Delusive Society von Gepo (Dritter Teil der DS-Reihe) ================================================================================ Kapitel 92: Die Gruppe ---------------------- Selbsthilfegruppen sind cool - kleine Werbung am Rande. Auch wenn sie oft wie ein sinnlos zusammengewürfelter Haufen ohne Regeln aussehen :) Viel Spaß beim Lesen! ________________________________________________________________________________________________ „Bist du sicher, dass es hier ist?“ Katsuya sah etwas überrascht zu dem Haus, auf das Seto gezeigt hatte. Sie standen vor einem herunter gekommenen Altbau, der etwas neue Farbe sicherlich verdient hätte. Ach, wen belog er? Eine komplett neue Fassade wäre eher der richtige Ausdruck. Oder ein komplett neues Haus in einer anderen Gegend. Sie befanden sich gefährlich nah am Stadtrand für Katsuyas Geschmack. Er legte seine Hand in Setos. „Tja, ehrenamtliche Vereine haben nunmal kein Geld“ Seto zuckte mit den Schultern. „Sollen wir wieder fahren?“ Katsuya schüttelte nur wortlos den Kopf und machte einen Schritt nach vorne, um weiter auf das Gebäude zuzugehen. Er konnte selbst kaum fassen, wie viel Mut dieser Schritt ihm abverlangte. Es war nur ein Treffen, nicht wahr? Er warf einen Blick zu Seto, welcher stoisch geradeaus sah. Hier zu sein, das hieß anzuerkennen, dass es ein Problem gab. Dass Setos Krankheit ein Problem war, das ihn belastete. Dass er Hilfe brauchte, um Seto auf Dauer auszuhalten. Es war kein sehr beruhigender Gedanke. Aber Seto war es wert, da war er sicher. Und wenn er hier Hilfe finden konnte, sollte er besser seinen Stolz schlucken und sie annehmen. Sie gingen eine halb vergrünte, etwas morsch klingende Holztreppe hinauf. Nach einem wortlosen Blickwechsel drückte Katsuya die wenig standhafte Tür auf. Der sich dahinter erstreckende Flur wurde von einer an Drähten aus der Decke hängenden Lampe beleuchtet und war so schmal, dass man darauf achten musste, nicht im Vorbeigehen die an der Wand hängenden Broschüren runter zu reißen. „Das Selbsthilfezentrum ist im ersten Stock“, informierte Seto ihn leise. „Hier bist du wirklich schonmal hingegangen?“ Katsuya hob ungläubig eine Augenbraue. „Mein Psychiater hat mich überredet“ Während er sprach, las Seto die Vorderseiten der Broschüren, aber schlug keine auf. „Tja … dann lass uns hoch gehen“ Katsuya zog mehr symbolisch an Setos Hand und ging voraus. So schlimm würde es schon nicht werden. Vielleicht war es oben ja hübscher. „Katsuya?“ Seto blieb mitten auf der Treppe stehen, sodass der Blonde sich zu ihm umdrehte. „Bist du sicher … nein, schon gut. Lass uns gehen.“ „Bin ich sicher?“, bohrte er nach. „Nein, ehrlich. Lass uns hoch gehen.“ „Seto?“ Dieser sah halb genervt, halb bittend auf. Katsuya seufzte nur und ging weiter. Seto war groß, der würde schon etwas sagen, wenn ihm wirklich etwas auf dem Herzen lag. Nicht so wie andere Gestalten in seinem Körper. In der ersten Etage befand sich eine Tür, die aussah wie der Eingang zu einer Wohnung. Ein improvisiertes Schild in Form eines A4-Blattes bestätigte, dass es sich hier wirklich um das Selbsthilfezentrum handelte. Katsuya seufzte nur und trat ein. Drinnen formten seine Lippen jedoch ein überraschtes O. Die Beleuchtung war gut. Die Wände waren bunt bemalt. Und der Boden war aus echtem Parkett gemacht. Es war … angenehm. Ja, doch, angenehm. