlossen, dann öffneten sie sich und blickten Preußen über die ineinander geschobenen Finger hinweg an. „Ich habe Angst, Bruder.“ Gilberts Blick wurde weich, aber sonst erwiderte er nichts, obwohl der blonde Mann sich wünschte, er hätte es getan. Sein Schweigen drückte deutlicher als jedes Wort aus, wie sehr der Albino mit seinem Latein am Ende war, dass es keinen Ausweg, keine Möglichkeit gab, an der unausweichlichen Wahrheit noch etwas zu ändern. Fahrig strichen Ludwigs Hände über die ungeordneten Dokumente, auf denen sein Blick haften geblieben war, als er ihn von Preußen abgewendet hatte. Vielleicht half es, wenn er sich ablenkte. Arbeit hatte ihn schon immer beruhigt. Womöglich.. Deutschland zuckte in seinem Stuhl zusammen, als sich unvermittelt eine Hand auf seine Schulter senkte. Verwirrt blickte er auf. „Geh schlafen.“ Die Worte seines Bruders, in dessen rotes Auge das blondhaarige Land sah, waren untermalt von einem sanften Druck der behandschuhten Faust des anderen Mannes. Ludwig riss Lider und Brauen nach oben und konnte.. oder besser, wollte seinen Ohren nicht trauen. Gilbert konnte diese Worte unmöglich ernst meinen – zumindest nicht, solange er noch bei klarem Verstand war – und ein herumfliegendes Trümmerstück nicht eben jenen während der letzten Gefechte aus seinem Kopf gehämmert hatte. Wie konnte Preußen in einer Nacht wie dieser nur auf die bloße Idee kommen, schlafen zu wollen?! „Was?!“ krächzte Deutschland. Der weißhaarige Mann machte mit seiner freien Hand eine wegwerfende Bewegung. „Zumindest ich hab’ keine Lust mehr, mir noch eine Nacht wegen denen um die Ohren zu schlagen.“ Kaum dass er diese Worte ausgesprochen hatte, breitete sich ein leichtes Grinsen auf dem Gesicht des Albinos aus, weitaus ehrlicher als sein erzwungenes Lachen von zuvor. „Die werden morgen geblendet sein, wenn ich in meiner ganzen, tollen, ausgeschlafenen Glorie vor ihnen stehe.“ Leise löste sich Gilberts so unverkennbares Kichern von dessen Lippen und schien die drückenden Schatten im Raum für einen Moment zurückzudrängen. Doch die Illusion dieses unbeschwerten Moments zog viel zu schnell vorüber und selbst das zweifelnde Stirnrunzeln, welches Ludwig eigentlich hatte darauf erwidern wollen, erstarb noch bevor es seine Gesichtszüge überhaupt erreichte. Auch wenn sein Bruder in irgendeinem Punkt recht hatte, konnte Deutschland das Gefühl nicht abstreifen, dass es falsch war, das ganze Kriegsgeschehen einfach so blindlings zu ignorieren. Dass es nicht genug war, was er getan hatte. Dass es in diesem Krieg niemals genug sein würde, egal, was er noch tat. Durch seinen Kopf ratterten die bruchstückhaften, unvollständigen Berichte von der Front, meistens nicht auf viel mehr geschrieben als angesengte und verschmutzte Papierfetzten. Nachschubgesuche versprengter Truppen, Zahlen der neusten Verluste, Meldungen über Fahnenflüchtige.. der Kopf des blonden Mannes glich immer mehr einem brummenden Bienenstock, je länger er darüber nachdachte. Ein leichter Stoß einer flachen Hand gegen seine Schulter erinnerte ihn daran, dass Preußen immer noch neben ihm stand. „Los, West, ab ins Bett.“ Mit der Verschlagenheit eines erprobten Kämpfers, die sich auch auf Gilberts mehr als selbstsicheren Gesichtsausdruck wiederfand, fügte der Albino hinzu: „Du predigst schließlich selbst immer wieder, wie wichtig ein gesunder Schlaf ist.