Delusive Society von Gepo (Dritter Teil der DS-Reihe) ================================================================================ Kapitel 88: Ein kompliziertes Konstrukt --------------------------------------- So, hier ein Schwenker aus Setos Leben. Wie immer mit Flashbackgefahr (das hätte ich zum letzten Kapitel auch sagen sollen, oder?). Aber keine große. Mich würde wundern, wenn der Zufall eintrifft, das jemand etwas ähnliches erlebt hat und auch noch so stark traumatisiert ist, dass diese sehr oberflächliche Beschreibung Flashbacks hervor ruft. Aber besser sicher, was? Ich wünsche viel Spaß beim Lesen! Nächste Woche Montag fliege ich übrigens über den großen Pott und komme erst dienstags an, also kommt das Kapitel einen Tag später. ________________________________________________________________________________________________ Katsuya hielt Ikar sicher in seinem Arm und ließ seinen Gedanken erstmal freien Lauf. So etwas musste schließlich verarbeitet werden. Seto hatte also DID. Er hatte sechs Persönlichkeiten. Die eigentliche Persönlichkeit Seto war ein fünfjähriges Kind. Ein weiteres Kind war Angst, der die Aggressionen und die Verlassensängste trug. Höchstwahrscheinlich die Persönlichkeit mit den meisten Traumata. Und Ikar war im Endeffekt mit fünfzehn auch noch ein Kind. Allerdings war dieser in ihn verliebt und anscheinend stolz auf die Beziehung mit Katsuya. Und er trug auch einige Traumata. Dann war da eine Frau namens Imalia, über die er noch nichts wusste. Und ein Verwalter der Erinnerungen namens Wächter. Und schließlich Seth – Seth, der geschaffen worden war, um mit der Welt umzugehen. Seth, der die Verbindung der anderen fünf mit der Welt darstellte. Der eigentlich ohne Gefühle geschaffen worden war und einfach nur die Gefühle und Bedürfnisse der anderen fünf umsetzte. Bis zu dem schicksalhaften Tag, wo er sich in Katsuya verliebt hatte. Vielleicht war das nicht der richtige Moment, aber Katsuya fand das heillos romantisch. Seths allererstes eigenes Gefühl war Liebe zu Katsuya gewesen. Jetzt mal ehrlich, wenn das kein Liebesbeweis war ... anscheinend hatte Seth ja keine Ahnung von Romantik und hatte sich dafür sogar Tipps bei einem Fünfzehnjährigen geholt, aber mit all diesen neuen Informationen erschien er Katsuya gerade der Inbegriff von Romantik. „Kannst du mir mehr über euch erzählen?“ Yami rückte näher, aber nicht so nah, dass er Katsuya berührte. „Was willst du denn wissen?“ Ikar, der eng an Katsuya gekuschelt lag, schien rundum zufrieden und lächelte. Ihm machte das mit den vielen Persönlichkeiten im Kopf anscheinend nichts aus. Andererseits lebte er schon recht lange mit ihnen, nicht wahr? „Nun ... wann wurden die anderen alle geboren? Und warum?“ „Tja“ Ikars Blick wandte sich zur Decke. „Ich weiß nicht, wie alt der Körper war, als ich geboren wurde. Zeit ist etwas sehr schwer fassbares ... wenn ich messe, wie alt Mokuba war mit welcher Größe, dann waren wir wohl so zwei.“ Katsuya schloss die Lider. Bei allen Göttern. Setos Mutter hatte ihr zweijähriges Kind in die Mülltonne geschmissen, weil es ihr zu laut schrie, wenn sie es in den Schrank sperrte? Dieses Drecksvieh hatte ihren Tod verdient. Seine eigene war ja nicht gerade eine Ausgeburt an Mütterlichkeit gewesen, aber das hier sprengte alle Grenzen. Sein Atem zitterte vor Wut, aber er versuchte, ruhig zu atmen. Ruhig bleiben. Es half niemandem, wenn er wütend wurde. Die Mutter war recht sicher tot. „Seto und Angst gab es da schon. Ich vermute, eins ist die erste Seele und das andere Kind daraus gespalten. Ich weiß aber nicht, wann das war. Das weiß nicht einmal der Wächter. Imalia entstand, als Mutter starb. Weil sich jemand um Mokuba kümmern musste und keiner von uns das konnte. Sie ist toll. Sie ist groß und stark und super lieb“ Ein Grinsen war aus dem Ton heraus zu hören. „Ich habe sie von Anfang an gern gehabt. Wenn sie sich nicht um Mokuba gekümmert hat, hat sie mit den zwei Kleinen gespielt. Und ich bin zur Schule gegangen. Sie kam raus und hat sauber gemacht und gekocht und ist mit Mokuba zum Arzt. Sie ist eine viel bessere Mama als Mutter“ Katsuya spürte Bewegung an seiner Brust, sah hinunter und erblickte einen Schmollmund in Ikars Gesicht. „Nur Seto will das nicht hören. Er hat ja auch keine schlechte Erinnerung an Mutter. Ich sage ihm manchmal, dass sie nicht nett war, aber er sagt, ich lüge. Das ist doof.