Wolfserinnerungen - Der Erste Schnee von Scarla ================================================================================ Prolog: Tränen -------------- Manchmal frag ich mich, was ich getan habe. Es muss etwas schreckliches, unendlich Grausames gewesen sein, denn sonst würde ich es nicht verstehen. Sonst würde es für mich keinen Sinn ergeben. Aber was ergibt schon einen Sinn? Ich bin immer alleine. Manchmal gibt es jene in meinem Leben, die mich mögen, die sich für mich interessieren, denen ich wichtig zu sein scheine, aber letzten Endes muss ich doch immer erkennen, dass es nur Lug und Trug ist. Sie verstehen mich nicht wirklich. Sie denken es, aber sie tun es nicht. Ich bin einsam. An manchen Tagen spüre ich es besonders stark. Dann, wenn niemand da ist, wenn keiner die Tränen sieht, die ich weine. Wenn keiner mich in den Arm nehmen will, oder zumindest einmal kurz inne hält, um mir ein nettes Wort zu sagen. Ich fühle mich benutzt. Ich muss immer andere aufheitern, ich muss immer für sie da sein. Und ich sage nicht nein. Ich weiß, wie es ist, wenn sich keiner um einen kümmert, wie könnte ich das dann jemand anderem antun? Also versuche ich, meine Tränen zu verbergen. Manchmal gelingt es mir nicht, aber meistens folgt darauf keine Reaktion. Ich muss immer stark sein. Wie oft will ich einfach nur weinen und all meinen Schmerz in die Welt hinausschreien? Aber ich kann es nicht. Ich tue es nicht. Weil ich es nicht darf. Weil andere es mir verbieten. Weil sie selbst schwach sein wollen und das können sie nicht, wenn jemand starkes zeigt, dass er selbst genauso klein und verletzlich ist. Wann immer jemand meine Tränen sieht, versteht er nicht, dass sie mir gut tun. Dass sie meine einzige Möglichkeit sind, anderen zu zeigen, wie schlecht es mir geht. Immer wollen alle, dass ich meine Tränen verberge. Es gibt doch keinen Grund zu weinen. Für euch nicht, für mich schon, denn wenn mein Schluchzen mich schüttelt, dann erst bekommen sie eine Ahnung davon, wie es hinter meinem Lächeln wirklich aussieht. Erst dann, wenn es fast schon zu spät für mich ist, erst dann bekomme ich, was ich mehr als alles andere auf der Welt haben will. Ein paar liebe Worte, jemand, der mich tröstend in den Arm nimmt. Aber meistens ist nicht einmal jemand da. Meistens muss ich mich selbst in den Arm nehmen, mich selbst trösten. Weil ich jenen, die mir wichtig sind, völlig egal bin. Denn sie sind nie für mich da, wenn ich sie einmal wirklich brauche. Sie sind nur da, wenn sie mich brauchen. Und so verberge ich wieder meine Tränen, so versuche ich wieder zu lächeln, während meine Seele stirbt. Ich warte einfach auf den Tag, an dem es sich ändert. Ich warte einfach, bis ich diese Welt verlasse und es mir egal ist. Ich warte und schaue dann zu, wie viele um mich trauern. Weil sie jetzt selbst stark sein müssen. Weil es niemand anderes mehr für sie tut. Nicht, weil sie mich wirklich gern hatten. Oder auf den Tag, an dem ich endlich jemanden treffe, dem ich wirklich wichtig bin. Der endlich mal für mich stark ist. Der die Tränen hinter dem Lächeln sieht und bei mir ist, wenn ich ihn brauche. Ich warte auf den Tag, an dem mir ein wirklicher Freund die Tränen wegwischt und sagt: »Du brauchst nicht zu weinen, denn du bist nicht mehr einsam. Ich bleibe immer bei dir. Gemeinsam bis ans Ende der Welt.« Kapitel 1: Freunde ------------------ Lugh Akhtar saß am offenen Fenster und sog die frische Luft tief in die Lungen. Es hatte den ganzen Tag geregnet, deswegen roch die Luft nach nassem Gras und Erde. Jetzt, wo die Sonne im Begriff war unter zu gehen, waren die Wolken verschwunden und die Sonne ließ das nasse Gras glitzern und die Bäume saftig grün erstrahlen. Er hörte das zufriedene letzte Zwitschern ein paar Vögel und über sich konnte er einen Falken ausmachen, der nach Beute suchend über den goldenen Himmel kreiste. In solchen Momenten, wo die Natur all ihre Pracht auf einmal entlud, da liebte er das Leben. Trotz der Schmerzen, die sich seinen Rücken hinab zogen, trotz der Furcht, die noch immer sein Herz zerfraß und dessen Ursprung im Rest des Hauses zu finden war. Trotz all seiner Erinnerungen, die ihn quälten, trotz den Alpträumen, die ihn heimsuchten, wann immer es ging. Trotz seiner Begabung und seines Fluches. »Hast du dir schon einen Namen überlegt?«, fragte plötzlich eine Stimme. Er wandte sich nicht um, er wusste dennoch, dass es Hazel war. »Namen eilen nicht, ob er heute oder morgen einen bekommt ist einerlei. Der Moment allerdings, der vergeht«, antwortete er und deutete auf das Meer aus Gras, das sich vor ihnen bis zum Horizont erstreckte. »Du hast dir hier eine wirklich schöne Gegend ausgesucht…«, fand die Frau und schaute über die weiten Hügel. »Ich weiß«, antwortete er ihr, ohne auf ihre unausgesprochene Frage einzugehen. Was nur hatte ihn in diese Gegend gezogen? Das nächste Dorf war eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt und das in einer Gegend, wo man auf die Nachbarn angewiesen war, wie nirgendwo sonst. Doch es ging sie nichts an, deswegen sagte er nichts. »Nea geht es übrigens gut«, sprach Hazel weiter, nachdem sie für einige Momente hoffnungsvoll auf eine Antwort gewartet hatte. »Weißt du, ich habe überlegt, dass sie die Namen aussuchen sollte. Nachdem sie meinetwegen solche Schmerzen hatte, ist es das Mindeste, was ich tun kann«, überlegte er laut, doch er schien etwas ganz fatal Falsches gesagt zu haben, denn Hazel schnaufte laut. »Wenn du meinst…«, sagte sie, obwohl man hörte, dass ihr noch mehr auf der Zunge lag, doch er ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen lächelte er und schaute zu dem kleinen Bündel, das in seinen Armen lag, hinab. Sein Herz machte einen freudigen Sprung, als er seine Tochter betrachtete, die ihn im letzten Licht des Tages müde anblinzelte. »Weißt du, das es ein Frevel ist, einem Einhorn einen Namen zu geben?«, fragte er plötzlich. »Es gibt keine Einhörner«, war Hazels kalte Antwort. Lugh Akhtar seufzte. »Ich weiß.« Er warf ihr einen schnellen, abschätzigen Blick zu. Er mochte Hazel, er mochte alle Schwestern von Nea, doch manchmal waren sie ihm einfach zu realitätsnah. Sie verstanden seine Gedankengänge nicht, sie verstanden ihn nicht. Zumindest meistens. Obwohl sie alle Zauberer waren, war er anders als sie. Es klopfte an der Zimmertür und nach einigen Sekunden trat Chess ein. Er war nicht wirklich Lugh Akhtars Bruder, aber er war wohl die Person, die einem solchen am nächsten kam, deswegen war er es dennoch irgendwie. »Lugh, da ist ein Mann an der Tür. Ein… ein Söldner. Ich hab ihm gesagt, er soll in ein paar Tagen wiederkommen, aber er ließ sich nicht abweisen«, berichtete der junge Mann unruhig. »Hat er seinen Namen genannt?«, erkundigte sich Lugh Akhtar. »Nein.« »Hat er eine Narbe im Gesicht?« »Ja.« »Kenai.« Der junge Zauberer seufzte. Kenai war zwar sein Cousin, aber die beiden hatten einige Meinungsverschiedenheiten gehabt. Als noch Krieg in Altena geherrscht hatte, da waren sie beide und ihre Freunde von einigen Zauberern angegriffen und dabei getrennt worden. Nea und Kenai waren sich in der Zeit näher gekommen. Sie hatte sich letzten Endes für ihn entschieden und auch Kenai hatte jemand anderes gefunden und doch, diese kurze Zeit, als er den Menschen, den er auf der Welt am Liebsten hatte, verloren glaubte, hatte eine tiefe Kluft zwischen ihn und seinen Cousin getrieben. Er wusste nicht, ob sie diese Schlucht jemals gänzlich überwinden konnten. Und auch nicht, ob er ausgerechnet Kenai heute sehen wollte. Und trotzdem nickte er Chess zu. »Bring ihn her. Ich werde mir anhören, war er zu sagen hat«, meinte er. Dass er sich dabei ganz unwillkürlich anspannte, merkte er erst, als seine Tochter sich zu Bewegen begann. Er überlegte, ob er sie in ihre Wiege legen sollte, doch er wollte Nea nicht stören, also blieb er sitzen, begann leise zu summen und sie zu wiegen. Er sah aus dem Augenwinkel, wie Hazel den Raum verließ. Es dauerte einen Moment, dann öffnete sich die Tür wieder und nur Kenai trat ein, Chess blieb draußen. »Hallo, Lugh Akhtar«, begrüßte der Schwarzhaarige ihn. Seine Stimme zitterte dabei sacht und seine Körperhaltung schrie seine Unsicherheit regelrecht in die Welt hinaus. »Kenai. Was führt dich hierher?«, fragte er und beobachtete seinen Cousin interessiert. Er fühlte sich überlegen und er mochte das Gefühl, auch wenn er wusste, dass es falsch war, sich daran zu erfreuen. »Ich… weißt du… ach, verdammt.« Der junge Mann runzelte die Stirn und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich hab mir bestimmt eine Million Mal überlegt, was ich sagen möchte. Ich hab es immer wieder verbessert, bis es perfekt war und jetzt ist alles weg. Als hätte jemand meinen Kopf leer geschüttelt.« »Warum bist du hier, Kenai?« Lugh Akhtar hatte keine Lust auf dieses belanglose Geplänkel. »Ich wollte mit dir sprechen. Ich… habe viel nachgedacht und…« Kenai seufzte und ließ sich einfach auf den Boden fallen. Der Zauberer blinzelte verblüfft, damit hatte er nicht gerechnet und er verstand es auch nicht. »Herzlichen Glückwunsch übrigens«, seufzte Kenai und deutete auf das kleine Menschlein, das der frischgebackene Vater im Arm hielt. Doch ihm viel schnell auf, dass er diesen Glückwunsch lieber hätte hinunterschlucken sollen, denn der Blick Lugh Akhtars wurde mehr als eisig. »Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten… auch wenn ich nicht genau weiß, wie ich das diesmal wieder geschafft habe... aber ich hatte immer schon ein Talent, anderen Leuten auf die Füße zu treten.« Nachdenklich schaute Kenai die Raumdecke an. »Kenai, was willst du hier? Willst du… nun, nennen wir es mal Besitzansprüche… Willst du die loswerden?«, erkundigte sich der Zauberer. »Besitzansprüche?« Der junge Mann wirkte ehrlich erstaunt. Einige Sekunden starrte er seinen Cousin nur völlig verständnislos an, dann lachte er laut los und erschreckte damit Lugh Akhtars Tochter. Sie weinte nicht, aber sie zuckte zusammen und fiepte einmal leise, als wäre es ein junger Hund und kein Menschenmädchen. Da wurde dem jungen Vater bewusst, dass hier der falsche Platz für sie war. Er stand auf und brachte sie in ihr Bettchen, zu Nea ins Zimmer. Als er wieder zurückkam, lag Kenai ausgestreckt auf dem Boden und kicherte noch immer leise vor sich hin. »Was ist so lustig?«, wollte Lugh Akhtar wissen. »Die Idee… alleine schon diese Idee…« Der Söldner setzte sich auf und atmete einmal tief durch. »Ich weiß nicht, wie weit ihr damals gegangen seid. Es wäre durchaus möglich«, antwortete der junge Mann kalt. »Weißt du, was an dieser Aussage das lustige ist?«, wollte Kenai wissen, doch er antwortete selbst, bevor Lugh Akhtar auch nur den Mund öffnen konnte. »Ich könnte dir gerade allen möglichen Schwachsinn erzählen und du würdest mir alles glauben. Einfach nur, weil du immer erst einmal von der Wahrheit ausgehst, bis die Lüge bewiesen ist.« Damit hatte der Söldner recht. Und den jungen Mann störte es, dass sein Cousin ihn so restlos durchschaut hatte. »Ich würde die Wahrheit durch Nea erfahren«, gab er zu bedenken. »Oder auch nicht. Es würde immer ein Zweifel bleiben, ob sie dich anlügt, oder ob ich es tue. Oder ob wir beide es tun.« Der Söldner kreuzte die Beine im Schneidersitz und schaute wissend zu seinem Cousin auf. »Kenai, was willst du?« Das Gefühl der Überlegenheit war völlig verschwunden, stattdessen fühlte sich Lugh Akhtar in die Ecke gedrängt und seltsam nackt. Als könnte er keine Geheimnisse vor seinem Gegenüber haben. »Ich will mich entschuldigen. Ich habe… ein Gefühl fehlinterpretiert und dabei fast etwas kaputt gemacht, was unantastbar sein sollte«, ging Kenai sogleich auf den Themawechsel ein. »Wie… meinst du das?« »So, wie ich es sage. Ich hätte mich nicht zwischen dich und Nea stellen sollen. Ich mag sie, ich mag sie sogar sehr, sehr gerne, aber ich liebe sie nicht. Ich dachte es, weil mir Gefühle wie Liebe und auch nur Freundschaft bisher fremd waren, aber es kann keine Liebe gewesen sein, denn dann müsste ich ein neues Wort für das erfinden, was ich jetzt fühle. Aber selbst wenn es wirklich Liebe wäre, hätte ich das nicht tun dürfen. Man drängt sich nicht zwischen zwei Menschen, die einander so nahe sind. Jetzt weiß ich das. Deswegen will ich mich bei dir entschuldigen«, erklärte der Söldner und schaute unverwandt in die außergewöhnlichen Augen Lugh Akhtars. Sie glitzerten ebenso vielfarbig, wie das Nordlicht. Doch der junge Mann wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Ihn bedeutete diese Entschuldigung nichts, dafür war er noch nicht über das vorangegangen Thema hinweg. Würde Nea ihn wirklich anlügen, wenn er sie nach der Zeit mit Kenai fragte? Was war damals nur geschehen? Und schon wieder schien sein Cousin seine Gedanken zu lesen, denn der Söldner wirkte bedrückt, als er seufzte. »Es ist nichts geschehen, was dir Sorgen bereiten müsste, Lugh Akhtar. Allerdings weiß ich nicht, wie ich es dir beweisen sollte. Ich wollte nicht, dass du jetzt zweifelst, ich habe nur meine Gedanken ausgesprochen. Es war nichts, was für dich in irgendeiner Art und Weise von Bedeutung wäre…«, erklärte er, doch der junge Zauberer schwieg. Da stand Kenai auf und schaute ihn fest an. »Ich leiste einen Schwur vor dem Himmel und der Erde. Ich schwöre, dass ich dir die Wahrheit sage, wenn ich beteuere, dass zwischen Nea und mir nichts gewesen ist, was dich in irgendeiner Art und Weise beunruhigen müsste. Nicht einmal einen Kuss habe ich von ihr erhaschen können und glaub mir, ich habe es versucht.« Kenai grinste schief, während Lugh Akhtar ihn aus großen Augen fassungslos anstarrte. »Du hast… woher…«, fragte er verwirrt, bis ihm Kinaya einfiel. Sie war eine Zauberin, natürlich kannte sie also die Zauberschwüre. Und natürlich hatte Kenai einmal einen mitangehört, als sie ihn gesprochen hatte. Denn Kenai, obwohl er vermutlich ebenso begabt war, wie auch Lugh Akhtar, war nie zum Zauberer ausgebildet worden und konnte seine Macht nicht bewusst einsetzen. Also musste es wohl von Kinaya kommen. »Ich war einmal dabei, als ein Zauberer den Eid gesprochen hat und meine Mutter hat mir später erklärt, wozu er gut ist. Ich denke, wenn du mir glauben wirst, dann bei so einem Versprechen«, bestätigte der Söldner seine Vermutung. Doch Lugh Akhtar zweifelte immer noch. Er hatte gesehen, wie der Eid durch die großen Mächte bestätigt wurde, er hatte aber nie gesehen, was geschah, wenn man sich nicht daran hielt. Geschah dann überhaupt etwas? Da fuhr ein Wind durch den Raum, viel heftiger und mächtiger, als es für so einen Tag üblich war. Er warf Lugh Akhtar von der Bank zu Boden, verwüstete regelrecht das Zimmer, stieß auch Kenai um und fuhr dann wieder hinaus. Verblüfft starrten die beiden jungen Männer einander einen Augenblick lang an. »Ich weiß nicht, was das war, ich… habe nicht gelogen…«, murmelte Kenai verwirrt und runzelte die Stirn. Doch Lugh Akhtar wusste, dass dieser Sturm auch nicht dem Söldner gegolten hatte, sondern ihm. Der Wind wollte ihm damit sagen, dass er aufhören sollte, sich immer selbst im Weg zu stehen. Und verdammt, der Wind hatte recht. »Keine Sorge, das galt auch nicht dir«, meinte der junge Zauberer, während er versuchte aufzustehen. Vor einem halben Jahr hatte ihn ein Pfeil in den Rücken getroffen, die Narbe war zwar verheilt, aber sie schmerzte noch und sie bereitete ihm auch oft Schwierigkeiten. Auch bei solch banalen Dingen, wie dem Aufstehen. Aber er würde sich nicht beschweren, denn er wusste genau, dass er noch gut weggekommen war. Er hätte genauso gut tot sein können, oder gelähmt. Kenai jedoch erhob sich wieder ohne Probleme. Er zögerte kurz, als er Lugh Akhtars Probleme bemerkte, dann jedoch streckte er ihm helfend die Hand entgegen. Und der Zauberer zögerte auch nur einen Moment, bevor er die Hand ergriff und sich hochziehen ließ. »Danke«, lächelte Lugh Akhtar und meinte damit nicht nur die Hilfe beim Aufstehen. Und Kenai verstand das, denn er lächelte dankbar. »Was hast du jetzt vor?«, wollte der junge Zauberer wissen. »Ich weiß nicht… Ich gehöre nicht zum Frühling, deswegen kann ich nicht das ganze Jahr bei ihr bleiben. Und… als Söldner möchte ich nicht mehr mein Geld verdienen. Es muss andere Wege geben. Vielleicht… braucht ja irgendein Bauer einen Knecht oder die Armee von Lanta hat Interesse an mir«, überlegte Kenai verlegen und schaute zu Boden. »Oder du bleibst eine Weile hier. Ich kenne die Leute im Dorf, ich weiß, dass einer von ihnen Pferde züchtet, für die hohen Herren im Imperium. Ich kann mir gut vorstellen, dass er Interesse an einem Stallburschen haben könnte.« Das war ein offenes Freundschaftsangebot und Kenai verstand das. Er nahm es mit einem Lächeln und einem Nicken an. »Nun… was hast du jetzt vor?«, fragte der Söldner zögernd. »Ich muss mir noch den Namen meines Sohnes überlegen. Und ich muss einem Wesen einen Namen geben, das keinen Namen erhalten sollte, denn ihr einen Namen zu geben ist… als wenn man versucht, einem Einhorn einen Namen zu geben. Man darf es einfach nicht tun«, seufzte der junge Zauberer. »Dann gib ihr einen Namen, der einem Einhorn würdig wäre«, fand Kenai. »Solch einen Namen gibt es nicht«, fand Lugh Akhtar. »Es gibt Namen, die dem Tag und der Nacht würdig sind. Wenn sie Namen haben, muss es auch für ein Einhorn einen Namen geben«, erklärte der junge Mann fest. Und der junge Zauberer nickte langsam. Sein Cousin hatte recht. »Deinen Sohn… Kinaya hat mir einmal erzählt, dass ein Bruder, hätte ich je einen gehabt, Kekoa geheißen hätte. Kekoa bedeutet Mut und es klingt… so ähnlich wie Kanoa. Vielleicht… gefällt dir der Name ja«, murmelte der leise. Und Lugh Akhtar schaute ihn aus großen Augen erstaunt an. Langsam wurde es unheimlich. Er hatte das Gefühl, Kenai könnte seine Gedanken lesen, denn er hatte kurz darüber nachgedacht, seinen Sohn nach seinem Vater zu benennen, die Idee aber wieder verworfen. Er wollte seinen Sohn nicht nach einem Toten benennen, er hatte dabei ein schlechtes Gefühl. Kekoa allerdings gefiel ihm sehr gut. »Hat… der Name eine Bedeutung?«, erkundigte er sich leise. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass ein Name mehr sein konnte, als ein bloßes Wort, deswegen wollte er ihn nicht willkürlich vergeben. »Mut. Kanoa bedeutet Freiheit, Kekoa bedeutet Mut«, antwortete Kenai. Da nickte Lugh Akhtar. »Dann will ich so mutig sein, meinen Sohn so zu nennen«, lachte er. »Fehlt also nur noch ein Name für dein Einhorn«, lächelte der junge Mann. »Ja…« Der Zauberer blickte hinaus. Die Sonne war verschwunden, stattdessen ging ein goldener Vollmond auf. Er dachte an Drafnar und Paivi, dem Tag und der Nacht. Jene Wesen, denen er ebenfalls niemals einen Namen gegeben hätte. Doch sie hatten einen. Sie hatten sogar mehr als einen, sie hatten viele. Hope, Neas Bruder, hatte es ihm erzählt. Vor langer, langer Zeit, zum Beginn der Welt, hatten sie anders geheißen. Drafnar und Paivi. Mani und Sol. Mond und Sonne. Er drehte sich langsam um, schaute durch den verwüsteten Raum. Ein Buch lag aufgeschlagen auf dem Boden. Es war das Nachtbuch, das mächtigste Buch seiner Welt. Hope hatte es ihm ausgeliehen, obwohl er es nicht lesen konnte. Er kannte die Geschichten trotzdem, er hatte sie ihm alle erzählt. Und aufgeschlagen war seine Lieblingsgeschichte. Die Geschichte, wie der Mond zu seiner Macht kam. »Mana«, flüsterte er. »Was?« »Mana. Der Name meiner Tochter. Sie soll Mana heißen. Das Wort kommt aus dem Nachtbuch und es bedeutet Macht. Und die wird sie haben. In ihren Händen wird das Schicksal dieser Welt liegen. In der Entscheidung eines Augenblicks. Ich weiß es.« »Gesegnet mit dem Namen des Mondes und dem Namen der Macht. Dann kann ja nichts mehr schief gehen«, lachte Kenai. »Nein… hoffentlich nicht«, murmelte Lugh Akhtar nachdenklich. Dann jedoch lachte er laut auf. »Lass uns runter gehen. Chess hat eine Feier versprochen und so wie ich Neas Familie kenne, müssten mittlerweile alle da sein. Also lass uns feiern, denn heute ist ein ganz besonderer Tag«, erklärte er. Und sein Cousin nickte gut gelaunt. Gemeinsam gingen sie nach unten. Um die Geburt ihres Schicksals zu feiern. Kapitel 2: Ankunft in Meeria ---------------------------- »Hör auf dir Sorgen zu machen«, meinte Nea und riss Lugh Akhtar aus seinen Gedanken. »Sorgen?«, fragte er zurückhaltend. »Wie kommst du darauf, dass ich mir Sorgen mache?« »Lugh Akhtar, ich kenne dich nun wirklich lange genug um zu wissen, wenn dich etwas beschäftigt. Glaub mir, meine Schwestern sind halb so schlimm und meine Eltern sind auch keine Ungeheuer. Ich wüsste auch keinen Grund, warum sie dich nicht mögen sollten«, fand sie und schaute ihn forschend an. »Soll ich bei den familiären oder den gesellschaftlichen Fehltritten beginnen?