Delusive Society von Gepo (Dritter Teil der DS-Reihe) ================================================================================ Kapitel 85: Die Prognose ------------------------ Ich habe Internet! Eure Kapitel sind gesichert ^.- Sorry, dass ich es erst jetzt habe und das Kapitel daher recht spät kommt, aber zumindest kommt es, nicht? Ich habe gestern an der Klinik in Boston begonnen und schon einige interessante Patienten getroffen. Unter anderem eine mit DID heute ^.- Viel Spaß beim Lesen! ________________________________________________________________________________________________ „Seto stellt wie immer eine Kategorie für sich dar“ Yami schob den leeren Teller Suppe von sich. Irgendwie hatte Katsuya nicht die geringste Ahnung, wie er die neben den Erklärungen gegessen hatte. „Diese Mischformen zweier Persönlichkeiten, das passiert, wenn zwei – manchmal sogar mehr – Persönlichkeiten gleichzeitig einen Körper beherrschen.“ Ganz einfach, ja, ja ... was Yami für einfach hielt, ging bisweilen über den Kopf normaler Menschen hinaus. War ja schön, dass er sich auskannte, aber für Katsuya war das klares Neuland. Also Seto hatte jetzt eine dissoziative Identitätsstörung. Das hieß, er hatte mehrere Persönlichkeiten. So weit alles klar. Mehrere Persönlichkeiten in einem Körper. In seinem Fall bekamen die auch teilweise mit, was die anderen taten, weil sie dabei zusehen konnten. Daher konnte Klein-Seto die vielen Fachbegriffe und daher konnte der jugendliche Seto mit dem Auto fahren. Auch klar. Und jetzt konnten diese einzelnen Persönlichkeiten anscheinend auch noch gleichzeitig den Körper steuern. „So etwas ist selten. In der Literatur habe ich das nur gefunden, wenn die Leute mit dieser Störung bereits in Therapie sind. Zwei Persönlichkeiten, die zusammen einen Körper steuern, die müssen sich ziemlich gut verstehen, sonst geht das nicht. In der Therapie tritt das kurz vor dem Verschmelzen dieser zwei Persönlichkeiten auf. Sie agieren praktisch auf Probe zusammen, bevor sie merken, dass sie das auch als eine Persönlichkeit hinkriegen. Dann verschmelzen zwei Persönlichkeiten zu einer neuen, die aus beiden besteht. Ich habe nur einen Fall gefunden, wo das vor der Therapie schon funktionierte … aber diese Person hatte noch ganz andere Probleme.“ „Das heißt, sowohl ANP-Seto und Klein-Seto als auch ANP-Seto und das TI stehen sich recht nahe, aber sind noch nicht verschmolzen?“ War eigentlich gut, oder? Das hieß, Seto war bereits im Heilungsprozess. „So sieht es aus. Aber würde er mit Klein-Seto verschmelzen, würde er sich vom TI entfremden. Würde er mit dem TI verschmelzen, würde er sich von Klein-Seto entfremden. Da er beides nicht will, geht es nicht voran“ Yami nahm einen Schluck Saft. „Denke ich. Allerdings ist das nicht mehr als eine Vermutung. Bevor ich nicht weiß, welche Persönlichkeiten es eigentlich alles gibt, kann ich nur raten.“ „Okay“ Katsuya nickte langsam. „Derzeit wissen wir von vier Persönlichkeiten. Weil wir dachten, er hätte eine peritraumatische Dissoziation, haben wir die ersten drei ANP, EP und TI getauft. Obwohl das für dissoziative Identitätsstörung so gar nicht stimmt, richtig?“ „Richtig, die Bezeichnungen gibt es bei der dissoziativen Identitätsstörung nicht. Die Persönlichkeiten von dissoziativ Identitätsgestörten geben sich meist eigene Namen“ Yami nahm die Teller und trug sie zur Spülmaschine. „Deswegen habe ich am Sonntag Seto nach seinem Namen gefragt. Wenn solche Persönlichkeiten spontan antworten, fällt manchmal ihr richtiger Name. Also der, den sie sich gegeben haben.