Delusive Society von Gepo (Dritter Teil der DS-Reihe) ================================================================================ Kapitel 125: Eine chaotische Familie ------------------------------------ Bald ist Neujahr ^.^ Ich wünsche euch einen guten Rutsch ins neue Jahr! Ich hatte sehr viel Spaß mit diesem Kapitel. Zwar sind die darin vorkommenden nicht gesund, aber sicherlich sehr robust und ein gutes Lernumfeld, was eine Familie sein kann. Ich muss zugeben, als ich das erste Mal im realen Leben selbst so etwas sah, habe ich geheult wie ein Schlosshund. Einfach vor Freude. War schön so etwas zu erleben. Also viel Spaß beim Lesen, aber seid auch gewarnt ^.^ ________________________________________________________________________________________________ „Hey, Katsuya“ Kimi grinste und zog die Tür ganz auf. „Gut gefunden?“ „Seto hat 'n Navi“ Er nickte und trat ein. „Guten Morgen.“ „Wo ist deine zweite Hälfte?“ Kimi lehnte sich auf den Flur hinaus und sah sich um. „Der fährt samstags immer ins Fitnessstudio“ Katsuya zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, der braucht seinen festen Plan. Ist das ein Problem?“ „Nö, nö“ Sie streckte sich und gähnte, während sie zwei Schritte den Flur hinab machte. „Oh, äh ... Bad, Wohnzimmer“ Sie zeigte auf zwei Türen und ging weiter, während Katsuya ihr folgte. „Prinzessinnenzimmer, Sasus Gruft, Küche, mein Zimmer“ Sie trat in die Küche und Katsuya folgte ihr. Der Raum war recht klein, der Tisch war in der Wand verankert und klappbar. Gerade stand eine halbleere Flasche Orangensaft darauf. „Hast du Hunger? Ich hab' noch nicht gefrühstückt.“ „Hätte ich besser später kommen sollen?“ Seto sagte, elf Uhr war in Ordnung, um bei Leuten aufzutauchen. Hätte er lieber anrufen sollen statt nur eine SMS zu senden? „Macht keinen Unterschied“ Sie reichte ihm einen Klappstuhl und nahm sich einen zweiten. „Samstag ist Gammeltag. Ich liege den ganzen Tag auf der Couch, Tyler steht vor ein Uhr eh nie auf und Sasu sitzt in ihrem Zimmer. Meistens arbeitet sie, aber sie genießt die Ruhe“ Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zur Seite, öffnete den Kühlschrank und fingerte mit einiger Anstrengung durch die Entfernung ein Joghurt heraus. „Und es gibt den ganzen Tag Frühstück.“ „Klingt nach meinem Lebensstil“ Katsuya grinste und sah sich in der Küche um. Bei Seto war alles immer sauber und ordentlich. Hier war kreatives Chaos und in der Ecke lag eine einsame Fussilini neben ein paar Körnern und verstreutem Salz. Imalia würde dem Putzwahn verfallen. „Seto sieht nach einen ziemlichen Snob aus“ Mit einem weiteren weiten Strecken fischte sie nach einem Löffel. „Schickes Innenstadtappartment oder so.“ „Vorstadthaus. Roter Backstein“ Sie teilten ein wissendes Nicken. „Aber irgendwie ist es schon cool. Ich habe immer geträumt, irgendwann in so einem Haus zu wohnen. Irgendwo, wo es sauber ist und es warmes Wasser und Strom gibt und wo ich nicht nachdenken muss, wenn ich das Licht anlasse.“ „Das ist nicht sehr umweltorientiert“ Sie winkte mit dem Zeigefinger, aber lächelte dabei. „Ich mach's ja auch nicht. Aber ich könnte! Das ist der Punkt. Ich kann baden und essen und nachts lesen und muss mir keine Gedanken machen, ob ich das bezahlen kann. Das ist super cool.“ „Ich erinnere mich, das hatten wir am Anfang oft“ Kimi wandte ihren Blick verträumt nach oben. „Babys sind sauteuer. Wir hatten Geld vom Jugendamt und die zahlten die Miete, aber das war halt echt nicht viel. Wir mussten noch zur Schule, ich hatte Tyler, Sasu war sowieso ein einziges Chaos ... Nebenjob war da nicht drin. Das waren ziemlich knappe Zeiten.“ „Wie habt ihr es geschafft?