Roadtrip von Jeschi ================================================================================ Kapitel 7: No risk, no fun -------------------------- Die Wellen lullen uns am Abend in den Schlaf und wecken uns am Morgen. Die Sonne steht hell am Himmel und wir beschließen, nicht lange zu warten, sondern gleich los zu gehen und irgendwo in der Stadt zu frühstücken. Also fahren wir los, nach Kiel. Der Wagen hat zum Glück keinen Schaden davon getragen und wir können ihn auf einem Parkplatz abstellen, der nahe der Innenstadt ist und dann zu Fuß Kiel erkunden. Wir haben keine Ahnung, ob es in Kiel Sehenswürdigkeiten gibt, und wenn ja, welche, und ob diese auch sehenswert sind. Aber es ist uns auch egal. Wir bummeln durch die Straßen und bestaunen jedes noch so langweilige Haus, weil die Stadt, und somit auch jedes dieser Häuschen, uns gehört. So fühlt es sich zumindest an… Wir wollen uns später mit unseren Eltern am Hafen treffen. Also meiden wir diesen, da er uns nur daran erinnern würde, was bald bevorsteht. Weggefahren wollen unsere Eltern am Vormittag und wir schätzen, dass sie sechs Stunden brauchen, bis sie hier sein werden. Zeit genug. Allen Überlegungen zum Trotz, kommen wir nicht umhin, uns ein paar Schiffe anzusehen, ehe wir weitergehen und irgendwann in einem kleinen Café Halt machen, um zu Frühstücken. „Was glaubst du, wie deine Eltern reagieren, wenn sie hier sind?“ Jan stopft sich Rühreier mit Krabben in den Mund, während ich ein normales Wurstbrötchen Essen. Ich mag keinen Fisch und war auch noch nie so dankbar, Fleisch zu mir nehmen zu dürfen. „Na ja, sie sind ziemlich streng.“ Ich zucke mit den Schultern. „Sicher strafen sie mich schon bei ihrer Ankunft mit Wutausbrüchen und Drohungen.“ Ich zucke mit den Schultern und erzähle ihm ein wenig von ihnen. Davon, dass sie eigentlich ganz in Ordnung sind, wenn man sich nur an ihre Regeln hält. Davon, dass ich früher nicht mit anderen Schülern spielen durfte, sondern immer nur lernen sollte. „Eine Stunde durfte ich unter der Woche am Tag nach draußen. Nicht mehr.“ Dann erzähle ich ihm, dass sich Michas und meine Mutter schon kennen, seit wir geboren wurden und seit dem ein gutes Verhältnis habe. Und dass das der Grund ist, warum ich nur mit Micha eine richtig dicke Freundschaft habe. Weil sie die einzigen waren, die öfters zu Besuch kamen, weil Micha der einzige war, mit dem ich spielen durfte. Wir haben fertig gegessen und trinken in Ruhe unseren Kaffee aus. „Meine Mum wird wohl ziemlich hysterisch sein, aber letztlich wird sie wohl keinen großen Aufstand machen,“ überlegt Jan und ich frage ihm nach seinem Dad. Man hört so viele Schauermärchen über seine Familie, aber nie, was wirklich geschehen ist. Ich kenne jedermanns Version, nur seine eigene nicht. „Mein Dad ist vor einigen Jahren mit seiner Sekretärin durchgebrannt. Warum, weiß keiner. Sie ist nicht mal jünger oder hübscher wie Mum. Aber ich denke, es war ihm egal, mit wem er gegangen ist. Hauptsache, er konnte gehen.“ Ich frage ihn, ob er Kontakt hat und er meint, sie würden telefonieren. Mehr nicht. „Sie hatten nur Streit. Immer. Es ist eigentlich besser, dass sie jetzt nicht mehr zusammen sind.“ Er rührt in seinem Kaffee herum. Sicher ist er schon kalt. „Leider ist er weit weggezogen. Deshalb kann ich ihn nicht sehen.“ „Du könntest ihn besuchen.“ „Ich will nicht. Ich finde es gut, wie es ist. Am Telefon kann ich mit ihm reden, wie mit einem guten Freund. Ich habe Angst, wenn ich ihm gegenüber sitze, dann werde ich das nicht mehr können. Dann werde ich ihn nur ein paar Dinge fragen.