Delusive Society von Gepo (Dritter Teil der DS-Reihe) ================================================================================ Kapitel 115: Mütter ------------------- Das folgende Kapitel wird hoffentlich bewegend :) Auch wenn es von der Realität der meisten meilenweit entfernt ist, denke ich, gerade die Extreme können der Normalität eine neue Sicht geben (nun ja, das zieht sich ja sowieso schon durch ganz DS). Also viel Spaß beim Lesen ^.^ P.S.: Ich wurde aufgeklärt, dass Abtreibung in Japan etwas relativ Undenkbares ist. Ich habe Katsuya trotzdem mal eine eher mitteleuropäische Sicht des Themas verpasst. Bitte verzeiht den kulturellen "Fehler". ________________________________________________________________________________________________ Seto, Nene, Eri und Kimis Cousine – Katsuya fiel auf, dass er gar nicht wusste, wie sie eigentlich hieß – warteten in der Küche auf sie. Eri und Nene hockten mit je einer Tasse Tee zusammen am Tisch, sodass dieser zwischen ihnen und den anderen beiden war. Seto und jene Cousine, eine im Cyberpunk-Stil gekleidete Frau von ungefähr dreißig, lehnten gegen die Küchenregale und unterhielten sich leise. Kimi steuerte direkt auf ihre Cousine zu und stellte sich neben sie. Setos Augen suchten nach Katsuya und einem kurzen Moment nach dem Entdecken breitete sich ein Lächeln auf dessen Lippen aus. Er sah müde, aber nicht unglücklich aus. Diesmal schien wohl kein Unglück über ihn hinein gebrochen zu sein. „Du siehst aus, als ginge es dir besser“, meinte er und legte einen Arm um Katsuya, als dieser näher trat. Dieser schmiegte sich an ihn und schlang die Arme um Setos Taille. „Ich wünsche noch einen schönen Abend“, sagte Tomoko leise und ging, ohne den Blick zu heben. Unsicher sah Katsuya ihr nach. Irgendetwas, das er gesagt hatte, hatte ihr weh getan, aber er wusste nicht ansatzweise was. Und Kimis Worte hatten Misa verstört. Leyla führte sie mit den Händen auf ihren Schultern zu ihrer Cousine und goss ihr eine Tasse Tee ein. „Sieht aus, als sei diesmal bei euch was explodiert“ Die Cousine sah fragend zu Kimi. „Dualität scheint irgendwie ein kompliziertes Thema“ Diese zuckte mit den Schultern. „Dass Liebe und Hass immer miteinander einher gehen und sicherlich niemandes Leben hier Friede, Freude, Eierkuchen ist, scheint für manche doch überraschend zu sein.“ „Was faselst du jetzt wieder?“ Eine der schwarzen, mit einem neongrünen Dreiviertelring mit Kugelbesatz gepiercte Augenbraue hob sich. „Seit wann führst du denn so ein Wort wie Dualität?“ „Ich kann auch schlau sein, du Oberflieger“ Kimi piekste ihre Cousine mit einem Finger in die Seite. „Ich meine, dass das ganz normal ist, dass ich dich liebe und hasse. Wir leben seit Jahren zusammen und du bist der zweitwichtigste Mensch in meinem Leben. Und gleichzeitig hast du 'ne Schramme weg und wegen dir kann ich nie Urlaub machen und muss mich mit zwei Katzentieren rumschlagen, obwohl sie mir auf die Nerven gehen.“ „Wenn's dich zu sehr stört, such dir 'ne andere Blöde, die jede Woche mit dir shoppen geht“ Miss Cousine zog einen Schmollmund. „Und ich hab' dich auch lieb, Doofnuss.