Warten auf Vanya von Niekas ================================================================================ Kapitel 6: Shest ---------------- Der Geruch von Feuer lag in der Luft und brachte Natalias Kopf zum pochen. Die Luft war getrübt von Rauch. Sie wusste nicht, wohin sie sollte, aber sie rannte. Das wichtigste war, den leichten Wind in ihrem Gesicht zu spüren und zu laufen. Sie war frei, das war das wichtigste. Noch immer zitterten ihre Hände vor Schreck und Ekel. Ein gutes Herz. Von wegen gutes Herz, Katyusha! Was für eine Ahnung hast du von Männern? Gar keine. Vor sich hörte sie den Lärm eines Kampfes. Sie wurde langsamer und hielt inne, als sie am Wegrand einen unförmigen Schatten entdeckte. Näheres war durch den immer dichter werdenden Rauch nicht zu erkennen. Sie überlegte, ob sie nachsehen sollte, was der Schatten war, und entschied sich dagegen. Einige Schritte weiter beantwortete ihre Frage sich von selbst, als sie mitten auf dem Weg auf die Leiche eines Soldaten stieß. Natalia war überrascht, dass der Krieg schon so nahe an Toris' und Feliks' Haus tobte und sie alle nichts davon bemerkt hatten. Angst hatte sie deswegen nicht. Wovor denn auch? Etwas besseres als dieser Krieg hätte zumindest Yekaterina und ihr nicht passieren können. Es würde alles besser werden, wenn Toris und Feliks erst einmal verloren hatten. Wenn sie vernichtet waren. Sie stieg auf einen Hügel und sah hinunter. Vor ihr lag ein flaches Tal, in dem der Rauch nur dünn war und immer wieder vom Wind auseinander gerissen wurde. In der Mitte des Tals duellierten sich zwei einzelne Kämpfer. Sie sahen einsam aus, obwohl sie es eigentlich nicht waren. Es waren auch einige andere Soldaten zu sehen, aber sie waren entweder tot oder lebensgefährlich verletzt oder zeigten kein Interesse an den Kämpfern. Tatsächlich kam es Natalia so vor, als würden sie sie gar nicht sehen. Die kleinere der beiden Gestalten erkannte sie sofort. Feliks hielt sich besser, als sie gedacht hätte. So ganz schien er sein Können über all die Jahre doch noch nicht eingebüßt zu haben. Seine strohblonden Haare waren zu einem winzigen Zopf in seinem Nacken gebunden, aber ein paar dünne Strähnen fielen in seine Stirn und über seine Augen wie Spinnweben. Sein kleines Gesicht war verbissen und angespannt. Fast schon verzweifelt, dachte Natalia. Feliks bewegte sich ständig, wich aus, tänzelte hin und her und griff mit seinem Degen aus allen möglichen Richtungen an. Gegen ihn wirkte sein Gegner sehr ruhig, beinahe reglos, als störe er sich nicht an der lästigen Fliege, die ihn umschwirrte. Er war sehr groß und drehte Natalia den Rücken zu. Zu seinem dunkelblauen Mantel trug er einen weiten, weißen Schal, den der Wind um ihn herum trieb. Ihr Kampf sah wie ein Tanz aus, dachte Natalia. So lange, bis Feliks strauchelte und auf die Knie fiel. Sein Gegner war im nächsten Moment über ihm. Natalia hörte einen erstickten Aufschrei, dann nichts mehr. Der große Mann verdeckte ihr die Sicht. Sie stieg den Hügel hinunter, vorsichtig, um nicht auszurutschen. Der Mann unten drehte sich überrascht um, als er sie hörte. Den Degen schob er langsam in seinen Gürtel, als er erkannte, dass sie nur ein Mädchen war. Die schmale Klinge war verdreckt von Blut und Erde. Feliks lag einen halben Schritt weiter auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Er rührte sich nicht mehr. „Wer bist du?“, fragte der Mann und blinzelte. Aus der Nähe wirkte er noch größer, als Natalia gedacht hatte. Sein Gesicht war rund und ein wenig pausbäckig, was nicht zu seinem ansonsten riesigen Körper passte. Es war noch dasselbe kindliche Gesicht wie das des Jungen, von dem sie vor so langer Zeit getrennt worden war. „Ich bin es, Vanya“, flüsterte sie und bemerkte, dass ihre Stimme erstickt klang. „Wer denn?“, fragte Ivan verwirrt und blinzelte. „Deine Schwester.“ Noch immer sah Ivan sie verwirrt an. Er schien kurz davor, sie höflich darauf hinzuweisen, dass sie sich irren musste. Dabei irrte sie sich nicht, dachte Natalia. Das da war ihr Bruder. Wenn er sie nicht erkannte... wenn er nun vergessen hatte, dass er eine Schwester hatte, was dann? Er war ja auch noch ein Kind gewesen, als sie getrennt worden waren. Seitdem war so viel passiert. Es war sicher nicht einfach gewesen, so groß und mächtig zu werden. Was, wenn... „Katyusha?“, fragte Ivan dann leise. In seinen Augen lag plötzlich eine solche Sanftheit, dass Natalia eifersüchtig wurde. „Nein“, antwortete sie zitternd und wünschte, Yekaterina zu sein. „Ich bin Natalia.“ Einen Moment lang wirkte Ivan ratlos, doch dann riss er die Augen auf. „Nein... doch nicht...?