“ „Was fragen?“ „Ob er jetzt glücklich ist?“ „Ich dachte, davon gehst du aus.“ „Nein. Ich meinte, es ist besser so. Aber nicht, dass es uns alle glücklich macht. Nicht alles, was richtig scheint, ist auch richtig.“ Ich muss ziemlich verwirrt ausgesehen haben, denn er meint: „Er fragt ständig nach meiner Mutter, will aber nicht mit ihr reden. Dennoch erzählt er mir viel von ihr. Wie sie früher war. Er hängt noch immer an ihr. Seine Sekretärin ist schon lange seine Ex.“ „Und deine Mum?“ „Ihr Neuer ist das Ebenbild meines Vaters. Er sieht genauso aus, spricht ähnlich wie er, er ist sogar in der gleichen Branche tätig, wie mein Dad.“ Und plötzlich verzieht er den Mund. „Aber er ist ein Arsch. Kontrolliert meine Mum aus Eifersucht, stellt ihr nach. Mich hasst er. Er geht mir aus dem Weg. Sie streiten, fast öfter, als Mum je mit Dad gestritten hat.“ „Warum verlässt sie ihn nicht?“ „Ich glaube, dafür fehlt ihr das letzte bisschen Mut.“ Ich nicke. „Was wird ihr Lover zu der ganzen Sache sagen?“ „Entweder rastet er aus oder es interessiert ihn nicht.“ Er zuckt mit den Schultern. Es scheint ihm egal zu sein. „Ich ignoriere ihn,“ bestätigt er diesen Verdacht. „Wir ignorieren uns gegenseitig und so wird es fast erträglich.“ Irgendwann sind wir wieder am Parkplatz und machen die restlichen Dosen leer. Wir haben überlegt, Essen zu gehen, aber wir sind noch zu voll vom Frühstück und beschließen, unsere Suppendiät tut es auch. Danach sind unsere Vorräte fast aufgebraucht. Nur ein paar Wasserflaschen sind noch übrig. Jan will den restlichen Tag am Strand verbringen und so fahren wir zurück zu unserem Fleckchen Erde. Es ist kein einsamer Strand, wie gestern Abend vermutet. Aber hier gibt es kaum Touristen und die wenigen Menschen hier, sind verstreut. Wir finden einen ruhigen Platz zwischen ein paar Büschen, hinter denen wir es uns gemütlich machen. Hier ist es fast, als wären wir doch alleine. Wir schlafen ein wenig und wir reden. Wir reden so viel, dass ich glaube, es gibt kaum noch etwas, was unausgesprochen ist. Dabei gibt es noch so viel, wir finden immer wieder neues. Ich erzähle Jan von meinem Hund, den ich mit drei Jahren hatte und auf dem ich immer im Garten herumgeritten bin. Er erzählt mir, wie er sich als Kind einen Arm gebrochen hat, als er auf einen Baum geklettert und dann abgestürzt ist. Ich erzähle ihm von den wenigen Erinnerungen, die ich noch an unseren Urlaub nahe Worpswede habe und von den vielen anderen im Ausland. Er erzählt mir von seinem Campingurlaub, den einzigen, den seine Eltern und er je gemacht haben und davon, wie sein Dad auf diesem Ausflug von einem Pferd gebissen worden ist. Wir reden auch über ganz banale Dinge. Darüber, was unsere Lieblingsfächer sind und welche wir hassen. Ich erfahre, dass Jan ziemlich gut in Fremdsprachen ist, während ich eher in den Fächern glänze, in denen man nicht denken muss, sondern alles auswendig lernt. Wir hassen beide Mathe, was nicht nur an Köpke liegt, sondern tatsächlich an den verwirrenden Zahlen. Ich erfahre, dass Jan Gitarre spielen kann und er erfährt, dass ich als Kind zwei Jahre zum Ballettunterricht geschleift wurde, ehe mein Dad meinte, das wäre für einen Jungen irgendwie zu mädchenhaft. „Er hat zu meiner Mum gemeint: Willst du, dass er schwul wird? Und sie hat gesagt: Wenn er mal ein berühmter Tänzer ist, kann er auch schwul sein!“ Wir lachen beide. „Jetzt bist du kein Tänzer, aber du hast trotzdem einen Freund.“ „Bist du denn mein Freund?“ „Darf ich denn dein Freund sein?