Delusive Society von Gepo (Dritter Teil der DS-Reihe) ================================================================================ Kapitel 87: Ikar ---------------- *Trommelwirbel* Ich präsentiere... *Crescendo der Trommeln* ...die Auflösung! *absolute Stille* Viel Spaß beim Lesen ^.- WARNUNG: Kein gut verdaulicher Inhalt! ________________________________________________________________________________________________ Nach einer weiteren halben Stunde Gespräch klingelte es an der Tür. Yami und Katsuya warfen sich ein Lächeln zu, erhoben sich gleichzeitig und schlenderten in den Flur. Der Blonde lehnte sich leger gegen einen Kistenstapel, während Yami öffnete. „Guten Abend“ Mit dem Ansatz eines Lächelns trat Seto, nun ja, Seth hinein, bevor dieses plötzlich in ein breites Grinsen umschlug und zwei Arme von beiden Seiten auf den Jüngeren zuflogen. „Katsuya!“ „Hi, Seto“ Der Jugendliche. Wie auch immer sein Name war. Katsuya legte seine Arme ebenfalls um ihn und drückte einmal, bevor er sich löste. „Zieh erstmal die Schuhe aus.“ „Wir gehen nicht nach Hause?“ Die Enttäuschung und ein Hauch von Vorwurf waren klar aus der Stimme zu hören. Vom Ausdruck her fehlten Seto eigentlich nur Häschenohren, von denen eins auf Halbmast hing. „Gemach, gemach“ Katsuya packte dessen Oberarme und massierte sie. „Zieh die Schuhe aus, wir setzen uns ins Wohnzimmer und trinken etwas. Magst du Orangensaft?“ „Na gut“ Sein Gegenüber klang eine Spur beleidigt, trat allerdings aus seinen Schuhen – wortwörtlich, er trat mit einem Fuß hinten auf die Sohle und zog den Fuß heraus, als würde er einfache Turnschuhe und keine Designer-Anzug-Schuhe tragen. Ganz klar der jugendliche Seto. Yami währenddessen holte Getränke für alle und trug sie an ihnen vorbei ins Wohnzimmer. Katsuya folgte mit Seto, nachdem dieser auch seinen Mantel ausgezogen hatte. Jeans mit schwarzem Anzughemd. Katsuya erwischte sich bei dem Gedanken, einen Abstecher zum Schlafzimmer einzubauen. Mit einem leisen Seufzen zog er seinen Freund stattdessen auf die Couch, wo dieser die Arme um ihn legte und sein Haupt auf seine Schulter bettete. Katsuya fühlte sich wie ein ziemlicher Pascha, als er sich zurücklehnte. „Kennst du mich überhaupt?“, fragte Yami ihn, der sich in einem Meter Entfernung nieder ließ. „Klar, ich habe gegen dich Magic&Wizards gespielt. Du bist einer der wenigen, der mich geschlagen hat“ Seto grinste. „Ach, du warst das? Du hast ein ziemlich gutes Pokerface.“ „Das habe ich Se-“ Er stoppte plötzlich. „Das war ... das habe ich geübt.“ „Das war Seth?“, vervollständigte Yami das, „Keine Sorge, ich weiß schon von euch.“ „Weißt du?“ Seto sah mit fast panisch geweiteten Lidern zu Katsuya auf. „Aber wer ... wie ... es ist doch verboten, das Geheimnis zu verraten!“ „Keine Angst, keiner von uns ist böse auf dich“ War das das richtige? Katsuya hielt Seto fest in seinem Arm und versuchte Ruhe in seine Stimme zu legen. „Keiner hat etwas verraten. Wir wissen es, weil wir dich gut kennen.“ „Oh“ Der Brünette blinzelte langsam und nickte schließlich. „Dann ist das okay ... oder?“ „Mit uns beiden kannst du frei sprechen“, versicherte Katsuya ihm und schwieg einen Moment, „Magst du mir jetzt vielleicht deinen richtigen Namen sagen?“ „Darf ich?“ Obwohl Seto ihn ansah, schien er ihn doch nicht zu fixieren. Genau genommen hatte Katsuya nicht einmal das Gefühl, dass die Frage an ihn gerichtet war. Nach einem Moment verengten sich Setos Pupillen und er schien ihn wieder anzusehen. „Mein Name ist Ikar.“ Einen Moment lang wurde Katsuyas Mund staubtrocken. Er versuchte zu schlucken, aber irgendwie schien keine Spucke dafür da zu sein. Er drückte Seto an sich, ein Arm um seine Brust, einer um seinen Kopf, sodass er ihm nicht mehr in die blaugrauen Augen sah. Es stimmte also. Seto hatte DID. Damit war es bewiesen. Er atmete tief durch. Mit der Hand an Setos Kopf kraulte er das braune Haar, das er einen Moment betrachtete, bevor er mit etwas brüchiger Stimme sagte: „Ikar also. Hat der Name eine Bedeutung?