“ Katsuya musste grinsen. Die zwei schienen wirklich füreinander gemacht. Ob sie wohl auch eine Beziehung führten? Oder verstanden sie sich einfach nur so gut? Er sah zu Seto auf, der die zwei mit Verwirrung im Blick betrachtete. Wahrscheinlich fragte er sich dasselbe. Dualität … das hieß, es war völlig okay, Seto zu lieben und gleichzeitig sauer zu sein, dass er so viel Aufmerksamkeit brauchte und Angst zu haben, dass er austickte. Er musste nicht dringend nur ein Gefühl für Seto haben. Hass, Enttäuschung und Wut durften sein, nicht obwohl sondern weil er Seto liebte. Irgendwie war das eine extrem befreiende Erkenntnis. Und erstaunlich simpel. „Jetzt hat er's auch geschnallt“ Katsuya spürte Kimis Blick auf sich. Sie betrachtete ihn mit einem breiten Grinsen. „Das ist wie mit Eltern und Kindern. Du hast dein Idealbild, wie Eltern sein sollten und deine eigenen liebst und hasst du, weil sie es teils erfüllen, teils nicht“ Kimi zuckte mit den Schultern, erneut erstaunlich expressiv. „Und wenn du mal Kinder hast, dann hast du auch ein Bild, wie du deine Kinder gern hättest und du liebst und hasst sie auch. Wenn nicht, ist was falsch. Und für deine Beziehung und sogar für dich selbst gilt das gleiche. Irgendetwas liebst du und irgendetwas hasst du. Du musst nur gucken, dass sich alles in Waage hält.“ „Fang' nich' an, Aristoteles zu zitieren. Warst du an meinem Bücherschrank?“ Diesmal piekste die Cousine Kimi. „Mann, Sasu“ Kimi verschränkte die Arme. „Du machst mir voll meine Rede kaputt. Ich muss mir immer deine Vorträge anhören, jetzt lass mich auch mal deine großen Lebensweisheiten weitererzählen.“ „Die kann ich selber erzählen, ich muss nicht daneben stehen und mir anhören, wie du mehrere davon durcheinander wirfst“ Mit jedem Satz versuchten die beiden der jeweils anderen mit dem Finger in den Bauch zu stechen, sodass beide vor und zurück hüpften, während sie redeten. „Du fängst nur wieder an, tausend Worte zu benutzen, die kein Mensch versteht“ Kimi landete einen Treffer, da sie ihre Cousine zurück gegen die Küchenregale gedrängt hatte. „Wer hat denn plötzlich mit Dualität angefangen? Außerdem habe ich dir den Vortrag vor Jahren gehalten, warum erinnerst du dich da noch dran?“ Die Cousine – Sasu – griff Kimi an den Handgelenken, um sie aufzuhalten. „Hörst du mir etwa zu?“ „Nö“ Kimi grinste. „Aber der war voll peinlich“ Sie sah zurück zu Katsuya. „Den hat sie mir am Ausgang eines riesigen Einkaufszentrums gehalten, weil mein Sohn einen rosa Luftballon wollte und ich meinte, er darf aber nur den blauen haben, rosa sei schwul.“ „Das war diskriminierend“, verteidigte diese sich. „Entschuldigung, dass ich ihm ersparen wollte, von den anderen Kindern aufgezogen zu werden“ Kimi verdrehte die Augen. „Deine liberale Attitüde ist schuld, dass er den halben Tag in Weiberklamotten rumrennt. Mein Sohn versteht mehr von Make-Up als ich, das ist traurig.“ „Du bist nur sauer, dass kein muskulöser Football-Spieler aus ihm geworden ist, sodass jeder glaubt, du hättest dir einen Prachtkerl geangelt, wenn ihr einkaufen geht“ Obwohl sie Kimis Handgelenke hielt, schaffte sie es, die andere an der Taille zu kitzeln. Kimi machte einen erschrockenen Satz zurück. „Eitle Schrulle.“ „Ey, wenigstens hält man mich meistens für seine Schwester.“ „Du meinst, man hält euch meistens für Schwestern“ Sasu ließ die Handgelenke los und lehnte sich grinsend zurück. „Lass ihm doch seine Hobbys. Wenigstens ist es nur Crossdressing. Stell dir vor, er hätte mit Drogen angefangen. Oder würde plötzlich wirklich 'ne Freundin mitbringen, da kämst du gar nicht mehr runter von deiner Palme. Ihr seid wie Pech und Schwefel, du würdest das nicht aushalten, wenn du ihn teilen müsstest.“ „Hühnerhaufen“, murmelte Seto leise. „Ich find' sie cool“ Katsuya grinste. „Aah!