Delusive Society von Gepo (Dritter Teil der DS-Reihe) ================================================================================ Kapitel 86: Kann man das lieben? -------------------------------- Woran merkt man, dass man in Amerika ist? a) Es gibt keine Bürgersteige (okay, die gab es in Afrika und vielen Teilen Asiens auch nicht) b) Alte Ömmecken von 80 Wintern tragen verwaschene T-Shirts mit Sportaufdrucken c) Zum Feierabend antwortet der noch vor dem Computer hängende Arzt auf dein "Bis morgen!" mit "Ja, dir auch eine gute Nacht." Viel Spaß beim Lesen ^.^ Übrigens ist mir hier bereits ein DID-Patient (generisches Masculinum) über den Weg gepurzelt. ________________________________________________________________________________________________ „Und wie therapiert man so eine dissoziative Identitätsstörung?“ Katsuya atmete tief durch, stand auf und holte die Saftpackung aus dem Kühlschrank, um nachzuschenken. „Muss das mit einem Psychiater sein? Oder einem Psychotherapeuten?“ „Normalerweise therapiert man das über mehrere Jahre mit einem Psychotherapeuten. Mit Aufenthalten in der Klinik, wenn es zwischendurch zu Krisen kommt“, erklärte Yami, „manchen geht es so schlecht, dass sie die meiste Zeit in einer Klinik zubringen. Und anscheinend gibt es auch Leute, die sich erfolgreich selbst therapiert haben. Allerdings ist das ... wirklich sehr selten. Es braucht normalerweise einen erfahrenen Therapeuten und eine Selbsthilfegruppe. Den meisten DID-Patienten hilft es sehr, zumindest einmal zu sehen, dass sie nicht allein sind. Denn das ist ja das Problem bei seltenen Krankheiten ... die Betroffenen glauben meist, sie seien völlig andersartig und abstrus. Da helfen Selbsthilfegruppen sehr.“ „Haben wir so eine in der Stadt?“, fragte Katsuya mit Interesse. Seto war ja schonmal in einer Selbsthilfegruppe gewesen. Zwar war diese doofe Reporterin aufgetaucht, aber er hatte ja schon gesagt, dass das heute wahrscheinlich nicht mehr passieren würde. Und hatte überlegt, vielleicht noch mal eine zu besuchen. Eine DID-Gruppe würde ihm sicher helfen. „Das gehe ich auch gern suchen. Wenn ich umgezogen bin und sie mein Internet umgeschaltet haben, mache ich mich ans Recherchieren.“ „Gut“ Der Blonde nickte. Mit einem Blinzeln wandte er sich mit geweiteten Lidern um. „Danke! Hilfe, bin ich so abgestumpft, dass ich es als völlig selbstverständlich nehme, dass du mir alles mögliche erklärst und Zeug für mich heraus findest?“ Yami grinste nur. „Ja, okay, ich bin schrecklich“ Katsuya schüttelte lächelnd den Kopf und setzte sich wieder. „Während ... der Therapie ... wie geht es ihm da?“ „Wenn er vorher noch arbeiten konnte, kann er es da auch. Wenn nicht, dann vielleicht nicht. Wie schnell er stabil wird, hängt von seiner Mitarbeit, der Erfahrung des Therapeuten und der Extensivität seiner Traumata ab. Aber die erste Stabilisierung kommt meistens, sobald ein guter Therapeut gefunden ist, dann wird es nochmal ganz schlimm, weil alle Persönlichkeiten durchgegangen werden müssen und dann wird es – bis auf ein paar Stolpersteine – immer besser. Normalerweise.“ „Und von was für ungefähren Zeiträumen reden wir?“ In Katsuyas Stimme schwang ein Hauch Verzweiflung mit. „Ich meine ... ich weiß, das kann ich alle Richtungen abweichen, aber was ist so der Durchschnitt?