“ „Er stammt von Ikarus“ Seto drückte sich gegen die Hand, um wieder aufzusehen. Er grinste breit. „Kennst du die Legende?“ Katsuya schüttelte den Kopf. „Ikarus war mit seinem Vater auf eine Insel verbannt worden, aber sie wollten zurück aufs Festland. Sie waren jedoch verflucht, sodass Schwimmen und Schifffahrt unmöglich war. Ikarus fasste also den Plan, ans Festland zu fliegen. Er bastelte und probierte und irgendwann schaffte er es, echte Flügel zu bauen. Und damit flog er Richtung Festland“ Seto zog beide Arme zu sich, legte sie auf Katsuyas Brust und den Kopf darauf. „Allerdings hatte er als Klebestoff für die Federn Wachs und Honig benutzt. Da er der Sonne beim Fliegen zu nahe kam, schmolzen die Flügel und er stürzte in den Tod.“ Katsuya blinzelte. Das klang ... nicht wirklich erbauend. Was sagte man denn auf so etwas? „Hast du dir den Namen ausgesucht?“, fragte Yami als Rettung. „Ne, den hat Seto mir gegeben“ Ikar lächelte. „Ich bin ein Sonnenfanatiker. Ich mag es nicht, wenn es dunkel ist.“ „Wegen der Kellerräume?“, platzte es aus Katsuya hervor, bevor er sich stoppen konnte. Idiot! Das war ein echt schweres Trauma für Seto! Wie konnte er das einfach so in den Raum schmeißen? Wie nicht unerwartet verschwand Ikars Lächeln sofort. Er senkte den Blick und murmelte: „Zum Beispiel ... ich ... ich war immer draußen, wenn wir irgendwo eingesperrt wurden ... das war immer meine Aufgabe.“ „Ist dir das Licht hell genug?“, fragte Yami mit sanfter Stimme nach. Der Raum lag nämlich im Halbdunkeln, da das Wohnzimmer gedimmt war. „Passt schon“ Mit einem Lächeln griff Ikar eine von Katsuyas blonden Strähnen. „Meine Sonne ist doch hier.“ Sonne ... so hatte ihn Seth auch mal genannt. Waren Ikar und er wirklich verschiedene Personen? Wie kam es, dass Ikar seinen Namen genau kannte, Seth aber nicht? Warum war Seth nicht klar gewesen, dass er DID hat, obwohl er anscheinend drei weitere Persönlichkeiten kannte? Er hatte Erinnerungen an die Kartenspiele und die Einsperrungen bei Gozaburo. Er hatte anscheinend schon vor dreizehn Jahren mit Ikar zusammen agiert. Wie konnte er nicht bemerkt haben, dass da mehrere waren? „Weißt du, wann du geboren wurdest?“, fragte Yami den Brünetten. Das Lächeln verschwand wieder. Ikar nickte nur, den Blick fixiert auf Yami. Seine Augen schienen zu bitten, dass dieser nicht weiter nachfrage. Yami erwiderte den Blick stumm. Nach einem Moment seufzte Ikar und sagte sehr leise: „Sehr früh. Wenn die Mutter uns nicht mehr haben wollte, sperrte sie uns in einen Schrank. Aber unser Geschrei war ihr zu laut. Also sperrte sie uns in die Mülltonne hinter dem Haus. Das erste Mal in dieser Mülltonne ... es war so unsäglich heiß. Es stank bestialisch. Es ist dunkel, fast völlig dunkel. Da ist ein Spalt oben, ein ganz kleiner Lichtschein. Er wird immer schwächer. Die Hände verschwimmen vor den Augen. Und es ist dunkel. Es ist so dunkel.“ Ikars Atem ging immer schneller, plötzlich stieß er einen Schrei aus, fuhr auf. Er schlang die Arme um sich. Er hockte auf seinen Fersen, atmete rasend, wippte vor und zurück. Er schrie: „Ich kann nichts sehen! Ich kann nichts sehen!“ „Halt ihn fest und rede!“, befahl Yami und sprang auf. Mit wenigen Schritten war er am Dimmer und drehte auf. Katsuya währenddessen packte Ikar an den Schultern. Was sollte er denn sagen? „Ruhig ... ganz ruhig ... du bist in Sicherheit. Hier ist keine Mülltonne. Du bist in einem hellen Wohnzimmer“ Yami setzte sich wieder neben ihn. „Hier ist überall Licht. Du kannst es auch sehen. Du musst nur die Augen aufmachen. Hier ist ganz viel Platz und Licht. Vertrau mir.