«, erkundigte er sich rethorisch, schüttelte dann seufzend den Kopf. »Denke an alle bisherigen Treffen zurück und sag noch einmal guten Gewissens, dass sie mich freundschaftlich aufnehmen werden. Dann glaube ich dir vielleicht.« »Mein Vater wird nicht vergessen haben, dass du als Einziger auf seiner Seite warst. Selbst ich hätte ihn in die Verbannung gehen lassen, immerhin hat er getötet«, fand sie. »Er hat mir das wertvollste Wesen dieser Welt geschenkt, wie könnte ich ihm da etwas Böses tun? Nea, er hat mir ein neues Leben geschenkt, ich kann mir niemanden vorstellen, dem ich dankbarer sein könnte. Wie sollte ich ihn dann so verraten?« Er schüttelte abermals den Kopf. »Vertrau mir, du wirst sie alle mögen. Und sie werden dich mögen. Sie müssen, immerhin bist du der Vater meiner Kinder, ich bin auf dein Wohlwollen angewiesen«, scherzte sie, doch Lugh Akhtar war es, als hätte sie ihm eine Backpfeife verpasst. »Nea… «, begann er, allerdings wusste er nicht genau, wie er weitersprechen wollte. »Och, Lugh Akhtar… Ich weiß, was du jetzt denkst, aber sei dir gewiss: Solltest du auf die Idee kommen, mir einen Antrag machen zu wollen, nur weil alle Welt es von dir erwartet, dann werde ich ihn garantiert nicht annehmen. Tue nicht, was man von dir erwartet, tue nur, was du von Herzen tun willst. Also komm nicht auf dumme Ideen, nur weil meine Schwestern versuchen, sie dir einzupflanzen«, fand sie. »Ich sagte doch, dass deine Ideen völliger Schwachsinn sind«, bemerkte Kenai vom Kutschbock aus. »Halt die Klappe und fahr«, antwortete Lugh Akhtar lachend. »Welche Ideen?«, erkundigte sich Nea. »Dass du wütend wärst oder so. Immerhin habt ihr zwei Kinder, für gewöhnlich sind in dem Zustand schon lange die Ringe getauscht oder der Mann ist weg. Aber ich fürchte in diesem Fall wird es keine Ringe geben und den Mann wirst du nicht mehr los«, überlegte Kenai laut. »Halt die Klappe!«, fauchte Lugh Akhtar, während Nea lachte. »Wir sind übrigens gleich da«, sprach Kenai weiter. Hätte der junge Zauberer nicht seine Tochter im Arm gehalten, wäre er jetzt ans Fenster gestürzt. Die Hochzeit seiner Schwester Cinder und von Neas Bruder Hope würde nicht in Altena stattfinden, sondern in einer Hafenstadt am östlichen Meer, die den Namen Meeria trug. Nea hatte ihm erklärt, dass Hope dort geboren worden war und die ersten Lebensjahre verbracht hatte. Ihre Mutter und zwei ihrer Schwestern lebten noch immer dort, während der Rest überwiegend in Altena oder Lanta beheimatet war. Nur einer ihrer Brüder, Red, nannte keine dieser Städte sein zu Hause, doch Red nannte sowieso nur den Ozean sein Heim. Er war, obwohl ein bemerkenswerter Zauberer, lieber als Seemann aufs Meer hinausgefahren, als sich einen typischen Zaubererberuf zu widmen. Kenai zumindest hatte recht. Es dauerte nur noch eine halbe Stunde, bis sie vor einem großen Haus, ein wenig Abseits der Stadt und nahe am Meer, hielten. Kenai öffnete ihnen die Tür und kaum waren sie ausgestiegen, kam auch schon Hope zu ihnen gelaufen. »Nea, Lugh!«, rief er ihnen entgegen, stutzte, als er Kenai bemerkte. Er ließ sich aber nicht beirren, stattdessen umarmte er vorsichtig erst seine Schwester und dann seinen künftigen Schwager, bevor er Lugh Akhtar seine Tochter einfach und völlig ungefragt aus dem Arm nahm. »Hazel hat mir schon von den beiden erzählt«, erzählte er und betrachtete Mana lächelnd. »Aber was macht unser lieber Kenai hier?« »Der liebe Kenai muss auf die Pferde aufpassen, die sich der liebe Lughi von seinem Chef geliehen hat«, grinste der ehemalige Söldner. »Also, wo ist der Pferdestall?« »Das größere der beiden Nebenbauten«, erklärte Hope, wartete allerdings nur, bis der junge Mann außer Hörweite war, bis er weiter sprach. »Was zur Hölle tut er hier?« »Soll ich ihn wegschicken? Wenn du möchtest tu ich es«, meinte Lugh Akhtar grinsend. »Ich hab Tage damit zugebracht, Cinder auszureden, dass sie ihn einläd, weil ich dachte, dass du mich dann erwürgst… und jetzt schleppst du ihn selbst an? Echt, Lugh, aus dir werde ich nicht schlau«, seufzte Hope, während plötzlich lautes Scheppern und Geschrei aus dem Haus drang. Während Nea und Lugh Akhtar zusammenzuckten und erschrocken in die entsprechende Richtung schauten, wirkte der Rotschopf nur gelangweilt. Nur Augenblicke später kam ein weiteres bekanntes Gesicht hinaus. Ice, Hopes bester Freund und der Kaiser des Reiches von Navarre. Lugh Akhtar musste sich erst einmal daran gewöhnen, seinen Freund als Kaiser zu sehen. Für ihn war Ice noch immer irgendwie das Opfer Hopes missglückten Zauberversuchen und eben ein guter Freund. »Tempest gegen Cinder Runde achtundneunzig?«, fragte Hope seinen Freund. »Ich meine, wir sind schon bei hundertzwei«, seufzte Ice, begrüßte dann Nea und Lugh Akhtar ebenfalls mit einer Umarmung. »Tempest gegen Cinder…?«, fragte Nea verwirrt. »Mich interessiert eher, was Kenai hier tut. Ich dachte, er wäre gar nicht eingeladen«, meinte Ice. »Ich sehe schon, wir haben eine Menge zu erzählen«, lachte Hope. »Ja. Wer Tempest ist wäre schon einmal ein netter Anfang«, bemerkte Lugh Akhtar. Da krachte die Haustür laut gegen die Wand und Cinder kam herausgestürzt. Sie machte drei Schritte ins Freie, wandte sich dann um. »Halt die Klappe du alte Krähe! Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest!«, schrie sie ins Haus. Ihr wurde auch geantwortete, die Worte konnte Lugh Akhtar jedoch nicht verstehen. »Sie ist aber meine Tochter und ich tue, was ich für richtig halte! Selbst wenn du dreihundert Kinder hättest wär mir das egal, du Sumpfhuhn!«, fauchte Cinder zurück, wandte sich dann ab und kam mit strahlendem Gesicht auf sie zu. »Lugh! Nea! Wie schön euch zu sehen!«, rief sie gut gelaunt und umarmte sie dann ebenfalls, bevor sie den kleinen Kekoa an sich riss. »Wie süß der Kleine ist!« »Das wird dir noch öfter passieren, war mit Lani damals auch nicht anders«, grinste Hope, als er Lugh Akhtars verblüfften Blick gewahr. »Das war mir schon klar, nachdem Robin und Ember zu Besuch waren, aber…« Der junge Zauberer sprach nicht weiter, sondern gestikulierte heftig, solange Nea und Cinder aufeinander einquasselten. Ice und Hope grinsten breit, dann gab letzterer Mana an Nea zurück schob die Mädchen in Richtung Haus davon. »Das Zweite ist unterwegs? Warum hast du nichts gesagt?«, ereiferte er sich. »Weil ihr es ja spätestens jetzt eh festgestellt hättet«, lachte Hope. »Aber mach bloß keine Namensvorschläge, auf so etwas reagiert sie im Moment ein wenig bissig.« »Wieso?«, wollte Lugh Akhtar wissen. »Ich habe keine Ahnung. Aber wer versteht schon werdende Mütter«, grinste Hope, bevor er in Richtung Haus deutete. »Reingehen?« »Wir sollten noch auf Kenai warten finde ich«, blockte der junge Zauberer ab. »Genau, erzähl«, meinte Ice. Und Lugh Akhtar erzählte. Es gab ja nicht besonders viel, die meiste Zeit war er gereist und hatte sich auf den Nachwuchs gefreut. Auch Ice hatte nicht viel zu berichten. Er und Soul lebten sich langsam in ihr Leben als Kaiserehepaar ein und auch mit seinem Vater Nabao wurde es immer besser. Hope hatte da schon mehr zu berichten. Er erzählte davon, dass er anfangs bei Rose gelebt hatte, mittlerweile hatten er und Cinder allerdings ein eigenes kleines Häuschen in Altena gefunden. Er arbeitete für die Zauberergilde als Übersetzer, denn seine Sprachbegabung suchte im ganzen Reich seinesgleichen. Dazu war eben das zweite Kind unterwegs und in ein paar Tagen würde er Cinder seine Ehefrau nennen können. Man sah ihm die Zufriedenheit deutlich an. Da kam Kenai zurück geschlendert. Seine gerunzelte Stirn zeigte, dass er nicht damit gerechnet hatte, dass sie auf ihn warten würden, doch nur einen Augenblick später musste er sich auch über andere Dinge Gedanken machen. Es schepperte laut und ein Teller verfehlte ihn nur knapp, zerschellte laut auf dem Boden, während wieder das Geschrei Cinders und ihres Streitpartners zu hören waren. Die vier Männer starrten auf das Haus, dann duckte sich Kenai und keine Sekunde zu früh, denn ein Tonbecher flog nur knapp an ihm vorbei. Er flitzte geduckt weiter, zu den anderen Männern, die gerade außer Reichweite zu stehen schienen. »So, das ist jetzt nicht mehr das gewöhnliche Geplänkel«, merkte Ice an. »Nein, nicht wirklich…«, murmelte Hope, lief dann auf die Haustür zu. Die anderen folgten. Als sie in die Küche stürzten, bot sich ihnen ein Anblick, bei dem sie alle erst einmal lachen mussten. Cinder und eine ältere Frau, die so unverkennbar die Mutter von Nea und Hope war, als hätte man es ihr auf die Stirn geschrieben, rollten sich über den Boden, gifteten sich böse und mit allerlei Beschimpfungen an und kratzen und zogen an den Haaren, als kämpften sie gegen ihren Todfeind. Nea dagegen stand sehr unglücklich daneben, schien nicht zu wissen, wie sie eingreifen sollte, während Soul, die junge Ehefrau von Ice und Lugh Akhtars zweite Schwester, eher genervt wirkte. Doch kaum hatten sie sich wieder gefangen, gingen Hope und Ice geübt dazwischen. Hope hob Cinder einfach hoch und trug sie aus dem Raum, ignorierte dabei ihre Gegenwehr, während Ice nervös auf die Frau einredete, bis sie sich wieder beruhigt hatte. »Wie kann mir Hope nur so etwas antun, so ein unhöfliches kleines Biest«, fluchte sie theatralisch, bis sie Lugh Akhtar bemerkte. Ihre Augen blitzen gefährlich, denn sie erkannte ihn scheinbar auf den ersten Blick. Mit seinen vielfarbigen Augen und seinem weißen Haar war er auch nicht gerade unauffällig. »Da haben wir ja den nächsten Unruhestifter der Familie«, meinte sie und kam langsam auf ihn zu. »Mama, jetzt sei doch nicht so streitsüchtig«, bat Nea und kam ihr hinterher geeilt, ergriff ihren Arm. »Ich bin nicht streitsüchtig, ich finde es nur nicht gut, dass mein ältester Sohn ein Freudenmädchen heiratet, und du dich selbst als solches verkaufst, und schon gar nicht für so einen Mann«, fand sie. Und Lugh Akhtar benötigte erst einmal einige Augenblicke um zu begreifen, dass er sich nicht verhört hatte. Wenn sie wirklich so über Cinder dachte, dann war es kein Wunder, dass seine kleine Schwester ein wenig überreagierte. Doch da war etwas in ihren Augen, ein kleines, schelmisches Funkeln, das ihn zögern ließ. Er und die Frau schauten einander nur für einen Moment in die Augen, doch das reichte, um all seine Anspannung zu lösen. Er lächelte, als er ihr die Hand entgegen streckte. »Ich nehme an, Sie sind Tempest? Und ich nehme weiter an, Sie sind die Mutter von Nea und Hope? Mein Name ist Lugh Akhtar.« »Ja, du nimmst richtig an, ich bin Tempest«, bestätigte sie und ergriff ebenfalls lächelnd seine Hand. »So, sind wir jetzt wieder alle glücklich oder wollt ihr euch auch prügeln?«, erkundigte sich Soul trocken. »Soul, meine allerliebste kleine Schwester«, lachte Lugh Akhtar und umarmte auch sie. »Wie schön dich einmal wieder zu sehen.« »Kannst ja mit nach Navarre kommen, dann kannst du das wieder einmal getrost unausgesprochen lassen«, fand sie, lächelte aber. »Das ist ein Tag… warum du sie nicht in eine Kröte verwandelst, weil sie mich und Cinder als Freudenmädchen bezeichnet muss ich nicht verstehen, oder?«, erkundigte sich Nea und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. »Nea mein Kind, nimm doch nicht alles so ernst«, lachte Tempest, während sie hinaus tänzelte. »Weißt du Nea… ich mag deine Mutter«, erklärte der junge Zauberer, als er der Frau nachblickte. »Ach echt? Obwohl sie sich in ihrem Alter noch auf dem Boden rumwälzt und prügelt wie ein Knabe? Ich meine, bei Cinder kam das jetzt nicht gerade überraschend, aber meine Mutter…?« Sie zog vielsagend eine Augenbraue hoch. »Lieber eine Mutter, die sich im Spaß prügelt, als eine Mutter, die ihre eigene Tochter und auch ihre künftige Schwiegertochter wirklich als Freudenmädchen bezeichnet, oder?«, grinste er. Er erkannte an Neas verwirrtem Blick, dass sie nicht verstand. Doch das musste sie auch nicht. Wichtiger war, dass er es verstand. Und das tat er. Ja, er mochte Tempest. Sie war eine alte Frau, doch in ihrem Herzen war sie noch jung und voll feuriger Leidenschaft. Und ihre Kinder waren ihr sehr, sehr ähnlich. Er wusste schon jetzt, dass sich Cinder gut in diese Familie einfinden würde und er wusste, dass auch er Neas Brüder, Schwestern und Eltern wohl gerne und oft besuchen würde. Und wenn er eines wusste, dann, dass es nichts Wichtigeres gab, als eine Familie, auf die man sich verlassen konnte. Er freute sich auf die nächsten Tage. Und so summte er gut gelaunt ein kleines Lied, als auch er die Küche verließ, um auch die anderen Familienmitglieder kennen zu lernen, soweit sie schon da waren. Er ahnte, dass die nächsten Tage abenteuerlich und interessant werden würden. Und er sollte recht behalten. Kapitel 3: Der verlorene Sternenstein ------------------------------------- »Sly, warte doch mal!«, rief Lugh Akhtar und drängte sich zwischen zwei Menschen hindurch. Es waren viele Leute unterwegs und wenn Hope nicht langsamer wurde oder anhielt, dann würde er bald ganz allein in dieser unbekannten Stadt stehen. Doch er sah, dass sich die roten Haare, die selbst in diesen Menschenmassen hervorstachen, nicht mehr bewegten. Stattdessen traf ihn ein so wütender Blick, dass er für einen Moment ernsthaft damit rechnete, dass sein Freund sich auf ihn stürzen würde. Es dauerte einen Moment, bis er auch begriff, wo der Fehler war. »Entschuldige, die Macht der Gewohnheit«, erklärte er und lächelte schief. Er hatte Hope zwar unter dem Namen Sly kennen gelernt, aber nachdem er sie erst verraten und dann gerettet hatte, wollte er diesen Namen nicht mehr hören. Für ihn war Sly der, der seine besten Freunde verriet, Hope dagegen war es, der sie gerettet hatte und dabei bereit gewesen war, all sein Glück und alles, was ihm bedeutete zu opfern. »Wir müssen uns beeilen, ich will nicht zu spät da sein«, erklärte Hope, nicht mehr ganz so gut gelaunt wie da, wo sie losgezogen waren. Natürlich, der Zauberer hatte an etwas gerührt, was man einfach nur ruhen lassen und niemals mehr ansprechen sollte. Hope wollte schon wieder loslaufen, da ergriff Lugh Akhtar seine Hand und hielt ihn zurück. »Wer es eilig hat, sollte einen Umweg machen… schon mal davon gehört?«, erkundigte er sich. Hope blinzelte verblüfft, dann lachte er wieder. »Du hast recht, aber… ich habe eben nur zwei Brüder, und weil der eine ja schon verkündet hat, dass er wohl nicht kommen kann, bin ich umso glücklicher, dass der Zweite kommt«, erklärte er gut gelaunt. »Ist ja auch nichts schlimmes dran, aber ich möchte mich nur ungern alleine hier durchkämpfen«, antwortete Lugh Akhtar. Langsam gingen sie weiter, suchten sich einen möglichst angenehmen Weg durch die Menge. »Ich bin auf Red schon sehr gespannt, ich habe nie einen Zauberer getroffen, der auf einem Schiff arbeitet«, überlegte Lugh Akhtar. »Vater war auch alles andere als begeistert, als Red das verkündete. Nach seiner ersten Schifffahrt nach Navarre. Die beiden hatten einen riesen Streit und zwei Tage später hat Red seinem Meister einen Brief geschrieben und das erste Mal angeheuert. Die zwei haben danach zwei Jahre kein Wort gewechselt, erst Liobas Tod hat sie wieder zusammengebracht. Wenn er nicht während meiner Verbannung freigesprochen wurde, ist er auch immer noch ein Schüler«, erzählte Hope. »Ein Schüler? Ernsthaft?«, lachte der Zauberer. »Es ist auf jeden Fall möglich«, grinste der Rotschopf. »Das haltet ihr ihm doch bestimmt bei jeder Gelegenheit vor, oder?« »Natürlich. Wozu hat man den sonst Geschwister?« Lugh Akhtar lachte. Schon als diese tausend kleinen Geschichten begonnen hatten, hatte er gemerkt, wie schmerzlich er in seiner Kindheit die Geschwister vermisst hatte. Er hatte Cinder und Soul erst vor ein paar Jahren kennen gelernt und auch Chess und Inaara waren nach seiner Zeit bei Channa und Tuwa gekommen, sodass er praktisch als Einzelkind aufgewachsen war, ohne eines zu sein. So genoss er den ewigen Trubel, die vielen, scherzhaften Sticheleien und dieses überwältigende Gefühl, endlich eine richtige Familie gefunden zu haben, in vollen Zügen. Er war fast schon dazu bereit, sein Leben im Zwischenreich von Forea und Irian aufzugeben, um nach Altena zu ziehen. Um immer so ein Leben führen zu können. Doch er wusste, dass er es nicht tun würde. Dazu war er im Herzen viel zu sehr ein Nordmann und obwohl er die Hauptstadt der Zauberer nicht mehr bis aufs Blut hasste, war sie ihm dennoch zu voll und zu laut. Und außerdem würde es, wenn Kekoa und Mana nur etwas älter waren, auch in seinem Haus viel lauter und hektischer werden, dessen war er sich sicher. Während er noch von einem Haus voller Kinderlachen träumte, stieß er heftig mit einem Passenten zusammen. Sie fielen gemeinsam zu Boden. »Tschuldigung, ich hab nicht aufgepasst…«, murmelte der Fremde, rappelte sich auf und half ihm hoch. »Macht nichts, ich nämlich auch nicht«, lächelte Lugh Akhtar, war aber leicht verunsichert. Die Haltung seines Gegenübers war angespannt und sein Haar verdeckte seine Augen. Doch der Fremde nickte, drängelte sich vorbei und war in der Menschenmenge verschwunden, bevor der junge Zauberer ihn zurückhalten konnte. »Wenn nicht gerade der Wintermarkt ist, ist es nicht so grauenhaft voll hier«, seufzte Hope. »Wintermarkt?« Lugh Akhtar wandte sich wieder um und sie gingen langsam weiter. »Ja. Jedes Jahr im Spätherbst findet hier ein Markt statt, bei dem sich die Leute mit dem nötigsten für den Winter eindecken. Er wird Wintermarkt genannt und geht eine volle Woche. Und dies ist eben diese Woche. Aber in zwei Tagen ist er vorbei, dann wird es hier wieder ruhiger«, erklärte der Rotschopf. »Aber bis zur Sonnenwende ist es doch noch ewig hin«, fand Lugh Akhtar. »Es findet unabhängig von den Sonnenfesten statt. Sobald das Wetter immer kälter wird und in absehbarer Zeit der erste Schnee fällt, fängt man an sich zu beeilen«, erklärte er, während sie nun endlich auf die erste offene Fläche traten, seitdem sie Meeria betreten hatten. Der Hafen. Auch hier herrschte reges Treiben, aber es waren bloß die Hafenarbeiter und die Seeleute, keine Bauern oder Händler, was die ganze Angelegenheit merklich entspannte. So war es auch viel einfacher, eine bestimmte Person ausfindig zu machen. »Auf welchem Schiff kommt er?«, erkundigte sich Lugh Akhtar und musterte die großen Handelsschiffe, die hier im Hafen lagen. »Mit der Esperanza«, antwortete Hope, während er sich schon an einen Hafenarbeiter wandte. »Ist die Esperanza schon eingelaufen?« Der Mann zuckte mit der Schulter und antwortete in einer fremden Sprache. Hope stellte seine Frage erneut in eben jener Sprache und erhielt diesmal wohl auch eine Antwort, mit der er etwas anfangen konnte, denn er nickte und bedankte sich. »Was hat er gesagt?«, wollte Lugh Akhtar neugierig wissen. »Die Esperanza ist vor zehn Minuten eingelaufen.« Hope fegte im Laufschritt los und schon wieder musste sich Lugh Akhtar sehr beeilen, um mit ihm mitzuhalten. Das Schiff selbst sahen sie auch schon von Weitem, es war das Größte im Hafen und wurde gerade abgeladen. Red erkannte Lugh Akhtar sofort. Er besaß wie erwartet ebenfalls das feuerrote Haar und war gerade dabei, heftig mit einem Mann zu diskutieren. Doch davon ließ sich Hope nicht irritieren, er schob den Unbekannten einfach beiseite, um Reds Aufmerksamkeit zu erhalten. »Red!«, rief er begeistert aus. »Hope!« Auch Red freute sich sichtlich, seinen großen Bruder zu sehen. Sie umarmten einander, redeten dann so schnell aufeinander ein, wie es sonst nur Frauen vermochten. Zumindest solange, bis der Fremde sich hörbar räusperte. Er wirkte alles andere als begeistert über diese Unterbrechung. »Entschuldigt, darf ich euch bekannt machen? Das hier ist Hope Jarek, mein großer Bruder«, stellte Red seinen Bruder vor, dann deutete er auf den Mann. »Und das ist Morgan, er ist der Kapitän der Esperanza.« »Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Die beiden Männer schüttelten einander die Hände, dann wandte sich Hope zu Lugh Akhtar um. »Wenn ich vorstellen darf, das ist Neas… Ja, was eigentlich? Verlobt seid ihr nicht, verheiratet auch nicht…? Was seid ihr?« Das war eine gute Frage und der Zauberer hatte leider keine gute Antwort. Er überlegte kurz, zuckte dann hilflos mit den Schultern und fragte: »Lebensgefährte vielleicht?« Hope sah nicht ganz zufrieden aus, aber auch ihm fiel scheinbar nichts Besseres ein, denn er wandte sich wieder dem Kapitän und seinem Bruder zu. »Nun, er wird mein Schwager und er ist der Vater von Neas Kindern. Und wir nennen ihn Lugh Akhtar.