“ Huh ... schon irgendwie cool, wenn man Mutter und Kind zugleich war. Wenn eine Persönlichkeit raus kam, Essen kochte und dann ein Kind raus kam, um es zu essen. Und es hieß, Seto konnte doch kochen! Also, nun ja, Imalia konnte kochen. Aber Imalia war ein Teil von Gesamt-Seto. Sich so etwas praktisch im Alltag vorzustellen war schon echt schräg. Hatte es das betrunkene Kindermädchen auf der Couch wirklich gegeben? Was musste sie gedacht haben, als ein fünfjähriger Junge ein Neugeborenes durch die Gegend trug und in den Schlaf wiegte? Nur um im nächsten Moment als Frechdachs Randale zu machen? Hatte sie es überhaupt bemerkt? Hatte es ihr irgendwelche Gedanken gemacht? „Größtenteils haben Imalia und ich uns abgewechselt. Ich wollte schnell groß werden. So groß wie sie. Ich hab‘ gebüffelt ohne Ende und sie hat sich um Mokuba gekümmert. Sie wollte immer raus aus dem Waisenhaus, ich wollte erwachsen sein und arbeiten. Wir wollten die Kleinen schützen. Und Mokuba. Und als dann ... nach der Adoption ... da ging alles den Bach runter“ Ikar schluckte und festigte seinen Griff um Katsuya. „Das meiste ist totales Chaos. Andauernd kam Angst raus. Ich weiß nicht, warum. Angst hat immer den ganzen Schmerz genommen. Ich bin so oft wieder raus gekommen und irgendwo hat irgendetwas weh getan. Seto fürchtete sich und verstand das alles nicht. Wir haben ihn zur Sicherheit eingesperrt. Und Mokuba sahen wir nicht mehr. Imalia hat den ganzen Tag geweint. Ich wusste einfach nicht, was ich tun soll ... und dann war der Wächter da. Ganz plötzlich. Er hat sozusagen das Steuer übernommen.“ Das Steuer übernommen? War das der freundliche Ausdruck dafür, dass er Gozaburo Kaiba in den Tod getrieben hatte? Wenn ja, dann war der Wächter eine extrem gefährliche Person. Natürlich war sein Handeln irgendwo verständlich, aber ... gut war es nicht. Selbst, wenn es die einzige Möglichkeit gewesen war. Was war der Wächter wohl für ein Mensch? „Nach dem Mord hat er sich zurück gezogen. Er sagte, er will nie wieder nach draußen. Dass das alles sei, was er für uns tun würde. Er wollte mit uns nichts zu tun haben“ Ikars Stimme zitterte ein wenig, aber es schien, als würde er eine Geschichte erzählen, die er sich schon oft selbst erzählt hatte. Wie gut eingeübt. „Aber die Freiheit ... das war etwas sehr Beängstigendes. Also war Angst draußen. Wenn Angst draußen ist, wissen wir oft nicht, was geschieht. Aber Noah und Mokuba waren verletzt und hatten Angst vor mir, also konnte ich es mir denken. Ich war so froh, Mokuba wieder zu sehen, ich wollte nur mit ihm spielen, aber ... er lief schreiend vor mir weg. Imalia war verzweifelt. Sie braucht ihre Kinder. Angst konnte sie nicht mehr erreichen, es war zu ... kaputt. Seto wollte von der Welt nichts mehr wissen, nachdem wir ihn so lange eingesperrt hatten. Und Mokuba hatte Angst vor ... vor Angst. Ich wachte andauernd wieder im Krankenhaus auf. Angst versuchte, sich umzubringen. Uns umzubringen. Imalia und ich wussten, was in unserem Kopf passiert. Wir versuchten das dem Wächter zu erklären. Das wir alle eins sind und nur überleben, wenn wir zusammen arbeiten. Und irgendwann stimmte er zu. Er ... das ist schwer zu beschreiben. Er schaute in Imalias Kopf und dann in meinen. Er nahm die Erinnerungen und teilte sie mit uns. Setos auch. Nur Angst konnte er nicht erreichen. Er nahm einige Erinnerungen und Gefühle und Eigenschaften und machte daraus eine neue Persönlichkeit namens Seth. Seth bekam ein bisschen von uns allen. Und dann warfen wir ihn raus. Seitdem war er draußen und wir alle waren sicher hinter ihm. Imalia konnte sich wieder um die zwei Kleinen kümmern und ich ... ich hatte endlich Ruhe. Ich wollte nicht mehr groß sein. Ich habe Seth all dieses Großsein gegeben.