“ Ikar blinzelte kurz auf, sofort wieder zu. Er atmete tief ein. Die Lider öffneten sich einen Spalt. Ganz vorsichtig blickte er auf, sah sich um. Es schien, als würde er den Raum zum ersten Mal sehen. Nach fast einer halben Minute kam sein Blick auf dem schweigenden Katsuya zu liegen. Mit einem breiten Lächeln meinte er plötzlich: „Stimmt.“ Katsuya konnte das kurze Lachen nicht unterdrücken. Oh Hilfe ... der war echt zu gut. Seth war nach seinen Flashbacks geschafft, Seto kuschelig. Ikar hingegen schien einfach nur froh, dass es vorbei war. Lächelnd kroch er wieder näher und legte sich zurück auf Katsuyas Brust. Seine Welt schien in Ordnung, solange er an Katsuya hängen konnte. Kein Wunder, dass er sich gerade Hals über Kopf in Ikar verliebte. „Du bist jetzt sicher“, murmelte Katsuya noch mal und küsste ihn auf den Kopf, „Verrätst du mir als nächstes, wie alt du bist?“ „Fünfzehn.“ Ups. Katsuya schluckte. Fünfzehn? War das nicht irgendwie ... im Endeffekt war Ikar minderjährig. Nicht körperlich, aber geistig. Wahrscheinlich war das letzte Woche effektiv sein erstes Mal gewesen. Kein Wunder, dass er unsicher und schüchtern war. Andererseits hatte er als Frechdachs schon Schwester Martha geärgert, das war einige Wochen mehr her und hatte immer auf gewisse Ereignisse gefolgt. „Hast du Schwester Martha geärgert?“ Ikar grinste nur breit. Seto hatte verdammt schöne Zähne. Wie konnten die so weiß sein, obwohl er rauchte? Bleichte er die? Nun ja, auf jeden Fall schien er der Frechdachs zu sein. „Das war mit Seth zusammen. Ich tauche fast immer nur mit Seth zusammen auf. Jetzt, wo ich ... nicht mehr eingesperrt werde“ Ikar atmete tief durch. „Als du anfingst mit Romantik, kam der ziemlich ins Rudern. Er hat sich Beziehungstipps bei mir geholt, kannst du dir das vorstellen?“ Katsuya prustete los. Selbst Yami biss sich auf die Unterlippe und wandte den Blick ab. Oh Hilfe, die Vorstellung war gut ... der große, unnahbare Seth, der Beziehungstipps bei einem Fünfzehnjährigen holte. Na klasse. „Viele von uns haben Angst gehabt, als er Gefühle für dich entwickelte“ Ikar legte den Kopf seitlich auf Katsuyas Brust, sodass er ihm nicht mehr in die Augen sehen konnte. „Wir dachten immer, er hat keine Gefühle. Er ist doch nur unser Gefäß. Unsere Verbindung zur Außenwelt. Wir haben ihm immer Gefühle geschickt, die er dann umsetzen sollte. Er war wie eine Leinwand, die wir bemalt haben. Dass er plötzlich selbstständig wurde ... das hat uns sehr verängstigt. Alle dachten, es seien meine Gefühle. Sie haben mich beschimpft ... alle waren böse auf mich.“ „Wer sind denn alle?“, fragte Yami vorsichtig nach. Ikars Blick legte sich auf ihn und wieder schwieg er einige Momente. Sein Blick defokussierte und fokussierte erneut. Vielleicht sah es so aus, wenn er sich mit allen anderen beriet. Er antwortete mit einigen Sekunden Versatz: „Seth, unser Gefäß. Seto, Mutters Liebling. Angst. Es heißt einfach nur Angst. Ein ziemlich verstörtes Kind. Imalia, unsere Pflegemutter. Und der Wächter, der die Erinnerungen verwaltet“ – er atmete tief durch – „Angst schreit immer. Angst ist immer wegen irgendetwas sauer und sieht alles prinzipiell als schlecht. Das geht mir echt auf die Nerven. Angst hat mich die ganze Zeit angeschrieen, wie ich so etwas Dummes tun konnte wie mich zu verlieben, also bin ich mit Seth raus, um dich kennen zu lernen. Und du warst voll cool“ – er grinste – „Seitdem unterstütze ich Seth.“ Katsuya hob die Hand, um Ikar zu kraulen. Das waren mit ihm sechs Persönlichkeiten, wenn er richtig zählte. Und Angst dürfte der sein, den er als TI kennen gelernt hatte. Die Vorstellung, dass ein Kind ihm die Narbe an seiner Stirn gegeben und beinahe seine Hand gebrochen hatte, war ein wenig verstörend. Angst schien ihn echt nicht leiden zu können. Und Imalia und der Wächter waren zwei Unbekannte für ihn. Nun ja, zumindest klangen sie freundlich. Und keiner schien aus Tibet zu kommen oder halbseitig gelähmt zu sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)