“ Ein Teil von Ludwig nahm es mit einer Art bitteren Humor, dass er nun noch nicht mal mehr eine Schlacht gegen seinen Bruder gewinnen konnte, auch wenn sie sich nur auf so etwas Simples wie die Nachtruhe bezog und sich auf verbaler Ebene bewegte. Aber der üble Nachgeschmack jener Feststellung verging rasch, als der blondhaarige Mann Preußens Blick auffing, der weitaus intensiver war, als es die lockeren Worte milder Rüge vermuten ließen und weitaus mehr ausdrückte als die bloße Sorge um ein Familienmitglied. Tief in dem rubingleichen Rot lag der verzweifelte Wunsch nach ein wenig Normalität inmitten all dieses Wahnsinns. Von dem Ludwig merkte, wie sehr er es sich selbst auch wünschte. In einer einzigen, gekonnten Bewegung schob Deutschland den Stoß Papiere vor sich auf dem Tisch zusammen. „Du hast recht“, gab er mit einem Nicken zu und quälte seinen geschundenen und erschöpften Körper aus dem Lehnstuhl. Er war gerade mal etwas mehr als sechzig Jahre alt und fühlte sich mit den ganzen Wunden, die unter den Verbänden spannten und heilten, bereits wie ein alter Mann. „... das habe ich gesagt.“ „Natürlich habe ich recht“, erwiderte Gilbert in dem Tonfall von jemanden, der sich in seiner Autorität angegriffen fühlt. Er gab Ludwig einen weiteren Klaps, hinter dem genug Kraft steckte, um den blondhaarigen Mann einige Schritte Richtung Tür stolpern zu lassen. „Dann komm jetzt endlich. Ich erzähl dir auch wie früher eine Gute-Nacht-Geschichte, wenn du nicht einschlafen kannst ..kesesese.“ Deutschland, dass dem Wunsch Preußens eigentlich hatte nachkommen wollen und bereits den ersten Schritt getan hatte, blieb bei Gilberts letzten Worten abrupt wieder stehen, während das Blut mit der Hitze eines brodelnden Lavastroms in seine Wangen schoss. Allein schon der bloße Gedanke daran, dass ein gestandener Mann wie er still im Bett lag und Kindergeschichten lauschte, war an Peinlichkeit nicht zu übertreffen. „Danke, Bruder, aber ich glaube, ich verzichte“, antwortete Deutschland steif, ehe es weiterging und bemüht war, sein Gesicht wieder auf eine normale Temperatur zu bringen. Schnell war das andere Land neben ihm. „Wirklich? Willst du nicht die großartigen Erzä..“ „Nein.“ „Wenn ich vielleicht...“ „Definitiv nicht.“ „Und du bist ganz sicher, dass du keine hören willst?“ „Bruder~...“ *** „So.. und dann noch hier, und hier... und hier..“ „Lass das... ich.. kann auch allein ins Bett gehen...“ protestierte Deutschland mild, eine leichte Röte der Verlegenheit auf seinen Zügen, während der Albino in gluckenhafter Manier sein Bett umkreiste und die Decke, unter dem das andere Land bereits lag, mit preußischer Ordentlichkeit in den Bettkasten steckte. Gilbert hielt in seinem Tun inne und richtete sich auf, die Hände in den Hüften. „Ich will doch nur beweisen, was für ein großartiger, toller großer Bruder ich bin.“ „Das...“ Ludwig blickte mit flatterndem Herzen zur Seite. ‚Das weiß ich doch auch so’, hatte er sagen wollen, aber wie so oft, wenn es um seine Gefühle ging, blieben ihm die Worte im Halse stecken. Denn es stimmte – obwohl sie die letzten Jahre nicht immer einer Meinung gewesen waren und besonders die Thematik um die Methoden von Deutschlands Oberhaupt zum ein oder anderen Streit geführt hatte – Gilbert hatte immer zu ihm gehalten und ihm den Rücken gestärkt. Eine warme Hand zerzauste ihm das zurückgekämmte Haar und eine andere legte sich über die Finger jenes Arms, den der blondhaarige Mann unter der enganliegenden Bettdecke hatte hervorkämpfen können. „Gute Nacht, West.