Tradition zum Christmond von Schreiberliene ================================================================================ Kapitel 1: Tradition zum Christmond ----------------------------------- Zittern. Beben. Frösteln. Kann man zittern, beben und frösteln zugleich? Der Sand unter seinen bloßen Füßen ist nachgiebig, leistet keinen Widerstand und ist dadurch eine größere Hürde als die dornigen Blätter im wilden Wald. Gegen die kann er kämpfen; hier ist er machtlos. Und zittert. Bebt. Fröstelt. Er zittert vor Anspannung, bebt vor Angst und fröstelt, weil die kühle Nachtluft über seinen unbekleideten Körper fährt und den Schweiß unangenehm kalt werden lässt. Am liebsten würde er tun, was man ihn gelehrt hat: Sich in den Sand eingraben, die Augen schließen und auf die Sonnengöttin warten. Doch das geht nicht. Das darf er nicht. Nicht in der Nacht des Christmondes. Wann er das erste Mal davon gehört hat, daran erinnert er sich nicht. Vor mehr als fünfzig Sonnenreisen verkündete der Ráchid, es werde einen Christmond geben, eine Zeit, wo es ihn noch nicht gab. Seitdem wartete das Volk der Merkòn auf das Zeichen. Auf einen Hinweis auf den Willen der Götter. Auf ihn. Seine Beine sind schwer und müde. Das liegt daran, dass er sie in so langer Zeit nicht benutzt hat. Ruhen musste für diesen Moment. Sie wieder zu bewegen fühlt sich schrecklich und gut zugleich an – fast hat er damit gerechnet, dass sie ihn im Stich lassen würden. Der Mond zeichnet Geschichten in den Sand, Bilder, und er erinnert sich an jene Tage vor der Auferstehung des Christmonds. Er saß im Zelt, wo die Luft süß und schwer stand. Die Sonnengöttin lachte auf die Merkòn herab und er konnte die Kinder draußen spielen hören. Er wollte sich aufrichten, doch seine Arme waren an flache Bretter gebunden, die nicht aus Holz bestanden, sondern aus jenem weißen wundersamen Material, das ihnen die Alten hinterlassen hatten. Man hatte Kissen hinter ihm aufgetürmt, um die Schmerzen zu mindern, doch schon jetzt, am vierten Tag, merkte er, wie der Druck seine Muskeln belastete. Auch die starre Gebundenheit seiner Beine an das Querholz erleichterte ihm seine Position nicht. Und es war erst der vierte Tag. Unwillig schüttelte er den Kopf, um die Schweißtropfen herabfallen zu lassen; fast wäre dabei die wertvolle Krone aus Thorne herabgefallen. Niedergeschlagen gab er auf und ließ sich zurückfallen. Er durfte nicht vergessen, dass dies die größte Ehre war, die er je bekommen sollte; diese magischen dreißig Tage waren nur da, um seine Stärke zu testen. Und er hatte sich und seiner Mutter geschworen, dass er es schaffen würde. Also schloss er die Augen. Atmete durch. Verbannte das helle Kinderlachen seiner Freunde aus dem Kopf. Und betete zu den Göttern. Jeder Tag der sechsundzwanzig folgenden verschwimmt in seiner Erinnerung mit denen an die anderen. Der Schmerz, der Hunger, der Durst, bis man seine Lippen benetzte; all das hatte ihn fast wahnsinnig gemacht. Doch seine Mutter hat mit ihm geübt; sie hatte gewusst, was auf ihn zukommen würde und ihr Bestes gegeben, damit er die Götter nicht enttäuschen würde. Und als man ihn gestern losgebunden und ihn ein warmes Bad gesteckt hatte, da hatte er es geschafft. Sein letztes Abendmahl ist merkwürdig gewesen. Areni, die Freundin, seine Freundin mit den Mandelaugen, hatte auf seinen Wunsch neben ihm gesessen, doch ihre Augen konnten die seinen nie treffen. Vielleicht versteht er sie auch. Er weiß ja nicht, was genau geschehen wird, doch es ist gewiss, dass die Götter ihn als ihren Sohn opfern und danach wieder auferstehen lassen werden. Nur wie er wieder aufersteht, das hat man ihm nicht gesagt. Vielleicht ist er dann nicht mehr er selbst? Vielleicht ist er nicht mehr Kirto, Christ und zukünftiger Sohn der Götter, sondern Christ, Sohn der Götter und ehemaliger Kirto? Der Gedanke verstärkt sein Beben. Nur keine Zeit verschwenden, ermahnt er sich; die Nacht ist nicht mehr jung, und er muss noch einige Schritte laufen. Wieder denkt er an Areni. An ihren Blick, den sie auch bei ihrem judäischen Kuss nicht gehoben hat. An die starken, festen