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. Vom Flur gingen fünf Türen ab, die alle – bis auf die am Ende des Ganges – offen standen. Die erste rechts führte in eine Küche, wo eine Frau gerade Tee zu kochen schien. Links ging es in einen Raum mit einem Stuhlkreis. Die zwei anderen Türen schienen zu weiteren Räumen zu führen – aus einem davon war Kinderlachen zu hören. „Ähm … hallo?“, fragte Katsuya vorsichtig in Richtung Küche. „Huh?“ Die Dame drehte sich um und lächelte. „Oh, guten Tag. Kommen Sie herein.“ Er erwiderte das Lächeln und zog Seto hinter sich her in die Küche. Dieser blieb allerdings an der Tür stehen, während Katsuya die Frau begrüßte und ließ sich von seinem Freund vorstellen. Frau Aurora – und war das nicht mal ein schöner Name? – bat ihnen Tee an, den Katsuya gern annahm. „Ist das Ihr erstes Mal bei uns?“, fragte sie ihn. „Ähm, ja, ich war noch nie hier“ Er zeigte Richtung Flur. „Es ist hübsch hier. Das hatte ich bei der Fassade gar nicht erwartet.“ „Die Wohnung ist alt“ Sie lächelte und pustete ihren Tee. „Früher war das hier eine angesehene Gegend. Sie ist in den letzten zwanzig Jahren leider immer schlechter geworden.“ „Leben Sie hier?“ Er lehnte sich gegen die Spüle. Auch, wenn die Wohnung alt war, sie war immer noch eher klein. „Nein, wir leben auf dem Land. Nene, meine Schwester, und ich. Sie ist drüben im Spielzimmer“ Sie wies grob in die Richtung, aus der hin und wieder ein kindliches Lachen kam. „Sind Sie hier für die DID-Gruppe?“ „Ja“ Katsuya warf einen Blick zu Seto, der noch immer bei der Küchentür stand. „Möchtest du Nene kennen lernen, Seto?“ Dieser schwieg nur und verschränkte die Arme. Katsuya seufzte leise und wandte sich wieder zu Frau Aurora. „Ich nehme an, Ihre Schwester hat DID?“ Sie nickte nur und fixierte ihren Tee. Eine Sekunde des Schweigens verging, bevor sie sprach: „Sie war immer für mich da. Sie hat alles ganz allein eingesteckt, damit mir nichts passierte. Sie … es hat sie zwar krank gemacht, aber sie ist meine große Heldin. Jetzt bin ich für sie da, während sie heilt.“ Katsuya schluckte. Durfte er nachfragen? Sollte er nachfragen? Was war angemessen? Oder sollte er selbst etwas erzählen? Durfte er überhaupt von Seto erzählen? Dieser löste sein Dilemma, indem er sagte: „Ich gehe sie kennen lernen.“ Katsuya lächelte Seto an, der in den Flur trat und nach zwei Schritten nicht mehr zu sehen war. Er traute sich also doch. Hoffentlich würde ein kleines Kind im Körper einer sicherlich vierzigjährigen Frau ihn nicht schocken. „Ist er Ihr Bruder?“, fragte Frau Aurora. „Äh … nein. Mein Verlobter“ Er beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie sah ihn mit einer Mischung aus Schock und Überraschung an. „Ist das problematisch?“ „Wie? Nein, nein. Ich bin nur … ich kenne keinen einzigen DID-Patienten in einer festen Beziehung. Viele, die mal verheiratet waren oder gerade in der Scheidung stecken, aber niemanden, der noch aktuell mit jemandem zusammen ist. Das freut mich sehr. Wie schaffen Sie das?