Delusive Society von Gepo (Dritter Teil der DS-Reihe) ================================================================================ Kapitel 60: Reflektion ---------------------- Da mein Bruder mich besucht, komme ich praktisch nicht zum Schreiben. Vom nächsten Kapitel steht weder Titel noch ein einziges Wort. Aber dieses hier habe ich rechtzeitig fertig bekommen ^.^ Viel Spaß beim Lesen! _________________________________________________________________________________ Im Wohnzimmer herrschte Stille. Oder zumindest sprach keiner. Yami atmete tief ein und aus. Wahrscheinlich hatte er Schmerzen. Die Situation schien surreal, gerade für Katsuya, für den alles, was er hörte, sah und fühlte gerade wie die Geschehnisse eines Films wirkten. Seto saß da mit gesenkten Kopf und wagte nur hin und wieder einen Blick zu ihnen hinüber. Hatten sie wirklich vor nur fünf Minuten genau so hier gesessen und sich unterhalten? „Es tut mir Leid“, flüsterte Seto schließlich in die Fast-Stille. „Es tut dir immer Leid“, erwiderte Yami mit ruhigen, langsamen Worte, „Das hilft meinen rasenden Kopfschmerzen gerade auch nicht weiter.“ Seto ließ den Kopf weiter sinken und unterließ die Blicke in ihre Richtung, während die Stille erneut den Raum in Besitz nahm. Yamis linke Hand lag auf Katsuyas Haar. Die rechte auf seinem Oberarm, wo sie sich öffnete und schloss. Hoffentlich hatte Seto keine bleibenden Schäden angerichtet. „Was hat diese Attacke hervor gerufen?“ „Ich weiß es nicht“, flüsterte Seto und sah nicht auf. „Das trägt nicht gerade zu meinem Sicherheitsgefühl bei“ Yami atmete tief aus – sein Atem hatte sich so weit wieder beruhigt. „Du musst etwas gegen deine Aggressionen tun.“ „Ich ... ich könnte nur auf Benzodiazepine umsteigen. Gegen Angst und Aggressionen. Aber die machen abhängig und einen Alkoholrückfall ziemlich wahrscheinlich“ Seto legte die Arme um sich. „Es tut mir Leid, dass ich so ein Wrack bin.“ „Du bist kein Wrack. Du gibst dir sehr viel Mühe“ Yami schluckte. „Du hast weniger Aggressionen und Dissoziationen als früher. Nur – wie gesagt – heftigere.“ Diesmal blieb Seto sitzen. Katsuya konnte fühlen, wie die Anspannung von Yamis Körper nach einigen Momenten nachließ. Er hatte zwar wahrscheinlich mit keinem weiteren Anfall gerechnet – schließlich war Seto nach solchen Ausbrüchen ruhiger – aber jede Logik der Welt half nicht gegen das, was der Körper instinktiv dachte. „Ich könnte ... gibt es etwas, was ich tun kann?“ Verzweiflung mischte sich in Setos Stimme. Seine Pose blieb dieselbe. Die Arme um sich gelegt, nach vorne gebeugt, den Blick zu Boden gesenkt. „Es gibt Selbsthilfegruppen für Männer, die ihre ... Emotionen nicht immer unter Kontrolle haben. Möglicherweise solltest du mal eine aufsuchen. Dahin wird dir auch ganz sicher kein Reporter folgen.“ „Warum sicher?“ Seto hob seinen Blick. „Weil es eine Gruppe von Männern mit Aggressionsstörungen ist. Es ... so etwas gibt einem eine gewisse Aura, vor der normale Menschen instinktiv zurückschrecken. So wie Leute vor dir instinktiv zurück schrecken.“ Setos Lider schlossen sich und sein Gesicht verzog sich, als hätten die Worte ihm physisch weh getan. Seiner Seele hatten sie bestimmt Schmerzen zugefügt. Es war nicht bestimmt nicht leicht, sich einzugestehen, dass man sich selbst nicht unter Kontrolle hatte. Dass man zu den Menschen gehörte, von denen man manchmal in der Zeitung las – die, die ihre Frau totgeprügelt hatten. „Hilft das wirklich?