Arme, die sich um seinen Körper geschlungen haben. An ihren kompakten Körper, voller Muskeln und beginnender Weiblichkeit, an dem er sich am liebsten festgehalten hätte. An ihre Stimme, hell wie die Christglocken. Und wieder verführen ihn die weißen Mondgeschichten dazu, in die Vergangenheit hinab zu tauchen. Er saß vor der Hütte seiner Eltern und malte große Kämpfe und Siege in den feuchten Sand. Regen hatte Erleichterung gebracht. Der nasse Geruch der Luft irritierte ihn; er war noch zu jung, um sich an die seltenen Regengüsse zu erinnern. Plötzlich stand sie vor ihm und schaute ihn an, lange. „Was willst du?“ Areni legte ihren Kopf schief und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. „Die sagen, du bist das Christkind.“ Erhaben nickte der kleine blonde Junge neben ihr und fuhr mit den Kritzeleien in dem Sand fort. „Aber du siehst nicht aus wie ein Sohn der Götter.“ Entrüstet funkelte Kirto sie mit all dem Unglauben, den er in seinen jungen Jahren aufbringen konnte, an. „Ich werde aber der Sohn der Götter sein!“ Das Mädchen begann, seine Malerei zu ergänzen. Sie konnte es viel besser als er, und anstatt wütend zu werden, schaute er ihr fasziniert zu. „Dann hast du also am Christmond Geburtstag?“ Der Junge nickte. „Wann ist der denn?“ Kirto musste hart überlegen. „Am 24. Aber erst in vielen, vielen Jahren…“ Seine Besucherin nickte. „Wird es weh tun, ein Gott zu werden?“ Unsicher zuckte ihr Gegenüber mit den Schultern. „Bestimmt. Aber ich bin stark!“ Sie lachte. „Aber noch kein Sohn der Götter, richtig?“ Hochnäsig setzte er sich ein wenig grader hin; so überragte er das andere Kind wenigstens um ein winziges Stück. „Noch nicht. Aber ich werde die Götter kennenlernen und…“ Sie scherte sich nicht um seine Ausführungen, sondern schubste ihn kichernd in den Schmutz. „Bis dahin kann ich dich aber im Kareton schlagen!“ Und das tat sie. Oft. Und gerne. Endlich kann er den See erkennen. Er ist losgegangen, als die Sonne den Tag gegrüßt hat, und nun wird es nicht mehr lange dauern, bis sie das selbe wieder tut. Aber noch nicht. Noch ist er nicht da. Wieder überkommt ihn eine merkwürdige Angst. Ob es wohl wehtun wird? Er weiß nicht, was geschehen soll, man hat ihm nur erklärt, dass er durch die Wüste wandern muss, bis zu dem Ort, wo die Sonne den See Râhen trifft; dort muss er auf die Götter warten, umschlossen von kristallfarbenen Wasser. Der erste Schritt hinein überrascht ihn; das Nass ist warm. Sehr warm. Er kennt den See, in anderen Jahren sind sie hier geschwommen. Nur dieses Mal durfte niemand ihn entweihen. Doch deshalb weiß er, dass der See selbst im Sommer und besonders in der Nacht kühl sein müsste, gespeist von der eisigen Quelle tief am Grund, die er so oft zu ergründen versucht hat. Doch die Hitze lässt seine schmerzenden Muskeln entspannen, und so gibt er sich ruhig der zirkelnden Strömung hin und wird in die Mitte getrieben. Seine Augen sind geschlossen. Trotzdem merkt er, wie ihm Schweiß auf die Stirn tritt; ob die Hitze oder die Angst Schuld sind, weiß er nicht. Er wünscht sich, er müsste das nicht alleine machen. Egal wer, nur irgendjemand, der ihm Beistand leistet. Doch er ist allein. Einsam. Und noch ist die Sonnengöttin verborgen. Aber es kann nicht mehr lange dauern. Unsicher richtet Kirto sich auf; er hat sich von der Oberfläche tragen lassen, doch diese Position hilft seinem rasenden Herz nicht. Kaum sind seine Füße in die Tiefe gestreckt, schreit er auf und zieht sie verzweifelt hoch. Hitze und Angst und Schmerz und Müdigkeit verbinden sich, sein Atem hämmert, sein Herz schnauft und er spürt, wie die Haut an seinen Zehen Blasen wirft, er keucht, er kreischt und bevor er überhaupt denken kann, zuckt sein Körper auf der kleinen Insel in der Mitte des Sees und die Nachtluft streicht besänftigend über die roten Glieder. Nur langsam beruhigt er sich. Und dann wird die Furcht noch größer. Der See kocht von innen. Und darin soll er bleiben, bis die Sonnengöttin erscheint? Für einen Moment zögert er. Dann packen ihn das schlechte Gewissen und die Erinnerung. „Und warum gibt es die Alten nicht mehr?