Delusive Society von Gepo (Dritter Teil der DS-Reihe) ================================================================================ Kapitel 119: Ein Recht verletzt zu sein --------------------------------------- Ich bin mit meinem blöden Buch durch! Endlich! Knapp 4000 Seiten und ich habe sie alle gelernt. Während ich also feiere, schmeiße ich ganz schnell (frühzeitig) ein Kapitel in die Runde in der Hoffnung, dass es früh für euch on ist ^.^ Viel Spaß beim Lesen! ________________________________________________________________________________________________ „Na, seid ihr mit dem Lernen voran gekommen?“, grüßte Ayumi. Katsuya stöhnte nur gequält und ließ seinen Kopf auf die Tischplatte sinken. Gab es denn in ihrem Leben nichts anderes außer Lernen und Arbeiten? Ryou tätschelte ihm beruhigend die Schulter. „Ich habe meine Vokabeln mit deiner Lernmethode versucht“ Karin hielt einen Stapel Karteikarten hoch, die sie schon seit ihrer Ankunft durchging. „Hat echt gut funktioniert.“ „Wann findet ihr die Zeit, so etwas zu schreiben?“ Katsuya sah mit einem Hauch von Verzweiflung die sicher fünfhundert Karten an, die sie auf ihrem Tisch in mehreren Stapeln ordnete. „Das ganze Schuljahr lang“ Ayumi hob einen Finger. „Lernen beschränkt sich doch nicht nur auf die paar Wochen vor den Prüfungen. Lernen sollte ein ständiger Prozess sein.“ „Ihr macht mich fertig“, murmelte Katsuya nur. So langsam begann er daran zu glauben, dass er es unter die besten Fünfzig schaffen könnte. Er hatte keinen Zweifel daran, dass Ayumi ihn auch in die besten Zwanzig geprügelt hätte, wenn das Setos Bedingung gewesen wäre. „Sieh es so“ Ryou lächelte aufmunternd. „Es sind für dich nur drei Tage die Woche. Mich fragt Bakura jeden Abend ab. Das macht Seto nicht, oder?“ „Der Kerl hat sie eh nicht alle“ Katsuya schnaubte. Bakura machte es Spaß, andere zu quälen, aber eines musste man ihm lassen: Es hatte meist einen positiven Effekt. Nur bei Ryou war sich Katsuya nicht sicher, ob der Kerl nicht übertrieb. „Mein so genannter Kerl ist bestens beisammen“ Ryou hob die Nase. Katsuya blinzelte verwirrt. „Er sagt, ich soll mir keine Gemeinheiten gefallen lassen sondern direkt etwas sagen. Also werde ich mir auch keine Gemeinheiten über ihn gefallen lassen“, bestimmte Ryou. „Okay“ Katsuya nickte langsam. „Aber wenn es wahr ist, darf ich es aussprechen, oder? Wie zum Beispiel, dass er super mega aggressiv ist?“ „Das ist er“ Ryou nickte. „Aber nur manchmal. Ehrlich, neunzig Prozent der Zeit ist er ganz ruhig.“ „Es sind die zehn Prozent, die hängen bleiben“ Katsuya lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Und wenn du anfängst, ihn zu verteidigen, könntest du ihm dann auch sagen, wenn er zu weit gegangen ist? Du bist nämlich der einzige, den er dafür nicht mit einem Messer angreift.“ „Dich auch nicht. Nicht mehr zumindest. Und Seto greift er auch nicht an. Genau so, wie er nie einem Kind was tun würde. Shizuka würde er nie angreifen.“ „Zählen wir als Kinder?“, fragte Ayumi nach und zeigte auf Karin und sich. „Natürlich“ Ryou nickte. „Also auch, wenn er andere anschnauzt und bedroht, uns tut er ganz sicher nichts?“ Ayumi wollte wohl wirklich auf Nummer sicher gehen. „Wenn du nicht ihn zuerst angreifst. Also … gefährlich angreifst. Ich glaube, selbst wenn du ihn trittst, wird er das nicht sehr ernst nehmen“ Ryou sah in die Luft, als würde er mehrere Szenarios durchspielen. „Katsuya nimmt er ernst. Meistens zumindest. Aber euch würde er nicht als gefährlich sehen.