“ Setos Stimme war kaum mehr als ein Hauchen. „Du hast Psychotherapie und Medikamente auf jeden Fall schon durch“ Die Hand, die auf Katsuyas Oberarm gelegen hatte, begann über diesen zu fahren. „Mein Gefühl kehrt zurück.“ Seto nickte nur langsam. Sie hatten einige Minuten lang einfach nur still dagesessen, als Seto schließlich mit etwas festerer Stimme fragte: „Yami?“ Dieser machte ein bestätigendes Geräusch, ohne den Mund zu öffnen. Der eine Arm hing schlaff auf Katsuyas Oberkörper, der andere hatte mit seinen Haarsträhnen gespielt. „Wenn diese Ängste … und Wutausbrüche … und meine Schlafstörungen“ Seto leckte über seine Lippen. „Wenn das … Übergangssymptome sind, bis ich mit der Verarbeitung beginne“ Er sah auf und fuhr erst fort, als Yami genickt hatte. „Dann wäre der nächste Schritt bei mir Wut, richtig?“ Erneut ein Nicken. „Heißt das … werde ich noch schlimmer? Noch aggressiver?“ In Setos Augen stand Schmerz. Die Augenbrauen zusammen gezogen, die Stirn in Falten, die Lider leicht gesenkt. Die blaugrauen Augen glänzten mit Tränen, die sich nicht hervor wagten. Das tiefe Heben und Senken seiner Brust hatte gestoppt. Yami schüttelte den Kopf. Als er zu sprechen begann, hatte seine Stimme eine Menge der Härte verloren, die sie nach dem Schlag bekommen hatte: „All diese Symptome kommen aus einer inneren Grundspannung. Du reagierst viel heftiger und viel schneller auf Dinge als andere Menschen. Aber du weißt selbst, dass diese Spannung mit der Zeit immer mehr nachlässt. Damals … da konntest du dich ja fast gar nicht kontrollieren. Denk an deine Reaktionen, wenn ich dich im Kartenspielen besiegte. Vergleiche dein damaliges Ich mit heute. Es wird besser. Wenn ich von diesem Einholen spreche, dann ist das kein plötzlicher aggressiver Ausbruch. Bei Frauen kommt oft eine Depression, bei Männern eine Suchterkrankung. Beides beruht auf einer tiefen, inneren Unzufriedenheit. Wenn deine Alkoholgelüste irgendwann ohne jeden Grund stärker werden, dann bahnt sich irgendetwas an, was verarbeitet werden will. Wenn du dann eine Therapie machst, dann wird dein Therapeut dich durch diese Phasen führen. Durch die Wut, die Trauer und das endgültige Akzeptieren.“ „Woher soll ich denn wissen, was sich dann anbahnt? In meinem Leben ist so viel Scheiße … ich wüsste nicht einmal, wo ich anfangen sollte“ Seto wandte den Blick ab. „Und es gibt Erinnerungen, die will ich nicht berühren … Menschen, an die will ich mich nicht erinnern.“ „Eines nach dem anderen, Seto“ Yami seufzte leise. „Du fängst mit dem an, was wehtut, aber was du ertragen kannst. Es muss kompliziert, aber möglich sein, darüber zu reden.“ „Allein der Gedanke an eine Therapie macht mir Angst“ Es war kaum mehr als ein Flüstern. „Ich weiß, früher oder später würde es an Dinge gehen, die ...“ „Ich weiß, Seto“ Aus Yamis Ton konnte man sein Lächeln hören. „Du hast all das nie verarbeiten können. Katsuyas Eltern sind für ihn genau so. Würden wir ihn allein lassen, würde auch die Vergewaltigung irgendwo in ihm versinken. Das tut sie auch, wenn wir zu schnell sind. Darum nimm ihn bitte so, wie er ist. Er wird seinen eigenen Weg gehen.“ „Meinst du, er wird je wieder mit mir schlafen können?“ „Bestimmt“ Yami legte die Arme um Katsuyas Oberkörper und zog ihn in eine sitzende Position. „Er ist stark. Er wird nicht vor den Erinnerungen davon laufen wie wir zwei feige Hühner. Er wird das verarbeiten“ Die Mundwinkel sackten ein kleines Stück ab. „Aber es wird ein paar Wochen dauern. Vielleicht sogar ein paar Monate. Schaffst du das?