“ Katsuya lehnte sich vorsichtig auf den Tisch. Er sah nicht allzu stabil aus. „Andere Arbeit gesucht“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hatte Tyler und Sasu, die konnte man beide nicht allein lassen. Also habe ich nach Heimarbeit geguckt. Mein Lehrer hat da über einen Freund was organisiert und dann habe ich Transkriptionen gemacht. Also so Text hören und abtippen. Sasu macht das heute noch.“ Hinter ihm ... geschah irgendetwas. Etwas Großes schlug in eine Wand und eine Hand auf Holz. Er schnellte herum, aber sah nichts. „Mom!“ Er wollte gerade aufstehen, aber bei dem beleidigten Ton vermutete er, dass sich nicht gerade jemand verletzt hatte. Eher war jemand beinahe in die Küche gekommen und hatte dann einen Satz nach hinten gemacht. „Warum sagst du mir nicht, dass jemand da ist?“ Ein dunkelbrauner Schopf wurde sichtbar, gefolgt von einem halben, recht femininen, aber männlichen Gesicht. Das eine sichtbare Auge musterte ihn von oben bis unten durch. „Seit wann schleppst du so gut aussehende Kerle ab?“ „Guten Morgen, Tyler“ Kimi klang etwas genervt. „Wie wäre es mit einer Begrüßung? Und Katsuya ist mein Bekannter aus der Gruppe, ich habe dir gesagt, dass er heute kommt.“ „Der ist aus der Gruppe?“ Aus dem halben Gesicht wurde ein ganzes, gefolgt von einer unbekleideten Schulter. Seine Haare waren noch vollkommen in der gerade-aus-dem-Bett-gefallen-Form. „Ich dachte, der Kerl sei älter. Ihr seid doch nur Omas da.“ „Ich bin gerade mal dreißig, du Nudel!“ „Rache“ Der Junge steckte ihr die Zunge raus. „Okay, unbekannter Fremder, du hast mich nie gesehen“ Eine Hand war kurz zu sehen und machte eine esoterisch wirkende Handdrehung. „Ich bin gleich wieder da.“ „Heißt, in zwei Stunden stöckelt er aus dem Bad“ Kimi verdrehte die Augen. „Halt die Klappe, Mom!“ Katsuya drehte sich nur mit gehobenen Augenbrauen wieder zu Kimi und konnte das Lächeln auf seinen Lippen nicht unterdrücken. Das war also der berühmt berüchtigte Sohn. Mal sehen, ob er als Kerl oder Mädchen wieder kommen würde. Er hörte sich ja schon danach an, als würde er auf Männer stehen. „Ich weiß noch nicht ganz, auf was er eigentlich steht. Normalerweise erzählt er nur, welche Mädchen er toll findet“ Sie schüttelte mit einem Ausdruck der Resignation den Kopf. „Na ja. Er kann nicht mal entscheiden, welches Geschlecht er gern hätte, also warum frage ich nach Sexualität?“ „Könntest du mir mehr darüber erzählen?“ Katsuya lehnte sich zurück auf den Tisch. „Weil ... der Bruder meines besten Freundes, der scheint irgendwie eine Frau sein zu wollen und ich verstehe das noch nicht so ganz.“ „Oh Hilfe, frag Sasu. Die blickt da durch. Ich kriege den ganzen Tag lang nur gesagt, wie ich mich verhalten soll und versuche das“ Kimi atmete tief durch. „Tyler hat das Entscheidungsvermögen eines pubertären Mädchens. Und schon immer gehabt. Einen Tag mag er Fleisch, den nächsten will er Vegetarier sein. Einen Tag lang will er Beamter im Kulturamt werden, den nächsten Astronaut. Manchmal trägt er schreckliche Gangster-Klamotten, den nächsten Tag ein Blümchenkleid. Da war er schon als Kind schrecklich. Du denkst, du bereitest ihm eine Freude und fährst mit ihm in den Freizeitpark, aber nein, er will ins Museum. Ich bin bei fünf verschiedenen Psycholeuten gewesen, ob Sasus DID bei ihm auch DID hervor gerufen hat, aber nein, der Junge ist ein Ausbund psychischer Gesundheit. Sie sagen mir alle, ich soll es einfach akzeptieren und das Beste daraus machen.“ „Also hat er nie gesagt oder angedeutet, dass er lieber ein Mädchen sein würde?