Eisprinzessin von KuraiOfAnagura (no Heart, no Human) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Der Vorraum in dem er saß war denkbar spartanisch eingerichtet. Kein Bild, keine Pflanze. Ein Raum, der zum Warten da war, dafür geschaffen worden war. Klar und präzise. Seinen Zweck erfüllend. Eine Sekretärin gab es nicht, nur den harten Stuhl unter sich und den harten Stuhl neben sich. Und zwei Türen. Durch die eine war er gekommen, durch die andere würde er gleich gehen. Der Junge neben ihm verkrampfte sich erneut. Warten. Darauf das die zweite Tür sich öffnen würde und die Zukunft endlich klar sein würde. Ein kalter, zweckdienlicher Raum, der nur den einen Dienst tat. Der Raum glich ihm selbst. Die Tür ging auf und der blonde Hüne schloss sie hinter sich. Ihre Blicke trafen sich, er nickte ihm kameradschaftlich zu. Loyalität war etwas, das tief ging. Tiefer als alles was ihn dort erwarten konnte. Ein tröstlicher Gedanke. Mit einer raschen Kopfbewegung signalisierte Spencer ihm, dass es nun an ihm war durch die zweite Tür zu treten. „Yuriy, er will dich nun sprechen.“ Das Warten hatte ein Ende. Der Raum, der Warteraum, der Vorraum, hatte seinen Zweck erfüllt und schleuste ihn weiter. Was würde mit ihm geschehen, wenn auch er seinen Zweck erfüllt hatte? „Yuriy, mein Junge, bitte setze dich,“ die Augen funkelten gütig, die ganze Statur lud ein sofort Vertrauen zu finden, sprühte vor angeborener Sympathie. Doch es war das ehrliche Mitleid und die Anteilnahme in diesen Augen, die ihn dazu bewegten der Einladung Folge zu leisten und sich auf den angebotenen Stuhl zu setzen. Mr. Dickenson, der ebenfalls gestanden hatte, ließ sich mit einem kleinem Ächzen nieder. Eine leichte Überraschung durchfuhr ihn, als er erkannte, dass mehrere Akten vor dem runden Herrn ausgebreitet lagen. Seine Akten. Akten der BBA, aber auch der Biovolt und von der Regierung. Sie waren gespickt mit Daten und Fakten, mit Zahlen und Statistiken, Eigenschaften und Betriebsanleitungen. Einige Bilder, sein Porträt, Röntgenaufnahmen und Scans, waren mit Heftklammern an markante Stellen gepinnt. Auf dem CT konnte er das Metall in seinem Gehirn wie weiße Schneeflocken ausmachen. Unwahrscheinlich grell auf dem trüben blauen Untergrund. „Wie du weißt, hat die Biovolt die Schirmherrschaft über die Abtei verloren,“ begann er. „Das Gebäude und das Grundstück gehören immer noch zweifelsohne Voltaire Hiwatari, der auch nicht bereit ist in irgendeiner Weise mit uns zu kooperieren. Nachdem die geheimen Geschehnisse nun jedoch aufgedeckt worden sind, ist auch die Regierung auf euch aufmerksam geworden. Die BBA ist gewillt sich um den Verbleib und das Wohlergehen der bis dato darin lebenden Blader zu kümmern.“ --- Sie hatte ihn geliebt. Dessen war er sich sicher. Ihre Hände waren immer rau gewesen und wenn sein Vater ihn einmal geschlagen hatte, konnte sie nur dastehen und weinen. Nie hat sie ihn beschützt oder das Wort für ihn erhoben. Aber wenn das trunkene Gebrüll verklungen waren, hatte sie seine Tränen getrocknet, ihn gewiegt und ihn schreien lassen. Er war sich ganz sicher. Sie hatte ihn geliebt. Ihn, ihren einzigen Sohn. Was auch immer die physiologischen Voraussetzungen gewesen sein mochten, er wusste nicht genau worauf sie bei ihrer Auswahl Wert legten, er hatte sie erfüllt. Und so standen die Schwarzen Männer, zwei Tage nachdem sein betrunkener Vater seine Mutter im Suff mit einer Glasflasche erschlagen hatte, vor seiner Tür. Am Anfang war er noch zahm, doch als er die dunklen Türme sah und die Ketten darin erkannte, die sie versprachen, brach der Wolf in ihm durch. Er biss und schrie und kämpfte. Doch was sollte ein kleiner Junge, Wolf oder nicht, gegen 3 große und Schwarze Männer ausrichten? Sie brandmarkten ihn. Ein Zeichen unter dem Schulterblatt zeichnete ihn als Eigentum aus. Die Nummer im Genick seinen Wert und sein Datum. Als das heiße Eisen die jungfräuliche Haut verschmorte hatte er den Status als Mensch verloren und war zu einem Werkzeug geworden. --- „Ich bin mir eurer Rolle in der vergangenen Weltmeisterschaft durchaus bewusst, jedoch bin ich gewillt die Hintergründe, auch die weiter zurückliegende Vergangenheit zu berücksichtigen. Die BBA, und nach allem seit ihr dennoch ein eingetragenes Team, hat es sich schon immer zum Ziel gesetzt jungen Menschen zu helfen.