“ Mitsuki, die von der Seite heran getreten war, hielt Ryou ihr Handy hin. Darauf schien sie etwas getippt zu haben, worauf der Junge auch antwortete: „Yuji sieht er als Gefahr, ja. Er findet, dein Freund behandelt dich nicht gut genug. Er kann ihn deswegen nicht leiden.“ Sie zog erschrocken ihr Handy zurück. Einen Moment lang sah sie es an, bevor sie etwas Neues tippte und es Ryou hin hielt. Er erwiderte: „Weil er für dich Entscheidungen trifft, ohne dich zu fragen und du nicht so verängstigt wärst, wenn er dich gut behandeln würde. Sagt Bakura.“ Sie zog das Handy an ihre Brust und tippelte zurück zu ihrem Platz. „Ich bin so tot ...“, murmelte Katsuya nur und wankte in Yamis Wohnung. „Ich habe noch nie im Leben so viel Stoff in meinen Kopf gedrückt.“ „Man gewöhnt sich daran“ Yami klopfte ihm auf die Schulter und ging in die Küche vor. „Woran? Das Gefühl, dass der Kopf platzt?“ „Nein, an das Lernen“ Yami schüttete ihm einen Tee ein und gab ihm den Becher. „Je öfter du etwas lernst, desto leichter nimmt dein Kopf es auf. Du wirst sehen, bei der nächsten Prüfungsphase ist es schon viel leichter.“ „Sagt die Theorie“ Katsuya ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Die Praxis sagt, dass ich nicht mehr will. Wir haben erst fünf Lerntage rum und ich will einfach nur, dass es vorbei ist. Ayumi ist schrecklich.“ „Wann hast du Prüfungen?“, fragte Yami nach. „Ab nächste Woche“ Katsuya schüttelte den Kopf. „Am Dienstag die erste.“ „Dann ist es doch schon bald vorbei“ Der Ältere setzte sich zu ihm. „Was macht denn dein Stresslevel sonst so? Mit Seto und … all dem anderen?“ Sein Stresslevel … nichts, über das er nachdenken wollte. Punkt eins: Seto. Seto war okay. Kimis Rede hatte echt geholfen. Er sollte sie morgen Abend mal fragen, wann er sie mal besuchen könnte. Er wollte wissen, wie ihr Haushalt so aussah, wie Sasu im normalen Leben war, wie ihr Sohn so drauf war. Irgendwie hatte er das Gefühl, das könnte ihm mit Seto helfen. Und Kimis Sohn kleidete sich als Frau, oder? Vielleicht hatte er dasselbe wie Yugi. Vielleicht konnte ihm das auch da ein bisschen weiterhelfen. Denn ehrlich gesagt verstand er noch nicht ganz, was da mit seinem Mathelehrer los war. Und das war auch schon Punkt zwei. Yugi. Denn alle Probleme mit Yugi wirkten sich im Endeffekt auf Seto und Yami aus und die beiden waren Katsuyas Stütze. Wenn die Sache mit Yugi die beiden belastete, wirkte das automatisch auf ihn. Nach dem Streit am Sonntag hatte er sich den ganzen Abend schlecht gefühlt. „Was ist da jetzt eigentlich … zwischen dir und Seto? Du bist ja am Sonntag recht schnell gefahren. Habt ihr … seid ihr noch im Streit, oder …?“ Yami seufzte nur tief und lehnte sich zurück. Er zog ein Bein an und stellte es zu sich auf die Sitzfläche. Nach einem Moment erwiderte er: „Seto hat recht. Ich hänge immer noch daran, es allen recht zu machen und ja keinen Streit zu schaffen. Und er hat auch ein Recht, mir das so heftig zu sagen. Denn ansonsten stelle ich total auf stur oder rede mich da raus. Es muss wehtun, damit ich darüber nachdenke. Und das weiß er auch. Ich mache total zu, wenn man mich kritisiert. Ich würde hundert mal eher weglaufen als mich der Wahrheit zu stellen. Aber gerade braucht Yugi mich und da helfe ich nicht, wenn ich meine eigenen Probleme nicht auf die Reihe kriege. Wir haben gestern telefoniert und es noch mal etwas ruhiger durchgesprochen.