“ Sanft legten sich Gilberts Lippen auf seine Stirn und warm fächerte der Atem Preußens über seine Haut. Deutschland spürte dir Hitze auf seinem Gesicht zunehmen und es kam ihm vor, als hätte er plötzlich einen ganzen Schwarm Schmetterlinge verschluckt. Zwar war Ludwig diese Geste seines Bruders noch wohlvertraut aus seinen Kindertagen, aber dennoch auf eine seltsame Art unbekannt und neu. Seit einer gefühlten Ewigkeit waren sie einander nicht mehr so nah gewesen, und in dem brüderlichen Gute-Nacht-Kuss schien mehr an Gefühl zu liegen, als Deutschland sich zu erinnern vermeinte. Und noch etwas war seltsam: Der Mund des Albinos verweilte ungewöhnlich lange an dieser Stelle. Beinahe als wollten sie sich nie wieder von jener Stelle trennen, als gäbe es kein nächstes Mal ..fast.. fast wie ein Abschiedskuss. Ludwigs Magen, zuvor noch so leicht und unbändig, lag von einer Sekunde auf die andere wie ein schwerer Stein in seiner Mitte und sein Herz schien für einen Moment vergessen zu haben, wie man schlug. Sein Atem stockte. Die Ungeheuerlichkeit der Vorstellung, Gilbert könnte einfach so aus seinem Leben verschwinden... sein lauter, selbstüberzeugter, zuweilen anstrengender Bruder, den er doch um keinen Preis der Welt gegen einen anderen eintauschen hätte wollen.. versetzte das Land in Furcht. Er wollte nicht allein sein. Nicht jetzt. Nicht in Zukunft. Nicht heute Nacht. Angstvoll umschlossen seine Finger Gilberts Hand, die auf der seinigen ruhte, und rasch fand Deutschland jenen Druck erwidert. Preußen hob den Kopf, das Rot seines unverbundenen Auges suchte das klare, makellose Blau von Ludwigs Seelenspiegeln und fand es. Ein stolzes Feuer brannte in der rubingleichen Iris, ein stolzes und unnachgiebiges Feuer, das umso heller leuchtete, da es ahnte, wie nah sein Verlöschen war. Die flammende Farbe übermalte Zeit und Raum und ließ sie verschmelzen. Verschlang alles um Ludwig herum, bis nur noch er und sein Bruder inmitten dieses ewigen Moments existierten. Deutschland wusste nicht, wie lange er in das Gesicht seines Bruders gestarrt hatte – wünschend, hoffend, betend, dass die gottlose Welt sie hier vergaß und sich ohne sie weiterdrehte – als sich etwas in den Zügen des Silberhaarigen veränderte und der Albino damit die Starre durchbrach, die sie beide wie ein Zauber umgab. Ein Lächeln umspielte die Lippen des Preußen. Wenngleich es ein wenig unsicher war und Spuren von Traurigkeit darin wiederfanden. Langsam lehnte er sich zurück und drückte noch einmal Deutschlands Hand, ehe er diese Verbindung löste. „Schlaf gut, Lutz.“ Ludwig spürte, wie sein Herz panisch zu rasen begann, als Gilbert einen Schritt zurück tat und sich somit von ihm entfernte. Das.. war nicht richtig. Falsch, schrie alles in ihm. Er hatte das Gefühl, dass er seinen Bruder niemals wiedersehen würde, wenn dieser jetzt durch diese Tür dort ging. Unwillkürlich streckte der blondhaarige Mann seine Hand nach der sich entfernenden Gestalt des Albinos aus. „Nein!“, kam es impulsiv über seine Lippen, was den Preußen dazu veranlasste, Halt zu machen und sich erstaunt umzudrehen. Ludwig ließ seinen Arm zurück auf die Decke sinken, während sein Puls sich allmählich wieder normalisierte und er seinen Bruder mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Verlegenheit anblickte. Ein Moment der Stille zog vorüber. Dann senkte Ludwig den Blick, die azurblauen Augen auf das Weiß des Lakens gerichtet. Deutschland schluckte, spürend, wie das verräterische Rot in seine Wangen zurückkehrte. „W-würdest du mir vielleicht doch... eine... Gute-Nacht-Geschichte erzählen?