“ Einen langen Moment herrschte Schweigen. Yami betrachtete Ikar und dieser sah zurück. Der mittlerweile Schwarzhaarige nickte langsam. Das war ein reichlich bescheidenes Leben. Die Misshandlung der Mutter – außer der schlimmsten, die wohl Angst erlebte – dann nur Leistung und Lernen, dann all diese Verwirrung in der Zeit bei dem alten Kaiba und schließlich die noch schlimmere Zeit nach dem Mord. Kein Wunder, dass Ikar nicht mehr gewollte hatte. Der Wächter hatte für alle ihm gestellten Probleme ziemlich effektive Lösungen gefunden, aber ... moralisch war er reichlich fragwürdig. Doch die Erschaffung von Seth war gut gewesen. Für alle. „Tja ... Seth war die ganze Zeit draußen. Bis Seto plötzlich raus wollte. Allein. Keiner hatte das geahnt, er war plötzlich ... plötzlich war er draußen und Seth drinnen bei uns. Seth ist fast durchgedreht. Dafür war er nicht gemacht. Wächter hat ihn schlafen gelegt und ihm die Erinnerungen genommen. Wächter hat ziemlich viel in Seths Erinnerungen manipuliert, damit dieser zwar grob weiß, wer er ist, aber nicht weiß, dass es uns gibt. Er wusste es schon irgendwie, aber ... es war ihm nicht wirklich bewusst. Wächter hat immer wieder Erinnerungen gesperrt oder ihm Gedanken entzogen. Seth musste stabil sein. Und Wächter hielt ihn die vielen Jahre stabil“ Ikar seufzte. „Wächter ist gerade ziemlich sauer. Weil Seto sich immer wieder an Seth vorbei mogelt. Und ich mittlerweile auch. Ich bin all das Gemaule und Geschrei Leid. Ich will einfach nur hier sein ... bei Katsuya.“ Und zu Anfang der Heilung drängten sich alle Persönlichkeiten nach vorne und vergaßen, dass sie sich den Körper teilen mussten. Das hatte Yami erzählt. Das hörte sich ziemlich nach dem an, was Ikar da sagte. Er stahl den Körper und Seth konnte nicht arbeiten gehen. Jetzt gerade wieder. So wie Seto heraus gekommen war, wann immer es sicher schien. Der Wächter musste das alles irgendwie organisiert kriegen, dass Seto und Ikar sich nicht an die Regeln hielten. Und irgendwer kontrollierte die ganze Zeit, dass Angst nicht nach vorne stürmte. Das hörte sich nicht gerade sehr harmonisch an. „Danke, Ikar“ Yami nickte entschieden. „Ich denke, jetzt verstehe ich, was da in dir vorgeht. Hast du alle um Erlaubnis gefragt, uns das zu erzählen?“ „Wächter hat ja gesagt. Und Wächter entscheidet“ Ikar schloss die Lider und machte es sich auf Katsuya bequem. „Er befiehlt, ich soll wieder rein kommen. Bis bald, Katsuya.“ „Bis bald“, murmelte Katsuya leise. Mehr aus Gewohnheit als aus klarer Antwort. Ikar ging? In den Kopf? Und heraus kam ... ah. Der Brünette richtete sich auf und sah zwischen Yami und Katsuya mit kalkulierendem Blick hin und her. „Seth?“, fragte Katsuya nach, obwohl er recht sicher war. „Ich ... ja“ Er seufzte und setzte sich auf. Katsuya tat es ihm nach. „Kannst du mich weiter Seto nennen? Ich gehöre nicht zu diesem Kabinett von … Verschwörern. Ich bin einfach nur ... da. Und ich kann mich nur daran erinnern, wie man mich Seto nennt. Dieser andere Name ist mir fremd.“ „Sicher“ Katsuya rutschte heran und setzte einen Kuss auf Setos Wange. „Wollen wir nach Hause fahren?“ Seto nickte nur und sah zu Yami. Beide sahen sich einen Moment lang an, sagten aber kein Wort. Zur Abwechslung schien Yami mal ziemlich sprachlos. Was sollte er auch sagen? Tut mir Leid für dich? Da schien irgendwie überhaupt nichts angemessen. Seth war ein Konstrukt. Das hatte er vorher geahnt, jetzt wusste er es sicher. Er hatte DID. Dafür galt dasselbe. „Kann ich etwas für dich tun?“, fragte Yami schließlich. „Keine Ahnung“ Seth schnaubte. „Wer weiß schon, ob es mein eigenes Bedürfnis ist.“ Bei allen Göttern ... Katsuya schluckte. So viel Bitterkeit. Was sollte er bloß tun? Er schwang ein Bein über Setos, setzte sich auf seinen Schoß und sagte: „Wir wissen auf jeden Fall, dass du mich liebst. Also kann ich etwas tun, was auf jeden Fall dein Bedürfnis betrifft.“ Er lehnte sich vor und küsste Seth. Seto. Die Persönlichkeit, mit der er verlobt war. Zumindest würde es wohl nicht mehr komplizierter werden. Sie schienen anscheinend nun den Boden erreicht zu haben. Katsuya löste den Kuss und legte seinen Kopf auf Setos Schulter. Seths Schulter. Egal. Er wusste nicht, ob er Seth hielt oder Seth ihn, aber auf jeden Fall hielten sie sich gegenseitig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)