“ --- Als sie ihm seine Tränen nahmen hatte er geweint. Der Schnee war kalt. Er biss ihn, grub seine Zähne tief in sein Fleisch. Die Tränen rannen ihm die Wangen hinab, hinterließen Schneisen darauf. Das Eis der Tränen stach ihn, blendete ihn. Irgendwann wurde es zu schmerzhaft und er hörte auf zu weinen. Für immer. Es war eine gängige Methode. Sie übergossen ihn mit kaltem Wasser und warfen ihn in den Schnee. 'Töte dein Herz ab, töte deine Emotionen ab, töte es, töte es!' Manchmal war es ihm dann als spürte er die kalten Hände einer Frau auf sich. Die Hände der Eisprinzessin. Und irgendwann hörte der Schnee auf kalt zu sein. Er war einfach nur... da. --- „Es ist mir natürlich klar, dass es für euch nicht einfach wird. Bei den meisten Kindern handelte es sich ja um Waisen, nur bei den wenigsten können wir Verwandte ausmachen, die willig sind sie aufzunehmen. Eine Trennung der einzelnen, eine Aufteilung in verschiedene Waisenhäuser will wohl durchdacht sein. Ich will ihnen nicht noch mehr Leid bescheren. Es scheint, als würden sie so langsam aus dem Albtraum erwachen. Ohne ständige Wiederholung verliert die Gehirnwäsche, die ihr ertragen musstet, die Wirkung.“ --- Als sie ihm seine Augen nahmen hatte er geschrien. Der Schmerz war heiß. Zu heiß. Er sehnte sich nach der Kühle des Schnees. Nach den Händen seiner Prinzessin mit den scharfen Zähnen und den blutigen Klauen. „Yuriy...“ Kai hatte nur voller Angst auf den schreienden Jungen starren können. Zögernd nahm er seine Hand. Sie war heiß. Aber angenehm. Er ließ es zu. Der Schnee wäre besser, aber die Ablenkung von der bösen Hitze hinter seinen Lidern war genug. Verängstigt blickten die roten Augen auf den Verband. Er hatte sich nicht gewehrt als sie ihn abgeholt hatten. Nur nach dem Aufwachen hatte er begonnen zu schreien. Dunkle rote Flecken hatten sich auf dem Verband gebildet, ein grotesker Ersatz für die Augen, die herausgerissen worden waren. Nachdem die Schreie verebbt waren und die Augen geheilt, sah er die Welt zum ersten mal so, wie er sie für den Rest seines Lebens sehen würde. Ein Blinzeln und sie war schwarz und weiß Ein Blinzeln und sie war in den schillerndsten Grüntönen. Ein Blinzeln und er konnte in sanften Farben die Wärme des Körpers neben ihm erkennen. Seine neuen Augen waren gut. Aber es waren nicht seine. Sie waren tot. --- „Die Pharmazeutika, die euch verabreicht wurden, sind vielerorts verboten! Allein der Gedanke unschuldigen Kindern solche aufputschenden Steroide und dergleichen zu verabreichen grenzt an die Verletzung der Menschenrechte. Viele von den jüngeren Kindern haben bereits die ersten Anzeichen von Entzugserscheinungen gezeigt. Von den Spätfolgen will ich erst gar nicht reden!“ --- Als sie ihm sein Herz nahmen hatte er gelacht. Er sei alt genug, hatte es geheißen. Sein Herz müsste perfektioniert werden, hatte es geheißen. Es müsse den Anforderungen eines extremen Bladers gerecht werden, hatte es geheißen. So ein Schwachsinn. Was gab es auf dieser Welt, das mehr perfekt war als das Herz? Was er empfand, was war schöner? Was war perfekter? Es ist nicht perfekt, hieß es. Deswegen lag er mit dem Rücken auf einer kalten Stahlplatte, die Arme und Beine festgezurrt. Es war keine gute Kälte, er konnte die Eisprinzessin nirgends spüren. Das grelle Licht über ihm hatte so gar nichts mit ihrer blendenden Schönheit gemein. Er wusste, dass sein Brustkorb offen stand. Nackter als je zuvor lag er vor den Grauen Männern. Sein Innerstes lag bloß. Das Blut, dass das unperfekte Herz speisen sollte, floss durch Schläuche und Eis, und Eis war auch um ihn herum. Hier eine Schraube. Dort einen Schlauch. Nein, ein wenig fester anziehen. Und etwas Öl um alles zu schmieren. Als er aufwachte war viel Zeit vergangen. Seine Brust war von einer langen Wunde entstellt. Er hatte nun kein Herz mehr. Er war kein Mensch mehr. „Liebst du mich noch?