“ Schüchtern hob der blondhaarige Mann den Kopf wieder, nur um gleich darauf blinzeln zu müssen, weil er regelrecht geblendet von Gilberts strahlendem Grinsen war, das heller und wärmer durch den kleinen Raum leuchtete, als es die Sonne in den vergangenen Monaten jemals getan hatte. „Warum sagst du das nicht gleich, Bruderherz?“ fragte der Albino, der mit schnellen Schritten die Distanz zwischen ihnen beiden überwand und sich voller Tatendrang und Enthusiasmus auf der Bettkante neben Ludwig niederließ. Er griff nach Ludwigs Hand, immer noch grinsend. Doch dann trat eine gewisse Ernsthaftigkeit in Preußens Züge – sein Grinsen vielmehr zu einem Lächeln brüderlicher Zuneigung werdend – und er räusperte sich. „A~also... es war einmal, vor langer, langer Zeit...“ Hatte Deutschland seine Seelenspiegel zunächst nicht von Gilbert abwenden können, so schloss er doch bald die Augen und lauschte der ruhigen, einschläfernden Stimme des Silberhaarigen, die ihn langsam, aber sicher in den Schlaf wiegte. Auch, wenn auf irgendeiner Ebene immer noch seltsam war, dass er als erwachsener und gestandener Mann hier lag und Kindermärchen lauschte, so war doch alles in bester Ordnung, so wie es war – solang Gilbert nur weiter seine Hand hielt und seine Worte nicht verstummten. Heute gab es keine Regeln, heute musste er niemanden was beweisen. Heute konnte er sein, wer er wollte – selbst das kleine Kind, welches er vor so vielen Jahren gewesen war und voller Neugier den Geschichten seines Bruders zugehört hatte – und dies umso mehr noch, weil es vielleicht ihr letztes, glückliches Miteinander für eine lange Zeit war. Denn es war die letzte Nacht, bevor sie fielen. *** Grau sickerte das Morgenlicht durch das schmutzige Fenster und warf sein trübes Licht auf die im Bett liegende, schlafende Gestalt. Ludwig. Gilbert wusste nicht, wie lange er schon an der Bettkante gestanden und das ruhende Bild seines Bruders betrachte hatte. Das stetige Heben und Senken dessen Brustkorbs, das leichte Lächeln, welches die Lippen des schlafenden Mannes kräuselte, das zerzauste, blonde Haar, welches Ludwig ungeordnet über die geschlossenen Lider fiel.. wenn man von den Blessuren der vergangenen Kämpfe und den ganzen Muskeln absah, war es fast so, als würde Preußen wieder auf den kleinen Jungen schauen, der Deutschland einst gewesen war. Und es in den Augen des Albinos auch immer noch war. Ein Grund mehr, das zu tun, wofür ihn sein Bruder sicherlich hassen würde. Aber besser Preußen als Deutschland. Ludwig war noch jung. Er würde lernen zu verstehen und seine Wunden mit der Zeit verheilen. Gilbert selbst hingegen.. er war alt, hatte so viel gesehen und erlebt.. es war nur rechtens, dass er Platz für eine neue Generation machte. Selbst wenn das bedeutete... Er widerstand dem Drang, mit der Hand durch die blassgoldenen Strähnen des anderen Mannes zu fahren, wusste, dass er den leichten Schlummer seines Bruders damit nur brechen würde. Und Gilbert wusste nicht, ob er dann noch die Kraft haben würde, zu gehen – wenn das blondhaarige Land ihn überhaupt lies. Stattdessen formten seine Lippen ein Lebewohl, ohne das er es sagte. Dann drehte er sich um und verließ das Zimmer, folgte stetigem Schrittes den Stufen hinunter ins erste Stockwerk und der Treppe hinaus aus dem Haus. Auf dem staubigen Vorplatz sah er, wie sich gegen das Morgenlicht die vier Silhouetten einstiger Kameraden und neuergewonnener Feinde abzeichneten. Stolz erhobenen Hauptes schritt er ihnen entgegen. Es war der Morgen des 7. Mai 1945. Der Krieg war zu Ende. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)