“ Ich lächle. Ich küsse ihn. Damit ist alles gesagt. „Noch eine Stunde, bis sie wohl ankommen,“ meint Jan irgendwann. Wir haben uns aufgesetzt und sehen den Wellen zu. Wenn wir über die Sträucher gucken, können wir einer Familie beim Baden zusehen. Aber das tun wir nicht. Wir sind mit uns beschäftigt. Ich gehe zum hundertsten Mal in Gedanken durch, wie meine Mum sicher reagiert und auch Jan meint: „Ich glaube, sie rastet doch aus. Wenn ich Glück habe, gibt sie ihrem Lover Schuld.“ „Meine wird sich grausame Strafen einfallen lassen,“ meine ich noch einmal. Wir haben schon ein schweres Los. „War es ein Fehler, her zu kommen?“, will Jannis wissen. Ich blicke auf das Meer. „Sieht das für dich wie ein Fehler aus?“, frage ich und mache eine umschweifende Handbewegung. „Nein. Ich glaube, das ist sogar das erste Mal, dass ich nichts anders machen würde.“ Ich lächle und sehe ihn an. „Außerdem würden wir uns jetzt immer noch gegenseitig verwünschen,“ füge ich hinzu und bin mehr als dankbar, diesen Ausflug mit ihm gemacht zu haben. Ich küsse ihn, er zerrt mich zu sich. Nicht mehr Herr meiner Sinne, befreie ich ihn von seinen Klamotten und drücke ihn nach hinten, in den Sand. Dann schlafen wir miteinander. Nicht nur einmal, während die Wellen rauschen und der Sand uns im Rücken kitzelt. Und irgendwann liegen wir einfach nur da und warten auf das, was als nächstes passieren wird. Das nächste, was passiert, ist, dass mein Handy klingelt. Ich gehe ran und meine Mutter verkündet: „Wir sind jetzt am Hafen. Kommt ihr?“ „Wir kommen,“ stimme ich zu. „In einer halben Stunde sind wir bei euch.“ Dann höre ich auch schon das Tuten, offenbar will sie nicht länger mit mir reden. Ich stehe auf, helfe Jan hoch und wir ziehen uns ordentlich an und gehen zum Auto zurück. Wir haben das Auto von all den leeren Packungen und Abfällen befreit und jetzt sieht es nicht mehr aus, wie eine zugemüllte Schrottkiste sondern nur noch wie eine Schrottkiste. Also überbringen wir Köpke sein Auto so, wie wir es vorgefunden haben. Wir räumen auch sonst alles auf, packen unsere Taschen wieder ordentlich und legen Köpkes Dinge an den Ort zurück, an dem wir sie vorgefunden haben. Letztlich ist es nur der Strich auf der Landkarte, den wir nicht rückgängig machen können. Aber vielleicht wird er ihn irgendwann bemerken und dann lachen müssen. (Oder er wird die Karte wütend in der Luft zerfetzen.) Wer weiß das schon. Die Pfandflaschen haben wir heute Morgen alle abgegeben und nun sind nur noch ein paar volle Flaschen übrig, die neben unseren Taschen einen Platz finden, als wir losfahren. Wir parken nicht direkt am Hafen, sondern ein Stück entfernt, und beschließen, die letzten Meter lieber zu laufen, um uns noch einmal seelisch und moralisch vorbereiten zu können. Das sieht dann so aus, dass wir uns noch ein Eis zur Stärkung kaufen, ehe wir den beschwerlichen Weg antreten. Als wir fast dort sind, klingelt mein Handy erneut und, die Stirn runzelnd, erkenne ich Michas Nummer. Von ihm habe ich noch nicht wieder etwas gehört, was mir schon den ganzen Tag Spanisch vorkam. „Wo seit ihr denn? Die sind alle schon ganz ungeduldig,“ erklärt er mir und meine Miene erhellt sich, als ich den Sinn hinter den Worten verstehe. „Du bist mit hergekommen?“ „Klar, man. Glaubst du, ich verpass das freiwillig?