« Der Rotschopf grinste schief. »Ja, von dir habe ich schon gehört«, merkte Red an, seine Stimme war dabei kühl und sein Blick abweisend. Er schien die ganze Geschichte ähnlich zu sehen wie Hazel, die es ebenfalls nicht guthieß, dass sie zwar ein gemeinsames Leben führten, aber nicht verheiratet waren. Er wusste, dass er noch auf viele solcher Leute stoßen würde, denn es wurde von der Gesellschaft als Falsch angesehen, solch verständnisvolle Leute wie zum Beispiel Tempest es war, waren selten. Sie verabschiedeten sich vom Kapitän, dann trotteten sie gemeinsam zurück. Red erzählte ein wenig von seiner Reise, Hope erzählte viel von seinem Leben als Verbannter hinter der Mauer und Lugh Akhtar hörte aufmerksam zu. »Ich hätte nie geglaubt, dass hinter der Mauer eine Art Zivilisation existiert. Und schon gar keine wölfische«, meinte Red erstaunt. »Wölfe sind klüger als man meint. Ob sie es im Allgemeinen sind oder nur die hinter der Mauer weiß ich nicht, ich habe noch keine Eiswölfe getroffen. Weißt du es, Lugh?« »Ich denke schon. Ich hab Lód getroffen und der ist alles anderes als dumm und er ist ein Eiswolf«, überlegte der Zauberer und dachte dabei an den Wolf, der die Königin des Reiches von Lanta begleitete. »Nun, diese beiden Wölfe, Cinder und Soul, sie sind dann mit euch gegangen, ja? Und eine von ihnen wirst du heiraten?«, wechselte Red das Thema. »Ja. Soul hat Ice geheiratet und ich werde Cinder heiraten. Wird auch Zeit, immerhin haben wir eine gemeinsame Tochter«, lächelte Hope. »Ja, daran sollten sich andere vielleicht ein Beispiel nehmen…«, meinte Red und schaute Lugh Akhtar schief von der Seite her an. »Du solltest nicht zu viel Falsches sagen, Bruderherz. Vor dir steht der Zauberer, der Altena zerstört hat. Zudem ist er ein Winterkind«, bemerkte Hope spitz. Erst wirkte Red verblüfft, aber auch angespannt, doch dann schnaubte er abfällig. »Natürlich, der Sohn des Winters. Dafür will ich aber Beweise«, meinte er. »Zeig ihm den Sternenstein, wenn das nämlich nicht als Beweis reicht, dann weiß ich auch nicht«, grinste Hope und Lugh Akhtar wollte ihm lächelnd diesen Gefallen tun. Er trug den Stein, ein Geschenk seiner Mutter, dem Winter selbst, immer bei sich, denn es war ein mächtiges, magisches Objekt. Früher hatte er ihn als Halsband um den Hals getragen, doch er war zu auffällig und er mochte es nicht, wenn Fremde voller Gier in den Augen darauf blickten, so hielt er ihn in seiner Tasche vor den Blicken verborgen. Und aus dieser Tasche wollte er ihn hervorziehen, doch als er hineinlangte, da erwartete ihn nur Leere. Überrascht runzelte er die Stirn und langte noch tiefer in die Tasche, dann in die Andere. Auch hier war er nicht. Er tastete über seine Kleidung, doch nirgends spürte er die vertraute Härte. »Hope, hab ich ihn heute morgen eingesteckt?«, fragte er alarmiert. »Ja, wie immer. Ashes hat ihn wegpacken wollen, du hast sie davon abgehalten und ihn eingesteckt. Wieso fragst du?« »Weil ich ihn nicht mehr habe«, antwortete der Zauberer angespannt. »Was? Hast du ihn verloren?« Hope starrte ihn entsetzt an. »Anscheinend schon, aber wo? Ich muss ihn finden, bevor ein Mensch es tut.« Lugh Akhtar spähte die Straße entlang. »Vielleicht, als du mit dem Kerl zusammengestoßen bist?«, überlegte Hope, schaute ebenfalls hektisch um sich. Lugh Akhtar ging los, die Stelle war nicht weit. Doch hier fand er nichts. Und auch sonst auf dem Weg nicht. Sie gingen noch einmal zum Hafen, liefen dann den Weg zurück, untersuchten jeden Spalt und jede Nische, doch was sie suchten, fanden sie nicht. Sie machten sich auf den Heimweg und auch hier untersuchten sie jeden Strauch und jedes Stück Gras am Wegesrand, doch sie hatten kein Glück. So saßen sie schlussendlich gemeinsam ein wenig unglücklich in der Küche beisammen. »Ach Lugh, was kann denn schon passieren? Da hast du eben deinen Stein verloren, im schlimmsten Fall hat ihn ein Straßenkind gefunden, verkauft und jetzt ein wenig Geld für etwas zu essen«, versuchte Kenai ihn aufzuheitern, doch Lugh Akhtar schüttelte heftig den Kopf. »Das ist nicht das Problem, Kenai. Es ist vielmehr so, dass es ein magisches Objekt ist. Kein gewöhnlicher Zauberer kann ihn berühren, die Magie würde ihn töten, einen Menschen würde es wohl in der Luft zerfetzen! Es war meine Aufgabe darauf Acht zu geben, dass so etwas nicht geschieht und jetzt passiert mir so etwas!« Lugh Akhtar biss sich so heftig auf die Lippe, dass sie zu bluten begann. »Was geschehen ist, ist geschehen, jetzt kannst du es nicht ändern. Geh morgen als Wolf in die Stadt und versuch ihn zu erschnüffeln, vielleicht hilft das ja«, meinte Ice. »Oder du wartest, bis die ersten Nachrichten von einem verfluchten Schmuckstück die Runde machen«, überlegte Red und erhielt dafür einen giftigen Blick von Hope, Ice und Kenai. »Dann eben nicht. Vielleicht war der Kerl, mit dem du zusammengestoßen bist, ja auch ein Dieb und er hat ihn dir aus der Tasche gezogen.« Hopes Stirnrunzeln und sein nachdenklicher Blick bewiesen, dass er es für gar nicht so abwegig hielt, doch Lugh Akhtar schüttelte überzeugt den Kopf. »Dazu hätte er so sein müssen wie ich und Kenai. Das Kind von einem der Jahreszeiten und wir wissen, dass es derer nur vier gibt«, seufzte er. »Bist du dir da so sicher?« Tempest hatte den Raum betreten und die letzten Sätze mit angehört. Sie schaute ihn nachdenklich an. »Ziemlich, ja. Der Winter hat drei Kinder, Soul, Cinder und mich, der Herbst hat nur einen Sohn, nämlich Kenai. Frühling und Sommer haben keine Nachkommen«, antwortete der Zauberer. »Wenn du meinst…«, murmelte Tempest, schaute dabei nachdenklich ins Leere. »Und ein anderer Abgesandter der Jahreszeiten könnte ihn nicht genommen haben?«, überlegte Hope. »Nein, sie hätte ihn mir bestimmt wiedergebracht, oder zumindest Bescheid gegeben.« Er seufzte, schaute dann zur Tür hin. »Heute können wir wirklich nichts tun. Ich denke, ich werde deinen Rat beherzigen, Ice, und morgen noch einmal als Wolf suchen. Aber jetzt geh ich ins Bett. Gute Nacht.« Auch die anderen wünschten ihm eine gute Nacht und mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust ging er die Treppe hinauf in das Zimmer, das er, Nea und ihre Kinder bewohnten. Sie schlief schon und so legte er sich leise neben sie. Plötzlich musste er wieder an den Fremden denken, mit dem er zusammengestoßen war. Mit diesem Gedanken schlief er ein, hoffend, dass der nächste Tag besser enden würde. Kapitel 4: Nanook ----------------- »Ich warne dich, Lugh! Wenn du vorhast, jetzt dauerhaft mit dieser Trauermiene herumzulaufen, dann schmeiß ich dich eigenhändig an meinem Hochzeitstag ins Meer und schau zu, wie du absäufst«, drohte Hope ganz unverhohlen und blitzte ihn böse an. »Entschuldige, aber…«, begann der Zauberer, doch der Rotschopf schnitt ihn mit einer Handbewegung das Wort ab. »Nichts aber. Er ist weg, aber bisher ist nichts Schlimmes passiert. Sei froh darüber, er scheint nicht in die falschen Hände gefallen zu sein. Und wer weiß, vielleicht hat ihn ja Kenai genommen und lacht sich gerade im Geheimen ein ins Fäustchen«, überlegte Hope und setzte sich neben ihn auf die Fensterbank. »Du vertraust ihm nicht«, seufzte Lugh Akhtar. »Er hat sich an meine Schwester rangemacht, obwohl sie offiziell vergeben war. Und er ist ein Söldner. Wie sollte ich ihm denn da vertrauen?«, erkundigte sich der Rotschopf bissig. »Du hast uns alle, inklusive besagter Schwester an den Feind verraten und ich vertraue dir trotzdem«, bemerkte Lugh Akhtar. Hope wollte ihm widersprechen, doch dann lächelte er nur anerkennend. »Der Punkt geht an dich.« »Kenai hat Fehler gemacht, aber kennst du irgendjemanden, der sie nicht gemacht hat?«, erkundigte sich der Zauberer. »Nein. Und ich hasse es, wenn du recht hast. Aber gut, wenn du ihm vertraust, warum auch immer, dann versuche ich es ebenfalls. Hör trotzdem mit deiner Trauermiene auf. Ich mag es lieber, wenn du lächelst«, fand Hope. Lugh Akhtar nickte nachdenklich, dann schwiegen sie eine Weile. »Ich muss immerzu an diesen Kerl denken, mit dem ich zusammengestoßen bin. Er geht mir nicht mehr aus dem Kopf und ich weiß nicht wieso«, sagte dann der junge Zauberer. Er schüttelte den Kopf und schaute dann in die türkisblauen Augen des Rotschopfes. »Ich wüsste gerne, wer er ist.« »Ein Straßenkind, sie leben zu Tausenden in den großen Städten. Na ja, für ein Kind war er schon etwas zu alt, ja, aber… es ändert nichts daran, dass er wohl auf der Straße lebt«, seufzte Hope. »Woher weißt du das?«, erkundigte sich Lugh Akhtar verblüfft. »Seine Kleider. Sie waren sehr schmutzig und zerrissen, er wirkte angespannt, als hätte er Angst vor Prügel und das letzte Mal, dass er eine Bürste oder gar Wasser und Seife gesehen hat, muss auch schon ein paar Jahre zurückgelegen haben. Wenn du so viel gereist bist wie ich, dann erkennt man die Ärmsten der Armen«, seufzte Hope. »Er kam mir aber nicht vor, wie ein Bettler. Er wirkte zu… selbstbewusst. Er war angespannt, aber nicht ängstlich. Er… geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf…« Lugh Akhtar seufzte, da öffnete sich die Tür und Cinder trat ein. »Ein Mensch«, verkündete sie und ließ sich in den Sessel fallen. »Was… genau willst du uns mit diesem Stichwort sagen?«, erkundigte sich Hope vorsichtig. »Ashes’ Verlobter ist da. Er ist kein Zauberer, er ist ein gewöhnlicher Mensch«, erklärte sie. »Hat sie sich wenigstens einen Guten ausgesucht wie Tariq, oder ist er eher so eine zwielichtige Gestalt?« Hope erhob sich, ging zu Cinder, hob sie an, um sich selbst zu setzen und sie auf seinen Schoß zu ziehen. »Er wirkt auf jeden Fall nett und tüchtig«, antwortete sie und schloss die Augen, während Hope lächelnd ihren dicken Babybauch streichelte. »Nachher muss ich ihn mir trotzdem mal genauer anschauen. Ich kann meine Schwester ja nicht einfach irgendwelchen dahergelaufenen Typen überlassen«, schnurrte der Rotschopf. Lugh Akhtar seufzte und stand auf. Er fühlte sich fehl am Platz, also verließ er den Raum. Er glaubte nicht, dass die beiden es bemerkten. Nea kam gerade die Treppe hinunter. Sie wirkte müde, aber zufrieden, während sie leise summend Mana im Arm wiegte. »Will sie nicht schlafen?«, fragte er leise. »Nein, aber wirklich zufrieden ist sie sowieso nur bei dir«, lachte Nea und legte ihre Tochter in den Arm des Zauberers. »Meinst du?«, fragte er mit einem schiefen Lächeln. »Sagt meine Mutter auch. Sie meint, sie hätte noch nie so ein Papa-Kind gesehen, wie Mana, und sie hatte immerhin dreizehn«, lachte sie, während sie gemeinsam die Treppe hinab gingen. »Dann wollen wir ihr das mal glauben«, lächelte der junge Zauberer und betrachtete seine Tochter, die zufrieden vor sich hin döste. Da hörte er Stimmen und wusste sofort, dass es wohl das übliche Begrüßungskomitee war, das über Ashes’ Verlobten herfiel. Plötzlich war er neugierig. Er gab Nea ihre Tochter zurück und folgte dem Lachen in eines der anderen Wohnzimmer. Er hatte schnell gemerkt, dass das Haus riesig war. Es gehörte Neas Vater, der ebenfalls zwölf ältere Geschwister hatte. Entsprechend groß musste es natürlich sein, und so hatte er sich nicht mehr weiter gewundert. Er lugte um die Ecke und grunzte verblüfft. Inmitten der vielen Mädchen saß nicht nur ein völlig Fremder, der brav Rede und Antwort stehen musste, sondern auch ein durchaus bekanntes Gesicht. Der junge Mann, mit dem er zusammengestoßen war. Allerdings wirkte er nicht besonders glücklich, während der Andere begeistert alle Fragen beantwortete. »Oh Lugh! Darf ich vorstellen, das ist mein Schwager in Spee, Lugh Akhtar! Und meine jüngste Schwester, Nea!«, lachte Ashes und zog die zwei in den Raum. Dabei konnte der junge Zauberer seine Augen nicht von dem anderen jungen Mann lassen, der ihn fast schon entsetzt anstarrte. Auch er schien ihn zu erkennen, doch das Erschrecken verstand der junge Zauberer nicht. »Das ist Evan, mein Verlobter, und der Schwarzschopf ist Lear, sein Begleiter«, lachte Ashes. »Freut mich, auch euch kennen zu lernen«, lächelte Evan, schien dann Lugh Akhtars Blick zu bemerken, denn er folgte ihm und gewahr dabei Lears Blick. Er schaute noch einmal verwundert hin und her, dann schien ihm ein Licht aufzugehen, denn er sprang auf. »Er ist doch gestohlen! Und auch noch einem Zauberer… Lear, du solltest es doch besser wissen«, seufzte er, wandte sich dann an Lugh Akhtar. »Bitte entschuldige. Es war nicht böse gemeint, natürlich bekommst du dein Eigentum wieder.« Lugh Akhtar verstand noch gar nicht genau, was da gerade vor sich ging, aber auf einen wirklich durchdringenden bösen Blick stand Lear auf und zog etwas aus seiner Tasche. Mehr jedoch tat er nicht, stattdessen blickte er unwillig zu Boden. »Lear, es gehört dir nicht! Gib es ihm wieder!«, befahl Evan bissig. »Ist ja schon gut, krieg dich mal wieder ein«, fauchte Lear und hielt Lugh Akhtar scheu den Sternenstein hin. Doch der Zauberer widmete dem Stein nur einen kurzen Blick, viel länger starrte er fassungslos auf sein Gegenüber. »Wer bist du?«, fragte er leise. »Wie gesagt, bitte entschuldige, es war nicht böse gemeint. Er stiehlt nicht für sich selbst, er stiehlt, um anderen zu helfen. Denen, die es nicht so gut… haben«, plapperte Evan los, bemerkte dann aber, dass der Zauberer ihm gar nicht zuhörte. »Ich glaube, wir sollten gehen«, bemerkte Hazel feinfühlig und scheuchte die ganze Familie nach draußen, nur Ashes, ihr Verlobter, Nea, Lugh Akhtar und Lear verblieben im Raum. »Lugh, sei bitte nicht böse, ich kenne Lear, ich weiß, dass er es nicht böse meinte«, beschwor ihn Ashes, doch er schüttelte entschieden den Kopf. »Darum geht es nicht«, erklärte er und nahm den Stein an sich. Er ergriff ihre Hand und hielt sie knapp über den Stein. Da weiteten sich ihre Augen verstehend und sie entwandt sich seinem Griff. »Was ist das?«, wollte sie wissen. »Wintermagie. Du bist nicht die Einzige, die ihn niemals berühren würde. Deswegen frag ich also… Wer bist du?« Der Zauberer wandte sich wieder Lear zu, doch der schaute unverwandt zu Boden, wirkte dabei noch immer angespannt, und schwieg. »Bitte, sag es mir«, bat Lugh Akhtar. »Was soll ich dazu sagen? Ich weiß es nicht. Ich bin ich«, antwortete Lear, schüttelte dann heftig den Kopf und verließ schnellen Schrittes den Raum und das Haus. Sie alle schauten ihm nach. »Ich kann nur noch einmal um Entschuldigung bitten. Er meint es nicht böse, aber… Lear ist ein Weisenkind. Eigentlich heißt er Nanook, das ist das Einzige, was er über seine Herkunft weiß. Weil er meinen Lehrer Tala aber bei jeder Gelegenheit belog, hat der ihn irgendwann immer nur Liar, also Lügner genannt. Und daraus hat sich Lear entwickelt… Wir haben ihn aufgelesen, als er acht Jahre alt war, seitdem kenne ich ihn. Er ist kein schlechter Mensch, er weiß nur, wie hart das Leben auf der Straße ist und er hat seine eigene Art und Weise, den Straßenkindern zu helfen«, erklärte Evan. »Nanook?« Der Klang des Namens erinnerte Lugh Akhtar an etwas, aber ihm wollte nicht einfallen, woran. »Ja. So zumindest hat er sich vorgestellt, ich würde aber nicht ausschließen, dass auch dies gelogen war. Mich hat immer gewundert, dass Tala und Lear sich immer so gut verstanden hatten, Tala mochte keine Lügen.« Evan schien gar nicht daran zu denken, dass außer Ashes keiner wusste, wer Tala eigentlich war. Doch Lugh Akhtar war es egal. Er wandte sich um und ging ebenfalls, ohne ein Wort zu sagen. Es war nicht besonders schwer, Nanook zu finden, denn er war nicht weit gelaufen. Er saß unter einem Baum in der Nähe und schaute verträumt in den Himmel. Lugh Akhtar ging zu ihm, setzte sich aber nicht, lehnte sich nur gegen den Baum. »Auch wenn es mir nicht zusteht, möchte ich dich dennoch darum bitten, Evan nicht nach meinen Taten zu beurteilen. Er ist anders als ich, ich möchte nicht, dass er meinetwegen hier abgewiesen wird«, sprach der Schwarzhaarige nach einer Weile. »Mir ist Evan egal. Der muss eher Hope und Red überzeugen, bestimmt nicht mich. Wenn Ashes glaubt, dass sie mit ihm glücklich werden kann, dann bin ich der Letzte, der im Weg stehen würde, mal ganz davon ab, dass so etwas wiederum mir nicht zusteht. Ich möchte mit dir reden, Nanook«, bat Lugh Akhtar. »Darüber, dass stehlen falsch ist? Das weiß ich«, murrte der junge Mann. »Das ist mir genauso egal, wie Evan es ist. Von mir aus kannst du den Stein haben und damit tun, was immer du möchtest. Mir geht es hier um dich. Den Stein kann nicht jeder berühren, das können nur sehr wenige, ganz besondere Personen. Ich möchte verstehen, wieso du es kannst, obwohl es eigentlich nicht sein dürfte. Erzähl mir bitte von dir. Vielleicht fällt mir etwas auf, was mir helfen könnte«, überlegte der junge Zauberer. »Es gibt nicht viel über mich zu erzählen. Ich habe, soweit ich mich zurückerinnern kann, immer auf der Straße gelebt. Bis ich auf Evan, Tala und Leji traf. Leji verließ uns schon recht bald, er fand eine gute Stelle als Stallmeister in einem Schloss. Tala starb vor zwei Jahren, er war schon ein alter Mann. Und seitdem gibt es nur noch Evan und mich. Oder nein, wenn er heiratet gibt es nur noch mich.« Nanook seufzte. »Was hast du dann vor?«, wollte Lugh Akhtar wissen. »Das weiß ich noch nicht. Erstmal werde ich wohl zu Leji gehen… Und dann wäre eine Arbeit ganz gut… Ich werde es zur gegebenen Zeit sehen«, meinte der junge Mann und schaute in den Himmel auf. »Weißt du, dein Name erzählt mir etwas. Allerdings kann ich es noch nicht verstehen«, murmelte der junge Zauberer. Da sprang Nanook auf und schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nicht helfen! Versteh es doch, ich würde es nur zu gern, einfach nur, damit diese Ruhelosigkeit verschwindet, aber ich kann es nicht!«, brüllte er und schaute dann Lugh Akhtar direkt in die Augen. Für einen Moment hielten sie sich in ihrem Blick gefangen, für einen Moment starrten sie sich an, unfähig wegzuschauen, da sah der Zauberer etwas in den Augen des jungen Mannes, was er nicht erwartet hätte. Er schrak erst zurück, dann war er mit einem Schritt bei Nanook, stieß ihn grob an den Baum, hielt eine Hand grob an den Baum gepresst, drückte mit der anderen das Kinn des jungen Mannes nach oben, sodass er ihm in die Augen schauen konnte. »Was war das? Was hast du getan? Wie hast du es getan?«, wollte der Zauberer eindringlich wissen. »Ich hab gar nichts getan. Bitte, lass mich los«, bat der junge Mann gepresst. Lugh Akhtar tat ihm sichtlich weh, dies wurde dem jungen Zauberer aber erst jetzt bewusst. Er ließ los, machte zwei Schritte zurück, um wieder Platz zwischen sie beide zu bringen. »Entschuldige, aber deine Augen… Für einen Moment hatte ich das Gefühl, das alles zu verstehen, aber… entschuldige, ich habe es mir wohl nur eingebildet… ich wollte dir nicht wehtun, ich hab nur einfach… nicht nachgedacht.« Er schaute zu Boden, seine Gedanken jedoch rasten. »Ich denke, ich sollte gehen. Es ist… besser für uns beide«, meinte Nanook leise und schaute misstrauisch aus seinen braunen Augen zum jungen Zauberer hinüber. Der zögerte kurz, dann nahm er den blauen Sternenstein zur Hand und schaute einen Moment darauf. »Es tut mir leid, mehr kann ich nicht sagen. Aber bitte… ich will es verstehen. Ich will dich wieder sehen. Bitte, nimm den Stein. Ich… habe das Gefühl, dass du ihn haben solltest.« Er hielt ihn dem jungen Mann hin. »Er gehört dir«, antwortete der nur. »Nein, jetzt nicht mehr. Du kannst ihn mir gerne wiedergeben, irgendwann, aber jetzt und zumindest für eine Weile, ist es deiner«, meinte Lugh Akhtar. »Dann… hab dank dafür. Und auf wieder sehen.« Nanook wandte sich nach einem letzten Zögern um und ging. Und Lugh Akhtar schaute ihm noch lange nach, auch, als der junge Mann schon nicht mehr zu sehen war. Er wusste, dass sie einander wieder sehen würden. Und er wusste, dass hinter Nanook noch eine große Geschichte steckte. Er würde sie erfahren. Bald schon, da war er sich sicher. Kapitel 5: »Hilf mir…« ---------------------- »Wer hat dich denn geärgert?«, erkundigte sich Kenai leise, erschreckte dabei aber den jungen Zauberer maßlos. Fast hätte er die Axt fallen gelassen, mit der er Holzscheite schlug und das hätte böse enden können, doch er hielt sie fest, wuchtete sie wieder nach vorne und stieß sie neben dem Baumstupf in die Erde. »Musst du mich so erschrecken?«, fuhr er seinen Cousin an. »Entschuldige, ich dachte, du hättest Sivans Hufschlag gehört«, antwortete Kenai und deutete auf den Scheckenhengst, den er am Zügel führte. »Willst du ausreiten?