“ „Der Ausbruch zwischen dreißig und fünfzig, dann zwölf Jahre, um einen Therapeuten zu finden und zwischen drei und sieben Jahren Therapie“, antwortete Yami völlig gnadenlos, „aber wir wissen nicht einmal, ob das jetzt Setos Ausbruch ist. Vielleicht ist es nur eine Stressphase, weil jetzt die Medikamente weg sind. Vielleicht legt sich das auch wieder, die neue Persönlichkeit verschwindet zurück hinter den Riegel und wir sitzen hier erst in zehn Jahren und besprechen dasselbe nochmal.“ „Wenn du nach Setos Eltern und der Selbsthilfegruppe suchst, kannst du direkt auch einen Therapeuten suchen? Damit wir die zwölf Jahre sparen?“ Trotz des eigentlich ernsten Themas lächelte Katsuya fast amüsiert. Wer wusste schon, vielleicht entwickelte er langsam Galgenhumor. Anscheinend hatte er ein paar komplizierte Jahre vor sich. Yami nickte nur und schlug ihm mit einer Hand freundschaftlich auf die Schulter. „Was hältst du eigentlich von der Sache?“ Yami machte es sich auf seinem Stuhl bequem und lehnte sich zurück. „Du hast dir da keinen leichten Menschen aufgebürdet.“ „Wusste ich doch vorher schon“ Katsuya seufzte. „Ich hatte nur nicht erwartet, dass es schlimmer wird, bevor es besser wird“ Er stützte sich mit einem Arm auf den Tisch und hing so recht schräg über seinem Stuhl. „Auf jeden Fall fühle ich mich sehr viel besser, jetzt, wo ich weiß, was auf mich zukommt.“ „Denk daran, es ist Seto. Er hat schon immer alle Erwartungen gesprengt. Als nächstes wartet er mit einer Persönlichkeit auf, die einen Geist sieht, der drogenabhängig ist. Seto kann alles“ Yami grinste breit. „Gar nicht. Als nächstes kommt ein kleines Mädchen und ich stecke ihn in rosa Kleider.“ „Oder spricht nur russisch. Bei Setos Sprachrepertoire kann alles Mögliche passieren.“ „Könnte er eine taubstumme Persönlichkeit haben? Dann müsste ich Gebärdensprache lernen.“ „Katsuya, es kann absolut alles auftreten“ Yami trank einen Schluck Saft. „Ein dreijähriges tibetanisches Mädchen mit halbseitiger Lähmung und plötzlichen Wutanfällen, wenn es denn sein muss. Persönlichkeiten bilden sich aus Traumata oder weil sie gebraucht werden, um das Gesamtgebilde aufrecht zu erhalten. Entweder sie sind da, um Erinnerungen zu tragen oder weil sie eine Funktion haben. Seth ist zum Beispiel ganz klar da, um den Alltag zu bewältigen.“ „Er sagte, er sei ein Konstrukt, geschaffen, um den Rest zu schützen“, murmelte der Blonde. Bei allen Göttern, die Erkenntnis nur ein Seelensplitter zu sein war eine Sache, aber die Erkenntnis, dass man ein von einem kranken Geist geschaffenes Konstrukt war, das nur für die Bewältigung einer Aufgabe existierte? Kein Wunder, dass er sich bisweilen scheiße fühlte. „Er ist erstaunlich weit“ Yamis Stirn legte sich in Falten. „Vielleicht heilt er bereits. Zumindest scheint er nicht das große Problem einiger Erkrankter zu haben, dass er jahrelang nicht glauben will, dass er diese Krankheit hat.“ „Yami?“ Katsuyas Stimme zitterte leicht. Dieser nickte, aber er sah es kaum, da er aufsprang und begann, durch die Küche zu tigern. Es brauchte eine Nachfrage von Yami, bevor er sagte: „Mein Verlobter ... also die Persönlichkeit, die ich liebe. Nein, die Persönlichkeiten ... das sind Seth und der Jugendliche. Was, wenn sie beide Konstrukte sind? Liebe ich dann überhaupt einen Menschen?“ Er ging zum Kühlschrank, zur Tür und zurück. Erst, als er die Tür erneut erreichte, drehte er sich ruckartig zu Yami. Dieser sah ihn an, aber ... Katsuya schluckte. Was sollte ihm dieser Ausdruck sagen? Der Andere atmete tief durch und sagte: „Seto wird sich ändern. Egal, was noch passiert, er wird sich ändern. Und diese Änderung verlangt, dass du seine Persönlichkeiten alle liebst, sei es leidenschaftlich oder fürsorglich wie für Klein-Seto, oder sie zumindest tolerierst. Aber es verlangt auch, dass du sie gehen lassen kannst, wenn es zu einer Integration kommt. Und dass du der neuen Persönlichkeit dann offen gegenüber stehst.