“ Es war mehr ein hohes, entzücktes Quietschen als alles andere. „Hörst du? Von wegen alte Schrulle!“ Kimi zeigte auf ihn, während sie ihre Cousine angrinste. „Vorsicht, sie steht auf groß und muskulös“, meinte Sasu mit einem Seitenblick zu Katsuya. „Ich bin sicher, solange er neben mir steht, oder?“ Er zeigte auf Seto. „Erwähnte ich jung?“ Sasu schlug ihrer Cousine auf die Hand, damit sie den Arm senkte. „Sie ist irgendwie bei sechzehn stehen geblieben, glaub' ich“ Sie seufzte. „Ihr Sohn ist erwachsener als sie.“ „Sie sehen gar nicht so alt aus“, merkte Seto an. „Hab' ihn mit fünfzehn bekommen“ Kimi wandte sich ihm zu. „Jetzt hat er eine hübsche, knackige Mama.“ „Und einen besseren Modegeschmack als sie hat er noch obendrein. Ich sag' immer, sie soll ihn zum Shoppen mitnehmen, aber sie ist eingeschnappt, weil er eine Kleidergröße kleiner tragen kann als sie“ Sasu grinste. „Nix mit knackig.“ „Doofe Kuh“, murmelte Kimi beleidigt, „er wächst bestimmt noch.“ „Wenn dir der Gedanke Seelenfrieden gibt“ Sasu grinste nur fies. „Das … war mal etwas anderes“, erwähnte Seto, nachdem sie im Auto Platz genommen hatten. „Ich glaube, sie brauchte das Kindischsein“ Katsuya schnallte sich an und lehnte sich zurück. „Sasus Persönlichkeit Bull hat ihren Vater mit einem Baseballschläger umgebracht. Er hat sie wohl beide als Kinder … ich kann mir vorstellen, dass allein die Erinnerung reiner Horror ist. Das hat sie uns in der Gruppe erzählt.“ „Kein Wunder, dass die anderen Frauen verstört waren“ Seto seufzte und parkte den Wagen aus. „Heißt, ihr Sohn kommt aus der Vergewaltigung durch ihren Vater?“ „Wie?“ Katsuyas Kopf schnellte zur Seite. „Du meinst … oh.“ „Es braucht eine gewisse Kraft, um einen ausgewachsenen Mann zu erschlagen. Und Sasu und ihre Cousine sind ungefähr gleich alt. Wenn sie mit fünfzehn ein Kind bekommen hat, ist das der naheliegendste Schluss.“ „Bei allen Göttern“ Katsuya legte die Arme um sich. Wie hatte sie … wie konnte sie … warum hatte sie das Kind nicht abgetrieben? Mit vierzehn oder fünfzehn, schwanger von ihrem leiblichen Vater, der sie vergewaltigt hatte … allein die Vorstellung. Und die zwei Mädchen hatten alleine dieses Kind groß gezogen? Eine mit DID, die andere … scheiße. Kein Wunder, dass Kimi tough wie sonst was war. Nach so etwas war man entweder kaputt oder verdammt gut drauf. Sie musste Nerven aus Stahl haben oder so etwas. Na ja, zumindest musste ihr Junge keine Angst davor haben, seiner Mutter zu gestehen, dass er schwul war. Wenn er es war. Aber Sasu hatte von Freundin geredet. Gab es heterosexuelle Kerle, die gerne Frauenklamotten anzogen? Allein die Vorstellung, dass das größte Problem zwischen Mutter und Sohn Eifersucht auf die Kleidergröße war … ganz ehrlich, er hätte seine Familie mit Ausnahme seiner Schwester jederzeit gegen Kimi und Sasu eingetauscht. Völlig egal, ob man ihn dann für den Sohn von minderjährigen, kriminellen Lesben gehalten hätte. Die zwei wirkten so, als könnten sie den Hass der ganzen Welt mit Liebe wettmachen. Und das klärte die Frage, warum Kimi trotz des sicherlich extremen Drucks ihrer Umwelt ihr Kind nicht abgetrieben hatte. Sie liebte ihren Sohn abgöttisch, das merkte man. Katsuya schluckte. Wie auch schon vorhin half das nicht, um die Tränen unten zu behalten. Sie liefen einfach so seine Wangen hinab. Und da sollte sie nochmal sagen, dass sie kaum Gefühle hatte. „Hey“ Seto legte eine Hand auf Katsuyas Schulter, auch wenn er natürlich weiter auf die Straße sah. „Was ist?