Delusive Society von Gepo (Dritter Teil der DS-Reihe) ================================================================================ Kapitel 43: Homophobie ---------------------- Die Frage nach dem Spannungsbogen dieser Geschichte war äußerst berechtigt - ohne viel Vorgeplänkel: Hier ist er. Viel Spaß beim Lesen ^.^ _________________________________________________________________________________ „Seto?“ „Ja?“ „Ich will nicht zur Schule.“ „Hm?“ Der noch Dösende blinzelte, betrachtete Katsuya mit müden Augen und drehte sich zu ihm. „Warum?“ „Morgen ist Heiligabend. Warum haben wir die zwei Tage noch Schule? Das hätten sie uns echt freigeben können!“ Er schlug auf Setos Brust. „Schreib mich krank.“ „Kann ich nicht, ich bin kein Arzt“ Dieser strich fahrig über einen Arm, um ihn zu beruhigen. „Und sagtest du nicht, dass du heute mit den Mädels zum Karaoke verabredet bist? Du musst hin.“ Katsuya schob die Unterlippe vor die Oberlippe. „Mein armer, kleiner, gebeutelter Schatz“ Setos Stimme triefte vor Sarkasmus. „Wie kann ich dir dein Leben bloß leichter machen mit meinen bescheidenen Mitteln?“ „Du kannst Frühstück machen“, entschied der Blonde. „Hm ... ich hatte jetzt eine andere Antwort erhofft.“ „Ich spare mich für morgen auf“ Ein Grinsen. „Ein bisschen Abstinenz macht jedes Erlebnis gleich noch genussvoller.“ „Du bist kein Hund, du bist ein Imp“ Seto verdrehte die Augen. „Komm, wir müssen aufstehen. Schließlich muss ich dir ja Frühstück machen ... als würde ich das nicht eh schon täglich tun.“ „Gerade wolltest du noch mit mir schlafen und jetzt haben wir keine Zeit mehr?“ „Genau“, erwiderte er und erhob sich aus dem Bett. Katsuya blinzelte und schüttelte den Kopf. Genau? Manchmal war der Kerl nicht fassbar. Mit einem Seufzen schwang er sich auch aus dem Bett und schleppte sich ins Bad. Dusche, Rasieren – das Gesicht, nicht den Rest, so was brachten nur Seto und Yami – Haare kämmen und ab zum Frühstück. „Ich habe dir Kakao warm gemacht“, begrüßte Seto ihn unten, wo dieser gerade Katsuyas Frühstücksdose schloss und zu seiner Tasche brachte. „Danke“ Katsuya küsste ihm im Vorbeigehen auf die Wange und setzte sich an den Tisch, wo bereits Brot und Aufschnitt für ihn bereit stand. Seto stand halt auf europäisches Frühstück. „Feiert man Weihnachten in Europa eigentlich wie bei uns?“ „Nein“ Seto kam herüber und schnappte sich seinen Kaffee. „Das ist es ein Fest der Familie, nicht der Liebe. Es gibt geschmückte Bäume in jedem Haus mit Geschenken für die Kinder und Familienfeiern.“ „Warum ist das so anders wie bei uns?“ „Katsuya, wir haben Weihnachten von denen übernommen. Nicht die von uns. Japan hat den Titel „Fest der Liebe“ gelesen und daraus Sexorgien für Paare gemacht. Wir Japaner sind Sex gegenüber weit aufgeschlossener als Europäer.“ „Heißt das, Homosexuelle haben noch mehr Probleme in Europa als bei uns?“ „Nun ... das nicht gerade“ Seto nahm Platz und überlegte kurz. „Bei uns kann man homosexuell leben, aber es darf halt keiner mitkriegen. Man sagt so etwas nicht. In Europa war das vor zwanzig Jahren so. Jetzt sagen Leute da drüben so etwas, aber die Reaktionen sind halt bisweilen ziemlich ungünstig. Man wird nicht getötet oder geschlagen oder so, aber man kann aus der Familie ausgeschlossen werden oder seinen Arbeitsplatz verlieren. Ich denke, wenn man bei uns beginnen würde, so etwas zu sagen, hätte das dieselben Auswirkungen.“ Na super ... waren ja klasse Aussichten. „Warum sagen es Leute dann überhaupt?