“ Katsuya seufzte erleichtert. Hatten die beiden das also schon wieder geklärt. Allen Göttern sei Dank. Wenn Seto und Yami sich anfeindeten, dann … das war die Scheidung seiner Eltern neu aufgerollt. Das war wie diese unendliche Angst, einen dieser Menschen auf immer zu verlieren. So wie er seine Mutter und seine Schwester damals verloren hatte. Das wollte er nie wieder fühlen. „Und das alles jetzt wegen der Frage, ob du ihm ein Kleid schickst?“, fragte Katsuya mit in Falten liegender Stirn. „Nein, nein, das war nur der Aufhänger. Das hat Seto auch schnell erkannt. Es geht gar nicht darum … es ging darum, dass ich Angst vor Veränderungen habe. Ich habe Angst davor, mich meinen Eltern zu stellen. Und wenn Yugi wirklich zu seiner Transsexualität stehen würde, dann müsste ich das. Ich weiß, dass er dazu zu labil wäre. Und ich habe Angst davor, dass Yugi sich gegen die Überzeugungen unserer Eltern entscheidet. Weißt du … irgendwo in mir ist die klare Überzeugung, dass sie recht haben. Ich weiß, das ist bescheuert, aber meine ganze Welt kippt, wenn ich mir eingestehe, dass meine Eltern Unrecht haben. Denn wo bin ich dann? Was bin ich, wenn ich nicht das schwarze Schaf der Familie bin? Was bin ich … wenn ich einen Wert hätte?“ Yami atmete tief durch und sah in Katsuyas Augen. „Du hast mir beigebracht, dass ich einen Wert habe. Dass Prostitution nicht das einzige ist, was ich kann. Dass ich … dass ich es wert bin, Rechte zu haben. Auf meine Rechte zu bestehen.“ Katsuya nickte. „Aber gleichzeitig glaube ich immer noch an alles, was meine Eltern gesagt haben. Wenn ich jetzt wirklich verinnerlichen würde, dass sie nicht recht hatten … wenn ich wirklich daran glauben würde, dass ich einen Wert habe, dass ich gut bin ...“ Katsuya nickte weiter, während Yami sprach. „Allein diese Worte nur zu sprechen ...“ Tränen stiegen in Yamis Augen. „Wenn ich einen Wert hätte, was sollte ich über die letzten acht Jahre denken? Ich könnte mit mir selbst nicht leben.“ Katsuya rückte mit seinem Stuhl näher, doch Yami hob nur abwehrend eine Hand. Mit der anderen fuhr er über seine Lider. Er schluckte und atmete tief durch, um die Tränen zu vertreiben. Er murmelte etwas, trank einen Schluck Tee und schloss einen Moment lang die Lider. Schließlich sagte er: „Ich habe mir vorgestern und gestern deswegen die Augen ausgeheult. Es reicht wirklich. Wenn du mich umarmst, heule ich nur nochmal los.“ „Wenn du das brauchst, ist das völlig okay“ Katsuya stellte seinen Becher auf den Küchentisch. Ehrlich, was sollte das? Sonst predigte Yami doch immer, dass man seine Gefühle auslassen sollte. Was war denn jetzt in ihn gefahren? „Ich will aber nicht“, erwiderte Yami mit einer Stimme, die zu ernst war, um einem trotzigen Kleinkind zu gehören. Eher schien er sich selbst damit überzeugen zu wollen. „Yami, du hast dich acht Jahre lang prostituiert. Und das hast du gemacht, weil du dich für wertlos gehalten hast“ Der Andere sprang auf und tigerte seine Küchenarbeitsplatte auf und ab, als suche er eine Ablenkung. „Du hast damit aufgehört, als du erkannt hast, dass du mehr wert bist als das. Also wofür willst du dich jetzt hassen oder schämen?“ „Dass ich es nicht früher getan habe!“, schrie Yami und pfefferte seine Holzbretter von der Küchentheke auf den Boden, „warum habe ich acht Jahre dafür gebraucht? Warum habe ich sechsundzwanzig Jahre meines Lebens damit verschwendet, mich selbst zu hassen?“ Katsuya saß nur still da und wartete ab. Sein bester Freund atmete tief durch, vergrub sein Gesicht in seinen Händen und blieb einen Moment so stehen. Schließlich griff er die Bretter vom Boden, stellte sie zurück und sagte: „Entschuldige, bitte. Ich habe mich gehen lassen.