“ Er seufzte und schloss die Lider. Danke. Das beantwortete alle Fragen. Katsuya las gerade Regel Nummer siebzehn, als Frau Aurora alle bat, sich zu setzen. Mittlerweile hatten sich noch drei weitere Frauen eingefunden, alle im Alter zwischen zwanzig und vierzig. Ein paar andere hatte er gegrüßt, aber sie waren ins Spielzimmer weiter gegangen. Anscheinend war das der Treffpunkt für die DID-Kranken. Nach der sechsten Frau hatte es ihn sehr beruhigt, auch einen Mann zu sehen – anscheinend waren bei dieser Krankheit Frauen in der Überzahl. Oder Männer gingen einfach nicht zu Selbsthilfegruppen. Er setzte sich neben Frau Aurora und klammerte sich an seinen Becher Tee. Wenn er sie vorhin richtig verstanden hatte, waren das hier demnach alles Verwandte oder Bekannte von DID-Kranken. Und alle schienen sich gut zu kennen. Zwei Damen tauschten sich über ihre Kinder aus, während Frau Aurora hin und wieder eine Frage einwarf. Die letzte Damen kam gerade aus der Küche und setzte sich mit ihrem Becher in der Hand. „Guten Abend, meine Lieben“ Frau Aurora lächelte allen zu. „Ich eröffne hiermit unsere Sitzung für eröffnet. Wir ihr sehen könnt, haben wir ein neues Mitglied: Katsuya Kaiba.“ Die drei Frauen applaudierten lächelnd. „Ich werde eine Redeliste führen. Wer etwas sagen möchte, melde sich einfach, bitte“ Frau Aurora sah lächelnd zu Katsuya. „Wir beginnen unsere Sitzung normalerweise damit, dass jeder von seiner letzten Woche erzählt. Sie können natürlich gern mehr erzählen, wenn Sie möchten, aber Sie müssen nicht. Sie können auch nichts sagen und einfach nur zuhören. Das ist alles in Ordnung, ja?“ „Sicher“ Katsuya nickte. „Ähm … würde es Ihnen etwas ausmachen, mich zu duzen? Ich fühle mich nicht alt genug, um gesiezt zu werden.“ „Natürlich“ Frau Aurora nickte. „Was meint Ihr, wollen wir alle zu Vornamen wechseln?“ Zwei der Frauen nickten sofort, die Dritte zeigte überhaupt nicht, was sie davon hielt. „Mein Name ist Leyla“, stellte sie sich erneut vor, „und die anderen heißen Kimi, Tomoko und Misa.“ „Es freut mich, Sie kennen zu lernen“ Katsuya deutete eine Verbeugung an. „Ich bin Katsuya.“ Die Jüngste der drei – Misa – winkte ihm zu und lächelte. Die anderen beiden nickten nur. „Möchte jemand anfangen?“ Tomoko, eine etwas ältere Dame mit rabenschwarzem Haar und strenger Miene, hob eine Hand und begann kurz darauf zu sprechen: „Die letzte Woche war schlecht. Hayato“ - sie sah kurz zu Katsuya - „er ist mein Ex-Mann und nun ein guter Freund. Eine seiner Persönlichkeiten hat sich betrunken und eine andere ist Auto gefahren. Er ist anscheinend recht ordentlich gefahren, allerdings trug er nur Unterwäsche. Als die Polizei ihn anhielt, wechselte er in eine aggressive Persönlichkeit und griff einen Polizisten an. Der andere schoss auf ihn, um ihn aufzuhalten. Zum Glück wurde nur sein Arm getroffen, er wurde am Montag operiert und wird wohl bald wieder genesen.“ Ihre Stimme hielt kaum Emotion, aber Tränen schwammen in ihren Augen. Katsuya schluckte. Bis auf den Unterwäschepart hätte Seto das auch passieren können. Er sah in die Runde. Keine der Damen schien etwas sagen zu wollen. Allerdings schien auch keine von ihnen ansatzweise geschockt oder überrascht. „Meine Woche war anstrengend“, sprach Misa, als ihre Sitznachbarin einige Sekunden nichts gesagt hatte, „Eri hat sich ja vor zwei Wochen die Pulsadern aufgeschnitten. Gestern war ihr erster Tag zurück in ihrer eigenen Wohnung. Das war … also, das ist das erste Mal, dass ich das so miterlebt habe. Sie ist in Tränen ausgebrochen, als sie ihre Katze gesehen hat. Sie hat sich minutenlang bei ihr entschuldigt. Dass sie sie allein gelassen hat und dass sie gar nicht an sie gedacht hat, als sie so verzweifelt war. Dass sie die Katze ganz allein gelassen hätte, wenn sie gestorben wäre. Mir hat sie nur gedankt, dass ich die Katze gefüttert habe, während sie nicht da war. Das war … ich habe echt geschluckt. Ich wollte sie am liebsten anschreien, dass es mich auch verletzt hätte, wenn sie gestorben wäre. Aber ich habe einfach gar nichts gesagt.