“ Katsuya nippte an seinem Kakao. „Warum wolltest du, dass wir unsere Beziehung bekannt machen? Um nicht ewig versteckt zu leben. Die Familie anlügen, am besten noch eine Scheinbeziehung führen, niemals außerhalb der Wohnung Zuneigung zeigen und immer Angst haben, dass irgendwer es heraus findet“ Der Ältere biss in sein Schwarzbrot und kaute einen Moment, bevor er weiter sprach. „Aber obwohl relativ viele es sagen und die Reaktionen jetzt nach zwanzig Jahren gar nicht mehr so schlimm sind, sagen es trotzdem nur ein Zehntel der Homosexuellen. Eher gesagt fünfzehn Prozent der Schwulen und sieben Prozent der Lesben. Das gibt mir ein ungefähres Bild, wie unsere Zukunft hier in Japan aussieht.“ „Du meinst, wir werden selbst in zwanzig Jahren noch angefeindet werden?“ Seto nickte nur und fuhr fort: „Ich habe meinen Job, weil kein anderer ihn will. Oder weil kaum ein anderer ihn kann. Aber würde ich mich irgendwo bewerben, wo es sinnvolle Konkurrenz gäbe, würde man mich nicht nehmen – ich bin nicht nur schwul, ich bin auch psychisch krank. Das sind zwei harte Ausschlusskriterien.“ „Aber du bist genial!“ Katsuya legte die Stirn in Falten. „Na und? Der genialste Arbeiter ist immer noch eine Liabilität, wenn er seine Arbeitszeit damit verbringt, seine Kollegen zu verführen und flach zu legen. Oder zu beklauen. Oder die anderen vertreibt, weil er sich in den Pausen vor dem PC einen runter holt. Oder einfach nur durch sein unmännliches Verhalten einen Störfaktor darstellt.“ „Wer glaubt denn, dass wir so einen Mist machen würden?“ Er verzog den Mund noch dazu. „Katsuya, das nennt man Vorurteile. Die Menschen wissen es nicht besser.“ „Aber das ist völliger Mist! Und es ist falsch!“ Katsuya lehnte sich zurück mit verschränkten Armen. „Okay, ich habe früher auch ein paar böse Sprüche über Schwuchteln gemacht, aber mir war eigentlich immer klar, dass das nicht stimmen kann.“ „Es gibt dir trotzdem eine gewisse Grundhaltung. Allein, dass du das Wort Schwuchteln ohne jede Scham aussprichst, sagt einiges darüber, wo deine Meinung so liegt“ Seto hob eine Augenbraue. „Fast jeder weiß, dass die Vorurteile übertrieben sind. Aber einen Teil davon hält man trotzdem immer für wahr. Vielleicht verführen wir nicht den ganzen Tag lang Kollegen, aber wir machen uns trotzdem an ein oder zwei ran und die stört das. Und sobald es alle wissen, fühlen sie sich unwohl, halten Abstand, wechseln vielleicht den Arbeitsplatz. Ein Teil davon ist sogar wahr – sobald alle Kollegen es wissen, wird es ein oder zwei geben, die es stört“ Erneut ließ er eine Pause, wo er von seinem Brot aß. „Würdest du einen schwulen Kindergärtner einstellen? Okay, dass er sich an die Kinder ran macht, ist höchstwahrscheinlich übertrieben, aber wer sagt denn, dass es die Kinder nicht irgendwie beeinflusst? Und es wird auf jeden Fall Eltern geben, die ihre Kinder dann nicht mehr in den entsprechenden Kindergarten lassen.“ „Aber all die Probleme entstehen doch nur, weil Leute homophob sind. Das alles hat doch nicht die geringste Grundlage außer die allgemeine Ablehnung. Hätten Leute nicht die Einstellung, Homosexualität sei schlecht, gäbe es gar keine Probleme“, schlussfolgerte Katsuya. „Doch“ Ein Schluck Kaffee. „Homosexuelle Paare haben tendenziell weniger Kinder. Vor allem männliche Paare. Ungeplante Schwangerschaften gibt es einfach nicht.“ „Heißt, unglückliche Kinder gibt es auch massenweise weniger“ Katsuya knirschte mit den Zähnen. „Ja, richtig. Kinder homosexueller Paare sind glücklicher, besser sozial integriert und gesünder als der Durchschnitt der Kinder heterosexueller Paare“ Seto beobachtete ihn über den Rand seines Kaffeebechers. „Es sind trotzdem weniger.“ Und das sollte jetzt das entscheidende Argument gegen Homosexuelle sein? „Na und? Es gibt ja wohl genug Menschen auf dieser Welt. In der dritten Welt verhungern Kinder, weil es nicht genug Arbeit gibt. Sollen die Leute halt herkommen.