«, erkundigte sich Lugh Akhtar mit dem Blick auf das Pferd. »Nein, ich hab nur für Nea etwas Brot aus dem Dorf geholt, da hab ich dich hier stehen sehen. Woran hast du gedacht? Und warum machst du das selbst?«, erkundigte sich der junge Mann und zäumte das Pferd ab. Sivan war schlau, er lief nicht einfach fort, sondern nahm sein Zaumzeug ins Maul und trabte dann in den Stall. »Warum nicht? Ich bin nicht mehr als jeder andere auch, ich muss für meinen Lebensunterhalt ebenso arbeiten wie die Leute im Dorf«, fand er. »Du bist der Herr über Wynter, du musst gar nichts mehr tun«, bemerkte Kenai und sammelte die gespaltenen Scheite zusammen. »Ich habe den Menschen ihr Land zurückgegeben und es als Kleinreich gekennzeichnet, indem ich ihm einen Namen gab. Es gehört mir nicht, es gehört allen«, stellte der junge Zauberer richtig und zog die Axt aus dem Boden. Seinem Vater hatten die Reiche Irian und Forea gehört, er war tot und Lugh Akhtar hatte die Reiche gerne als sein Besitz angenommen. Allerdings nur, um sie zu vereinen und aus ihnen Wynter zu machen, ein Reich, indem alle gleichgestellt waren. Das änderte jedoch nichts daran, dass die Menschen ihn regelrecht verehrten. Er wollte es nicht, aber er konnte auch nichts dagegen tun. Stattdessen versuchte er seiner Arbeit als Zauberer nachzugehen, ohne allzu viel von den Menschen hier dafür anzunehmen. Was jedoch nichts daran änderte, dass Zauberer im Allgemeinen für ihre Arbeiten viel verdienten. So viel, dass Lugh Akhtar und Nea es sich leisten konnten, ein Hausmädchen anzustellen, das Nea im Haushalt half. Für alle anderen Aufgaben war Chess zuständig, im Gegenzug erhielt er Kost, Unterkunft und, was dem jungen Mann wohl am allerwichtigsten war, er lernte, was immer es zu lernen gab. Und ebnete damit den Weg zu einem Leben, das er sich vor ein paar Jahren nie hätte vorstellen können. Somit musste Lugh Akhtar nun wirklich nicht selbst das Holz hacken, und schon gar nicht auf diese Art und Weise. Er konnte seine Magie nutzen, doch wann immer ihn etwas beschäftigte, dann brauchte er körperliche Anstrengung, um darüber nachzudenken. So hatte er die Axt genommen und drosch auf das Holz ein. »Wenn du meinst… magst du mir erzählen, was dich beschäftigt?«, wollte Kenai wissen. »Es ist… nur ein Traum.« Der Zauberer lächelte nachdenklich. »Ein Traum?« Verblüfft blinzelte der junge Mann. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. »Ja. Ich hab ihn seit der Hochzeit von Hope und Cinder. In der Nacht träumte ich ihn zum ersten Mal und seitdem immer wieder. Ich stehe als Wolf in einer völlig zerstörten Landschaft. Es gibt dort kein Leben, alles wurde vor Jahren schon ausgelöscht. Ein Gewitter zieht auf, es donnert und blitzt und dann regnet heiße Asche vom Himmel. Ich laufe los und suche einen Unterschlupf, gelange zu einer Höhle und laufe hinein. Und dann wache ich auf.« Der Zauberer ließ die Axt auf den nächsten Holzscheit niedersausen. »Glaubst du, er könnte etwas bedeuten?«, frage Kenai und platzierte den nächsten Scheit, sammelte den Span aus dem Schnee. »Ja. Manche Träume habe ich nicht einfach so. Wie damals, als ich vom Winter träumte. Es ist diesmal… ähnlich. Weißt du, eigentlich verspürt man ja keinen Schmerz, wenn man träumt, aber ich spüre es, wenn die Asche mein Fell verbrennt und ich rieche mein verschmortes Fleisch. Und er kommt immer wieder. Ich wüsste sonst auch keinen Grund, warum er sich so hartnäckig halten sollte«, antwortete Lugh Akhtar und spaltete das nächste Stück Holz. »Hast du Nea schon davon erzählt?« »Ja, aber wenn sie gewusst hätte, was er bedeuten könnte, dann hätte mich das eher gewundert. Auch dem Winter habe ich davon schon erzählt, und dem Wind. Sie beide hatten genauso wenig eine Idee.« Der junge Zauberer seufzte. »Was ist, wenn in dieser Höhle etwas ist, das möchte, dass du zu ihm kommst?«, überlegte der junge Mann. »Warum kann ich es dann nie sehen? Und wo soll es denn einen Ort geben, wo heiße Asche vom Himmel fällt?« »Das hört sich sehr nach einem Vulkan an, wenn du mich fragst.« »Vulkan?« Lugh Akhtar war es gewohnt, dass Hope mehr wusste als er und zwar auf sämtlichen Gebieten. Bei Kenai jedoch vergas er nur zu leicht, dass der junge Mann im Bereich der Magie zwar nahezu unwissend, im Allgemeinen aber durchaus an Hope heranreichte. Kenai hatte ein fast unschlagbares Wissen im Bezug auf Waffen-, Kampf- und Tötungstechniken, er kannte sich hervorragend mit Politik aus und hatte eine herausragende Menschenkenntnis. Und scheinbar verstand er auch noch etwas von Geographie. »Es gibt einige Länder, meistens eher Inseln, auf denen gibt es sie. Es sind im Prinzip Berge, aber ab und zu spucken sie Feuer und Asche in den Himmel und wenn sie ausbrechen fließt geschmolzenes Gestein, das man Lava nennt, an ihnen hinab. Ich war einmal bei einem Aschenregen auf einer der Inseln… das ist wirklich kein Spaß…«, seufzte der junge Mann. »Haben sie auch solch zerstörten Landschaften?«, wollte Lugh Akhtar weiter wissen. »Ja, vor allem, wenn der letzte Ausbruch noch nicht allzu lange her ist, sich der Vulkan aber wieder beruhigt hat. Es sieht aus, als könnte dort kein Leben existieren, aber die Asche ist wie ein sehr wirksamer Dünger. Wenn der Ausbruch vorbei ist, kann das Leben weitergehen«, lächelte Kenai. »Kannst du… mir diese Inseln auf einer Karte zeigen? Vielleicht… haben sie ja etwas mit dem Traum zu tun… Vielleicht finde ich das Ende auf einer von ihnen…«, überlegte er. »Willst du wirklich jetzt schon wieder zu einer neuen Reise aufbrechen?« Kenai zog eine Augenbraue hoch und seufzte. »Ich meine, deine Kinder sind gerade ein halbes Jahr alt und die Menschen hier brauchen eine Person, die sie anleitet, damit sie den Weg in die Freiheit finden, ohne dabei Opfer bringen zu müssen. Ich… hab dir nicht davon erzählt, damit du jetzt gleich wieder losstürzt.« »Ich weiß… und nein, natürlich hab ich das auch nicht vor, aber… Vielleicht kann mir Tariq helfen, oder Hope. Vielleicht wissen sie etwas von einer Höhle auf einer der Vulkaninseln… Vielleicht wissen sie auch von einem Vulkan, der gerade aktiv ist.« »Willst du nicht erstmal das Geheimnis von Nanook lösen? Warum dir sein Name so vertraut ist?« Da seufzte Lugh Akhtar. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich Geheimnisse jeder Art regelrecht anziehe…« »Das stimmt. Ich kenne auch niemanden, um den so viele seltsame Ereignisse geschehen, wie bei dir. Aber sieh es positiv, zumindest wird dir nicht allzu bald langweilig werden«, lächelte Kenai. »Stimmt… aber darauf könnte ich dennoch gut und gerne verzichten. Weißt du wie sehr ich mich nach einem ruhigen Leben sehne, in dem das größte Geheimnis das ist, was es wohl zum Abendessen geben wird? Ach Kenai… weißt du eigentlich, wie gut du es hast?« Lugh Akhtar lächelte schief. »Ja. Jetzt schon. Aber wo wir gerade beim Essen sind, ist es nicht bald Zeit?« Wie, als wäre dies das Stichwort gewesen, kam Chess heraus und rief sie zu Tisch. Sie aßen gemeinsam, gingen dann ihrem Abendwerk nach. Nea und Lugh Akhtar setzen sich gemeinsam ins Wohnzimmer und der Zauberer erzählte ihr von dem, was Kenai gesagt hatte. »Ja, von Vulkanen habe ich auch schon einmal gehört. Meine Mutter hat mir einmal erzählt, dass es eine große Katastrophe gab in dem Jahr, in dem Hope geboren wurde. Damals haben alle Vulkane hintereinander Feuer gespuckt, aber es gab nur leicht Verletzte, keine Toten. Dafür hat sich der Himmel über den ganzen Kontinent für Wochen verdunkelt, kein Lichtstrahl ist dort durchgegangen«, erzählte sie. »Die Asche kann den Himmel verdunkeln?«, fragte Lugh Akhtar überrascht und dachte an die tiefen Gewitterwolken. Was, wenn es gar keine Wolken waren? »Nein, die Asche nicht. Aber der Rauch kann es durchaus. Hope hat mir mal erzählt, dass es im Nachtbuch eine Geschichte gibt, in der sich der Himmel für ein Jahrtausend mit Rauch überzog. Es endete erst, als der Schatten sich selbst opferte und für immer verschwand«, erzählte Nea. »Der Schatten?« »So wird es genannt. Es soll ein Ungeheuer ohne Gleichen sein, ein Drache vielleicht, oder ein Mantikor. Vielleicht auch ein schwarzes Einhorn… nicht einmal im Nachtbuch wird es genauer beschrieben. Aber es soll groß wie ein Berg und schwarz wie die Nacht sein, mit Augen so brennend wie Feuer. Es stürzte die Welt in die Dunkelheit und hielt sie dort gefangen, bis er ein reines Herz entdeckte. Er verliebte sich in dieses reine Herz und als er sah, dass es in dieser Dunkelheit nicht leben konnte sondern zum Tode verdammt war, da tötete es sich selbst und die Welt bekam die Sonne wieder.« »Könnte es sein, dass diese Geschichte mehr ist, als bloß eine Mär? Dass ich von diesem dunklen Jahrtausend träume? Von der Zeit, bevor der Schatten ging?« »Möglich. Aber es ist spät, lass uns schlafen gehen«, lächelte Nea. Er nickte und sie verzogen sich ins Bett. Lugh Akhtar schlief schnell ein und er wusste sofort, dass er träumte. Es war derselbe Traum, der ihm die letzten Wochen schon nachhing. Der Boden war aufgerissen, als hätte es seit Wochen, seit Monaten nicht mehr geregnet, doch über ihn rollte der Donner und ein gelegentliches Wetterleuchten durchbrach das diffuse Licht. Es regnete nicht, obwohl die Erde Regen so nötig hatte. Eine bleierne Schwere lag in der Luft, sie drückte auf ihn ein und machte ihm das Atmen schwer. Er wollte wieder weg, er hatte Angst vor dieser zerstörten Welt, doch er hatte hier keine Wahl. Plötzlich regnete Asche vom Himmel, sie verbrannte ihn, ließ sein Wolfsfell schwelen und tat ihm weh. Er lief los, suchte einen Unterschlupf, doch er konnte keinen entdecken. Dafür jaulte er immer lauter, mit jeder Aschenflocke, die es durch seinen Pelz schaffte. Wie immer in diesem Traum. Er gewahr eine Höhle und rannte hinein, raus aus dem Aschenregen. Auch dieser Teil war wie immer. Doch als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, da merkte er, dass der Traum diesmal weiterging. Normalerweise war hier Schluss. Heute nicht. Er nieste einmal, um den Geruch von verbranntem Fell und Fleisch aus der Nase zu bekommen, dann schlich er langsam tiefer in die Höhle. Er wusste nicht, was ihn erwarten würde, er wusste aber, dass er es gar nicht wissen wollte. Er ging trotzdem weiter. Er träumte, ihm konnte nichts Schlimmes geschehen, also konnte er es genausogut erforschen. Also lief er weiter. Bei jedem Schritt fuhr Schmerz durch seinen Rücken, seine Beine, seine Flanken. Er lief lange, er musste schon tief im Innern des Berges sein, als er den Schein eines Feuers gewahr. Er zögerte, doch er ging weiter, bis sich die Höhle zu einem regelrechten Saal erweitete. Der steinerne Himmel wurde von Säulen getragen, an ihnen waren Fackeln befestigt, die die Höhle erhellten. Er lief weiter. Immer tiefer in den Saal, bis er etwas gewahr, was ihn alles andere vergessen ließ. Er blieb stehen und starrte voll Unglauben auf das Bild, das sich ihm bot. Soweit fern von jeglichem Sonnenlicht wuchs ein Rosenstrauch. Er trug schwarze Blüten und seine Dornen waren blutig rot. Und inmitten dieses Rosenstrauchs, gefesselt mit Dornenbesetzten Ranken, hing eine junge Frau. Sie war nackt, nur Blut bedeckte ihre Blöße, und ihr langes, von Blut rot verfärbtes Haar. Unzählige Schnitte und Kratzer bedeckten ihren Körper, aus ihnen tropfte der rote Lebenssaft zu Boden, wo er schon eine Lache gebildet hatte. Lugh Akhtar kam langsam näher. Er war wieder ein Mensch, nicht mehr der weiße Wolf mit den schwarzen Ohren. Voll Unglauben starrte er auf die junge Frau. Wer nur war dazu fähig, ein Wesen, gleich was es war, auf solch brutale Art und Weise zu Tode zu quälen? Doch er irrte sich. Er irrte sich gewaltig. Kaum hatte er den Gedanken gedacht, da schlug sie ihre Augen auf. Auch ihre Augen waren rot, sie wirkten wie mit einem inneren Feuer erfüllt. Und sie schauten ihn voll Angst, aber auch so flehentlich an, dass er meinte, sein Herz müsste ihm zerspringen. Trotz all der Schmerzen die sie haben musste, lebte sie. Sie sah ihn direkt an. Doch er war wie erstarrt vor Entsetzen. Da sprach sie. Es waren nur zwei Worte, mehr geflüstert als gesprochen, aber sie gingen dem Zauberer durch Mark und Bein. »Hilf mir…«, hauchte sie. In dem Moment erwachte Lugh Akhtar mit rasendem Herzen und in Schweiß gebadet. Er spürte, wie Nea ihn umarmte und langsam beruhigte er sich wieder. »Hattest du einen Alptraum?«, fragte sie leise. »Ich… Der Traum, den ich sonst immer hatte… Heute habe ich ihn bis zum Ende geträumt«, flüsterte er. »Wie… hat er geendet?«, erkundigte sich Nea zögernd. »Mit einem Hilferuf.« Kapitel 6: Versprechen ---------------------- Kalter, salziger Meereswind blies Lugh Akhtar ins Gesicht. Er schloss halb die Augen, konnte aber noch immer sehen, was um ihn herum vor sich ging. Er beobachtete die Hafenarbeiter und die Matrosen, die eifrig ihrem Geschäft nachgingen, horchte dabei mit halbem Ohr auf das Gespräch zwischen Kenai und irgendeinem Mann, der hier wohl die Schiffsreisen organisierte. So genau wusste er es nicht, es war ihm auch gleich, denn Kenai regelte das Wichtigste. Er hatte mehr Erfahrung damit. Er beobachtete lieber das rege Treiben und dachte nervös an die Insel, die sie anfahren würden. Eine der Vulkaninseln, von denen Kenai erzählt hatte. Obwohl Lugh Akhtar eigentlich nicht schon wieder zu einer Reise hatte aufbrechen wollen, hatte Nea ihn regelrecht dazu gezwungen, denn seine Unaufmerksamkeit, dieses ewige in einer Gedankenwelt hängen hatte sie genervt. Sie wollte, dass er schnell dieses Geheimnis löste, damit er schnell wieder heimkehren und sich um seine Pflichten kümmern konnte. Und damit er unterwegs nicht von einer Schwierigkeit in die nächste stolperte, hatte sie Kenai gebeten, ihn zu begleiten. Sie hatte ja Chess, der auf die aufpasste und Hope und Cinder hatten sich ebenfalls für eine Weile angekündigt, sodass er sie immerhin nicht völlig alleine ließ. Und so waren der junge Zauberer und der ehemalige Söldner also zu zweit auf dem Weg, dem nächsten Geheimnis auf der Spur. »Ich würde dir ja gerne andere Wege anbieten, aber genauso wenig, wie du den Winter beeinflussen kannst, kann ich es mit dem Herbst. Wir müssen also wohl oder übel den langen Weg nehmen, tut mir leid«, sprach Kenai ihn an und traf damit genau ins Schwarze. »Entweder bin ich wirklich sehr durchschaubar oder ich sollte mir abgewöhnen, dass man all meine Gedanken an meinem Gesicht ablesen kann«, antwortete Lugh Akhtar mit einem schiefen Grinsen. »Es ist eine Mischung aus beidem. Dein Gesicht verrät dich zwar überhaupt nicht, das ist nur eine starre Maske, aber deine Augen tun es. Und ja, ich denke, ein bisschen kenne ich dich schon. Ich weiß, wie ungern du hier bist, aber Nea hat recht: Besser schnell und schmerzlos, als dass du durch dein Leben wandelst, ohne irgendetwas mitzubekommen wie in den letzten Tagen«, fand der junge Mann und deutete dann auf eines der Schiffe. »Damit werden wir reisen?«, riet der junge Zauberer. »Ja. Aber mach dir keine Hoffnungen, ich denke nicht, dass es die richtige Insel sein wird. Weißt du, ich denke, dass keine Insel die Richtige sein wird«, bemerkte Kenai und wickelte seinen Schal noch einmal um den Hals. »Wie kommst du darauf?«, erkundigte sich der junge Zauberer. »Ich weiß nicht… nach allem, was du erzählt hast, hört es sich einfach nicht danach an. Es klingt mehr, als wäre es ein Ort irgendwo auf dieser Welt, der uns allen noch fern ist. Ein Ort jenseits allem bekannten. Vielleicht hast du auch recht, vielleicht erinnerst du dich an die Vergangenheit, an etwas, was dir in einem früheren Leben geschehen ist, dann werden wir diesen Ort sowieso nicht finden«, meinte Kenai. »Aber ihr Schrei ist wirklich, er klingt bis in die Gegenwart«, bemerkte eine Stimme. Vor Schreck machten Kenai und Lugh Akhtar einen Satz und wandten sich um, Kenai schon mit dem Messer in der Hand, als sie Nanook erkannten. »Und ihre Schmerzen sind so wirklich wie wir auch«, sprach er unbeirrt weiter. »Nanook… musst du uns so erschrecken?«, fuhr Kenai ihn an, doch der junge Mann ignorierte den ehemaligen Söldner einfach. »Hast du… etwa auch von ihr geträumt?«, fragte stattdessen der junge Zauberer. »Ja. Beinahe jede Nacht«, bestätigte Nanook. »Weißt du, wer sie ist? Weißt du mehr als ich?«, wollte Lugh Akhtar wissen, doch er sah sofort, dass er damit den jungen Mann nur verschreckte. Er machte einige Schritte zurück und hob abwehrend die Hand. »Hör auf damit! Ich will nicht, lass mich in Ruhe!«, rief er, lief aber nicht weg. »Aber ich… frage doch nur…«, antwortete Lugh Akhtar verwirrt. »Nein! Es soll aufhören, mach, dass es aufhört, ich will nicht!«, schrie Nanook und schlug die Arme über dem Kopf zusammen. »Hört auf so zu schreien, seit doch endlich einmal leise! Ich will nicht, ICH WILL NICHT!« Und bevor der junge Zauberer noch etwas tun konnte, fegte der junge Mann auch schon an ihm vorbei und war in der Menschenmenge verschwunden. Er und Kenai konnten ihm nur verwirrt nachschauen. »Was… war das? Ist er verrückt?«, fragte der Schwarzschopf mit gerunzelter Stirn. »Ich weiß es nicht, ich… habe so etwas noch nie erlebt…«, antwortete Lugh Akhtar zutiefst verunsichert. Eine ganze Weile standen sie noch einfach so da, dann schüttelte der Zauberer langsam den Kopf. »Ich verstehe es nicht, aber nun gut. Wann läuft das Schiff aus?«, fragte er Kenai. »Bald. Wir sollten langsam an Bord gehen, ich glaube nicht, dass der Kapitän gerne Passagiere hat, die sein Schiff aufhalten«, überlegte der junge Mann und der Zauberer nickte zustimmend. Gemeinsam betraten sie das Schiff, suchten ihre Kajüte und begutachteten das Deck, auf denen sie die nächsten Wochen verbringen würden. Sie wollten zu einer Vulkaninsel im östlichen Meer, die ein wenig weiter entfernt war, noch hinter dem östlichen Kontinent. Als das Schiff ablegte, standen sie an Deck und beobachteten, wie der Hafen immer kleiner wurde. Irgendwann war das Festland hinter dem Horizont verschwunden. »So, für gewöhnlich würde ich jetzt nach Sivan schauen, aber ich fürchte, das erübrigt sich«, bemerkte Kenai. Sie waren mit geliehenen Pferden gereist, da der junge Mann seinen Hengst nur ungern mitgenommen hätte. »Wir können uns ja nützlich machen, indem wir nach den anderen Frachttieren sehen und sie beruhigen«, lächelte der junge Zauberer. »Ja… wäre eine Idee«, nickte der junge Mann und gemeinsam schlenderten sie unter Deck in die Frachträume. Hier waren nicht nur Pferde, sondern auch Schafe, Schweine und Rinder, allerdings waren die Tiere nicht nervös wie erwartet, sondern seltsam ruhig. Als würden sie in einem gewöhnlichen Stall stehen. Lugh Akhtar und Kenai mussten sich nicht einmal anschauen. Der ehemalige Söldner zog sein Schwert und schlich durch den Raum, während der junge Zauberer die Magie um sich sammelte. Wenn Tiere einer solchen Situation zum Trotz so ruhig waren, dann geschah das niemals grundlos. So schlich der ehemalige Söldner durch die Gänge, erwartete jede Sekunde von irgendetwas angegriffen zu werden. Lugh Akhtar folgte langsam, während die Luft um ihn herum vor Magie knisterte. »Bitte entschuldigt, dass ich einfach so weggelaufen bin, aber… Es war alles so irrsinnig laut.« Wieder machten die zwei einen erschrockenen Satz und blieben dann wie erstarrt stehen. »Nanook?«, fragte Lugh Akhtar ins Blaue hinein. »Ja. Entschuldigt, ich wollte euch nicht erschrecken«, meinte der junge Mann und tauchte aus einer Pferdebox auf. »Was tust du hier?«, erkundigte sich Kenai misstrauisch, senkte aber das Schwert, während Lugh Akhtar die Magie ganz entließ. »Ich habe gesehen, wie ihr an Bord gegangen seid und da bin ich euch gefolgt…«, meinte der junge Mann und zog den Sternenstein aus der Tasche. »Ich möchte ihn dir wiedergeben.« »Wieso bist du hier unten geblieben? Weiß der Kapitän davon, dass du hier bist?«, fragte Lugh Akhtar. »Tiere sind besser als Menschen. Sie sind nicht so voller Gedanken«, lächelte Nanook und kletterte auf den Gang hinaus. Kenai ignorierte er dabei einfach. »Was meinst du damit, sie sind nicht so voller Gedanken?«, fragte der mit gerunzelter Stirn. »Sie… sind nicht so laut. Sie tun mir auch nicht so weh. Sie sind die angenehmere Gesellschaft«, erklärte der junge Mann und hielt Lugh Akhtar den Stein hin. Der nahm ihn entgegen, runzelte aber die Stirn. »Sind wir laut?