“ Er lacht und ich grinse und erzähle Jan die Neuigkeit. Auch er scheint erfreut, was schon komisch ist. Hätte ich ihm das am Montag erzählt, wäre er sicher schreiend weggerannt. „Wenigstens einer, der nicht feindlich gesinnt ist,“ meine ich, als ich aufgelegt habe und Jan nickt, ehe er freudlos „Juheee“ macht. Wir seufzen erneut, dann biegen wir zum Hafen ab – das Eis ist bereits aufgegessen – und dann sehen wir sie auch schon. Ein paar Meter von uns entfernt stehen sie und unterhalten sich. Wir bleiben stehen und warten, bis sie zu uns blicken. Meine Mum sieht aus, als würde sie mich am liebsten in den Arm nehmen, aber ihre wütende Mimik verrät mir, dass sie das nicht tun wird. „Warum habt ihr das getan?“, will sie wissen, kaum fällt ihr Blick auf uns. Wir sehen uns an, wechseln ein paar Blicke. Was sollen wir darauf sagen? Ein wenig ratlos, denke ich, dass es sinnvoll ist, sich an die Wahrheit zu halten. „Wir hatten wohl Angst,“ gestehe ich. „Angst?“, wiederhol Jans Mutter ungläubig. „Wovor denn?“ Ich schätze, mit dieser Aussage haben wir sie schon aus dem Konzept gebracht. Wahrscheinlich haben sie mit einem anderen Grund gerechnet. Drogen oder eine Persönlichkeitsstörung… „Das ihr ausrastet, weil man uns vom Ausflug ausgeschlossen hat,“ erklärt Jan ihr nun und zuckt mit den Schultern. „Eigentlich wollten wir den Anderen nur nachfahren“ Ich springe ihm bei: „Aber dann dachten wir, es wäre sinnvoller, irgendwo hin zu fahren, wo es so richtig cool ist.“ „Und dann wollten wir einfach nur ans Meer,“ beendet Jan die Erzählung. Es ist mein Dad, der als nächstes das Wort ergreift und mir damit Angst macht. Wenn er schon etwas sagt, statt meiner Mum das Reden zu überlassen, muss es echt schlimm sein. „Weißt du, was wir uns für Sorgen gemacht haben?“ Er sieht mich fragend an. Aber nicht einfach normal-fragend, sondern furchtbar-wütend-fragend. „Ihr wart nicht im Bus und euer Lehrer sagte uns, er hätte euch nach Hause geschickt, wo ihr nie angekommen seid.“ Nun fuchtelt er wild mit den Händen. „Was, wenn euch was passiert wäre? Was, wenn die Polizei euch angehalten hätte?“ Was ich darauf sage, bereue ich schon, da hat es noch nicht ganz meinen Mund verlassen: „No risk, no fun.“ „NO RISK, NO FUN!“, brüllt er sogleich und meine Hand zuckt automatisch nach der von Jan und ich halte sie warm und tröstend in meiner. Ich weiß nicht, ob sie das registrieren und ich weiß nicht, was sie davon halten. Jedenfalls sagen sie nichts dazu. Stattdessen sehen sie uns nur wütend und enttäuscht an und Jan versucht, sie zu besänftigen: „Wir sind extra Umwege gefahren, um nicht aufgegriffen zu werden. Und wir haben uns penibel an alle Geschwindigkeitsbegrenzungen gehalten.“ Ich nicke zustimmend Ob es die Aufregung ist, oder ob wir nur allgemein weniger denken, als die Erwachsenen, weiß ich nicht. Aber Jans Mum hört etwas heraus, was wir gar nicht bemerkt hätten. „Was willst du mit ‚wir’ sagen?“ „Na ja… nichts…“ Es ist sinnvoller, nicht zu sagen, dass Jan auch gefahren ist, aber wir sehen ziemlich ertappt aus. „Sam halt,“ fügt er dennoch hinzu, in der Hoffnung, es noch retten zu können. „Ich sehe doch, was hier gespielt wird,“ mischt sich nun der Lover seiner Mum ein und legt ihr eine Hand auf die Schulter. „Dein missratener Sohn ist gefahren, obwohl er keinen Führerschein hat.“ Und jetzt erlebe ich auch endlich mal live mit, was für ein Arsch er ist. „Mein Sohn?“, ruft Jans Mutter jedenfalls – das ‚missratener’ ignoriert sie – „Jetzt ist es wieder nur mein Sohn?“ „Ist es meiner?“, will er nun wissen. „Natürlich nicht, aber du bist für seine Erziehung ebenfalls verantwortlich.