“ „Aber es sind Ausländer. Sie haben eine andere Kultur. Sie sprechen unsere Sprache oft nicht oder halt nicht gut. Sie verändern uns, unsere Sprache und unsere Kultur. Sie bringen jede Menge Probleme und Krankheiten her.“ Katsuya betrachtete seinen Freund mit absolutem Unglauben. War das wirklich Setos Meinung? Okay, er würde einem Bettler auch die Tür vor der Nase zuschlagen, aber trotzdem ... „Was? Eine kranke, aber kulturell geeinigte Bevölkerung ist den Menschen lieber als eine gesunde Bevölkerung, die von Ausländern infiltriert wird. Schließlich sind sie fremd und damit schlecht. Alles, was man nicht kennt, wird prinzipiell abgelehnt. Sie machen eine Bevölkerung krank. Kränker, als sie zuvor war. Also hat die eigene Bevölkerung gefälligst viele Kinder zu kriegen.“ „Ich finde die Einstellung krank“, entschied Katsuya, „ich spüre Ekel, wenn ich dir nur zuhöre. In mir wehrt sich da alles gegen.“ „Das finde ich persönlich auch gut so“ Seto trank seinen Kaffee aus. „Aber so läuft die Argumentation. So hat es stets funktioniert, also wird es das auch weiter tun. Frag doch mal in deiner Klasse, was schlimmer ist – schwul oder Ausländer. Das ist zwar eine völlig andere Frage, aber wie viele werden dir antworten, dass beides doch gar kein Problem ist?“ „Ryou und Ayumi ... vielleicht“, flüsterte der Blonde, „ich glaube, ich hätte das nicht einmal selbst gesagt.“ „Etwas, was ich sehr an dir schätze, ist deine Selbstreflexion“ Seto lächelte. „Die meisten Menschen wissen, dass Vorurteile nicht wahr sind. Aber es bleibt trotzdem etwas hängen und sei es nur die Einstellung, dass Homosexualität etwas Schlechtes ist. Wenn du nachfragst, warum, kriegst du allerdings die unmöglichsten Antworten, die irgendwann in die Vorurteile abdriften. Menschen können ihre Homophobie nicht begründen. Es ist einfach nur ein inneres Störgefühl.“ „Das ist scheiße“, meinte Katsuya grob. „Würdest du ein behindertes Kind aufziehen wollen?“ „Höh?“ Der Blonde blinzelte. „Was hat das mit dem allen zu tun?“ „Antworte einfach.“ „Ähm ... abgesehen von der Tatsache, dass du keine Kinder willst ... ich ... ich weiß nicht. Ich glaube, das kommt auf das Kind und die Situation an.“ „Was hält dich davon ab, sofort ja zu sagen?“ Seto lehnte sich vor und stützte sich mit einem Arm ab. „Unter der Voraussetzung, dass du ein Kind willst.“ „Ich weiß ja nicht, was die Behinderung ist. Ich weiß nicht, ob ich damit klar komme“ Katsuya sank ein wenig in den Stuhl. „Ich bin nicht illusorisch genug, um zu sagen, dass das kein Problem sein wird und ich mein Kind trotzdem über alles liebe.“ „Die meisten Menschen würden entweder wie du antworten oder sofort nein sagen. Sie wissen nicht, was da auf die zukommt. Bei einem normalen Kind würden die meisten allerdings ja sagen, obwohl sie eigentlich auch nicht wissen, was auf die zukommt. Ein nicht behindertes Kind kann trotzdem ziemlich grausig sein. Woher kommt das?“ „Uhm ... inneres Störgefühl?“ So langsam musste es ja eine Verbindung zu ihrem alten Thema geben. „Vor allem das. Und die gehörten Vorurteile, deren Kern ja eine gewisse Wahrheit hat. Behinderte Kinder brauchen meist mehr Zeit und Aufmerksamkeit. Dass die meisten Eltern behinderter Kinder diese sehr gern geben und eigentlich äußerst zufrieden sind, wird dabei nicht beachtet. Man sieht nur die, die das nicht leisten können, wo das Kind die Eltern überfordert. Bei Homosexuellen sieht man nur die, die nur trinken und feiern, ungeschützt Geschlechtsverkehr haben und damit Werte wie Treue oder Zusammengehörigkeit in den Schmutz ziehen. Solche wie uns beide sieht man nicht.