«, fragte er. »Manchmal. Wenn ihr aufgeregt seid oder so, dann schreit ihr. Und tut mir weh… Entschuldige, ich kann es nicht besser beschreiben. Evan und Leji haben es auch nie verstanden, nur Tala wusste, was ich meine«, antwortete der junge Mann. Kenai warf Lugh Akhtar einen fragenden Blick zu, doch der konnte auch nur den Kopf schütteln und mit den Schultern zucken. Er wusste nicht, was Nanook meinte. Vielleicht war der junge Mann wirklich verrückt… aber er wirkte so gewöhnlich, so normal. »Wieso bist du uns gefolgt?«, fragte Kenai. »Weil ich glaube, dass ihr mich zu dem Mädchen bringen könnt.« »Wir wissen selbst nicht, wo sie ist. Wir suchen sie ebenfalls.« »Ich weiß.« Lugh Akhtar und Kenai tauschten einen vielsagenden Blick. Sie beide fanden Nanook ein wenig seltsam, aber sie begriffen, dass hinter ihm viel, viel mehr steckte, als der junge Mann zu sagen bereit war. »Habe ich das richtig verstanden, du möchtest uns begleiten?«, hakte Kenai noch einmal nach. »Ja«, nickte Nanook. »Gut, dann gebe ich dem Kapitän Bescheid, bevor er den blinden Passagier zu Gesicht bekommt«, meinte der ehemalige Söldner und ging wieder in Richtung Oberdeck, bei Lugh Akhtar blieb er aber noch einmal stehen. »Meinst du, du wirst mit ihm fertig?«, fragte er leise. »Natürlich. Was soll er mir denn schon antun können?«, beruhigte der junge Zauberer ihn leise. Kenai nickte und ging endgültig, während sich Lugh Akhtar zu Nanook umwandte. »Ich würde dir ja gerne mehr sagen, aber ich kann es nicht. Ich weiß nicht mehr. Ich bin schon froh, dass ich lesen, schreiben und rechnen kann, von magischen Dingen oder dergleichen habe ich keine Ahnung«, erklärte der junge Mann und lehnte sich an eine der Boxen. Lugh Akhtar betrachtete ihn genauer. Nein, dieser junge Mann wirkte nicht wie ein Schwachsinniger. Mehr wie jemand, der etwas verloren hatte und nun versuchte es zu finden, weil es von unschätzbarem Wert für ihn war. »Du hast mehr Ahnung als du glaubst, du hast meinen Sternenstein anfassen können. Das können nicht viele«, meinte er nachdenklich und betrachtete den Stein jetzt zum ersten Mal genauer, seitdem er ihn wieder hatte. Er hatte sich verändert. Lugh wusste nicht, wie er es genauer spezifizieren sollte, er wusste nur, dass da etwas anders war. Die Farbe, sie kam ihm weniger kalt vor. Irgendetwas war mit dem Stein geschehen. Es war, als wäre er plötzlich… vollständig. »Hast du… etwas mit ihm gemacht?«, fragte er leise. »Hab ich ihn kaputt gemacht?« »Nein… Er ist nur…«, begann der junge Zauberer, schüttelte dann aber den Kopf. »Ist egal. Danke, dass du ihn mir zurückgebracht hast.« »Er bedeutet dir viel, nicht wahr? Dir ist viel wohler, wenn du ihn hast«, bemerkte Nanook. »Ja. Ich habe ihn von meiner Mutter bekommen, aber deswegen ist er nicht wertvoll. Er hat mich auf eine Reise geschickt, auf der ich meine Familie traf. Er hat vielleicht nicht dafür gesorgt, dass ich Nea traf, aber sehr wohl, dass ich heute noch mit ihr zusammen bin. Unsere Beziehung hätte niemals halten können, wenn ich nicht gelernt hätte, endlich einmal ehrlich zu sein. Zu anderen, aber vor allem zu mir selbst. Er hat mich zu meinen Schwestern geführt und ich habe meine wirklichen Eltern kennen lernen dürfen. Ja, es war natürlich nicht der Stein, es war der Traum, in dem ich den Winter traf und alles, was danach geschah, aber für mich steht er symbolisch für genau das«, erzählte Lugh Akhtar und lächelte. »Ein Symbol für deine Familie?« »Ein Symbol für all das kostbare Glück, das ich besitze. Manchmal weiß man Glück nicht zu schätzen, manchmal erkennt man auch nicht, was einen wirklich glücklich macht, aber der Stein erinnert mich immer daran, wann immer ich ihn sehe.« »Ich wünschte, es gäbe etwas, was mich daran erinnert. Ich meine, ich sollte mich glücklich schätzen. Ich habe ein Leben auf der Straße hinter mir lassen können, aber ich habe immer das Gefühl, dass es falsch war, dass mir jetzt etwas fehlt. Weißt du, ich kann mich an nichts erinnern, was früher war. Alles, was vor meinem Treffen mir Tala war, ist für mich nur eine schwarze Leere oder verwischte Gedanken. Nichts Wirkliches, nichts Wahres. Aber ich weiß, dass ich etwas Wichtiges aus diesem alten Leben nicht mitgenommen habe. Etwas, was sehr, sehr wichtig war und was es mir jetzt unmöglich machte, für das dankbar zu sein, was ich habe. Ich hoffe, dass mir das Mädchen helfen kann und wird, wenn ich ihr geholfen habe.« Während Nanook noch sprach fiel Lugh Akhtar auf, was ihn auch beim letzten Treffen so verwirrt hatte, doch jetzt war er sich sicher, es sich nicht einzubilden. Wenn Nanook eine starke Gefühlsregung zeigte, dann wurden seine Augen anders. Dann wurden sie wie die Lugh Akhtars. Dann leuchteten sie in den Farben des Nordlichtes. Auch jetzt, wo der junge Mann schwieg, aber von seinen eigenen Gefühlen schier überwältigt war, auch dann leuchteten sie noch. Nur langsam glomm das Strahlen ab und sie wurden wieder braun. Und Lugh Akhtar wusste, wer auch immer Nanook war, er war nicht irgendwer. »Wir werden sie finden«, meinte er zuversichtlich. »Das verspreche ich dir. Wir werden sie finden. Irgendwie.« Kapitel 7: Der Schatten und der Wolf ------------------------------------ »Das ist ein Vulkan?«, fragte Lugh Akhtar und deutete staunend und mit großen Augen auf den Feuerberg, der sich hoch über die Insel erstreckte. »Ja, aber er ist inaktiv. Er ist der am weitesten entfernte. Von hier aus werden wir auf dem Rückweg die anderen besuchen, bis wir etwas finden«, meinte Kenai und deutete in die Stadt. »Aber erst einmal sollten wir uns ein gutes Wirtshaus suchen, in dem wir in der Zeit übernachten können.« »Bleiben wir lange hier?«, erkundigte sich Nanook. »Nein, denke nicht… es wirkt auf mich nicht gerade, als wäre es die richtige Insel…«, seufzte der junge Zauberer, folgte Kenai aber gehorsam, als der loslief. Sie kehrten ins teuerste Gasthaus der Insel ein, wo sie ein großes Zimmer zu dritt bewohnen konnten. Dann machten sie sich schon auf, um die Hänge des Vulkans in Augenschein zu nehmen. Hier wuchs ein dichter Wald und es würde Ewigkeiten dauern, bis sie alles abgesucht hatten. Da beschloss Lugh Akhtar das Ganze zu beschleunigen. Er verwandelte sich in den weißen Wolf und lief los. Mit seiner Nase konnte er Wege entdecken, die den Menschen verborgen blieben und mit den vier Pfoten kam er auch im unwegsamen Gelände schneller voran, als Nanook und Kenai es gemeinsam vermochten. Es änderte alles nichts daran, dass sie nichts fanden, was in irgendeiner Weise von Interesse wäre. Als sie abends ins Gasthaus einkehrten, waren Lugh Akhtar und vor allem Nanook mutlos und aggressiv. Sie aßen etwas, gingen dann ziemlich schweigsam ins Bett. Einschlafen konnte der junge Zauberer jedoch nicht. Er wälzte sich hin und her, doch ihm fehlte Neas warmer Körper an seiner Seite. Er hörte Kenais leises Schnarchen und vermutete, dass wohl auch Nanook schon schlief. Er wollte sie nicht stören, stand auf und verließ den Raum um sich draußen anzuziehen. Er verließ die Gaststätte und lief eine ganze Weile ziellos durch den Ort, genoss die Stille und dachte nach. Er wollte die Insel und vor allem diese Höhle so schnell wie möglich finden, doch ihm fiel nichts ein, wie er es beschleunigen konnte. »Du musst immer irgendetwas tun, wenn dich etwas beschäftigt, oder? Kannst du nicht einfach mal still irgendwo sitzen und mich schlafen lassen?«, brummte es plötzlich aus einem Hauseingang, doch Lugh Akhtar erschreckte sich nicht. Er hatte gemerkt, dass ihm jemand folgte und Kenais Stimme erkannte er schnell. »Hab ich dich geweckt?«, fragte er. »Ja, mehr oder weniger. Und weil ich Nea versprochen habe auf dich Acht zu geben, konnte ich nicht einmal in meinem schönen, warmen Bett bleiben«, murrte der junge Mann. »Tut mir leid«, lächelte Lugh Akhtar und schlenderte langsam weiter. Kenai schloss sich ihm ungefragt an. Sie gingen bis zum Meer hinab, im ruhigen, menschenleeren Hafen setzten sie sich dann auf die Kaimauer und beobachteten das schwarze Wasser. »Ich vermisse Nea. Am liebsten würde ich einfach umkehren«, seufzte der junge Zauberer. »Ich weiß. Aber sieh es so, vielleicht ist das ja das letzte Geheimnis in deinem Leben«, lächelte Kenai. »Nein, eher nicht… Ich fürchte, so viel Glück habe ich nicht…«, lächelte Lugh Akhtar. Eine Weile schwiegen sie wieder gemeinsam, dann schaute der junge Zauberer Kenai an. Ohne darüber nachzudenken was er tat, streckte er die Hand aus und fuhr über die Narbe, die der junge Mann quer über dem Gesicht trug. Er schaute erst nachdenklich in Kenais Gesicht, dann auf seine Hand, bevor er sich regelrecht fallen ließ. Seinen Kopf in Kenais Schoß gebettet blickte er in den Sternenhimmel hinauf. Er bemerkte den verwirrten, fragenden Blick des jungen Mannes und lächelte. Noch einmal zeichnete er die Narbe nach. »Woher hast du sie?«, wollte er wissen. »Willst du die Wahrheit wissen oder reicht es, wenn ich dir erzähle, was ich allen erzähle?«, erkundigte sich Kenai mit einem schiefen Grinsen. »Erzähl mir beides«, lächelte der junge Zauberer. Kenai seufzte, nickte dann aber. »Nun… ich behaupte, dass ich sie in einem Kampf bekam. Ich habe vor einiger Zeit einmal gegen Kha’thun gekämpft. Ich wusste nicht wer er war, er wirkte so klein und verletzlich, wenn man die anderen Schwertkämpfer kennt, aber… er ist es nicht. Er ist nicht grundlos eine Legende. Auf jeden Fall habe ich ihn herausgefordert und er hat mich nach Strich und Faden vorgeführt… Ich behaupte gerne, dass er mir die Narbe zugefügt hat…«, erzählte er nachdenklich. »Und… wer war es wirklich?«, fragte Lugh Akhtar zögernd. »Eine Katze. Ich hab sie wohl erschreckt, auf jeden Fall ist sie mir ins Gesicht gesprungen. Sie hat mir das Gesicht zerkratzt und ist abgehauen. Einer der Kratzer hat sich böse entzündet und na ja… das Ergebnis siehst du ja…«, seufzte der ehemalige Söldner und der junge Zauberer musste sich stark ein Grinsen verkneifen. »Bleib bei der Geschichte mit Kha’thun, sonst wirst du nur unnötig ausgelacht«, meinte er. »Ich habe es dir auch nur erzählt, weil du mich nicht auslachst. Und dich auch nicht darüber lustig machst… zumindest hoffe ich das.« »Nein, keine Sorge… auch wenn das schon eine… sehr interessante Geschichte ist«, lächelte Lugh Akhtar. »Selten dämlich trifft es glaub ich besser«, fand Kenai, grinste dann aber. »Meinst du, wir sollten wieder ins Bett gehen? Nanook könnte sich schon fragen, wo wir sind«, meinte der Zauberer nach einer Weile. »Meinst du? So wie der sich zusammengerollt hat, kann neben ihm eine Pferdeherde entlanglaufen und der wird nicht wach. Aber… ja, lass uns wieder zurückgehen, dann kann ich auch endlich weiterschlafen«, griente der junge Mann. Lugh Akhtar lachte, stieß sich ab und setzte sich. Langsam standen sie auf, schauten noch immer auf das schwarze Wasser. Selbst das Sternenlicht schien es zu verschlucken. Dann schlenderten sie gemeinsam, aber schweigend zurück. Als der Zauberer wieder im Bett lag, schaute er noch lange die schwarze Raumdecke an und beobachtete, wie das blasse Mondlicht an der Wand entlang wanderte. Irgendwann forderte sein Körper jedoch nachhaltig sein Recht und er schlief ein. Er wusste sofort, dass er träumte, obwohl er diesen Traum nie zuvor hatte. Er stand an einem Strand, felsiger Sand bedeckte den Boden und das schwarze Meer rauschte in bedrohlichen Wellen weit hinauf. In der Ferne sah er ein helles Funkeln und über den Himmel flog ein schwarzer Schatten, der zu groß für einen Vogel war. Er zögerte kurz, begann dann den Sandstrand entlang zu laufen. Er spürte den Sand zwischen den Zehen und das wunderte ihn. Auch bei seinem Traum von dem Mädchen hatte es ihn schon gestört. In Träumen fühlte man keine Berührungen und auch keinen Schmerz. Doch er hatte beides schon gespürt und deswegen wusste er, dass auch dieser Traum irgendwie zu dem anderen gehören würde. Er hatte recht. Er war noch gar nicht weit gegangen, als er Bewegungen sah. Gestalten, die schnell auf ihn zugelaufen kamen. Er blieb stehen und wartete erst einmal ab. Sie kamen immer näher und bald schon erkannte er zwei Lichtgestalten, die eine eher dunkle Gestalt begleiteten. Oder verfolgten. Eher verfolgten, wie er sich bald schon in Gedanken berichtigte. Er zögerte noch, wusste nicht sicher, ob er loslaufen sollte, doch dann fiel ihm etwas auf, was sein Herz einen riesen Satz machen ließ, es für einen Moment anhielt und dann mit doppelter Geschwindigkeit weiterschlagen ließ. Die Verfolgte war das Mädchen aus seinem Traum. Sie trug nun einen dunklen Mantel, doch ihr weißes Haar war auch über die Entfernung gut zu erkennen und selbst das Blitzen ihrer roten Augen erkannte er noch. So lief er auf sie zu um ihr zu helfen, gegen das, was auch immer ihr Feind war. Die beiden Lichtgestalten waren nicht klar zu erkennen, es waren nur helle Schemen, die das Mädchen immer wieder attackierten. Und das Mädchen schien nichts um sich herum wahrzunehmen, denn sie lief einfach an Lugh Akhtar vorbei. Doch der Zauberer stürzte sich ihren Verfolgern in den Weg. »Lasst sie in frieden ziehen!«, forderte er laut und durchdringend. Die Lichtgestalten zögerten, dann fauchte eines von ihnen, doch der Zauberer blieb unerschrocken einfach stehen. »Du weißt nicht, wer es ist, den du zu beschützen versuchst«, fand das andere Wesen. »Ich weiß, dass sie mich um Hilfe gebeten hat. Ich helfe ihr«, antwortete der junge Zauberer. »Dann hoffe, dass du es niemals bereuen magst, Wintersohn«, meinte das erste Wesen. Dann verschwanden sie. Lugh Akhtar zögerte. Warum sollte er es denn bereuen? Doch er ließ sich nicht weiter beirren und wandte sich um. Das Mädchen war nur einige Schritte weitergelaufen, dann in den Sand gestürzt. Dort lag sie immer noch, völlig bewegungslos. Er ging langsam zu ihr, kniete sich neben sie und wollte nachschauen, wie es ihr ging, ob sie seine Hilfe brauchte. Er streckte die Hände nach ihr aus, wollte ihr hoch helfen, sie umdrehen, doch er faste durch sie hindurch, als wäre sie nur eine Illusion. Er prallte nicht erschrocken zurück, sondern blieb hocken und wartete ab. »Hilf mir«, flüsterte da das Mädchen. Sie schaute auf, schaute ihn mit einem Tränen verschmierten Gesicht an, ein Flehen in den Augen, das ihm schier das Herz brach. »Wie?«, fragte er leise. »Finde mich. Hilf mir. Irgendwie«, bat sie. Dann verschwamm ihre Gestalt, wurde zu einem schwarzen Glühen, das sich in alle vier Winde verwehte, bis der junge Zauberer wieder alleine da stand. Er stand auf, schaute auf das Wasser, dann in den Himmel. Er erkannte keines der Sternenbilder, er befand sich irgendwo auf dieser Welt, jenseits allem, was ihm nah und vertraut war. Aber er wusste, wenn er diesen Ort hier irgendwie finden könnte, dann würde er auch dieses Mädchen finden, wer auch immer sie war. Als er diesmal erwachte, war er völlig ruhig, allerdings benötigte er einige Zeit um sich zu erinnern, wo er war. Dass Nanook scheinbar zu ihm ins Bett gekrabbelt war, half ihm da auch nicht wirklich, denn im ersten Moment glaubte er, wieder zu Hause zu sein, bei Nea. Er setzte sich langsam auf und runzelte verwundert die Stirn. Er verstand nicht, wieso der junge Mann das getan hatte, doch er bemerkte, dass Nanook schwitzte und zitterte. Er murmelte im Schlaf und schien Angst zu haben. Für einen Moment spielte Lugh Akhtar mit dem Gedanken, ihn zu wecken, doch dann blickte er auf. Er wurde beobachtete, das hatte er gefühlt, doch er hatte mit Kenai gerechnet oder vielleicht auch mit einem Fremden, aber nicht mit dem, was er letzten Endes wirklich sah. Ein schwarzer Wolf stand dort. Seine Augen waren wie die Lugh Akhtars, sie schimmerten in den Farben des Nordlichtes. Seine Stirn zierte ein weißer Halbmond und an seinen Pfoten und der Schwanzspitze hatte er weiße Abzeichen. Er kannte den Wolf, doch obwohl er immer bei ihm war, konnte der junge Zauberer ihn nie sehen. Aber heute sah er ihn und das machte ihm ein wenig Angst. Normalerweise sah er den Wolf nur, wenn Gefahr drohte. Er spannte sich unwillkürlich. »Wie ist das nur möglich?«, fragte der schwarze Wolf leise. Er wirkte nicht angespannt, er wirkte eher fassungslos, aber auch voller Freude. »Wie… wie ist was möglich?«, erkundigte sich Lugh Akhtar. »Wir dachten, er wär tot. So lange… dabei war er da… irgendwo…«, murmelte der Wolf. »Kanoa, wovon sprichst du?«, zischte Lugh Akhtar und wollte aufstehen, doch Nanook lag im Weg. Doch der schwarze Wolf, Kanoa, schüttelte nur den Kopf. Er schien zu lächeln, als er Lugh Akhtar anschaute. »Pass gut auf ihn auf, ich kann es leider nicht tun. Glaube mir, du würdest es bereuen, wenn ihm etwas geschehen sollte«, erklärte er. »Ihm? Wieso ihm? Die Gestalt aus meinem Traum ist ein Mädchen, da bin ich mir sicher«, widersprach der junge Zauberer. »Ich rede nicht vom Schatten. Vor ihr solltest du dich hüten, es gibt die Geschichte im Nachtbuch nicht grundlos mein Sohn«, meinte der Wolf. »Sie ist der Schatten? Aus der Geschichte?«, fragte Lugh Akhtar erstaunt. »Ja. Nicht nur, aber ja. Von ihr hat dir Nea erzählt. Die Nachtbringerin. So nannte Winter sie. Hüte dich vor ihr, sie ist nicht immer das, was sie zu sein scheint.« »Sie wirkt aber nicht böse oder schlecht…« »Das habe ich auch nie gesagt. Bleib aufmerksam, vertrau ihr niemals blind. Du weißt nicht, was sie denkt, sie ist anders als wir. Sie ist so alt wie die Welt, ihr Herz ist so schwarz wie die Nacht und ihre Gedanken wandeln auf Pfaden, die wir nicht begreifen können. Sie kann dich lieben und dir deswegen den Tod wünschen. Du würdest sie nie verstehen können. Pass einfach auf. Und pass auf ihn auf. Er kann es nicht allein, er hat eine grauenhafte Gabe, die ihn daran hindert. Er braucht dich«, sprach der schwarze Wolf eindringlich. »Meinst du Nanook? Wieso klingt sein Name so vertraut? Und von welcher Gabe sprichst du?« »Ich muss jetzt wieder gehen, Fjodor. Das Leben und der Tod werden dir deine Fragen beantworten. Vielleicht. Folge deinem Herz, dann wirst du den richtigen Weg finden. Und auch schnell wieder nach Hause kommen.« Der schwarze Wolf lächelte wissend. »Ich folge meinem Herz. Und wenn ich den Pfad verliere, dann glaube ich daran, dass du mich wieder zurückgeleitest«, antwortete Lugh Akhtar und streckte die Hand aus. Kanoa rieb seinen schwarzen Kopf an ihm, trat dann wieder zwei Schritte zurück. »Das werde ich. Vergiss nicht, gemeinsam bis ans Ende der Welt.« Damit verschwand der schwarze Wolf. Er zerfiel, als hätte er aus schwarzem Schnee bestanden, doch auch vom Schnee war letztlich nichts mehr zu sehen. Es war, als hätte es ihn nie gegeben. Lugh Akhtar schaute noch einen Moment auf die Stelle. Er wusste, dass Kanoa noch immer im Raum war. So lächelte er und rutschte im Bett nach unten. Er zögerte kurz, dann umarmte er Nanook. Langsam beruhigte sich der junge Mann wieder, sein Schlaf wurde wieder ruhiger. Der junge Zauberer wusste zwar noch immer nicht, was es mit Nanook auf sich hatte, aber er hatte verstanden, dass er Kanoa am Herzen lag. Also würde er sich um den jungen Mann kümmern. Auch, wenn das bedeutete, nachts mit ihm zu kuscheln. Mit dem Gedanken an seinen Vater schlief Lugh Akhtar ein. Und obwohl er nicht bei Nea war, fühlte er sich wohl und geborgen. Kapitel 8: Erwachen ------------------- Er lebte. Er wusste, dass das bemerkenswert und wichtig war, aber er wusste nicht wieso. Er blinzelte ein wenig und schaute sich um. Er wusste, dass er ein Wolf war und er wusste auch, dass es nicht sein normaler Zustand war, er diese Gestalt aber dennoch gerne mochte. Was er nicht wusste, war alles andere. Wo war er hier und warum? Er schaute sich um und erkannte, dass er in einer Höhle stand. Er wusste, dass er eine Höhle gesucht hatte, aber wieso? Was war nur geschehen? Wieso stand er hier und wo war hier überhaupt? Er stand auf und roch am Boden. Es nahm den Geruch eines anderen Wolfes wahr, der hier gewesen, aber wieder gegangen war. Eine Wölfin, älter als er und von einer Macht umgeben, die ihn zögern ließ. Wollte er sie wirklich treffen? Sicher war er sich da nicht. Andererseits aber wusste er, dass auch er mächtig war. Und dass es kaum eine Macht in seiner Welt gab, vor der er sich fürchten musste. In seinen Gedanken tauchten Namen auf. Kenai und Nanook. Und die Erinnerung an ein Mädchen, das verzweifelt nach seiner Hilfe schrie. Wer waren sie und warum brauchte das Mädchen seine Hilfe? »Lugh Akhtar«, flüsterte er leise. Ja, das war sein Name. Er hatte ihn von der wichtigsten Person seines Lebens bekommen, aber nicht von seinen Eltern. Von Nea, die Frau, die er liebte. Und dennoch tat er ihr immer und immer wieder weh. Für einen Moment blieb er bei Nea hängen, dann überlegte er weiter. Eine Frage wurde immer drängender. Ging es Kenai und Nanook gut? Er wusste, dass es wichtig war, doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, wieso, trat eine schwarze Wölfin ein. »Na, bist du wach, Wintersohn?