“ „Sein Nein zu akzeptieren?“ Es herrschte einen Moment Stille. „Wenn nicht, dann kann ich mit mir selbst nicht leben. Auf das Niveau werde ich nie sinken.“ „Du hast dich verändert“, bemerkte Yami mit einem Lächeln. „Ich war vielleicht nicht gerade nett, aber ich habe nie“ Seto stoppte sich selbst, als Zweifel in seinen Augen aufblitzten. „Ich habe dich nie gezwungen … richtig?“ „Nein, natürlich nicht. Entschuldige, das meinte ich nicht“ Er schüttelte den Kopf. „Wenn früher ein Problem aufkam, dann hast du als Erstes abgeblockt. Dass man nichts von dir erwarten darf, dass du keine Versprechen geben wirst, dass du zu nichts verpflichtet bist … keinem einzigen Wort aus deinem Mund konnte man trauen. Manchmal warst du nett und einfühlsam, aber kaum entspannte man sich, da wurdest du wieder zu Eis“ Yami senkte den Blick. „Mein eiskalter Drache, der nur in seiner Wut seine Kälte verlor. Du hast mich beleidigt, mich nieder gemacht, mich geschlagen, meine Wohnung zerstört, meinen Körper benutzt wie es dir gerade passte … du warst genau das, was ich glaubte, zu verdienen. Zu jener Zeit.“ „Atemu“ Setos Lider schlossen sich. „Der war ich im Herzen. Der, der glaubte, das zu verdienen. Yami war nur meine Hülle. Der, der glaubte, damit glücklich zu sein. Guter Sex, keine Bindung, keine Nachteile außer ein paar blauer Flecken, wenn du mal wieder zu fest zupacktest.“ „Es tut mir Leid“ Der Brünette senkte den Kopf. „Das braucht es nicht. Ich wusste, auf was ich mich mit dir einlasse. Ich wusste, es würde schmerzhaft werden. Körperlich wie seelisch. Ich wusste, dass ich für dich mehr ein Ding als alles andere war und genau das brauchte ich zu jener Zeit. Katsuya weckte in mir das Gefühl, etwas wert sein zu können. Er machte mir Hoffnung. Ich konnte nicht mit Hoffnung leben, das hätte ich … das konnte ich nicht. Ich brauchte dich. Diesen Mensch, der du damals warst.“ Seto sah wieder auf. In seinen Augen stand noch immer Schmerz, doch die Falten auf seiner Stirn hatten sich geglättet. Mit einem Seufzen ließ er den Blick über Yamis Schulter in die Ferne gleiten und sprach: „Ich wollte nicht gemocht werden. Ich hatte Angst davor. In … in Yugi erkannte ich einen Menschen, der mich mochte, egal, wie sehr ich mich wehrte. Und in Katsuya … ich wollte geliebt werden. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich ein Mensch sein, der es wert ist, geliebt zu werden. Ich wollte alles sein, was er braucht. Das Beste, was ich sein kann. Ich habe aus mir selbst jemanden gemacht, von dem ich glaubte, er könnte Katsuya verdienen“ Die Lider fielen zu und das Gesicht verzog sich in Schmerz. „Ich habe einen fehlerhaften, schwachen Menschen geschaffen. Dieses Wesen hat es zugelassen, dass das alles passiert ist. Wäre ich nicht, wer ich jetzt bin, hätte ich keinen Glauben an das Gute. Ich hätte Pegasus Auftauchen als die Gefahr wahrgenommen, die er darstellte. Ich hätte mich nicht so verschuldet, wie … wäre ich nur geblieben, wer ich war.“ „Dann hättest du nie Liebe erfahren“ Yami hatte seinen Blick auf Seto gerichtet und schien ihn mit seinen ausdrucksstarken Augen durchbohren zu wollen. „Katsuya war vielleicht angezogen von dem Mysterium und der Gefahr, die du darstelltest, aber verliebt hat er sich in deine Sanftheit und deine Verletzlichkeit. Heute liebt er dich für diese Eigenschaften, die du als Schwäche darstellst. Willst du den Menschen, der er liebt, wirklich verdammen und auslöschen?