“ „Klein-Seto sagt, er hieße Seto. Und er sagt, er habe ANP-Seto den Namen Seth gegeben“, informierte Katsuya seinen besten Freund, „und dem TI will er keinen Namen geben. Er sagt, der sei böse. Und er sagt, er höre böse Stimmen, denen wollte er auch keinen Namen geben.“ Mit einem tiefen Seufzen setzte Yami sich wieder. Diesmal auf den Stuhl direkt neben Katsuya. Er griff sein Glas und nahm einen weiteren Schluck. Nach einem Moment des Schweigens sprach er leise und bedacht: „Hast du Seto mal darauf angesprochen?“ „Ja“ Katsuya trank auch einen Schluck seines bisher unangerührten Getränks. „Er fand es ... er nahm es zur Kenntnis. Und sagte irgendetwas davon, er sei ein Konstrukt und das Kind die Kernpersönlichkeit oder so, das habe ich nicht ganz verstanden.“ „Das hat er gesagt?“ Yami sah mit Überraschen im Gesicht auf. „Das ... dann hat ihn das mit der Diagnose wirklich nicht geschockt. Dann wusste er es vorher“ Er seufzte. „Kannst du dir das vorstellen? Wie es ist zu realisieren, dass in deinem Kopf mehrere Persönlichkeiten sind? Und dass ihr alle Teile eines Ganzen seid? Dass du nicht geboren wurdest sondern nur ein Splitter eines Menschen bist, der an dem, was er erlebte, kaputt ging?“ „Weiß Seto das alles?“, flüsterte Katsuya. „Wenn er von Konstrukten und Kernpersönlichkeiten redet, dann hat er die Fachbücher über die Krankheit gewälzt. Dann weiß er, was das für eine Krankheit ist. Theoretisch zumindest. Ob er das wirklich verinnerlicht hat ... kein Wunder, dass ihm eine Therapie so eine Angst macht“ Yamis Augen glänzten, als er aufsah. „All diese Persönlichkeiten, die du jetzt kennen gelernt hast ... am Ende der Therapie sollten sie alle verschmolzen sein. Sie sind zwar dann noch da, aber ... sie sind nur Teile eines Ganzen. Am Ende steht ein Mensch, der ist sarkastisch, kindlich, jugendlich und aggressiv in einem. Das ist ... kein neuer Mensch, aber ein anderer Mensch. Eine neue Persönlichkeit im Endeffekt. Eine ganze Persönlichkeit.“ Bamm. Schlag aufs Herz. Katsuyas Lider weiteten sich. Das hieß ... Seto würde verschwinden? Der sarkastische Bastard? Das Kind? Der Jugendliche? Sie würden alle ... sie würden zu einer Person werden? Einer neuen Person? „Viele mit dieser Krankheit haben Angst davor. Sie leben seit Kinderzeit mit diesen getrennten Persönlichkeiten. Jede hat ein eigenes Leben, eigene Interessen, oft sogar eigene Freunde. Manchmal sogar eigene Jobs. Viele haben eigene Talente. Manche sind talentierte Maler, manche begnadete Musiker – mit dem Verschmelzen geht das manchmal verloren“ Yami seufzte. „Ein paar entscheiden sich, lieber getrennt weiter zu leben. Mit Kontrolle, wer wann draußen ist, aber getrennt.“ „Ich weiß auch nicht, ob ich will, dass Seto ...“ Katsuya starb die Stimme. „Sich integriert. Man nennt diesen Heilungsprozess Integration“ Yami griff Katsuyas Hand und sah vorsichtig auf. „Selbst wenn Seto das irgendwann will, es wird Jahre brauchen. So etwas passiert nicht von heute auf morgen. Das braucht extrem viel Therapie.“ Katsuya atmete tief durch und meinte: „Gut.“ „Es wird trotzdem nicht einfach“ Yami sah ihm direkt in die Augen. „Früher oder später muss Seto seine Traumata verarbeiten, sonst wird er immer mehr Flashbacks haben. Und die Traumata, die es braucht, damit eine Persönlichkeit zersplittert, die sind heftig. Bei vielen der Traumata, die DID-Patienten durchlebt haben, fragt man sich nachher, wie ein Kind so etwas je überleben konnte. Vergewaltigungen von Kleinkindern, irgendwelche operationsähnlichen Situationen, wo Kinder aufgeschlitzt und ihnen ohne Narkose Organe aus dem Körper gezogen wurden, Foltergeschehen ... da kann wirklich eine Menge echt verstörender Dinge hinter stehen. Das wird heftig. Für euch beide“ Yami ließ eine Pause, aber Katsuya fehlten die Worte. „Da Seto keine Narben hat und – so weit ich das beurteilen kann – keinerlei rituellen Missbrauch oder Foltersituationen als Kind durchlebt hat, ist sexueller Missbrauch am wahrscheinlichsten.