«, fragte sie. So wurde er schon einmal genannt. Von Nea, aber auch von anderen. Und nicht zu unrecht, er war der Sohn des Winters. Das älteste Kind des Winters. Das zumindest wurde immer behauptet, aber etwas an diesen Gedanken war falsch. »Wie du siehst… wo bin ich hier? Und wer bist du?« »Ich bin Skadi, eine Abgesandte deiner Mutter. Und du bist hier in Midgard, in der alten Welt«, erklärte die Wölfin. »Wir haben dich aus dem Wasser gezogen wie ein Fisch!« Ein junger Wolf kam hinter Skadi in die Höhle gesprungen. Er hatte weißes Fell, graue Abzeichen und eisblaue Augen, aus denen er lebenslustig den weißen Wolf anblitzte. »Llew, sei ruhig und geh draußen spielen«, befahl Skadi, klang dabei aber freundlich und warm. »Aus dem Wasser gezogen…?« Nachdenklich neigte der weiße Wolf den Kopf, dann fiel es ihm wieder ein. Sie waren auf dem Rückweg von der Vulkaninsel aufs Festland, da gerieten sie in einen Sturm und kenterten. »Habt ihr noch mehr aus dem Wasser gezogen?«, erkundigte sich Lugh Akhtar zögernd. »Du sprichst von deinen Freunden? Den Schwarzen und den kleinen Weißen? Ja, die erkunden gerade die Insel«, lächelte Skadi. »Den Schwarzen und den Weißen?« »Kenai und Nanook.« Lugh Akhtar seufzte erleichtert. »Würdest… du mir jetzt auch erklären, was du mit all dem anderen meintest? Was bedeutet, dass du eine Gesandte meiner Mutter wärst und was ist die alte Welt?«, fragte er dann. »Du… weißt nicht besonders viel, stimmt’s? Über das Gefüge der Welt, über den Winter und ihre Belange. Hab ich recht?«, erkundigte sie sich. »Ich weiß mehr, als die meisten anderen. Ich weiß, dass die Jahreszeiten mehr sind, als bloße Geschichten und ich weiß, dass ich bei Zeiten schon beschlossen habe, dass ich damit nicht mehr zu tun haben möchte, als das, was ich jetzt schon kann und weiß«, erklärte er mit einem unverhohlenen Drohen in der Stimme. Dann blinzelte er verblüfft. Wann nur hatte er sich diese Art der Autorität angewöhnt, die ihn jeden Einspruch, jedes noch so sinnvolle Argument schon im Keim ersticken ließ? Eigentlich war das so gar nicht seine Art und er hatte niemals so sein wollen. Er begriff, dass das Gefühl der Macht und der Unantastbarkeit auch vor ihm nicht halt machte und ein Blick in Skadis Augen zeigte ihm, dass sie durchaus wusste, was in ihm vorging. Und sie wirkte darüber eindeutig amüsiert. »Ich habe die Raben bereits losgeschickt, sie geben deiner Mutter und auch deiner Familie Bescheid, dass es dir gut geht und dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchen«, erklärte die schwarze Wölfin und beobachtete, wie der weiße Jungwolf übermütig über das Gras lief. »Die Raben? Ich versteh nicht, was geht hier nur vor sich?« Lugh Akhtar war eindeutig verwirrt. Langsam kam er zu Skadi und trat ins helle Sonnenlicht. Er schaute sich um und stellte fest, dass dies hier nicht seine Heimat war, aber durchaus Ähnlichkeit mit der nördlichen Wildnis Wynters hatte. »Wie komme ich hierher?«, fragte er leise. »Ich bin nicht sicher… vielleicht war es eine Strömung, vielleicht war es aber auch Sedna, die dich hier wissen wollte. Vielleicht hat aber auch eine Macht ihre Finger im Spiel, die wir beide nicht begreifen können, aber letztlich ist es egal. Du bist hier, das allein ist von Bedeutung.« »Wer… wer ist schon wieder Sedna?« »Die Mutter aller Meeressäuger.« Es war nicht Skadi die antwortete, sondern Nanook, das erkannte Lugh Akhtar an seiner Stimme. Er schaute in die entsprechende Richtung und gewahr zwei Wölfe. Einer war schwarz mit rotbraunen und weißen Abzeichen, die Narbe quer über die Schnauze legte die Idee nahe, dass es Kenai war. Der andere war weiß mit schwarzen Abzeichen und braunen Augen, die aber von Innen her zu leuchten schienen. Er wusste sofort, dass es Nanook war. »Geht es euch beiden gut?«, fragte Lugh Akhtar besorgt und trottete zu ihnen. »Ja, Skadi sei dank«, nickte Kenai. Der weiße Wolf wandte sich um und schaute die schwarze Wölfin nachdenklich an. »Lass dir alles von deinen Freunden erklären, aber sei pünktlich zum Sonnenuntergang wieder hier. Sobald der Mond aufgeht, wollen die Nornen dich sprechen«, erklärte die mit einem Lächeln und trottete von dannen, dem kleinen weiß-grauen Wolf hinterher. »Wo sind wir?«, fragte Lugh Akhtar seine Freunde und zuckte unwillig mit den Ohren und der Rute. »Jenseits der bekannten Welt. Ach herrje, wo fangen wir nur an?« Kenai seufzte und setzte sich ins Gras. »Komm mit, ich erkläre es dir.« Nanook dagegen schien schon zu wissen, wo er beginnen wollte. Ohne auf eine Antwort zu warten, lief er los und Lugh Akhtar zögerte nur kurz, folgte ihm dann aber. Nanook führte ihn zum Meer. Er stellte sich auf einen Felsen und schaute auf das graue Wasser. »Unsere Welt, sie ist rund. Wie ein Ball, der im Nichts schwebt. Deswegen sehen wir auch nur bis zum Horizont«, begann er und seine Augen begannen wieder zu glühen. »Rund? Wie kann die Welt denn rund sein?« Verblüfft sprang der weiße Wolf zu seinem Freund auf den Felsen hinauf. »Wäre sie es nicht, gäbe es kein Horizont. Wenn du über den Rand eines Balls blickst, dann siehst du auch nur das, was vor deinen Augen liegt, nicht das dahinter. Der Horizont ist der höchste Punkt des Balls, den wir sehen können. Es geht dahinter weiter, aber das entzieht sich unserem Blick«, antwortete Nanook und deutete mit seiner Schnauze in die Ferne. »Okay. Mir war bisher eigentlich ziemlich egal, welche Form unsere Welt hat, aber okay. Warum ist es wichtig?«, fragte Lugh Akhtar weiter. »Wenn du diese Welt wagerecht in der Mitte teilst, weißt du in etwa, wo die Grenzen verlaufen. Der obere Teil, der Norden, ist die neue Welt, der untere Teil die alte Welt.« »Neue und alte Welt? Aber es ist doch bloß… eins.« »Nein, das ist es nicht. Nie gewesen. In der neuen Welt regieren der Tag und die Nacht und auch die Jahreszeiten. Hier, in der alten Welt, regiert alles. Und nichts. Das Chaos, die Ordnung, das Licht und der Schatten. Ich habe es nicht richtig begriffen, es ist seltsam. Es ist, als wäre es eine Welt der Götter, aber es gibt keine Götter«, meinte Nanook und wirkte scheu und verunsichert. »Ich verstehe nicht… wie kommst du darauf?« »Die Norne hat es mir gezeigt. Sie hat mir unsere Welt gezeigt. Sie ist wunderschön. Aber ich begreife sie nicht. Hier zumindest sind wir in der alten Welt. Skadi ist im Rudel des Winters geboren, aber sie lebt hier. Und das Mädchen, es lebt auch hier. Nicht auf Midgard, aber in dieser Welt«, erklärte er leise. »Es ist leichter zu begreifen, wenn man es gesehen hat. Auch mir haben sie es gezeigt, aber wie diese beiden Welten geordnet sind… Nun ja, das sind Dinge, die uns nicht zu interessieren brauchen«, überlegte Kenai. Unwillkürlich sträubte sich dabei Lugh Akhtars Fell, doch er sagte dazu nichts. Stattdessen wollte er wieder vom Felsen hinab springen, doch als er Nanooks Blick in die Ferne sah, da hielt ihn irgendetwas zurück. Er tauschte einen schnellen Blick mit Kenai. Der verstand, nickte und ging dann, während der weiße Wolf sich zögernd an Nanooks Seite setzte. Der schien in Gedanken so weit fort wie die Sterne es waren. Lugh Akhtar wusste nicht, was er tun sollte, er kannte Nanook kaum. Wollte er lieber alleine sein, oder doch lieber über etwas sprechen? Wollte er gemeinsam schweigen oder einfach alles was ihn beschäftigte in die Welt hinausschreien? Der weiße Wolf wusste es einfach nicht. Er spürte aber, dass seine Anwesenheit hier richtig war. Zögernd legte er seinen Kopf auf dem Rücken seines Freundes ab und schloss die Augen. Er konnte Nanooks Herzschlag hören. Er war ruhig und gleichmäßig und nach einer Weile fiel Lugh Akhtar auf, dass sein Herz im gleichen Takt schlug. Eine ganze Weile lauschte er, atmete ganz ruhig und wartete einfach nur, dann spürte er, wie etwas in Nanooks Körper sich heftig zusammenzog. Erschrocken riss er den Kopf zurück, dann merkte er, dass es ein Schluchzen war, das den anderen weißen Wolf geschüttelt hatte. Nanook hatte den Kopf gesenkt und weinte leise, glitzernde Tränen rannen das weiße Fell hinab und tropften zu Boden. Für einen Augenblick fühlte sich Lugh Akhtar noch hilfloser als zuvor, denn jedoch wurde ihm bewusst, dass er es sowieso nicht mehr schlimmer machen konnte, egal was er tat, deswegen tat er einfach, was er bei jedem anderen auch getan hätte. Der weiße Wolf trat wieder zu Nanook und rieb seine Nase so fest es ihm möglich war in dem weißen Fell. Er drängte seinen ganzen Körper an den seines Freundes, versuchte ihm so nah wie möglich zu sein, um so seinen Schmerz zu lindern, ihm zu zeigen, dass er nicht alleine war. Irgendwann beruhigte der sich langsam wieder. Er legte sich hin und Lugh Akhtar legte sich zu ihm, den Kopf wieder auf seinem Rücken. »Geht es wieder?«, fragte er leise, doch Nanook antwortete ihm nicht. »Ich habe das Gefühl, dass irgendetwas versucht, mein Innerstes zu zerreißen. Ich spüre die Gefühle von jenen, die um mich herum sind, als wären es meine eigenen, und wenn niemand bei mir ist, dann spüre ich trotzdem immer das verzweifelte Weinen von jemandem, der etwas wichtiges verloren hat, und das schmerzhafte Fehlen meiner selbst. Und über allem drüber steht immer dieses zerreißende Gefühl, als wäre es nicht richtig, dass ich ich bin. Als sollte ich etwas anderes sein, als wäre in meinem Innern etwas, was dort nichts zu suchen hat. Und ich fühle ihre Einsamkeit, immerzu«, flüsterte er. »Irgendetwas geschieht mit dir, aber ich weiß leider nicht, was es ist, sonst könnte ich versuchen dir zu helfen.« Lugh Akhtar versuchte all seine Gefühle zu unterdrücken, denn er hatte gemerkt, dass seine eigenen Gefühle dem weißen Wolf große Schmerzen bereiteten, dass sie ihn schier zum Wahnsinn trieben, aber das Mitleid das er empfand war so groß, dass es ihn schier überflutete. »Du kannst mir helfen. Du und das Mädchen. Ihr seid der Schlüssel, das haben mir die Nornen verraten, aber sie sagten nicht, wie ihr es tun könnt. Ich hoffe, das Mädchen weiß mehr, wer auch immer sie ist«, flüsterte Nanook. »Und wo immer sie sein mag. Sie kommt mir so seltsam bekannt vor und ich weiß, dass sie wichtig ist, aber ich…« Lugh Akhtar schwieg und schloss die Augen. »Ich hoffe, dass ich sie im Traum wieder treffen kann. Vielleicht weiß ich dann, wo wir sie finden können.« »Sie ist hier, auf der Insel. Nicht in Midgard, denn hier hab ich sie schon überall gesucht, aber in Udgard oder Asgard vielleicht. Dort waren wir noch nicht, Skadi meinte, das wäre kein Ort für uns«, flüsterte Nanook. »Wenn sie dort ist, werden wir gehen, ganz gleich, was Skadi sagt. Ich weiß nicht einmal genau wer sie ist, da sind mir ihre Worte nicht wichtig«, fand der weiße Wolf und rieb die schwarze Nase an den schwarzen Ohren seines Freundes. »Vielleicht verraten dir ja die Nornen mehr, als sie Kenai und mir verraten haben. Wobei ich nicht genau weiß, was sie ihm sagten. Er war anders als er zurückkehrte«, überlegte der. »Wer sind die Nornen eigentlich?«, erkundigte sich der weiße Wolf nachdenklich. »Sie bestimmen unser Schicksal«, antwortete Nanook und seltsamerweise wusste Lugh Akhtar, dass er mehr nicht sagen würde. Für einen Moment blieben sie noch so beisammen, dann bemerkte der weiße Wolf, dass die Sonne den Horizont berührte und er erinnerte sich daran, was Skadi sagte. Er und Nanook standen auf. Gemeinsam und so nah beieinander wie es ging, liefen sie zurück. Vor der Höhle wartete die schwarze Wölfin schon. Das letzte Licht der Sonne ließ ihre Augen bedrohlich rot aufflackern und die wenigen weißen Abzeichen wie Feuer lodern. Sie stand auf und trat ihm entgegen. »Du musst hier bleiben, Nanook. Kenai ist mit Llew in der Höhle, geh zu ihnen, das wird das Beste sein«, erklärte sie. Der weiße Wolf nickte zögernd, trabte dann an ihr vorbei um zu tun, wie ihm geheißen. »Und du wirst mit mir kommen«, erklärte sie Lugh Akhtar. Er nickte und folgte ihr, als sie loslief, an der Höhle vorbei in ein Gebiet, das er nicht kannte. So, wie er die ganze Insel eigentlich nicht kannte. Aber er wusste, dass ihn etwas Interessantes erwarten würde. Kapitel 9: Vergangenheit ------------------------ »Erinnerst du dich an den Tag, an dem dein Glück zerbrach?« Alles war schwarz um ihn herum. Wenn es Wände gab, so waren sie so weit weg, dass er sie nicht spüren konnte. Er fühlte keinen Luftzug und sah keinen noch so sachten Schimmer. Nur ein glatter Boden wie aus Glas, zu seinen Füßen. »Mein Glück ist nicht zerbrochen, es blieb nur eine Weile von mir fern. Es kam zu mir zurück und es wird auch noch einmal zu mir kommen, wenn ich dieses Mädchen gefunden habe«, antwortete er. »Vergiss die Gegenwart, vergiss die Zukunft, lebe für einen Moment noch in der Vergangenheit«, forderte ihn die Stimme auf. Er wusste nicht, woher sie kam oder wer sie war. »Ich habe lange genug in der Vergangenheit gelebt, es ist Zeit für die Gegenwart. Und auch für die Zukunft«, widersprach er entschieden. »Um deine Zukunft verstehen zu können, musst du deine Vergangenheit verstehen. Lebe für einen Moment wieder in der Vergangenheit, betrachte sie mit anderen Augen und versteh sie«, forderte die Stimme ihn auf. »Die Vergangenheit verändert sich aber nicht, nur weil ich etwas älter geworden bin. Sie ist noch genau so, wie zuvor auch. Warum sollte ich sie also noch einmal durchleben?« »Warum dein Vater dir immer sagte, dass du vor dem Winter keine Angst haben musst, hast du auch erst verstanden, nachdem du sie getroffen hast. Mit so manchem Wort, das damals gefallen ist, könnte es dir ähnlich ergehen.« »Ist es nicht egal? Was damals geschah, zieht sich bis in meine Gegenwart, aber ich habe meinen eigenen Weg gefunden, das Gute nur zu meiner Zukunft werden zu lassen. Ich bestimme nun selbst, was meine Zukunft ist. Ich muss meine Sichtweise auf meine Vergangenheit nicht ändern.« »Du kannst deine Zukunft aber nicht vollständig selbst entscheiden. Ein Stückweit sind es immer andere, die darüber bestimmen und ihre Entscheidung wird dir nicht gefallen. Betrachte den Weg, der hinter dir liegt um zu begreifen, warum du den Weg gehen musst, den sie für dich bauen.« »Und wenn ich gegen sie kämpfen werde?« »Du wirst nicht gewinnen können. Es wäre ein Kampf bis in den Tod, ein Leben voller Schmerz und Verbitterung.« »Habe ich denn keine Wahl?« »Doch. Geh zurück und verstehe oder bleib hier und kämpfe.« Für eine lange Zeit stand Lugh Akhtar in der Dunkelheit und dachte nach. Er war bereit zu kämpfen, vor allem wenn es um sein Glück ging, aber er war nicht dumm. Schließlich nickte er. »Ich werde mir anschauen, was du mir zu zeigen hast«, sprach er und neigte ergeben den Kopf. »Dann erinnere dich an den Tag, als dein Glück zerbrach«, forderte die Stimme ihn auf. »Ich weiß nicht, welchen Tag meinst du? Wann zerbrach mein Glück?« »Was glaubst du? Such dir den Tag selbst aus. Ab wann ging alles schief?« »Seit dem Tag, als…« Lugh Akhtar musste nicht einmal zu Ende sprechen. Kaum hatte er sich erinnert, verwandelte sich seine Umgebung. Die Schwärze verschwand und er stand im Schnee. Neben sich gewahr er eine schwarze Mauer und als er hinaufschaute, wusste er, dass es die Mauer war, hinter dem der Winter sein Reich hatte. Als er sich wieder umschaute, sah er eine Katze im Schnee sitzen und ihn anschauen, doch es war nicht irgendeine Katze. Sie war größer als ein Fuchs, mit einem weißen Schwanz, länger als ihr Körper und langem rotem Fell, das immer wieder von weißen Abzeichen unterbrochen wurde. Ihre Augen waren grau und sie schaute ihn ruhig und abwartend an. »Wer bist du?«, fragte er und machte einige Schritte auf sie zu. »Ich bin Klangfeuer. Ich führe dich durch deine Vergangenheit«, erklärte die Katze und er erkannte sofort, dass er zuvor nicht mit ihr gesprochen hatte. Die körperlose Stimme war wer anderes gewesen. »Mit wem habe ich vorher gesprochen? Und warum führt sie mich nicht?«, erkundigte er sich. »Das war Dimmur. Sie wirst du vielleicht auch noch treffen, aber… das ist nicht dasselbe. Sie ist anders als ich, aber das ist jetzt einerlei. Ich werde dich durch deine Vergangenheit geleiten, komm mit«, erklärte Klangfeuer, stand auf und wandte sich ab. Sie zuckte mit ihrem langen Schweif und deutete ihm so, dass er ihr folgen sollte. Er fügte sich zögernd. Sie liefen nur ein Stück durch den Schnee, dann entdeckte er die Stufen in der Mauer, die hinauf führten und die Katze lief ohne zu zögern hinauf. Lugh Akhtar folgte ihr zwar, aber er wurde immer langsamer, denn das, was ihn oben erwarten würde, das wollte er eigentlich gar nicht sehen. Er erinnerte sich noch viel zu gut an Kanoas Verbannung. Irgendwann waren sie dann dennoch oben. Es waren viele Leute gekommen, nicht nur Zauberer. Fast das ganze Dorf der Zwischenlande, in dem Lugh Akhtar damals gelebt hatte. Er entdeckte Channa und sich selbst irgendwo in der Menge. Er hatte sich eng an die Frau gedrückt, die für ihn mehr eine Mutter war, als seine wirkliche Mutter es je sein könnte. »Komm mit«, forderte Klangfeuer ihn auf. »Wie kann ich jetzt mehr sehen und hören, als damals?«, fragte er. Die Katze lächelte und in ihren Augen blitzte es. »Weißt du eigentlich, dass du der Erste bist, den ich diese Frage je hab stellen hören?« Sie lotste ihn an den Menschen vorbei. »Na ja, ich kann mich nur an Dinge erinnern, die ich auch wahrgenommen habe. Müsste der Rest nicht… ich weiß auch nicht, weißer Nebel oder Schwärze oder so etwas sein?« »Ja, eigentlich schon, aber hier ist Magie im Spiel und wenn du eines wissen solltest, dann das, dass die Magie niemals verrät, wieso sie das eine oder andere tut. Und ich kann es dir auch nicht erklären, es ist einfach so«, erklärte die Katze und setzte sich vor die versammelten Zuschauer, blickte auf die Wachzauberer, einen besorgten Kanoa und einen unglücklichen Nikolai. Die beiden sprachen leise miteinander, dabei schüttelte Kanoa immer wieder den Kopf, während sein ehemaliger Meister immer unglücklicher wirkte. »Worüber unterhalten sie sich«, wollte der weiße Wolf leise wissen. »Egal was wir tun, der Ablauf wird derselbe bleiben, du musst also nicht flüstern«, bemerkte Klangfeuer, dann jedoch schüttelte sie den Kopf. »Nikolai versucht Kanoa davon zu überzeugen, dass er ihm die Wahrheit sagen soll. Dass Kanoa gar nicht gelogen hat, bei nichts von dem was er sagte, will er nicht glauben. Kann er nicht glauben. Noch ist er zu naiv um zu begreifen, dass die Welt nicht fair spielt«, erklärte die Katze und leckte sich einmal über die Pfote. Lugh Akhtar überlegte kurz, ob er etwas darauf antworten sollte, doch er blieb ruhig. Stattdessen beobachtete er, wie Kanoa etwas sagte und dabei in die Richtung der Menschen deutete. Nikolai zögerte, dann nickte er ruckartig, wirkte dabei nicht begeistert. Als Kanoa gehen wollte, hielten die Zauberer ihn zurück, doch ein Wink von Nikolai reichte, dass sie ihn gehen ließen. Die Menschen machten ihm Platz, sprachen mit ihm und er antwortete ihnen auch, doch Lugh Akhtar wusste genau, was gleich geschehen würde und er wusste, dass das viel wichtiger war, als die belanglosen Worte, die jetzt gesprochen wurden. Kanoa drängte sich zu Channa durch. Obwohl die beiden nicht verheiratet waren und Kanoas Herz immer schon einer anderen gehört hatten, fielen sie einander in den Arm. »Es ist so unfair, du hast doch nichts getan«, flüsterte sie. »Ich bin im Weg, das reicht«, antwortete er und ließ sie los, um sich vor den jungen Lugh Akhtar zu knien, der sich noch immer fest an Channa drückte. Der alte Lugh Akhtar, der als Wolf die Szene beobachtete, lief durch die Menschen hindurch, bis er in Kanoas Gesicht sehen konnte. In den Augen seines Vaters glitzerte es, aber er vergoss keine Tränen. Stattdessen lächelte er aufmunternd. »Kommst du mit nach Hause?«, fragte der kleine Junge. »Nein, Fjodor, ich werde nicht mehr nach Hause kommen«, erklärte da sein Vater sanft. »Und wenn wir woanders hingehen? Kommst du dann wieder mit uns?« Hoffnung blitzte in den braunen Augen, die später einmal leuchten sollten, wie das Nordlicht. Als der Vater mit dem Kopf schüttelte, wurden sie dunkel vor Trauer. »Wieso?« »Weil ich nicht kann. Ich muss woanders hingehen. Das ist mein Schicksal, so wie es deines ist, hier zu bleiben. Glücklich zu werden.« »Aber ich möchte, dass du hier bleibst.« Der kleine Junge fiel dem Vater in die Arme und drückte sich fest an ihn. »Das geht nicht, Fjodor. Aber vergiss niemals, wenn du mich wirklich brauchst, dann bin ich immer für dich da. Immer«, versprach er leise. »Macht man das so, wenn man sich lieb hat?