“ „Ich“ Katsuya zog ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. „Ich wünschte, ich hätte so eine Mama wie Kimi gehabt. Sie hätte bestimmt einen riesigen Haufen Fehler gemacht, aber sie hätte mich zumindest lieb gehabt. Ich glaube, meiner Mutter war ich schlichtweg egal.“ „Das warst du nicht“ Seto klang vollkommen überzeugt. „Das bist du nicht“ Er musste die Hand wieder ans Steuer nehmen. Katsuya vermisste die Wärme sofort. „Du und auch Shizuka, aus euch sind tolle Menschen geworden. Dafür muss ein Grundstein in eurer Kindheit gelegt worden sein. Zumindest die ersten paar Jahre, auch wenn du dich daran wahrscheinlich nicht erinnerst, muss sie dich geliebt haben. Und Liebe vergisst man nie. Man kann sie höchstens verdrängen und im Hass ertränken.“ „Heute stehe ich fraglos auf ihrer Hassliste“ Katsuya wandte den Blick aus dem Fenster. „Und das heißt, sie liebt dich auch. Wie Kimi gesagt hat, man kann nicht lieben ohne zu hassen und auch nicht hassen, ohne zu lieben. Jedes starke Gefühl ist aus positiven und negativen Teilen zusammen gesetzt“ Seto atmete tief durch. „Meine Mutter … ich bin sicher, dass sie mich geliebt hat. Sonst gäbe es Klein-Seto nicht. Und Imalia wäre auch nicht so eine starke Persönlichkeit, wenn ich nicht zumindest eine Vorstellung davon gehabt hätte, was sein kann. Auch wenn eben diese Mutter Dinge getan hat, die Ikar und vermutlich auch Angst geschaffen haben.“ „Aber warum hat sie mich dann aufgegeben?“ Katsuya blinzelte und atmete durch den Mund, um die Tränen zu kontrollieren. „Warum hat sie den Deal gemacht, dass mein Vater mich kriegt, wenn er sie in Ruhe lässt? Sie hat mich für ihre eigene Haut verkauft.“ „Das tut dir sehr viel mehr weh als alles, was dein Vater je getan hat, oder?“, fragte Seto ruhig nach. Katsuya nickte nur. Sein Vater machte ihm Angst. Der Gedanke an ihn erinnerte an die Schmerzen. Aber sein Vater hatte praktisch nie sein Herz verletzt. Das hatte Katsuya ihm nie gegeben. Für seinen Vater hatte er weder Hass noch Liebe übrig, allerhöchstens Mitleid, denn der Kerl war ein Wrack. Wahrscheinlich war er mittlerweile sogar tot. Und es interessierte Katsuya nicht einmal. Seine Mutter hingegen … das war über zehn Jahre her, aber es brannte und schmerzte und zog fürchterlich. Seto hatte recht. Sie musste ihn einmal geliebt haben, sonst würde er nicht so viel für sie empfinden. Hätte sie ihn nicht geliebt, täte es ihm heute nicht weh, was sie alles getan hatte. „Ich weiß es nicht, warum sie das getan hat“ Seto warf einen schnellen Blick aus dem Augenwinkel zu ihm. „Aber ich habe ihre Adresse, falls du sie fragen willst.“ Ein kalter Schauer lief über Katsuyas Rücken. Ihre Adresse. Sie sehen. Sie fragen! Er wandte sich zu Seto: „Sie würde mir weh tun.“ „Das wird sie. Und sie wird dir wahrscheinlich nicht antworten. Und falls doch, wird sie wahrscheinlich lügen“ Die blauen Augen richteten sich erneut auf ihn. „Andererseits quält dich die Frage. Deine Mutter ist zumindest am Leben, sodass du sie fragen kannst.“ Katsuya schluckte. Seto hatte bestimmt ähnliche Gedanken zu seiner eigenen Mutter, wenn sie ihn gequält und geliebt hatte. Warum sie ihm unaussprechliche Dinge angetan hatte, warum sie sich umgebracht hatte … Seto musste auf ewig mit den Fragen leben. Katsuya hatte zumindest eine Chance, Antworten zu kriegen. Er sollte darüber nachdenken. 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