“ Katsuya atmete tief durch. Gehen lassen? Wie sollte er Seth gehen lassen? Er liebte ihn. Und er merkte, wie er begann, sich in den Jugendlichen zu verlieben. Aber selbst wenn diese zwei sich integrierten, könnte er diese neue Persönlichkeit lieben? Das war doch eigentlich keiner von beiden mehr. Und gleichzeitig waren es beide zusammen. War das wirklich Liebe? Den geliebten Menschen aufzugeben, möglicherweise immer wieder, weil immer neue Persönlichkeiten integriert werden würden? Er lehnte sich gegen die Wand und ließ sich daran herunter sacken, bis er auf dem Fußboden saß. Yami wechselte den Stuhl, um in seiner Nähe zu sitzen, aber er sagte nichts. Diese Krankheit war scheiße kompliziert. Sie veränderte einen Menschen nicht zeitweise. Sie veränderte ihn auf ewig. Und zwar nicht so, dass ein Arm oder ein Bein fehlte, sondern die Persönlichkeit änderte sich. Auch wenn er Setos Körper sicherlich auch liebte, ein Arm oder ein Bein weniger, das würde er verkraften. Aber sein schwarzer Humor oder sein kindliches Lachen weniger, würde er das verkraften? Wenn Seto sein Interesse am Diskutieren verlor oder seine schier unendliche Sorge und Umsicht, würde er damit nicht etwas Essentielles verlieren? Menschen veränderten sich mit der Zeit, so war der Lauf der Dinge. Wäre Seto nicht krank, vielleicht würde er trotzdem mit den Jahren einige Sachen verlieren, die ihn ausmachten und dafür andere dazugewinnen. Aber es machte einen Unterschied, ob das eine Sache in drei Jahren oder mehrere essentielle Eigenschaften in wenigen Monaten waren. Würde er in den integrierten Persönlichkeiten nicht nur den Geist derer suchen, die er geliebt hatte? Oder war Liebe so formbar, dass sie sich den neuen Gegebenheiten einfach anpasste? Dass er sich in den jugendlichen Seto verliebte, das akzeptierte er ja auch einfach so, obwohl er Seth über alles liebte. Oder war das nicht vergleichbar? Er konnte mehrere gleichzeitig lieben, das wusste er. Er konnte auch Veränderungen lieben. Seth war von sarkastisch unnahbar zu fürsorglich und wieder zu sarkastisch gewechselt und er liebte ihn in jeder Form. Aber reichte das, um jemanden mit dieser Krankheit wirklich überzeugt sagen zu können, dass man ihn liebte? „Aber es kann auch sein, dass Seto keine Integration will. Er kann höchstwahrscheinlich auch recht harmonisch mit mehreren Persönlichkeiten leben. Vielleicht wird es nie zu einer Integration kommen“, sagte Yami leise. „Ich werde das nehmen, was kommt“ Katsuya lächelte kurz. „Und ich glaube, ich sollte aufhören, über Liebe nachzudenken. Das macht bei mir und Seto ja richtig depressiv.“ Yami lächelte nur und meinte nach einem Moment: „Weißt du, das mit dem Kerl damals ... der, der mich in die Prostitution brachte ... da habe ich auch viel über Liebe nachgedacht. Ist das Liebe, wenn du einem Menschen hinterher rennst, den es eigentlich gar nicht gibt? Jemand, der dir nur vorgespielt wird? So groß anders ist das nicht zu der Frage, ob Liebe zu einer erschaffenen Persönlichkeit nun Liebe ist oder nicht. Meine Antwort für mich selbst war, dass dieser Mensch für mich nun einmal echt war. Ich habe diesen Menschen geliebt. Und ich habe auch um ihn getrauert, als ich ihn verlor. Auch, wenn es nur ein Schauspiel war. Für mich war es echt.