«, wollte der Junge wissen. »Ja, genau so macht man das, wenn man sich lieb hat. Vergiss das nicht, ich bleibe bei dir. Gemeinsam bis ans Ende der Welt.« Der kleine Junge nickte, während ihm Tränen die Wange hinab liefen. Einer der Dörfler legte seine Hand auf Kanoas Schulter, doch obwohl der die Geste verstand, gab es noch etwas sehr, sehr wichtiges, was er sagen musste. »Fjodor… ich weiß, dass dein Weg nicht leicht sein wird, aber es ist möglich, dass du, egal was dir für Steine im Weg liegen, dennoch glücklich sein kannst. Du musst nur nachdenken und genau wissen, was dich glücklich macht, dann kannst du das Schlupfloch finden, das nötig ist. Du musst einfach nur gut überlegen und auf das hören, was dein Herz dir sagt«, erklärte Kanoa noch, dann drückte er seinen Sohn zum letzten Mal. Lebend würden sie einander nie wieder treffen. Er stand auf und ging, zurück zu Nikolai, seinem Schicksal entgegen, während der kleine Junge in Channas Armen weinte. Da legte die Katze ihren Schwanz auf seinen Rücken. Er zuckte zusammen, denn er hatte sie völlig vergessen, doch jetzt schaute er sie traurig an. Dieser Abschied für eine sehr lange Zeit, tat heute noch genauso weh, wie damals. »Urd wartet. Lass uns gehen«, forderte sie mit sanfter Stimme auf. Er folgte ihr, war aber in Gedanken weit weg. »Weißt du, wieso gerade dieser Tag so wichtig für dich ist?«, fragte sie leise nach einer Weile. »Weil mein Leben davor glücklich war und es danach für eine lange Zeit nicht mehr war«, brummte der weiße Wolf. »Nein. Weißt du, dein Vater ist schlau. Er weiß, wie diese Welt funktioniert. Wenn du seine Worte befolgst, dann wird dir das, was die Nornen sich für dich ausgedacht haben, keine Probleme bereiten«, erklärte Klangfeuer. »Weißt du etwa, was sie sich für mich ausgedacht haben?« »Ja.« Wenn Lugh Akhtar mehr erwartet hatte, so wartete er vergeblich, doch er war noch immer in seinen Gedanken versunken. Eine Weile liefen sie so weiter. Lugh Akhtar bemerkte nicht einmal, dass sich ihre Umgebung veränderte. »Woran denkst du?«, fragte die Katze nach einer Weile. »An meine eigenen Kinder, Mana und Kekoa. Ich will um nichts auf der Welt, dass es ihnen ergehen muss, wie mir«, erklärte er leise. »Dass du sie alleine lassen musst?« »Ja. Ich will das nicht. Ich will schnell dieses Mädchen finden und dann nach Hause und endlich meine Ruhe haben. Mein Leben so leben, wie ich es will, ohne dass mir irgendwelche magischen Geschöpfe dazwischen funken.« »Das wirst du nie können. Du selbst bist eines dieser magischen Geschöpfe, Lichtertänzer«, erklärte die Katze und schaute ihn nachdenklich an. »Woher kennst du…?« Der Wolf war fassungslos stehen geblieben. »Deinen magischen Namen?« Sie lächelte und setzte sich wieder hin. »Ja.« »Ich weiß eine Menge über dich, Lugh Akhtar. Aber Urd wartet, sprich mit ihr weiter«, lächelte die Katze. Jetzt fiel auch dem weißen Wolf auf, dass sich seine Umgebung veränderte. Sie waren erst in der Schwärze, aus der er gestartet war, aber es wurde schnell zu einem Ort, den er gut kannte. Die Eingangshalle des magischen Turms in Altena. Dieser Ort hatte ihm seinen Schülernamen, oder magischen Namen, wie Klangfeuer ihn genannt hatte, eingebracht. Hier saß eine alte Frau und sponn schillernde Wolle zu einem leuchtenden Faden. »Hallo«, sagte der junge Zauberer zu ihr und tat einen zögernden Schritt. »Sei gegrüßt, Lichtertänzer. Und auch dir ein herzliches Willkommen, Klangfeuer. Hast du ihm gezeigt, was auch immer du ihm zeigen wolltest?« »Natürlich, vorher wäre ich nicht hierher gekommen«, antwortete sie, schaute dabei unverwandt den weißen Wolf an. »Und dir, Lugh Akhtar, dir wünsche ich, dass du das Schlupfloch finden kannst. Ich werde jetzt gehen, aber wir werden uns vielleicht wieder sehen.« Bevor Lugh Akhtar sie noch aufhalten konnte, sprang die Katze in die Höhe und verschwand. Sternenstaub fiel glitzernd zu Boden, doch selbst der schien zu verschwinden, sobald er den Boden berührte. »Nun, dann können wir uns ja jetzt ein wenig unterhalten, Lichtertänzer. Komm zu mir und erzähl mir ein wenig von dir«, forderte die alte Frau ihn auf. Der weiße Wolf zögerte, doch dann kam er zu ihr und legte seinen Kopf in ihren Schoß. »Hast du mein Schicksal bestimmt?«, fragte er leise. »In gewisser Weise, ja. Ich habe den Faden gesponnen, der dich durch die Dunkelheit führen soll.« »Spinnst du auch jetzt einen solchen Schicksalsfaden?«, fragte er leise. »Ja, und zwar einen ganz besonderen«, lächelte die alte Frau. »Von jemandem, den ich kenne? Oder kennen werde?« »Ja. Irgendwann wird sie leben und sie wird dir so wichtig sein, wie kaum etwas sonst auf der Welt. Aber bis dahin müssen auch die anderen beiden Nornen noch ihre Arbeit tun. Und du auch.« Sie lächelte wissend. »Meine… Arbeit tun?« Der weiße Wolf schaute sie verwundert an, doch Urd erklärte sich nicht, stattdessen lächelte sie unverwandt weiter und in ihren Augen blitzte es. Verwirrt beschloss der weiße Wolf, dass er nun das Thema wechseln wollte. »Die Katze, Klangfeuer, sie sagte, ihr hättet euch für mich ein Schicksal ausgedacht, das mir nicht gefallen würde. Sagst du mir, was es ist?« »Das kann ich nicht, Lugh Akhtar. Ich bin das Gewordene, ich bin für Erinnerungen zuständig, für das, was gewesen ist. Nicht für das, was kommen wird. Frag die anderen danach, vielleicht wollen sie dir helfen.« »Das werde ich tun. Aber… warum bin ich hier, wenn du nur mich reden lässt?« »Manchmal findet man die Lösung, indem man einfach alles was man weiß, laut ausspricht.« »Aber ich suche doch keine Lösung, ich muss doch erst einmal das Problem kennen«, fand der weiße Wolf. »Erzähl mir vom schönsten Tag in deinem Leben«, bat die alte Frau plötzlich, ignorierte dabei seinen letzten Einwurf völlig. »Der schönste Tag meines Lebens? Das war…« Ja, wann eigentlich? Lugh Akhtar zögerte lange und dachte nach. Er ging viele Tage durch und er hatte fast so viele schöne Erinnerungen, wie auch schreckliche, doch zu einem Moment kehrten seine Gedanken immer wieder zurück. »Der Tag der letzten Tag-und-Nacht-gleiche. Der Tag, an dem Mana und Kekoa geboren wurden. Nea und meine beiden Kinder sind es, was mich wirklich glücklich macht und der Tag, an dem ich dieses so kostbare Geschenk erhalten habe, ist der schönste in meinem Leben gewesen.« Daraufhin schwieg nun Urd. Schließlich nickte sie, als wäre sie für sich zu einem Entschluss gekommen. »Und was würdest du dir wünschen, wenn du dir wünschen könntest, was immer du willst?« »Ich würde mir wünschen, mein Leben so leben zu dürfen, wie ich es will.« Auch jetzt schwieg Urd wieder eine lange Zeit. »Weißt du, Lichtertänzer, auch wenn du es nicht glauben magst, aber wir sind vom selben Blut. Einst haben auch Mani und Sol in die alte Welt gehört, als sie mit ihren vier Kindern gingen und die neue Welt erschufen, da erwarteten wir, dass sie scheitern würden. Sie taten es nicht und das ist gut so, denn was in ihrer Welt lebt, kann hier nicht leben. Doch das es glückte, ist nicht zuletzt der Verdienst von Mani und Sol, denn sie wussten, wie sie ihre Wünsche und auch ihr Schicksal erfüllen konnten. Du kannst es auch, wenn du nur wagst es zu versuchen. Und wenn du Hilfe aus einem früheren Leben annehmen willst«, erklärte sie schließlich. »Hilfe aus einem früheren Leben?« Lugh Akhtar schaute sie fragend an. »Es wird Zeit, dass du gehst.« Wieder ignorierte die alte Frau ihn. »Aber wie meinst du das?«, versuchte er es noch einmal. »Wir werden uns nicht wieder sehen, Lichtertänzer. Wir treffen jeden Sterbliche nur ein einziges Mal in seinem Leben. Viel Glück«, wünschte sie ihm noch. Der weiße Wolf schüttelte den Kopf, blinzelte kurz und erkannte, dass sie verschwunden war. Das Licht, das für gewöhnlich leuchtete, war erloschen, es war dunkel im Raum. Er schaute noch einen Moment auf die Stelle, an der Urd gesessen hatte und seine Gedanken rasten, doch letztlich begriff er, dass er hier auch ewig warten konnte, eine Antwort würde er nicht bekommen. Stattdessen wandte er sich ab und lief zur Tür, die aus dem Turm hinausführte. Er öffnete sie geschickt, doch dahinter lag nur jene bodenlose Schwärze, wie dort, als er mit Dimmur gesprochen hatte. Mit einem letzten Blick zurück betrat er den Boden, der scheinbar aus schwarzem Glas bestand, bereit, der nächsten Norne gegenüber zu treten, dabei hoffend, dass sie ihm keine Antwort schuldig blieb. Kapitel 10: Gegenwart --------------------- »Weißt du eigentlich wer sie ist?« Lugh Akhtar hatte fast damit gerechnet, dass die körperlose Stimme mit ihm sprechen würde. Es kam nicht überraschend. »Sie ist der Schatten. Sie hat die Welt in Dunkelheit gestürzt. Aber jetzt braucht sie meine Hilfe, also helfe ich ihr«, antwortete er und blieb stehen. Er war gelaufen, nachdem er den Turm verlassen hatte. Er wusste nicht wie weit und schon gar nicht wie lange, aber er hatte das Gefühl, dass sein Treffen mit Urd Jahrtausende zurücklag. »Denkst du, dass sie böse ist?« Lugh Akhtar folgte mit dem Kopf der Stimme und erkannte, dass sie nicht mehr Körperlos war. Eine Mähnenwölfin stand einige Schritte von ihm entfernt und schaute ihn abwartend an. »Ich denke, dass solche Fragen auf den Blickwinkel ankommen«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Aber Rex hast du für böse gehalten«, behauptete die Mähnenwölfin mit dem ungewöhnlichen Muster. »Das ist nicht dasselbe.« »Nicht? Wo ist der Unterschied? Dass die Menschen, den der Schatten wehgetan hat, tot sind? Dass nicht du es warst sondern andere? Dass es vor deiner Zeit geschah?«, fragte sie lauernd. »Ich kenne ihre Beweggründe nicht.« »Sicher, dass du die von Rex kanntest?« Sie neigte den Kopf und wischte nachdenklich mit ihrer langen Rute über den Boden. »Er tötete, weil er Macht haben wollte. Und zum Spaß.« »Nein. Er wollte Macht, ja, aber es hat ihm niemals Spaß gemacht. Er wollte seine kleine Schwester wieder haben, die durch seine Hand gestorben ist. Würdest du es nicht wollen? Für Cinder? Für Soul?« »Ich würde kein fremdes Leben für sie opfern. Ich würde nicht töten.« »Und für Nea?« Die Mähnenwölfin senkte den Kopf, beobachtete seine Reaktion genau. Ihr zufriedenes Blitzen in ihren Augen sagte ihm, dass er genau so reagierte, wie sie es erwartete. Deswegen antwortete er nicht. »Wie weit würdest du für sie gehen? Einen fremden Menschen zu töten ist leicht, aber könntest du auch Chess opfern? Oder Maya? Channa vielleicht? Sie stehen dir nicht so nah wie deine Familie, aber noch immer nah genug. Würdest du sie für Nea verraten?« »Was genau willst du von mir und wer bist du?« Lugh Akhtar hatte das Spiel langsam satt. »Ich versuche herauszufinden, ob du bist, was du zu sein vorgibst. Mein Name ist Dimmur«, erklärte sie und grinste ein wölfisches Grinsen. »Klangfeuer hat dich erwähnt«, murmelte der weiße Wolf. »Hast du herausgefunden, was du wolltest?« »Du bist ein Heuchler, Lichtertänzer. Du gibst vor etwas zu sein, was du nicht bist«, fand die Mähnenwölfin. »Inwiefern?« »Du sagst, du bist nicht wie Rex. Du sagst, du würdest gutes tun. Du bist anders. Aber wie anders bist du wirklich? Handeln wir in entscheidenden Momenten nicht alle gleich?« Lugh Akhtar wusste nicht, was er antworten sollte. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr verstand er, dass zwischen ihm und Rex eigentlich kein so großer Unterschied war. »Wir sind alle gleich, wir sind alle Teile eines großen Ganzen und jede Existenz hat seinen Grund. Unsere Taten sind bis zu einem gewissen Punkt von anderen bestimmt, erst danach zeigt sich, wo der wirkliche Unterschied zwischen uns ist. Auch du würdest für den einen Menschen töten und auch du würdest für den einen Menschen dich selbst opfern. Der Unterschied ist nur, dass du andere Umstände hast, dass man dich nicht zwingt, jemand anderen damit weh zu tun. Behalte das immer im Kopf, weißer Wolf. Damit du aufhörst, so überheblich zu sein und dich über andere zu stellen.« »Ich werde mich daran erinnern, sollte ich jemals wieder in solch eine Situation kommen«, antwortete Lugh Akhtar und neigte den Kopf. »Erinnere dich lieber daran, wenn du dein Schicksal angenommen hast und auf dem besten Weg bist zu vergessen, wo deine Wurzeln sind. Du bist zu höherem bestimmt, aber auch du warst einmal nur der Dreck unter den Schuhen deines Schicksals«, schnaubte Dimmur. Dann jedoch schüttelte sie den Kopf. »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind immer alle miteinander verbunden. Deine Vergangenheit macht dich zu dem, der du bist und deine Gegenwart lässt dich entscheiden, wer du einmal sein wirst. Ohne Vergangenheit keine Gegenwart, ohne Gegenwart keine Zukunft. Kann es aber eine Gegenwart geben, ohne eine Vergangenheit?« »Ich weiß nicht… in gewisser Weise vielleicht«, überlegte der weiße Wolf und dachte an die Zeit, als er das erste Mal ein Wolf gewesen war. Er hatte damals nichts über sich selbst gewusst, nur, dass er einst ein Mensch war. »Nein. Du kannst nicht nur im hier und jetzt leben, denn jede Sekunde die verstreicht ist schon deine Vergangenheit. Du frisst deine Zukunft, verdaust sie in der Gegenwart und das was am Ende rauskommt ist deine Vergangenheit, es ist immer alles miteinander verknüpft«, fauchte die Mähnenwölfin. »Gut, von mir aus, aber was hat das mit mir zu tun?«, wollte der weiße Wolf irritiert wissen. Kam ihm das nur so vor, oder hatte Dimmur die Vergangenheit soeben mit einem Haufen Hinterlassenschaften verglichen? »Du versuchst immer nur eines zu sehen. Du siehst immer nur die Zukunft, die Gegenwart oder die Vergangenheit, du siehst aber niemals, dass es alles eines ist. Das musst du aber. Betrachte es als ein Ganzes, nicht als vieles Kleines«, forderte sie ihn auf. »Das werde ich tun«, versprach er. Die Mähnenwölfin nickte. »Erzähl mir, wieso du hier bist. Warum willst du den Schatten finden?«, fragte sie. Erst wollte der weiße Wolf ihr antworten, doch dann schüttelte er den Kopf. »Ich bin nicht freiwillig hier und es gefällt mir nicht, dass alle über meinen Kopf hinweg Entscheidungen treffen, die mich allein betreffen. Ich suche sie, warum kann dir egal sein. Verschwindet aus meiner Vergangenheit, aus meiner Gegenwart und meiner Zukunft und lasst mich endlich leben. Lasst mich Fehler machen und lasst mich glücklich werden«, knurrte er. »Es ist mir nicht egal. Ich bin der Schatten, zumindest in gewisser Weise. Ich bin ein Teil von ihr, ich bin sie und sie ist ich. Genauso wie Klangfeuer. Und deine Tochter auch. Wir sind alle eins und wir sind alle wir selbst«, antwortete Dimmur. »Meine Tochter?« Jetzt horchte der weiße Wolf auf und starrte sie erstaunt an. »Mana, ja. Sie ist nicht wie du, sie ist mehr als bloß ein Teil dieser Geschichte deines Lebens. Genauso wie die Katze und ich. Und eben auch der Schatten.« »Wieso ruft sie nach Hilfe? Warum will sie ausgerechnet meine Hilfe?« »Weil sie dir auch schon einmal geholfen hat. Sie hat dir ein Leben geschenkt, ein Schicksal.« »Ich versteh das alles nicht.« »Das musst du auch nicht. Du musst nicht wissen, wieso das Wasser blau ist, die Sonne scheint oder wie die Magie funktioniert. Du musst nur wissen, dass dem so ist. Ich darf dir nichts über deine Zukunft verraten, aber Mana darf es. Du wirst sie auch noch treffen. In deiner Zukunft. Es wird Zeit, dass du Verdandi triffst.« Dimmur wandte sich ab und deutete ihm mit einem ungeduldigen Wedeln der Rute, ihr zu folgen. »Verdandi ist die Norne der Gegenwart, nicht wahr? Was wird sie mir erzählen?«, fragte er leise. »Alles. Und nichts. Die Nornen sind nur Werkzeuge. Sie glauben, dass sie es sind, die das Schicksal der Lebenden bestimmen, dabei sind sie nur… ein Schraubenschlüssel. Wir benutzen sie, sie tun es, damit wir es nicht tun müssen.« Dimmur blieb stehen. Sie legte eine Spindel auf den Boden, die mit einem bunt glitzernden, leuchtenden Faden bestückt war. »Die meisten Schicksale überlassen wir ihnen, aber manche sind dafür zu wichtig. Weißt du, wessen Faden das hier ist?«, fragte sie leise. »Der, den Urd eben gesponnen hat?« »Ja. Weißt du, wessen Lebensfaden es ist? Weißt du, wer ein solch glückliches Leben haben wird, dass es alle Dunkelheit im Nichts vertreiben kann?« Dimmur deutete ihm, sich umzuschauen. Lugh Akhtar tat es und ihm blieb die Schnauze offen stehen. Um ihn herum war keine Dunkelheit mehr, um ihn herum leuchtete es in Milliarden von Farben, noch tausendmal schöner, als im Turm der Zauberer. »Ein Leben voller Licht und Freude«, murmelte er. »Gib ihr einen Namen«, forderte Dimmur ihn lächeln auf. Der weiße Wolf musste nur einen Augenblick lang nachdenken, dann hellte sich sein Gesicht auf und seine Augen blitzen voll Freude. »Yue. Das bedeutet Mond«, lächelte er. »Dann soll das ihr Name sein. Vergiss ihn nicht, sonst vergisst sie vielleicht, wie sie so hell leuchten kann.« Die Spindel verschwand und Dimmur lief langsam weiter. »Was ist mit den Fäden von Menschen, die schon leben? Wo sind sie?«, fragte er leise, nachdem sie eine Weile gelaufen waren. »Sie sind dort, wo die Menschen sind, die sie führen. Wenn du genau hinsiehst, kannst du sie glitzern sehen, wie Spinnenweben im Morgenlicht.« »Weißt du auch, wie lang diese Fäden sind?« »Natürlich.« »Wie lang sind die Fäden von Nea, Mana und Kekoa?« Der weiße Wolf blieb stehen und spitzte aufmerksam die Ohren. »Lang. Nicht immer so voll Freude wie der von Yue, vor allem Mana wird eine schwere Zeit durchleben, aber sie alle werden letzen Endes glücklich sein. Und lange leben.« »Was wird mit Mana geschehen? Ich will nicht, dass sie traurig ist.« »Sie wird erwachsen werden. Das kannst du nicht verhindern, Lugh Akhtar.« Dimmur lächelte verständnisvoll. »Kann ich ihr zumindest helfen?« »Nur, wenn du dein Schicksal annimmst. Und jetzt ist es Zeit, dass du mit Verdandi sprichst.« Ganz unbemerkt hatte sich seine Umgebung verändert. Diesmal war es nicht der Turm der Zauberer, dieses Mal war es der Hof seines Hauses. Es war warm, die Sonne tief im Westen und vor dem Haus saß eine Frau an einem Webrahmen und wob. Sie war nicht jung, sie war aber auch nicht alt, sie wirkte seltsam zeitlos. Ihr langes Haar verteilte sich weit über den Boden und sie schien völlig in ihre Arbeit vertieft. »Du hast lange gebraucht, Dimmur«, bemerkte sie nach einer Weile. »Das geht dich nichts an«, knurrte die Mähnenwölfin und ihr Fell sträubte sich. »Das war auch nur eine Feststellung, keine Zurechtweisung«, versuchte die Norne zu beschwichtigen. »Egal was es war, es steht dir nicht zu. Ich überlasse ihn jetzt dir, aber fass dich kurz, seine Zukunft wartet bereits«, fand sie und wandte sich um. Sie verschwand nicht so richtig, sie war vielmehr einfach nicht mehr da. Lugh Akhtar blickte noch einen Moment auf die Stelle, dann ging er langsam zu Verdandi und spürte, wie er sich in einen Menschen verwandelte. Er setzte sich vor ihr zu Boden und beobachtete sie eine Weile bei der Arbeit. »Wirst du auch jede Menge Fragen aufwerfen, ohne auch nur eine Einzige zu beantworten?«, fragte er irgendwann. »Das kommt alleine auf deine Fragen an, Lichtertänzer.« Der weiße Wolf seufzte, denn er ahnte, dass all seine Fragen zu speziell sein würden. Er betrachtete eine Weile, wie sie den glitzernden Faden verwob und überlegte derweil, an was ihn das Glitzern erinnerte. »Nanook«, flüsterte er dann. »Meine dringenderen Fragen wirst du gewiss nicht beantworten, aber vielleicht kannst du mir etwas über ihn erzählen? Wer er ist und was er meint, wenn er sagt, dass die Welt um ihn herum schreit.« »Nanook kennst du schon sehr, sehr lange. Ihr seid Brüder, aus einem anderen Leben noch und ihr standet euch so unglaublich nah«, begann Verdandi. »Brüder aus einem anderen Leben?« »Ja. Die Seele vergeht nicht, sie lebt immer wieder. Ihr lebtet damals in einer Zeit voller Gefahr, Blut und Tod. Es herrschte Krieg und ihr wart Soldaten. Ihr starbt beide im Kampf, in derselben Schlacht und eigentlich hättet ihr auch im Tod beisammen sein wollen, doch die Magie ließ dies nicht zu. Sie riss euch voneinander los und obwohl du ihn suchtest, hast du ihn nicht finden können.« Während Verdandi erzählte, meinte Lugh Akhtar sich an ein Leben zu erinnern das hinter ihm lag. Er erinnerte sich an das Lachen aus schönen Kindheitstagen, an die Aufregung im Erwachsenwerden und schließlich auch an all den Schmerz, das Leid und seinen eigenen Tod. Und an eine nie da gewesene Verzweiflung, tiefer gehend, als alles, was er je zuvor empfunden hatte. »Du hast Äonen damit zugebracht, diese eine Seele zu finden. Du hast nicht in einen Körper gewollt, nicht ohne ihn, bis du schließlich auf Chaya getroffen bist.« »Wer ist Chaya?