“ Katsuya schnaubte und wandte den Kopf ab. Mit abfälligem Ton meinte er: „Davon habe ich ja jetzt Ahnung.“ „Entschuldige, wenn ich das sage, aber das hast du nicht“ Yamis Stimme klang erstaunlich hart. „Wenn du Seto im Bett küsst und eine hohe Kinderstimme sagt „Bitte nicht, Papa“, dann hast du absolut gar nichts in deiner Erfahrung, was dir helfen kann.“ Katsuya schluckte. Nicht nur für den plötzlich trockenen Hals, auch die Tränen und die Wut, die aufstiegen. Was wusste Yami schon? Aber er wusste alles. Er kannte seine Geschichte von vorne bis hinten. Und Vergewaltigungen hatte er oft genug am eigenen Leib erfahren. Yami wusste genau, wovon er sprach. „Meinst du ... Gozaburo Kaiba ...“ „Zu spät. DID entwickelt sich im Kindesalter. In fast allen Fällen vor dem fünften Lebensjahr. Wir reden von der ominös verstorbenen Mutter und dem nie erscheinenden Vater. Zumindest in Setos Erinnerung nie erscheinend. Wenn du genau fragst, hat er nicht eine einzige Erinnerung an seinen Vater. Das hat mich schon immer stutzig gemacht.“ „Du denkst, sein Vater hat ihn vergewaltigt? Als ... als er vier war? Und früher?“ Aus Katsuyas Stimme sprach Entsetzen. Okay, er wusste, so etwas gab es. Aber Seto? Sein Seto? Er spürte, wie seine Hand sich zur Faust ballte. Stimmte Setos Erinnerung, dass sein Vater tot war? Oder war er irgendwann doch erwischt worden? Lebte er möglicherweise noch? „Es könnte auch die Mutter gewesen sein. Es könnte auch etwas anderes gewesen sein. Wenn Eltern DID haben, kriegen Kinder das in seltenen Fällen auch, wenn die Eltern nicht therapiert sind. Einfach, weil die Eltern so oft Persönlichkeiten wechseln, dass das Kind irgendwann eigene entwickelt, die dazu passen. Ich habe einen Fall gelesen, da hatte die Mutter eine unbehandelte Schizophrenie und hat deswegen immer wieder für das Kind komische Anwandlungen gehabt. Und in ein paar Prozent ist es – in Anführungszeichen – nur schwerer Missbrauch. Also körperlicher und emotionaler Missbrauch“ Yami seufzte. „Das sind alles nur Möglichkeiten. Und da Seto die entsprechenden Erinnerungen fehlen, werden wir es auch nicht so bald rauskriegen. Aber vorerst ist davon auszugehen, dass alles in seinen Flashbacks so auch passiert ist, egal, wie grotesk oder unwahrscheinlich. Da beide Eltern tot sind, können wir nichts überprüfen.“ „Bist du sicher, dass sie tot sind?“ Aus Katsuyas Stimme sprach kaum verhaltene Wut. Beide Hände waren zu Fäusten geballt. Die Züge hart, die Lider verengt betrachtete er seinen besten Freund, als würde er seinem ärgsten Feind in die Augen sehen. Yami zog scharf die Luft ein und rutschte mit seinem Stuhl zurück. Er beobachtete Katsuya einen Moment mit in Falten gelegter Stirn, bevor er sagte: „Warum sonst sollte er ins Waisenhaus gekommen sein?“ „Vielleicht fand man etwas heraus. Vielleicht wurde der Vater verurteilt“ Die Antwort war ruhig, aber klang eher wie die Ruhe vor dem Sturm. „Wenn ich richtig rechne, reden wir von den Achtzigern. Wie gut war da die Versorgung mit psychologischer Betreuung und Pflegefamilien?