“ „Wenn Seth sich mit dem TI oder Seto vereint, werde ich auch trauern, oder?“ „Mich würde es wundern, wenn nicht. Und ich hoffe, dass Seto deine Trauer verstehen wird. Und nicht darauf hin wieder spaltet, weil er nicht will, dass du traurig bist“ Yami seufzte. „Deswegen ist es so wichtig, dass du auch den neuen Persönlichkeiten gegenüber offen bist. Denn sonst wird Seto sich selbst wieder zerstören ... für dich.“ „Manchmal macht es mir Angst, wie wichtig ich für ihn bin“ Katsuya seufzte. „Gerade bist du sein Morgen- und Abendstern. Selbst, wenn er sich nicht umbringt, wenn du ihn verlässt, ist gleichzeitig deine Trauer, sollte er es tun, der einzige Grund, warum er es lassen würde“ Yami lehnte sich vor und griff Katsuyas Schulter. „Aber auch das wird sich mit der Zeit ändern. Je sicherer und stabiler er wird, desto mehr Freude wird er aus seinem eigenen Leben ziehen und desto weniger wichtig wirst du.“ „Bis ich irgendwann gar nicht mehr wichtig bin?“ Katsuya hob mit traurigen Augen einen Mundwinkel. „Die Gefahr besteht, ja. Aber die besteht in jeder Beziehung. Man geht zwangsläufig auseinander, so ist das Leben. Die Frage ist immer nur, ob man sich die Mühe macht, auch wieder zusammen zu kommen.“ „Hmpf“ Katsuya konnte das Grinsen nicht unterdrücken. „Eines Tages wirst du einen Mann sehr glücklich machen.“ „Oder eine Frau. Man weiß ja nie. Vielleicht komme ich irgendwann mit Noah zusammen. Man kann nie wissen“ Yamis Blick verlor sich in der Küchenwand. „Er ist so ein schrecklicher Snob. Ich hasse es, wie er auf mich herab sieht.“ „Ihr scheint euch da gegenseitig nicht viel zu geben“ Eine blonde Augenbraue hob sich. „Es hat mich allerdings überrascht, wie sehr er mich bei dem Ausstieg unterstützt hat. Ich habe jetzt einen echten Arbeitsvertrag. Das geht weit über das Maß der Hilfsbereitschaft hinaus. Selbst, wenn sich Seto für mich eingesetzt hat, was ich nicht ganz glauben kann, ist das sehr korrekt. Ich meine, okay, er hat ein Heidengeld, er kann es sich leisten, jeden Monat mein Gehalt zum Fenster raus zu werfen, aber trotzdem ... das ist ein Vertrag über ein ganzes Jahr. Das ist eine Menge Geld für ein bisschen Wohltätigkeit.“ „Er hat Shizuka und Isamu aufgenommen, da kannte er sie gerade mal ein paar Stunden. Dafür hat er sogar dieses Training gemacht ... warte mal, sollte das nicht acht Wochen gehen? Ist Shizuka nicht schon nach zwei oder drei Wochen bei ihm eingezogen?“ Yami zuckte mit den Schultern. „Na ja, auch egal. Was ich meine, ist: Er hat anscheinend einen ziemlichen Hang zur Wohltätigkeit. Wahrscheinlich nimmt er jedes verlassene Kätzchen auf, was er findet. Und warum auch nicht? Du bist doch dankbar, oder? Ich vermute, du machst ziemlich gute Arbeit in dieser Abteilung. Dankbare Mitarbeiter sind loyale Mitarbeiter. Und die sind meist auch fleißig.“ „Hm ...“ Yami nickte langsam, der Blick dabei auf den Boden gerichtet. „Trotzdem ... es hat mich sehr überrascht. Er mochte mich nicht, aber er hat trotzdem geholfen. Mehr als nur geholfen. Und das, wo sein Bruder ihm sicherlich erzählt hat, du hättest ihn mit mir betrogen. Da hat er sich gar nichts draus gemacht und geholfen“ Er sah auf, ein Ausdruck von Unglauben und Erstaunen auf seinen Zügen. „Je mehr ich darüber nachdenke, desto erstaunlicher finde ich die ganze Sache.“ „Ich habe Gefühl, Noah ist einer der wenigen Menschen, der andere mit Freundlichkeit zermürben kann“ Katsuya lächelte. „Oder er hat einen noch schlimmeren Helferkomplex als du.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)