“ Jannis und ich sehen uns an, dann blicken wir beide zu Micha, der bisher nur schweigend neben unseren Eltern und Köpke – ja, der ist auch dabei – stand. „Ich find’s jedenfalls cool,“ meldet er sich nun zu Wort und fängt an zu lachen, während er auf uns zukommt und uns umarmt. Und wir sind so unendlich erleichtert, dass er das tut. Das er uns in die Arme schließt und uns kurz glauben lässt, alles wäre wieder gut. Dann löst er sich von uns und wirft einen Blick auf unsere Finger, die sich nun gänzlich miteinander verhakt haben. Er sagt nichts dazu, sondern stellt sich nur neben uns, um uns still beizustehen. „Aber ich bin wahnsinnig sauer, dass ihr mich nicht mitgenommen habt,“ fügt er hinzu und das bringt das Fass zum Überlaufen, zumindest was uns betrifft. Wir lachen laut los und es tut so gut. Auch, wenn es zur Folge hat, das unsere Eltern aussehen, als würden sie gleich Amok laufen. Aber es muss einfach sein. „Noch lachst du,“ verkündet meine Mutter auch sogleich, „Aber du wirst schon sehen, wenn wir zu Hause sind, junger Mann!“ Und Jans Mutter stimmt ihr zu: „Du wirst dir noch wünschen, das hier niemals getan zu haben, Jannis.“ „Jetzt reicht es aber!“, greift in dem Moment der Köpke ein, tritt vor und sieht uns sauer an. „Was ihr getan habt, hat uns allen nur Ärger eingebracht!“ Seine Stimme klingt sehr streng. Wir blicken leidend drein und frage uns, womit wir das verdient haben. (Eigentlich ja klar, womit…) „Aber wenn ich so höre, warum ihr das getan habt, kann ich kaum fassen, dass Sie,“ und nun wendet er sich an unsere Eltern, „es überhaupt noch wagen, ihren Mund aufzumachen.“ Ganz ehrlich? In dem Moment klappt mir die Kinnlade runter, denn der Köpke fängt nun tatsächlich an, eine Moralpredigt zu halten. Aber nicht uns. „Wenn Kinder lieber Autos knacken, statt ihren Eltern zu beichten, dass sie von einem Ausflug ausgeschlossen wurden, dann kann etwas nicht stimmen. Da hat ihre Erziehung wohl deutlich versagt.“ Jan guckt mich an wie ein Auto und ich blicke überrascht zurück und klappe den Mund zu. „Was die Jungs getan haben, ist nicht zu entschuldigen. Aber der Grund, warum sie es getan haben, sind dennoch Sie!“ Dann sieht er wieder zu uns. „Ich erwarte bis Montag einen zwanzig Seiten langen Aufsatz darüber, was ihr an Erfahrungen gesammelt habt.“ „Zwanzig Seiten?“, keuchte ich atemlos. „Ihr habt ganz sicher genug zu erzählen. Da füllen sich die Seiten von ganz alleine.“ Er sieht uns mit strenger Miene an, aber ich glaube, einen Funken milde in seinen Augen zu erkennen. „Wenn ich die Aufsätze bekomme, sehe ich von einer Anzeige ab.“ Jan strahlt und ich denke, dass der Köpke wohl doch nicht ganz so blöd ist… Er ist fertig mit uns, wendet sich wieder an unsere Eltern. „Ich kann ihnen nicht verbieten, ihre Söhne zu bestrafen. Das haben sie auch verdient. Aber sie sollten ihre Energie vielleicht mal dafür nutzen, zu überlegen, was sie tun können, dass dies nicht noch mal passiert.“ Ich lasse Jans Hand nicht los, während wir Köpke, unsere Eltern und Micha zum VW führen. Sie wollten alle unbedingt mit, sehen, ob der Wagen auch noch am Leben ist. Und sie sind ganz überrascht, dass dem dann tatsächlich so ist. Er hat nur ein paar kleine Kratzer, von denen ich nicht mal sagen kann, woher sie kommen und von denen Köpke meint, es wäre nicht so schlimm. Wir holen unsere Reisetaschen und die Wasserflaschen aus dem Auto und überreichen Köpke den Schlüssel. Und in dem Moment wird uns klar, dass unser Ausflug vorbei ist. Das Abenteuer ist zu Ende, das Ziel erreicht. Irgendwie fühle ich mich plötzlich leer und der Gedanke, am Montag wieder in die Schule zu gehen, ist mir mehr als zuwider. Der Köpke nickt uns allen noch mal zu, ehe er den Motor startet. Micha winkt ihm nach, wir anderen stehen nur da und warten, bis der VW mit seinem eigentlichen Besitzer davon gefahren ist. Ich vermisse sie, die