“ Seto suchte einige Sekunden nach einer Antwort, bis er schließlich zu Katsuya nickte und fragte: „Hat er das verdient?“ „Nein.“ „Ich hätte es ihm ersparen können. Hätte ich nicht alle Vorsicht in den Wind geschossen und mich in ihm verloren, hätte ich ihn davor bewahren können. Sag mir also, wie kann das, was ich tat, auch nur ansatzweise richtig sein?“ Katsuya spürte Tränen in seinen Augen. Er wollte zu Seto. Er wollte die Hand nach ihm ausstrecken. Er wollte nicht hier liegen und all das nur hören. Er wollte seinen Freund anschreien, was für einen Mist er da redete. Er wollte ihn schlagen, ihn küssen, ihn anflehen. Seto glitt ihm aus den Fingern und er konnte nichts tun, da sein verdammter Körper ihm nicht gehorchte. Er befahl seinem Gesicht zu funktionieren. Seinen Händen. Sein Körper war da, um ihm zu gehorchen. Er hatte keine Zeit, hier rum zu liegen. „Für dich gibt es nur Gut und Schlecht. Es gibt nichts dazwischen. Glück ist für dich Sicherheit. Gefühle bedeuten dir erst seit kurzem etwas“ Yami sprach mit fester, vollkommen überzeugter Stimme. „Aber für Katsuya sind seine Gefühle das Wichtigste. Wenn er wählen könnte zwischen den vier Monaten mit dir und der Vergewaltigung, er würde sie eher nochmal durchmachen, als dass nicht zu haben, was zwischen euch war und ist“ Die Hand legte sich auf Katsuyas Schulter – ob im Schutz oder um ihn im Liegen zu halten, war kaum zu sagen. „Kannst du das verstehen? Oder zumindest akzeptieren?“ „Ich verstehe das nicht“, gab Seto zu. „Deine Zuneigung bedeutet ihm mehr als der Schmerz, mit dem er jetzt lebt. Deine Unterstützung und Liebe wiegen schwerer als die Angst und der Hass, die durch seinen Körper peitschen. Ich sage das jetzt an seiner Stelle, aber frage ihn ruhig, wenn er wieder bei uns ist. Ich kenne ihn. Das ist es, was er denkt.“ „Aber … er … er hat noch nie etwas in die Richtung gesagt“ In Setos Stimme schwang die verzweifelte Hoffnung, dass Yamis Worte nicht wahr waren, mit. „Seto, das kommt daher, dass das für die meisten Menschen selbstverständlich ist. Du verstehst einfach die meisten Selbstverständlichkeiten nicht“ Yami hob beide Hände. „Das ist nicht böse gemeint. Dein Kopf arbeitet einfach anders als der der meisten Menschen. Und während Katsuya auch hochbegabt ist, ist er dabei vollkommen sozial tauglich. Du wiederum bist für die meisten Menschen einfach unverständlich.“ „Auch, wenn ich nett bin?“ Setos Stimme hat plötzlich etwas Helles, Jugendliches. „Auch dann. Genau so, wie du sie nicht verstehst, verstehen sie dich nicht. Das ist, als würden zwei Kulturen aufeinander treffen. Jeder hat seine eigenen Vorstellungen und Moralsätze und diese unterscheiden sich teilweise drastisch. Genau so drastisch unterscheidest du dich von den meisten Menschen um dich herum.“ „Oh … versteht Katsuya mich auch nicht?“ „Er gibt sich Mühe“ Ein Lächeln legte sich auf Yamis Lippen. „Genau wie ich, seit ich weiß, wie völlig anders du tickst.“ Katsuya beobachtete Setos Mimik so genau wie möglich – er hatte sich leider aus seinem Stupor nicht befreien können. Wenigstens konnte er wieder halbwegs denken. Glaubte er zumindest, bis er mit völligem Unverständnis beobachtete, wie Seto begann, breit zu lächeln. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)