“ Er trat auf sie zu und griff nach ihren Schultern. Er war stark, dachte Natalia. „Du bist Bela?“ Sie konnte nur nicken. Ivan schwieg einen Moment lang, bevor er laut auflachte und sie an sich drückte. „Du warst so klein!“, rief er. „Du warst immer so furchtbar klein und schwach! Ich habe nie gedacht, dass du überleben könntest. Katyusha vielleicht, aber du... nein. Und jetzt stehst du hier... Bela! Meine Bela!“ Natalia schlang die Arme um ihn und vergrub das Gesicht in seinem Schal. Ihr Herz schlug sehr schnell. Das ist Vanya, dachte sie. Dein großer Bruder, auf den du all die Jahre gewartet hast. Und nun, Bela? Bist du enttäuscht? Sie spürte seinen Bauch beben, als er lachte, und gab sich die Antwort. Nicht im Geringsten. Ivan lachte noch einmal, ließ sie dann los und schob sie ein Stück von sich weg, um sie anzusehen. „Es ist unglaublich“, flüsterte er und lächelte. „Meine Schwester...“ Im letzten Moment bemerkte Natalia eine Bewegung hinter ihm. Sie schrie auf, doch bevor sie noch einen Gedanken fassen konnte, hatte Ivan reagiert. Er schubste sie zur Seite und zog den Degen wieder aus seinem Gürtel. In der selben Bewegung drehte er sich um und stieß er mit der dünnen Klinge zu. Feliks' Degen rutschte aus seiner erschlaffenden Hand. Er hatte seine letzten Kräfte aufwenden müssen, um sich Ivan von hinten zu nähern und sich auf die Knie aufzurichten. Offenbar war es sein Plan gewesen, ihn von hinten anzugreifen – eine andere Erfolg versprechende Möglichkeit hatte er in seinem Zustand ohnehin nicht mehr. Aber sein Angriff war fehlgeschlagen, stellte Natalia fest, und es war definitiv sein letzter gewesen. Jetzt starrte er fassungslos auf die Klinge, die in seiner Brust steckte. „Hast du denn gar keinen Anstand?“, fragte Ivan tadelnd. „Meine schwache, kleine Schwester ist zu einem wunderschönen Mädchen geworden, und du lässt mir nicht einmal Zeit, sie zu begrüßen.“ Er gluckste leise und zog den Degen mit einem Ruck wieder heraus. Feliks gab einen erstickten Laut von sich und brach zusammen. Diesmal blieben seine Augen offen stehen. Natalia konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Wenn er jetzt nicht besiegt war, wusste sie nicht, was Ivan noch tun musste. Feliks hatte verloren, Toris war völlig schutzlos, und Ivan... ihr Vanya... „Ist alles in Ordnung?“, fragte Ivan und sah sie besorgt an. „Aber natürlich, Vanya. Was soll schon sein?“ „Ich dachte nur“, sagte er, betrachtete die blutige Klinge seines Degens und benutzte seinen Schal, um sie unauffällig abzuwischen. „Manche Mädchen können so etwas schlecht sehen.“ „Mir macht es nicht aus. Bei Feliks schon gar nicht.“ Ivan gluckste. „Du gefällst mir, Bela“, sagte er zufrieden. „Du gefällst mir wirklich.“ Natalia lächelte und konnte sich nicht erinnern, jemals so glücklich gewesen zu sein. Du gefällst mir, Bela. „Und jetzt“, sagte Ivan fröhlich, „möchte ich noch Katyusha treffen, damit unsere Familie endlich wieder vollständig ist.“ Natalia nickte. „Ich weiß, wo sie ist. Ich kann dich hinführen.“ „Wo ist sie?“ „Zu Hause.“ Dann fiel ihr ein, dass ihr zu Hause bald bei Ivan sein würde, und sie korrigierte sich. „In Toris' und Feliks' Haus.“ Ivan nickte langsam. „Wer ist noch da?“ „Toris. Er ist verletzt. Raivis und Eduard dürften auch da sein.“ „Vielleicht solltest du mir lieber den Weg beschreiben und hier bleiben, bis ich dich wieder abhole.“ „Wieso?“, fragte sie scharf. Sie wollte nicht so schnell wieder allein gelassen werden. Ivan hob beschwichtigend die Hände. „Nur zur Sicherheit, Bela. Wahrscheinlich werde ich nicht nur Katyusha mitnehmen, sondern auch die anderen beiden... und um Toris werde ich mich ohnehin noch einmal kümmern müssen, so, wie ich ihn kenne.“ Es gefiel Natalia nicht, was er sagte. Wieso reichte es ihm nicht, seine Schwestern zu befreien? Um nichts anderes ging es doch hier. Eduard, Raivis und Toris (vor allem Toris) konnten ihr gestohlen bleiben. Aber zuerst einmal war es am wichtigsten, dass er sie mitnahm. „Es ist besser, wenn ich dir den Weg zeige, Vanya. Außerdem kenne ich auch die anderen. Ich könnte sie ablenken. Ich könnte dir nützlich sein, Vanya.“ Ivan legte den Kopf schief und blinzelte sie an. „Also gut“, sagte er dann und lächelte. „Aber versprich mir, dass du dich nicht in Gefahr bringst und tust, was ich sage. Ich muss doch auf meine kleine Schwester aufpassen.“ „Verstanden“, antwortete Natalia. Sie war bereit, alles zu tun, was er sagte. Nichts lieber als das. „Sehr gut“, sagte Ivan zufrieden, bückte sich, hob ein am Boden liegendes Gewehr auf und hängte es über seinen Rücken. „Dann lass uns gehen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)