alte Schrottkiste. Es ist fast, als wäre sie in der kurzen Zeit zu einem Teil von mir geworden. Genau wie Jannis. Ich wende mich meinem Freund zu, dessen Hand ich kaum noch fühle. Fast ist es, als wäre sie mit meiner verschmolzen. Ich muss darauf blicken, um zu sehen, dass sie noch zwei Individuen darstellen, die aneinander kleben. Ich berühre seine Schulter mit der anderen Hand, er meinen Arm. Eigentlich unbedeutende Gesten, doch für uns bedeutend sie die Welt, spenden Trost. Wir kehren zu den Autos meiner Eltern zurück und ab hier folgt das schwerste von allen, wie mir klar wird, als wir zwischen dem bonzigen BMW meiner Eltern und dem alten Fiat von Jans Mum stehen. Der Abschied von einander. Es ist fast, als müsste ich mir einen Teil von mir weggeben. Mir eine Hand abhacken oder so. Ich bringe es nicht fertig, Jannis’ Hand loszulassen. Micha ist schon eingestiegen, sitzt im schwarzen BWM und sieht durch die Scheibe zu, wie Jan und ich in die Augen blicken und unsere Eltern genervt neben uns stehen. „Denkt ihr nicht, dass ihr euch jetzt lange genug gesehen habt?“, fragt meine Mum. Ich glaube, sie weiß nicht, was sie davon halten soll. Ich will Jan küssen, ihn an mich pressen. Aber das kann ich nicht. Stattdessen umarme ich ihn nur, intensiver, als man einen Freund normalerweise umarmt und hauche ihm ins Ohr, ihn am Abend anzurufen. Am liebsten würde ich seine Hand mitnehmen, aber da das nicht möglich ist, lasse ich sie nun langsam aus meiner gleiten und er entzieht sie mir ganz. Dann sehen wir uns noch mal in die Augen - Kaffeebraun auf Wasserblau – ehe wir in unsere Autos steigen und losfahren. Bis zur Autobahn fährt der Fiat hinter uns her, auf der Autobahn ist Dads BMW zu schnell und wir verlieren die Anderen. Ich frage mich, ob sie auf der Hinfahrt die ganze Zeit in den Rückspiegel gesehen haben, um einander nicht zu verlieren, oder ob sie einen Treffpunkt ausgemacht haben und getrennt voneinander ankamen. Aber ich frage das nicht laut. Ich sage gar nichts laut, meine Eltern auch nicht. Nur Micha redet. Er erzählt von dem langweiligen Klassenausflug, lässt kein Detail aus, damit nicht eine Sekunde Schweigen herrscht. Und obwohl es langweilig ist, interessiert es mich brennend. Es bringt mir die Realität zurück. Die Hälfte der Strecke können wir so überbrücken. Den Rest füllt das Autoradio. Es funktioniert, nicht so wie das von Köpke. Aber ich vermisse das alte Radio im VW. Ich vermisse dessen Rauschen. Ich bitte meine Mutter, eine CD einzulegen und sie kommt meiner Bitte sogar nach. Aber das macht es nicht besser. Während ich auf Phil Collins höre – ihre CD –, vermisse ich My chemical romance und Dead by April und die Streits darüber. Und über alles hinaus vermisse ich Jan. Ich krame nach meinem Handy, aber mein Akku ist leer. Ich bitte Micha um sein Handy, klingle Jan an. Aber auch dessen Akku ist leer. Das alles bleibt von meiner Mum nicht unbemerkt: „Was ist das zwischen euch?“ „Ich vermisse ihn,“ sage ich nur. Sie und Dad scheinen zu wissen, was ich damit sagen will. Sie unterhalten sich leise. So leise, dass es im Klang des Radios untergeht. Ich glaube, etwas von ‚schwarzen Fingernägeln’ und ‚stand doch mal auf Mädels, nicht?’ zu verstehen. Nun versuche ich angestrengt, etwas Genaures herauszuhören und glaube, mein Dad sagt: „Daran ist nur dein Ballett Schuld.“ Ich muss grinsen und in dem Moment ist ein Song zu Ende und ich höre, wie meine Mum sagt: „Ich mag den Jungen jedenfalls.“ Dann erklingt der nächste Song und alle schweigen wieder. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)