“ Er dachte ernsthaft darüber nach. Er hatte dem Jungen mit den sanften lavendelfarbenen Augen seine Liebe gestanden und beteuert. Tag für Tag und Nacht für Nacht. Nächte voller Angst und Panik, in der sie eng aneinander geklammert ausharrten, dass die Schreie endlich weniger werden würden und der Morgen endlich kommen sollte. „Ja.“ „Dann bist du noch ein Mensch.“ „Nein. Aber ich brauche kein Herz um dich zu lieben.“ --- „Deswegen will ich, dass ihr nach Japan umgesiedelt werdet. Gerade euer Team, und du Yuriy als Teamleader, seid extrem begehrt und wertvoll. Es soll zu eurem eignen Schutz sein. Ich weiß, ihr seid kontrolliert worden, doch davor will ich euch schützen.“ --- Als sie ihm sich selbst nahmen hatte er gekämpft. Wie ein Wolf. Zunächst mit Waffen, dann mit Krallen. Dann biss er die Weißen Männer gnadenlos nieder. Rotes Blut spritzte aus rotem Fleisch und floss in seine roten Haare. Wenn er jetzt verlöre, wenn er jetzt aufgab war er endgültig kein Mensch mehr. Die Nadeln stachen tief und die Glieder wurden schwer. In dem Gestell aus Eisen und Stahl hielten sie ihn gefangen. Den Wolf in den Ketten. Die Stangen schnitten ihm ins Fleisch. Brachen in seinen Schädel ein. Sein Blut und das Öl floss gleichermaßen auf den weißen Boden. Bei vollem Bewusstsein, hieße es. Die Haare müssten erst mal runter, hieße es. Wie traurig, sein letztes Bedauern galt den Strähnen aus Glut, die zu Boden fielen. Die Nadeln, die Chips, die Kabel, die Drähte, das Metall. Die Daten, die Zahlen, die Bilder, die Informationen. Die Programme, das vorgeschriebene Denken. Die Kontrolle. Die Kette war zugeschnappt. Der Wolf war gezähmt. Er konnte die Eisprinzessin nicht mehr singen hören wenn es schneite. „Liebst du mich noch?“ „Nein.“ „Liebst du mich noch!?“ „Nein, es ist nicht nötig dich zu lieben.“ „Nicht nötig?“ „Ja, es ist nicht nötig dich zu lieben. Deshalb umfasst mein Speicher auch nicht das nötige Programm um die körperlichen Empfindungen zu initiieren.“ „Du hattest recht.“ „Mit was?“ „Du bist kein Mensch mehr.“ --- „Deswegen sollt ihr nicht getrennt werden. Ihr seid Freunde, trotz alledem.“ Mit einem Seufzen schloss er seine Rede und blickte ihn an. Mit einem Mal wirkte er müde und alt. „Entschuldige Yuriy, ich habe mir so viel zurechtgelegt, was ich euch sagen will... es kommt mir alles so dumm vor... es ist so schwer.“ Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Zwei Wochen waren seit dem Fall der Biovolt vergangen. Eine davon hatte er im Krankenhaus verbracht. Die ersten Tage waren stumpf. Ohne die ständige Datenübertragung vom Hauptrechner war er nutzlos, unfähig auch nur zu gehen. Dann, ganz langsam, hatte sich ein Teil in ihm wieder geregt. Er wusste nicht, welcher Teil dies war, welche Schraube denn nicht richtig angezogen war, welches Programm diesen Fehler aufwies. Doch irgendetwas war es. Ließ ihn aufstehen, ließ ihn reden, ließ ihn... da sein. War es etwa doch eine seiner organischen Komponenten? Das bisschen was ihm noch geblieben war vom Menschsein? Und so saß er nun hier in diesem Büro, das keinem Zweck diente. Ein Werkzeug das keinem Zweck diente. „Musst du nicht blinzeln? Du hast mich die ganze Zeit nur angestarrt.“ Langsam schüttelte er den Kopf, blinzelte dann mechanisch. „Was wollen sie von uns?“ Ein trauriges und müdes Lächeln schlich sich auf die Lippen des alten Mannes. „Ich will gar nichts von euch. Ich will euch keinen Auftrag erteilen oder euch für etwas benützen. Ihr sollt nach Japan kommen, zu eurem eigenen Schutz. Um Geld macht euch keine Sorge. Ich will... das ihr lebt.“ Langsam drehte er den Kopf zum Fenster und sah hinaus. Der Schnee fiel. Von irgendwoher hörte er einen leisen Gesang. Draußen wartete Bryan darauf, dass er an der Reihe war. Die Augen wieder so sanft und zart, wie sie früher einst waren. „Leben, hu?“ Der Alte nickte nur. „Ich glaube dafür brauche ich etwas Übung...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)