“ „Na ja, die Sache mit der Treue haben wir in den letzten zwei Wochen wirklich nicht so hoch gehalten“ Katsuya senkte den Blick. „Wir müssen nicht päpstlicher als der Papst sein. Es reicht mir, uns irgendwo auf oder über dem Durchschnitt heterosexueller Beziehungen zu bewegen“ Seto aß das letzte Stück seines Brotes. „Was ich sagen will, ist, dass man durch das innere Störgefühl nur das Negative sieht. Es ist sehr schwer, so etwas zu ändern.“ „Und woher kommt das innere Störgefühl?“, fragte Katsuya etwas ruhiger. „Wer weiß? Erziehung, Genetik ... es verschwindet, je mehr Homosexuelle man kennt. Aber es ist bei ungefähr drei Vierteln der Bevölkerung vorhanden. Mehr oder weniger ausgeprägt halt“ Seto begann das Frühstück wieder ab zu räumen. „Wie viele Leute in der Bevölkerung kennen Homosexuelle?“ „Ein Drittel ungefähr. Zumindest die, die wissen, dass jemand es ist.“ „Und der Rest kennt nicht einen einzigen Homosexuellen? Oder eine?“ Katsuyas Lider weiteten sich. „Das sind ziemlich wenige.“ „Ich kann Menschen ihre Homophobie nicht wirklich übel nehmen. Sie kennen keine Homosexuellen, sie haben nur Vorurteile gehört. Und irgendwo her kommt das innere Störgefühl.“ „Das heißt, die Situation wäre besser, wenn alle dazu stehen ... aber wenn sie dazu stehen, müssen sie mit harten Konsequenzen rechnen. Das ist kompliziert“ Seto lachte auf. „Ja, ja, okay, das war eine blöde Aussage ... natürlich ist es kompliziert“ Katsuya stand auf, um seinen Freund zu helfen. „Ich glaube, ich mache heute Nachmittag mal ein, zwei Umfragen unter den Mädchen. Ich frage mich, wie sie reagieren.“ „Aber vergraul' sie nicht“ Seto küsste ihm auf die Schläfe. „Menschen reagieren nicht gut darauf, wenn ihnen klar wird, dass ihre Einstellung ziemlich unbegründet ist.“ „Ja ja“ Katsuya grinste. „Keine Sorge, ich bin sozial etwas begabter als du“ Er schnappte sich den Anderen für einen Kuss auf den Mund. „Aber ich muss los. Und du musst duschen.“ „Dann mach dich los. Und melde dich, wenn du sehr spät nach Hause kommst. Denk daran, dass du morgen noch Schule hast“ Eine Hand strich über seinen Rücken zu seinem Po. „Nicht, dass du mir morgen Abend zu müde bist.“ „Ich werde dir niemals müde“ Sie tauschten einen Kuss mit Zunge. „Jetzt muss ich aber wirklich los“ Mit einem letzten Lächeln drehte Katsuya sich um, schnappte sich seine Tasche und sein Kunstzeug und machte sich auf den Weg. Mit einem Blick auf die Uhr verfiel er schnell ins Rennen, um seine Bahn noch zu kriegen – die natürlich gerade heute drei Minuten Verspätung hatte, aber so war das ja nun mal. Er quetschte sich in den Zug, beschützte seine Kunstsachen auf dem Weg und tauschte ein paar Fratzen mit einem kleinen Kind, das wenige Meter von ihm entfernt auf dem Schoß seiner Mutter saß. Ein paar Haltestellen später machte er sich raus und auf den Weg zur Schule. War ja zum Glück nicht allzu weit. Noch zweimal abbiegen und dann ... ein Gefühl der Vorahnung überkam ihn. Ein Kleintransporter mit dunklen Scheiben stand an der Seite der Straße und wirkte irgendwie nicht ganz geheuer. Zur Vorsicht wechselte er die Straßenseite, doch mitten auf der Straße hörte er das Geräusch einer öffnenden Transportertür. Panik? Angebracht, dafür hatte er lange genug am Stadtrand gelebt. Er sprintete die Straße in Richtung Schule. Mehrere Fußschritte folgten ihm. Rennende Schritte. Er warf einen Blick über die Schulter. Drei Männer, groß gewachsen, bullig. Einer recht knapp hinter ihm. Er warf ihm die Tüte mit den Kunstsachen entgegen, sah wieder nach vorne und rannte, so schnell er konnte. Rennen, straucheln, weiter rennen. Er schaffte es. Ein Ruf, ganz nah hinter ihm. Eine Hand packte seinen Arm, eine seine Schulter und riss ihn zu Boden. Mit dem Aufschlag wurde alles schwarz. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)