“ Katsuyas Stirn lag in Falten. Das machte doch jetzt absolut keinen Sinn mehr. Yugi schien ja ganz konsequent dabei zu bleiben, ein Mädchen sein zu wollen, aber was war das jetzt? „Nie. Er meint, er hat keine Lust sich zu entscheiden. Anscheinend macht es mehr Spaß, als Mädchen mit Mädchen und als Junge mit Jungen wegzugehen“ Sie zuckte mit den Schultern. „Er zieht halt das an, auf was er gerade Lust hat. Mittlerweile können wir das zum Glück ja auch bezahlen.“ „Ja, aber ...“ Katsuya sah zur Seite. Wie formulierte man das denn? „Ich meine ... ein Mann zu sein, das ist ... das ist ein Teil meines Selbst. Meiner Identifikation“ Ja, stimmt, er hatte doch mal diese total nervige Identitätsfindungsphase. „Als was identifiziert er sich denn dann?“ „Nichts anscheinend“ Sie seufzte und holte sich ein zweites Joghurt. „Er ist weder männlich noch weiblich. Er ist Tyler, er ist sechzehn, er hat kein festes Geschlecht. Das scheint ihm Identität genug zu sein. Wie gesagt, der Junge ist nachweislich ein erstaunliches Beispiel psychischer Gesundheit. Anscheinend braucht er kein Geschlecht.“ Huh ... kein Geschlecht ... Katsuya war es ziemlich wichtig zu wissen, wer und was er war. Das gab einem doch auch ein Gefühl von Zugehörigkeit. Männlich, jung, blond, muskulös, anscheinend schwul – das waren alles Eigenschaften, die einen mit anderen verbanden. Selbst Setos DID hatte ihm ja irgendwie eine Art Identität gegeben. Andererseits hatte er sich früher darüber definiert, Abschaum zu sein, er gegen die Welt, der Einsame, der allein Kämpfende, der Leidende – das hatte er alles abgeworfen. Jetzt war er sehr viel normaler, aber fühlte sich dabei trotzdem besser. Er war nicht mehr sehr besonders, aber er mochte sich dennoch. Einfach, weil Seto ihm eine Menge Sicherheit gegeben hatte. Wenn sich also jemand in sich selbst vollkommen sicher fühlte, vielleicht war das Geschlecht nicht mehr allzu wichtig? Oder vielleicht war Tyler sich schon bewusst, männlich zu sein, aber es war ihm völlig egal, als was andere ihn wahrnahmen? Katsuya hatte schon bemerkt, je sicherer er wurde, desto weniger interessierte ihn die Meinung anderer. Früher hatte er immer vorgegeben, es würde ihn nicht interessieren, was andere dachten, aber eigentlich war es für ihn extrem wichtig gewesen. Heutzutage war es wirklich nicht so wichtig. Was Seto dachte, das zählte. Was seine Freunde dachten, ja. Alle anderen? Lehrer vielleicht noch, aber das war es eigentlich. Vielleicht war es wirklich nicht wichtig, ob Tyler jetzt männlich oder weiblich war. Seine Mutter und Sasu liebten ihn anscheinend, ganz egal, was er mit sich machte. „Hat er denn damit keine Probleme in der Schule? Wie reagieren denn die anderen auf ihn? Und was denken seine Freunde?“ „Seine Freunde sind an ihn gewöhnt. Als Mädchen hängt er bei den Mädchen, als Junge bei den Jungs. Sasu besucht alle Lehrer an den Lehrersprechtagen und regelt irgendwie, dass keiner Tyler das Leben schwer macht. Und sonst gibt es eigentlich gar keine Probleme“ Sie lächelte ihren leeren Joghurtbecher an. „Sein Aussehen ist so perfekt, es kommt mittlerweile öfter vor, dass Leute aus anderen Klassen fragen, wo denn sein jeweils anderes Geschlecht ist, weil sie glauben, es wären zwei verschiedene Personen“ Sie stand auf, um die beiden Becher wegzuschmeißen und packte Cornflakes und Milch aus den Schränken, um sie auf die bereits recht zugestellte Arbeitsfläche zu stellen, bevor sie einen weiteren Klappstuhl aufstellte und sich wieder setzte. „Manchmal habe ich ein bisschen Sorge, ob er nicht doch irgendwie DID entwickelt. Es ist, als hätte er zwei Persönlichkeiten. Aber manchmal trägt er auch seine fast zu weiten Jeans zu BH und Top und mischt seine männlichen und weiblichen Verhaltensweisen. Es ist, als würde er auf dem Kontinuum zwischen männlich und weiblich fröhlich hin und her schwanken.