“ Yami nickte langsam. Sein Blick wandte sich auf den Tisch, als suche er in dessen Muster eine Antwort. Er erwiderte: „Du hast schon recht. Selbst, wenn es eine gab, dann hat Seto das wahrscheinlich verdrängt. Denn sonst müsste er sich ja fragen, warum er die hatte. Wie die Sache am Sonntag.“ Katsuya schwieg einfach nur. Er fixierte Yami noch immer. „Ich werde es heraus finden“, schloss dieser, als er den brennenden Blick auf sich spürte. Katsuya nickte. Nach einem tiefen Ein- und Ausatmen fragte er: „Also ... was hat Seto jetzt? Was muss ich erwarten?“ „Themenwechsel, okay ... Seto hat aufgrund irgendwelcher extremer Traumata eine dissoziative Identitätsstörung entwickelt. Wir wissen nicht, wie viele Persönlichkeiten er hat, aber es sind mindestens vier. Die Hauptpersönlichkeit, die die meiste Zeit draußen ist, heißt Seth und hat Ko-Bewusstsein. Und er kann zusammen mit Seto und ... dem Bösen agieren. Wir sollten übrigens einen Namen finden, denn wenn wir verinnerlichen, dass es sich um etwas Böses handelt, werden wir dem ablehnend begegnen. Und alle Persönlichkeiten brauchen ihre entsprechende Anteilnahme, denn alle sind nur durch Traumata so. Alle Persönlichkeiten wurden so gemacht durch andere“ Yami atmete tief durch. „Was ist zu erwarten ... tja ... ich habe noch nicht so viele dissoziativ Identitätsgestörte getroffen. Genau genommen nur einen und der hat vor meinen Augen Selbstmord begangen“ Er schloss die Lider. „Aber ... von dem, was ich gelesen habe“ Seine Stimme versagte, sodass er schluckte und die Lider wieder öffnete. „Was ich las: Jeder mit dieser Krankheit lebt in einem gewissen Stadium, das meist gleich bleibt. Durch Stress kann es sich verschlechtern, aber die Person kehrt in dieses Stadium zurück, wenn der Stress nachlässt. So eine nach außen wirkende Verschlechterung, wo neue Persönlichkeiten durchbrechen, die frühere Kontrolle verloren wird und es scheint, als würde alles ins völlige Chaos sinken, sind eigentlich meist die ersten Zeichen von Heilung. Die erkrankte Person entspannt sich das erste Mal im Leben, woher die inneren Persönlichkeiten den Riegel der Kontrolle zur Seite schieben und hervor kommen. Und dann kann man sie oft auch nicht mehr eindämmen. Alle wollen Aufmerksamkeit, alle wollen leben und Zeit in der Realität verbringen und vergessen dabei, dass sie alle nur einen Körper haben“ Yami atmete kurz durch. „An dem Punkt suchen die meisten nach Therapeuten. Viele verlieren ihren Job, weil die Persönlichkeiten, die ihn ausführen können, nicht mehr raus können oder weil ihr verändertes Verhalten auffällt. Ehen werden geschieden, Freunde verlassen die betroffene Person ... und richtige Therapeuten sind sehr schwer zu finden. Die Krankheit ist selten, damit kennen sich nicht so viele Menschen aus. Bei Ärzten, Psychologen und Freunden treffen die Erkrankten oft auf Unverständnis“ Eine kurze Pause setzte ein. „Nun ja, wir wissen, was er hat. Wir werden zumindest nicht wegrennen, weil wir sein verändertes Verhalten komisch finden.“ „Unter dem Strich werden jetzt völlig ohne Kontrolle Persönlichkeiten seinen Körper übernehmen und sich ohne Vorwarnung abwechseln, ja? Und du nennst das Heilung“ Aus Katsuyas Stimme sprach Spott. Yami seufzte tief und schloss die Lider. Mit müde wirkender Stimme fuhr er fort: „Der Schritt ist meist notwendig für die Einsicht, dass absolut gar nichts an der Therapie vorbei führt.“ „Das heißt, es wird so lange schlimmer, bis er sich seiner Krankheit stellt, ja?“ Yami betrachtete ihn kurz, bevor er nickte. Bei allen Göttern – das konnte ja heiter werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)