“ Es war eine Frage, die sie alle beschäftigte. Sie hatten nun über Wochen von den Alten gehört, eine Geschichte nach der anderen, darüber, wie sie sich erst die Erde Untertan gemacht hatten, dann das Wasser, zu guter Letzt die Luft; wie sie vogelgleich fliegen konnte, besser als der beste Fisch tauchen und sich schneller fortbewegen als jedes andere Wesen. Sie hatten von den metallenen Dienern gesprochen, die sie sich geschaffen hatte, von ihrem Wissen, ihrer Macht; doch alles, was es heute noch von ihnen gab, waren Ruinen und zerbrochenes Glas. Nikolerta nickte langsam. „Es gibt sie nicht mehr, weil sie sich selbst zwar zu Halbgöttern aufgeschwungen haben, ihre Eltern dabei aber vergaßen. Der Gott Hér hatte ihnen, nach reiflicher Überlegung, einen seiner Söhne geschickt; dieser lebte bis zum Christmond unter ihnen. Dreißig Tage vorher bereitete er sich auf seine Himmelfahrt vor. Arme ausgebreitet, Beine stark und bewusst, ans Kreuz gebunden und doch frei. Dann wanderte er durch die Wüste, wo ihn sein Vater zu sich nahm und als seinesgleichen wieder auferstehen ließ. Dies also war nun das Ritual am Christmond, und jedes Mal, wenn der Mond von der Sonne verschluckt und die Erde von ihr besucht wurde, sollte es einen geben, den die Alten von den Ihren opferten, damit auch er ein Gott werden konnte. Das war ihr Pakt. Doch die Alten vergaßen die Götter, lebten selbstgefällig und ichbezogen, bis die Allmächtigen ihnen einen Krieg schickten, der so verheerend war, das nicht einer von ihnen übrig blieb. All das ist nun schon so lange her, dass kaum jemand noch wahre Geschichten von ihnen weiß; doch wir werden ihre Fehler nicht wiederholen. Damit wir leben dürfen, damit die Götter mit uns sind, wird einer von uns zu einem von ihnen.“ Und mit diesen Worten spürte Kirto alle Blicke auf sich. Es war ihm unangenehm; wenn es eine Ehre war, ein Gott zu werden, warum hatten die Alten es nicht gemacht? Aber er wusste, dass er sein Volk nicht im Stich lassen konnte. Er würde das Ritual zum Christmond bestehen und als Gott zurückkehren. Und deswegen kann er nicht zurückschwimmen und nach Hause laufen. Man wird ihn verachten, noch schlimmer, er wird sich verachten, am schlimmsten: Sein Volk wird untergehen. Es wird immer wärmer und nach einigen Momenten ist dem jungen Mann bewusst, dass er nicht nach Hause gehen könnte, selbst wenn er wollte; das Wasser ist so heiß, dass es ihn sicher töten würde. Das Atmen wird schwerer und er lässt sich zurückfallen. Alles ist heiß. Und Nass. Heißnass. Er selbst ist auch nass. Schweißgetränkt. Langsam vergehen seine Gedanken und an ihre Stelle tritt nur die ständige Anstrengung, nicht zu sterben. Es ist die Tradition zum Christmond; er darf nicht sterben. Oder? Er weiß nicht, worüber er nachdenkt, doch der Gedanke, dass man nicht wiedergeboren werden kann, ohne zu sterben, streift sein Bewusstsein. Und endlich, endlich frisst die Sonne den Christmond. Langsam erst, bedächtig; doch durch den dichten Dampf, der ihn inzwischen einhüllt, streuen sich die Farben und zum ersten Mal fühlt er sich beruhigt. Sie kommen. Die Götter kommen. Er öffnet die Augen, und die Sonne ist so unglaublich nah, dass sie ihm aus den Höhlen gebrannt werden. Er schreit. Sein Körper schreit. Aufgedunsen, aufgeheizt, er ist wie ein vorgewärmter Scheit im Nachtfeuer. Er kann nicht mehr atmen, atmet Flammen mit jedem Zug. Sie verzehren ihn von innen. Schmerz frisst sein Wesen und im Feuer wird er wiedergeboren, um langsam wieder zu verrecken. Dann stirbt er. Und in seinem letzten bewussten Augenblick wird es kühl. Leise. Der Lärm des Todes verstummt. Zum ersten Mal atmet er wieder durch, und es ist kein Feuer, das in seine Lungen fließt. Er öffnet seine Augen und sie sehen wieder. Seine Lippen lächeln, so als seien sie nie in der humiden Hitze aufgeplatzt. Da ist sie. Die Sonnengöttin. Sie ist nicht groß. Ihr braunes Haar fällt weich auf ihre Schultern. Die Mandelaugen lächeln, während die Lippen sich sanft auf seinen Mund senken. Areni, denkt er. Und das Nichts gewinnt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)