“ Sie wandte sich lächelnd zu Katsuya. Anscheinend war er dran. „Ähm … ja. Hallo allerseits. Ähm … mein Verlobter hat DID. Das weiß ich seit gestern. Ich habe vorher schon vier seiner Persönlichkeiten kennen gelernt, aber … ich habe nicht so wirklich Ahnung von der Krankheit. Also, ich hatte keine. Bis gestern. Da wurde mir das alles erklärt. Ähm … ich bin derzeit noch ein bisschen durcheinander und überfordert. Der Gedanke an die Zukunft macht mir Angst. Aber ich hoffe, dass es ihm irgendwann gut gehen wird. Wie auch immer gut dann bei ihm aussieht.“ „Oh“ Misa zog den Kopf ein. „Dann waren unsere zwei Geschichten sicher nicht aufbauend.“ „Bitte keine Unterbrechungen“ Leyla nickte bedeutungsvoll. „Ich war fertig“, erwiderte Katsuya schnell. „Gut“ Sie nickte Katsuya lächelnd zu. „Vielleicht können wir dir nachher ein paar Fragen beantworten, wenn du welche hast“ Sie sah in die Runde. „Oh, ich bin dran. Nun … meine Woche war auch anstrengend, aber nicht wegen Nene. Unsere Heizung ist ausgefallen und wir hatten mehrere Tage Handwerker da. Nene ist die meiste Zeit reiten gegangen. Es war nicht so stressig, wie ich befürchtet habe.“ Reiten? Erst eine Katze, jetzt Pferde … vielleicht sollte er Seto einen echten Teddybären schenken. Vielleicht einen kleinen Schwarzbär. Die Frau mit dem Cockerspaniel würde Augen machen, wenn er mit einem Bären Gassi ging. „Bei mir ist nichts passiert“ Kimi lächelte freundlich. „Meine Cousine ist regelmäßig zu ihrer Therapie gegangen. Keine Katastrophen.“ Alle anderen lächelten. Diesmal stand amüsierte Überraschung auf allen Gesichtern. Anscheinend stimmte es, dass das Leben mit DID-Patienten nie langweilig wurde. Schießereien überraschten sie nicht, aber eine Woche Ruhe schon? Dagegen war Seto handzahm. „Wunderbar“ Leyla lächelte. „Gibt es Fragen oder Wünsche für den heutigen Abend?“ Tomoko und Misa zeigten beide auf, sodass sie der Älteren das Wort gab, die sagte: „Wegen Hayato … das ist ja nun nicht das erste Mal, dass so etwas vorgefallen ist. Nun, dass es zu einer Schießerei kam, ist neu, aber dass sich jemand betrinkt oder dass jemand Auto fährt, der es nicht sollte, das … das passiert oft. Ich habe ihn letztes Jahr viermal von der Polizei abgeholt und er befand sich mehrere Wochen in Gefängnis. Sein Therapeut denkt, wir sollten ihn stationär behandeln lassen und hat mich gefragt, was ich davon halte … was denkt ihr?“ Leyla lehnte sich mit einem Seufzen zurück, sodass Kimi das Wort ergriff: „Wenn er eine Gefahr für sich oder andere ist, sollte er in einer Klinik behandelt werden, bis er in der Lage ist, auf sich und andere Acht zu geben.“ „Wenn wir danach gehen, müssen wir alle im Nebenraum einsperren“, merkte Misa an, „Eri versucht jeden Monat, sich umzubringen.“ Tja … Seto hatte einen Selbstmordversuch zu Beginn ihrer Beziehung gehabt. Am Morgen nach ihrer ersten Nacht. Seitdem hatte er nur damit gedroht, aber keinen Versuch mehr gestartet, richtig? Keinen ernsthaften. Alkohol, Tabletten, ein Psychiatrieaufenthalt, aber keinen Suizidversuch. Aber eine Gefahr für andere … das war er. Der Angriff auf Yami, auf Katsuya und eine Menge auf Möbelstücke. Ja, Seto fiel wahrscheinlich unter die Kategorie Selbst- und Fremdgefährdung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)