“ „Guten Morgen“ In der Tür erschien ein junges Was-auch-immer. Halblange braune Haare, leicht geschminkt, ein schulterfreies rotes Oberteil, was eher eine Frau tragen würde, dazu eine verboten eng anliegende Jeans. Die Kreolenohrringe sagten eher Frau, die Sneaker eher Mann. Von oben nach unten gesehen schien Tyler von Frau zu Mann zu wechseln. „Morgen“ Katsuya hob einen Mundwinkel. „Ich habe gerade deine Mutter über dich ausgefragt.“ „Glaub' ihr kein Wort“ Tyler grinste breit und kam hinein. Aus einem Schrank griff er – sie? – eine Schale und nahm von den Cornflakes und der Milch, die Kimi gerade raus gestellt hatte. „Ich bin kein nerviger Satansbraten. Und ich kann mich sehr wohl für Dinge entscheiden. Ich bin nur experimentierfreudig.“ „Mit dem Teil Satansbraten hatte sie noch gar nicht angefangen“ Katsuya musste ganz ungewollt lächeln. Tylers Laune war ansteckend. Der Andere setzte sich auf den gerade aufgestellten Klappstuhl zwischen sie und stand mit einem Verdrehen der Augen wieder auf, als Kimi ihm ihren leeren Becher hin hielt. „Und was bist du so für einer? Ich dachte ja, irgendein Dino kommt vorbei. Wie alt bist du? Darf ich du sagen?“ „Klar“ Katsuya sah ihm dabei zu, wie er seiner Mutter einen Kaffee zusammen mischte. Sie trank ihn mit ... Honig und Zimt? „Ich bin neunzehn und ... tja, was für einer bin ich?“ Er sah zu Kimi. „Ein sehr starker Kerl, der an einen übermenschlich hübschen Mann mit DID vergeben ist“ Sie sah dabei eher zu ihrem Sohn und betonte das Wort vergeben. „Mist“ Tyler reichte ihr ihren Kaffee. „Hast du einen Zwillingsbruder? Der zufällig auch so offen ist?“ „Offen?“ Katsuya blinzelte. „Wir haben noch keine vier Sätze gewechselt und du weißt schon, was für ein Mensch ich bin?“ „Nö“ Tyler aß einen Löffel Cornflakes und unterbrach sich so. „Aber meine Mutter mag dich und du bist mit einem Kerl mit DID zusammen. Also musst du ziemlich offen und flexibel sein. Außerdem hast du mich nicht angestarrt, als wäre ich krank oder so. Sind doch gute Voraussetzungen. Liebe kommt mit der Zeit, sagt Sasu.“ „Sasu und ihre Lebensweisheiten“ Kimi verdrehte die Augen. „Außerdem bist du viel zu jung für eine Beziehung für den Rest deines Lebens.“ „Ein kompatibler Mensch kann jederzeit auftauchen, ganz egal, wie alt man ist. Und man sollte keine Chance vergeuden, um Erfahrungen zu sammeln“ Tyler nickte bedeutsam. „Tante Sasu ist eine weise Frau.“ „Nur hat weder sie einen Freund noch ich. Vielleicht sind ihre Weisheiten doch nicht die Spitze der Erkenntnis“ Ihr Blick richtete sich auf Katsuya. „Also wie steht es um den Zwillingsbruder?“ „Mom!“ Katsuya musste nur herzhaft lachen. Das war einfach zu köstlich. So konnten Mutter und Sohn sich benehmen? Das würde seine nie und nimmer machen. Der Gedanke dämpfte sein Lachen genug, dass er antworten konnte: „Ich habe eine jüngere Schwester mit einem zwei Monate alten Sohn. Das war's leider. Seto hat noch einen Bruder, der single ist, aber der ist eher ... konservativ.“ Mit welchem Wort konnte man Noah besser beschreiben? Obwohl ihm das eigentlich auch nicht gerecht wurde. Der Kerl war Pflegevater für seine Schwester und hatte türkise Haare. Nicht ganz das Bild eines Konservativen. „Ich glaube, ich tue ihm Unrecht. Für einen dreißigjährigen Konzernchef ist er eigentlich ganz offen. Er ist auch durch eine Menge Mist und braucht einfach immer ein bisschen Zeit, bevor er sich an Neues gewöhnt. So wirklich konservativ ist er jetzt nicht.“ „Dreißig ist was für dich“, murmelte Tyler nur und konzentrierte sich lieber auf seine Cornflakes. Kimi streckte ihrem Sohn nur die Zunge raus und meinte: „Erzähl mehr.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)