“ „Lass weiter“, forderte Katsuya und rückte seinen Stuhl so, dass er im Zweifelsfall aufspringen konnte, „Du hast ein Recht darauf, wütend zu sein. Deine Eltern haben dir deine Kindheit zerstört und ihr Hass hat dazu geführt, dass du dich acht Jahre lang prostituiert hast. Du hast ein verdammtes Recht darauf, wütend zu sein.“ Yami sah ihn an mit einem Ausdruck, der Entsetzen wie auch Unglauben nahe kam. Mit einem mal wurde Katsuya klar, was für einen Punkt er da getroffen hatte. Natürlich … Yami war immer kontrolliert. Immer. Sei es Wut, sei es Freude, sei es Trauer. Er hatte das alles weggeschlossen. Er hatte Katsuya immer gesagt, er solle seine Gefühle leben und genau das hatte Katsuya getan. Manchmal waren es zu viele, dann hatte er Dissos gehabt, aber allgemein hatte er immer raus geschrien, was in ihm war. Yami hatte das nie. Yami hatte immer alles irgendwo hin gestopft und weiter gemacht. All die Vergewaltigungen, die er nach ein paar Stunden mit einem Lachen abgetan hatte. Von seinen Eltern war er ohne einen Blick zurück in die Prostitution gegangen. Von der Prostitution war er ohne einen Blick zurück in ein neues Leben gegangen. Katsuya stellte sich tausend Fragen. Warum hatte seine Mutter die Gewalt zugelassen? Warum hatte sie ihn zurück gelassen? Warum hatte kein Lehrer ihm je geholfen, obwohl seine Lebensverhältnisse bekannt waren? Yami stellte sich überhaupt keine Fragen. Yami nahm all das, was ihm passierte, als gegeben hin. Er überstand das alles, was er erlebte – nicht, weil er damit umgehen konnte sondern weil er es unterdrückte. Stärke lag nicht darin, all diese Schläge zu ertragen und weiter zu machen. Stärke lag darin, für diese Schläge Wut, Trauer und Verletzung aufbringen und diese durchleben zu können. Denn sonst war keine Heilung möglich und eines Tages würden all diese Wunden einen einholen. So wie Yamis es jetzt taten. Katsuya legte die Arme um den Älteren, der sich weinend gegen seine Brust drückte. Nein, Yami weinte nicht. Eher schrie er, unterbrochen von Schluchzern. Seine Welt fiel zusammen und alles, was Katsuya tun konnte, war ihn aufrecht zu halten. Die Erkenntnis, dass er einen Wert hatte, hieß all seine Verletzungen als Verletzungen anzuerkennen. Dass das, was er durchlebt hatte, falsch war. Dass er es wert war, besser als das behandelt zu werden als so, wie er behandelt worden war. Katsuya schluckte und versuchte, seine eigenen Tränen zu kontrollieren. Er wollte für Yami stark sein. Aber seine eigenen Wunden zogen. Er wusste immer, er war die Behandlung durch seinen Vater nicht wert. Dass sein Vater ihm etwas antat, was er nicht durfte. Vielleicht war es ihm nicht immer klar, aber den größten Teil der Zeit. Seine Mutter hingegen … das hatte er auch nicht verdient. Ihren Hass. Ihre Ablehnung. Ihre Ignoranz seinen Schmerzen gegenüber. Seto hatte ihm weh getan. Immer wieder. Aber er hatte sich jedes Mal entschuldigt. Er hatte mehrfach die Möglichkeit aufgebracht, dass es Katsuya besser gehen könnte, wenn er nicht in der Nähe wäre. Seto stellte echt viel Scheiße an, aber er wusste selbst, dass Katsuya mehr wert war als das und genau das Gefühl gab er ihm auch. Seto gab ihm mehr als je ein anderer Mensch ihm gegeben hatte und sagte ihm dennoch, dass er mehr wert war. Als Katsuya aufschluchzte, fühlte er so viel Dankbarkeit für Seto wie er Wut und Trauer für seine Mutter übrig hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)