« Der Name klang vertraut, doch der junge Zauberer konnte ihm kein Gesicht zuordnen. »Ihr nennt sie Schatten. Aber gleich welchen Namen sie trägt, das ist einerlei. Du hast sie getroffen und ihr dein Leid geklagt. Sie hat dir zugehört und du hast ihr Herz berührt. Sie hat dir einen Wunsch gewährt, doch die Seele deines Bruders konnte sie dir nicht wieder geben, denn auch sie hat nur Bruchstücke gefunden, ein Teil war unauffindbar. Aber sie konnte etwas anderes tun. Sie hat die Bruchstücke genommen, dazu einen Teil deiner Seele, voller Erinnerungen an ihn, und sie hat einen Teil ihrer eigenen Seele gegeben um so ein Wesen zu schaffen, das deinem Bruder so ähnlich ist, wie es irgend möglich war.« »Und dann sind wir wieder geboren worden«, mutmaßte Lugh Akhtar. »Als Brüder, ja. Doch Nanook sollte nicht bei dir bleiben. Es war sein Schicksal, dass er gehen musste. Deine Eltern hielten ihn für tot, doch das war er nie. Er lebte sein eigenes Leben.« »Also sind wir auch in diesem Leben Brüder?« »Ja. Das war euer Wunsch und Chaya hat ihn euch erfüllt.« »Mein Bruder. Das erklärt… zumindest so manches. Und auch, warum Kanoa so reagierte, als er ihn sah. Aber was hat das damit zu tun, dass Nanook so… seltsam ist?« »Das liegt zum einen daran, dass seine Seele nicht vollständig ist. Irgendwo auf der Welt fehlt dieses letzte Bruchstück, das den Teil deiner Seele ersetzen muss. Solange ein Teil von dir in ihm ist, wird er all deine Gefühle spüren, wie seine eigenen, ohne zu verstehen, wo sie herkommen.« »Und zum anderen?« »Er ist ein Empath. Er wird immer die Gefühle jener um sich herum spüren können, doch seine Seele ist nicht komplett. Deswegen hat er darüber keine Kontrolle, er kann es nicht ausblenden, er kann nie nur seine eigenen Empfinden zulassen. Solange er unvollständig ist, wird er es auch niemals können. Und das ist es, was er als Schrei empfindet. Es sind zu viele Stimmen, die immer und überall auf ihn einstürzen. Das macht ihn wahnsinnig. Er versucht allem Leben aus dem Weg zu gehen, aber das kann er nicht.« »Aber… es ist doch ganz leicht, einfach alles auszublenden, wenn zu viele Leute sprechen. Bei den Versammlungen mit Nikolai zu meiner Schülerzeit, da habe ich es immer gemacht«, fand er mit gerunzelter Stirn. Verdandi lächelte nachsichtig und berührte ihn flüchtig mit der Hand. Sogleich war ihm, als wenn eine Flutwelle über ihn zusammenbrach und ihn so endgültig unter sich begrub, wie eine einstürzende Höhle. Er hatte das Gefühl, dass er auseinander gerissen würde, es tat fast körperlich weh und er fühlte sich wie um tausend Jahre gealtert, nachdem Verdandi den Schmerz von ihm genommen hatte. »Spürt Nanook das immer? Die ganze Zeit?«, fragte er und starrte sie entsetzt an. »Ja. Und das war noch harmlos, hier gibt es nicht viel Leben. In einer großen Stadt ist es viel, viel schlimmer«, bestätigte sie. »Das ist grausam. Kann ich ihm nur helfen, wenn ich das letzte Stück seiner Seele finde?« »Ja. Vielleicht hilft euch Chaya, vielleicht nicht. Vielleicht ist es unmöglich, vielleicht haltet ihr es auch schon in euren Händen. Es wird jetzt Zeit zu gehen, Lichtertänzer.« Der junge Zauberer schluckte schwer. Er war sich nicht sicher, ob er jetzt laufen konnte. Diese kleine Erfahrung hatte ihm schwer zu schaffen gemacht. Dennoch arbeitete er sich hoch und stand unsicher. Er wollte sich eben zum Gehen umwenden, da fiel ihm noch etwas ein. »Beantwortest du mir noch eine letzte Frage?«, bat er. »Das hängt von deiner Frage ab«, lächelte die Norne. »Warum leuchten seine Augen manchmal wie meine? Ich meine, natürlich, wir sind Geschwister, aber das ist doch gewiss nicht der Grund.« »In diesem Momenten schafft er es, alle anderen Gefühle zu verbannen und nur seine eigenen zuzulassen. Es geschieht nicht oft und es ist sehr, sehr schwer für ihn, aber immer dann, wenn er nur er selbst ist, und niemand anderes, dann leuchten seine Augen.« Der junge Zauberer nickte und ging. Er brauchte nicht zurück zu schauen, um zu wissen, dass Verdandi verschwunden war. Aber er schaute nicht zurück, stattdessen verließ er den Hof durch das Tor und stand wieder in der Schwärze, abermals in seiner Wolfsgestalt. Und er lief weiter, neugierig, was die dritte Norne ihm erzählen würde. Kapitel 11: Zukunft ------------------- Lugh Akhtar seufzte und blieb stehen. Er schaute sich um, doch alles war wie immer. Er wusste nicht, wie lange er diesmal schon lief, aber es kam ihm länger vor, als beim letzten Mal. Er erwartete fast, dass er einfach an einer Tür oder dergleichen vorbeigelaufen war, doch als er sich umblickte, sah er nichts dergleichen. »Da bist du ja«, sprach eine Stimme. Sie klang so jugendlich und voller Lebenslust, dass er im ersten Moment glaubte, dass es Nea war, doch als er in die Richtung blickte, gewahr er eine Wölfin. Sie hatte weißes Fell mit roten Abzeichen an den Ohren, den Augen, der Schwanzspitze und den Beinen. »Wer bist du?«, fragte er leise, während er sie aufmerksam betrachtete. Erst jetzt, auf den zweiten Blick, fiel ihm auf, dass auch ihre Augen in der Farbe des Nordlichts gefärbt waren, und bunt schillerten und leuchteten. »Ich bin es, Mana. Nur etwas älter«, lachte sie. »Mana? Meine kleine Mana? Meine Tochter?«, fragte er ungläubig. Er hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Konnte diese hübsche junge Wölfin wirklich seine Tochter sein? »Na ja, klein bin ich eigentlich nicht mehr. Aber ja, ich bin deine kleine Mana.« Sie lächelte und tänzelte einige Schritte auf ihn zu, dabei humpelte sie stark mit ihrem rechten Hinterlauf. Als Lugh Akhtar ihn genauer betrachtete, erkannte er, dass die Pfote stark vernarbt war und Mana sie auch beim Stehen kaum belastete. »Was ist mit deiner Pfote?«, fragte er sogleich alarmiert, doch sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Nichts, was du ändern kannst, sollst oder darfst. Es ist gut so, auch wenn sich das aus deiner Sicht wohl seltsam anhört.« »Ja… durchaus…« »Ich habe sie auf meiner eigenen Reise verletzt, aber auch das hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Aber deswegen bin ich nicht hier. Hier geht es nicht um mich oder dem, was mir passiert ist. Hier geht es um deine Zukunft«, versuchte sie ihn auf das eigentliche Thema zu lenken, doch der weiße Wolf schüttelte entschieden den Kopf. »So etwas darf nicht passieren. Ich bin dein Vater, ich muss dich beschützen. Vor allem Bösen auf der Welt, gleich was es ist. Es ist nicht richtig, dass du Narben trägst, am Körper nicht und schon gar nicht auf deiner Seele«, fand er. »Oh Papa«, lachte sie. »Das ist doch egal. Du hast mir etwas gegeben, was viel, viel wichtiger ist. Fylgien nämlich. Er wäre nicht hier, wenn du nicht wärst, was du bist. Und das wiegt hundertmal mehr als jede Dummheit, die ich selbst begangen habe und vor der du mich nicht bewahren konntest.« »Aber…« »Nein. Es ist alles gut so, wie es für mich gekommen ist. Und das wirst auch du einsehen, wenn du erst an jenem Punkt deines Weges angelangt bist. Ich möchte mit dir reden. Komm mit mir«, forderte sie ihn auf. Er zögerte kurz, doch letztlich folgte er ihr. Er beobachtete, wie schwer ihr das Laufen fiel und jedes Humpeln versetzte ihm einen scharfen Stich mitten ins Herz. Aber er schwieg, folgte ihr nur leise. Während sie liefen, veränderte sich die Umgebung, bis sie letztlich an einem Ort ankamen, den er kannte, obwohl er erst einmal hier gewesen war. Es war das Reich des Winters, hier lebte seine Mutter gemeinsam mit ihrem Rudel. »Warum hier?«, fragte er leise. Mana blieb stehen und legte sich in den Schnee. Nach einem kurzen Zögern legte er sich zu ihr. »Weißt du, was deine Zukunft ist? Was sich das Schicksal für dich überlegt hat?«, fragte sie leise. »Nur, dass es mir wohl nicht gefallen wird. Das zumindest behaupten alle«, antwortete er zögernd. »Es wird auf jeden Fall nicht leicht. Du sollst der nächste Winter werden«, erklärte sie und schaute ihn ernst aus ihren leuchtenden Augen an. »Den Platz des Winters einnehmen? Ich? Aber wieso?« Der weiße Wolf zuckte unwillig mit dem Ohr. »Weil die Jahreszeiten nicht ewig leben können. Lange, ja, aber nicht ewig. Und ihr Nachfolger muss natürlich jemand sein, der auch ihre Macht besitzt. Davon gibt es nicht viele.« »Nur meine Geschwister und mich, ja. Aber warum jetzt? So alt ist sie doch gar nicht. Zumindest nicht älter als die anderen drei und die suchen auch keinen Nachfolger… oder?« »Das ist auch etwas anderes. Der Winter hat Kanoa über alles geliebt, Papa. Sie könnte ihn nie vergessen. Wer weiß, ob sie jemals wieder ein Kind haben wird.« »Dann ist es doch genauso unsinnig, wenn ich ihre Nachfolge einnehme. Ich liebe Nea, auch für mich wird es niemals eine andere geben. Und ich denke nicht, dass meine Herrschaft bloß so lange geplant ist, bis du oder Kekoa meinen Platz einnimmt, oder?« »Nein. Unsere Bestimmung liegt woanders. Wir werden mit dem Winter nichts mehr weiter zu tun haben, als dass sie unsere Großmutter und du eben unser Vater bist.« »Aber das ist doch… genauso sinnlos. Und warum eigentlich überhaupt ich, warum nicht eine meiner Schwestern? Oder Nanook?«, wollte der weiße Wolf wissen. Mana zögerte, schaute ihn einige Augenblicke lang unentschlossen an, bevor sie in den Himmel hinauf blickte. »Cinders Schicksal ist ein anderes. Sie muss Leilani auf ihren Pfad bringen, denn sie hat eine ähnlich wichtige Aufgabe, wie es deine ist. Nanook hat ebenfalls einen anderen Pfad zu beschreiten. Und was Soul anbelangt…« Mana lachte plötzlich schnaubend auf. »Jetzt sei mal ehrlich, könntest du dir sie als Winter vorstellen?« Lugh Akhtar musste nicht einmal darüber nachdenken, da lächelte er schon sacht. Mana hatte recht. Der Winter zeichnete sich durch eine kühle Gelassenheit aus, da passte Soul mit ihrer feurigen, übermütigen, lebenslustigen Art wirklich nicht besonders gut. »Na gut, meine Geschwister können es nicht sein. Aber es bleibt die Tatsache, dass nach mir der Winter ohne direkten Nachfolger bleibt. Damit wäre das Problem noch lange nicht gelöst, es wäre nur hinausgeschoben«, fand er. »Nicht unbedingt«, lächelte Mana und wälzte sich auf die Seite. »Mana, versteh doch, ich…«, begann er doch sie unterbrach ihn mit dem Zucken ihrer Rute. »Du sollst Mama doch gar nicht betrügen. Hat das je irgendwer von dir verlangt?«, fragte sie sanft. »Ja. Nicht direkt, aber eine andere Möglichkeit sehe ich einfach nicht«, antwortete er, zuckte unwillig mit den Ohren. Er mochte es nicht, dass sie ihm nur die Hälfte verriet, aber erwartete, dass er dennoch alles wusste. »Der Sommer wird Hope garantiert auch nicht seinen Platz überlassen. Sie können auch Generationen überspringen, dann ist es eben nicht das eigene Kind, sondern das Enkelkind. Die Hauptsache ist, dass es eine ähnliche Begabung hat«, erklärte sie. »Natürlich wird der Sommer nicht seinen Platz an Hope abtreten, warum sollte er auch?«, fragte Lugh Akhtar schnaubend und stand auf. »Generationen überspringen bedeutet auch immer, dass überhaupt eine Art von Verwandtschaft vorhanden sein müsste und da der Sommer gar keine Kinder hat, wird er seinen Posten auch aktuell an niemanden abtreten.« »Und das weißt du, woher so genau?«, erkundigte sich Mana mit einem Lächeln. »Vom Sommer selbst. Als ich ihn das erste Mal traf, da erzählte er, dass er selbst keine Kinder hätte.« »Um sie zu schützen. Die Jahreszeiten haben nicht nur Freunde und Hope ist das älteste Kind. Nicht nur vom Sommer, sondern von allen Jahreszeiten gemeinsam. Es war nicht ganz klar, wie man auf ihn reagieren würde, also tat der Sommer so, als existierte er nicht«, lächelte Mana zu ihm hoch. »Warte, das geht mir gerade zu schnell. Hope ist der Sohn des Sommers? Hope? Der unfähigste Zauberer von ganz Altena soll der Sohn von einer der mächtigsten Wesen dieser Welt sein?« Lugh Akhtar wirkte alles andere als überzeugt. »Ja«, lachte Mana. »Ich weiß nicht, ob du die Geschichte kennst, aber als Mama noch nicht geboren war, da ist Hope vom Turm der Zauberer gefallen. Wie meinst du, konnte so etwas geschehen?« »Er ist was?« Nein, Lugh Akhtar kannte diese Geschichte nicht. Ungläubig starrte er seine Tochter an. »Woher… weißt du das?« »Weil Klangfeuer und Dimmur es wissen. Und der Schatten auch. Wir sind alle eins«, lächelte seine Tochter geheimnisvoll. »Gut. Du weißt alles, was sie wissen und sie wissen alles, was du weißt, ja?« »Nein. Wir sind noch immer wir selbst, es gibt Dinge, die können sie nicht wissen, so wie es Dinge gibt, die ich nicht weiß, obwohl ich sie bin. Versuch es nicht zu verstehen«, lachte sie. »Ich denke, der Rat ist nicht schlecht. Das Ganze führt sonst wohl nur zu Kopfschmerzen«, vermutete der weiße Wolf. »Also lass uns zu Hope zurückkommen. Er ist vom Turm gefallen, ja? Ich weiß nicht, wie es geschehen ist, ich war damals vermutlich noch nicht auf der Welt. Vielleicht… ist er auf ein Fensterbrett geklettert und als er die Aussicht genoss, da ist er… eben heruntergefallen.« »Denkst du das wirklich? Du weißt, wie schlau er ist, meinst du, er fällt einfach so aus dem Fenster?« Mana rollte sich wieder herum und schaute ihn vielsagend und mit einem sachten Kopfschütteln an. »Nun, wenn du es so explizit darauf beziehst, dass er angeblich der Sohn des Sommers ist, dann wohl nicht. Warum sagst du es mir nicht einfach? Das erspart uns beiden Zeit«, fand der weiße Wolf. »Möchtest du denn mit mir keine Zeit verbringen?« Mana blitzte ihn an, doch er erkannte, dass sie das nicht ernst meinte. »Du hast recht. Als man in der alten Welt davon erfuhr, da war man nicht gerade begeistert, gelinde ausgedrückt. Und manche wollten es gar nicht einsehen. Sie fanden, dass es eine Erniedrigung ohne gleichen war, etwas, was man ausmerzen musste, bevor es zur Gewohnheit wurde. Und sie fanden Verbündete in den engsten Reihen des Sommers. Brand, der für Feuer und Brände aller Art zuständig war.« »Er verriet den Sommer und versuchte Hope zu töten«, mutmaßte Lugh Akhtar. »Ja. Es war für ihn eine Schmach, dass ausgerechnet sein Herr so etwas tat, dass wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Er lockte Hope zum Fenster und stieß ihn hinab. Sommer erfuhr natürlich davon. Er tötete Brand und ließ diesen Posten fortan unbesetzt. Als Mahnmal für die anderen. Und er verschwieg fortan seinen Sohn. Und jenen, die bereits von ihm wussten, erzählte er, dass der Sturz tödlich war. Seitdem hat der Sommer keinen Sohn mehr, seitdem hat er überhaupt keine Kinder mehr«, erklärte Mana. »Also ist wirklich… Hope der Sohn vom Sommer. Aber wie kommt es, dass er so unbegabt ist? Das ergibt keinen Sinn«, fand er. »Nicht? Ich finde, er ist ganz unglaublich begabt. Nicht darin, Zauber zu wirken, aber dafür in allem anderen. Er verbreitet Freude, Papa, das kann nicht jeder. Und er spricht mehr Sprachen, als wir beiden gemeinsam. Weit mehr. Auch das ist eine Begabung und die hat er vom Sommer. Der Sommer bringt die Menschen zusammen und das tut auch Hope«, fand Mana lächelnd. Für einen Moment starrte Lugh Akhtar sie nur mit geöffneter Schnauze an, dann lachte er. »Du hast recht. Ja, ich gebe mich geschlagen, du hast in allem recht, was du sagtest. Gut, einer meiner besten Freunde ist der Sohn des Sommers. Und ich soll der Winter werden. Und ich glaube, eigentlich wolltest du mir etwas anderes erklärten.« »Genau. Der Sommer wird Hope nicht zum nächsten Sommer machen, aber eines von seinen Kindern wird es werden«, erklärte Mana lächelnd. »Also hat er seinen eigenen Sohn übersprungen und übergibt die Aufgabe gleich seinem Enkel?« »Ja, das ist der Grundgedanke. Und du darfst es ähnlich machen«, lächelte seine Tochter augenzwinkernd. »Also wird nach mir einer meiner Enkel folgen… ich werde Enkel haben?« Er war erst Vater geworden, der Gedanke an Enkel schien ihm noch so unendlich weit entfernt, dass er nie darüber nachgedacht hatte. »Früher, als dir lieb ist«, lachte Mana und stand auf. »Ich denke, dass ich das jetzt nicht gerade wissen wollte.« Er lächelte ein wenig hilflos. »Aber gut. Dann ist auch dies keine gute Ausrede. Und dennoch. Ich möchte es nicht. Ich will Nea nicht verlassen und ich will dich und deinen Bruder nicht verlassen. Ich weiß, wie es ist, ohne Vater aufzuwachsen, das will ich euch nicht zumuten.« Darauf lächelte seine Tochter nur, sagte nichts mehr dazu. Das war sein Problem, das musste er alleine lösen. Und er hatte das unbestimmte Gefühl, dass es seinem Schicksal ziemlich egal war, ob er das nun wollte oder nicht. »Gut. Ich nehme an, dass du mich jetzt zur dritten Norne bringst? Zu Skuld?«, fragte er leise. »Nein. Sie hat dir auch nicht mehr zu erzählen, als ich es getan habe. Du weißt alles, was du wissen musst, alles weitere wäre Zeitschinderei«, fand sie. »Gut, dann habe ich aber noch ein paar Fragen an dich. Ich muss Nanook helfen. Und ihm kann ich am besten helfen, wenn ich dem Schatten helfe. Wo also kann ich sie finden? Und wo kann ich den letzten Seelensplitter finden?« »Der Schatten… sie ist in Utgard. Sie versteckt sich vor der Welt. Nachdem sie dir und Nanook geholfen hat, ist sie dort hinab gestiegen und niemand hat sie wieder gesehen. Versuch ruhig, sie zu finden, aber erwarte dir nicht allzu viel. Und jetzt komm, es wird Zeit«, lächelte sie. »Wie komme ich nach Utgard?«, fragte Lugh Akhtar weiter. »Frag Skadi, sie hilft dir. Sie mag dich«, erklärte seine Tochter augenzwinkernd. »Sie… was?« Verblüfft blieb er stehen. »Aber sie hat doch ein Kind, da kann sie doch nicht…!« »Llews Vater… Er weiß, dass Llew existiert, aber er weiß nicht, dass es sein Sohn ist. Skadi wird es ihm wohl auch nicht allzu bald sagen, als ich damals bei ihnen war, da wusste er es zumindest nicht. Aber so war das Mögen eigentlich auch nicht gemeint. Sie weiß, dass du der Sohn des Winters bist und sie könnte dich als Bedrohung ansehen, aber das tut sie nicht. Sie mag dich eben.« »Nun, solange sie nicht versucht, auch mich zu töten… Ich bin mir nicht sicher, ob ich gegen sie bestehen könnte, sie ist mächtig«, überlegte der weiße Wolf. »Wenn du der Winter bist, bist du mächtiger«, lächelte Mana. »Jetzt aber noch nicht. Aber… wenn der Sommer ganz unerwartet Kinder hat… wie sieht es mit den anderen aus? Haben sie auch welche, ohne dass ich es weiß?« »In meinem Hier und Jetzt, oder in deinem?«, lächelte sie. »Oh, gerne auch in der Zukunft. Was werden sie haben?« »Nun, der Winter hat dich, Soul und Cinder. Nanook nur in gewisser Weise. Mit ihm ist es etwas komplizierter.« Mana seufzte. »Ja, das merke ich auch langsam.« Lugh Akhtar zuckte mit den Ohren. »Der Herbst hat nur seinen Sohn mit Kinaya. Kenai eben.« Mana kicherte, als hätte sie soeben einen großen Scherz gemacht. »Kenai hat keine Würde, zu ihm passt es gar nicht, dass er eines der Kinder der Jahreszeiten ist.« »Trifft nicht nur auf ihn zu. Meine Schwestern sind da auch nicht so ganz die Paradebeispiele dessen, was man sich vorstellen mag«, lächelte ihr Vater. »Nein, gewiss nicht. Nun, unser guter Kenai hat gemeinsam mit dem Frühling einen Sohn, Duran. Oder nein, anders, die beiden werden einen gemeinsamen Sohn haben«, grinste sie. »Kenai und der Frühling. Diese Zusammenstellung fand ich vom ersten Moment an sehr interessant.« »Nun, ich habe es nie anders kennengelernt. Egal, der Sommer. Er hat zwei Kinder«, lächelte Mana. »Zwei? Hope hat einen Bruder?« Verdutzt blieb Lugh Akhtar stehen und schaute sie aus großen Augen erstaunt an. Mana grinste daraufhin breit und ihm fiel die Ironie auf. »Nein, natürlich hat er Brüder, Red und Deer, schon klar. Aber du weißt, dass ich das nicht meinte«, ereiferte er sich. »Natürlich weiß ich das. Ja. Und nein«, antwortete sie lächelnd. »Wie…?« »Es gibt ein zweites Kind, das den Sommer als seinen Vater bezeichnen könnte, aber es ist kein Junge«, lächelte Mana. »Ein Mädchen. Kenne ich sie?«, fragte er mit einem Lächeln. »Ja.« Seine Tochter wirkte sehr zufrieden mit sich, als sie ihn anschaute. »Wer ist es?«, hakte er nach. »Ich muss jetzt gehen. Den Rest des Weges findest du selbst, du musst nur deinem Faden folgen.« Mana ging nicht auf seine Frage ein. Und er zögerte, zuckte mit den Ohren, nickte dann. Er sah den Faden. »Ich freu mich darauf, dich wieder zu sehen, Mana.« Er trat zu ihr und rieb seine Schnauze an ihrem Fell. »Ich hab dich lieb, Papa. Bis bald«, antwortete sie ihm und rieb ihrerseits ihren Kopf an seinem Fell. Dann trat sie ein paar Schritte zurück und grinste schelmisch. »Soll ich dir noch verraten, wer die Tochter vom Sommer ist?«, fragte sie. »Ja. Damit ich ihr gebührend begegnen kann«, lächelte er. »Dann benimm dich nicht anders als sonst auch, das wird sie weit mehr freuen«, lachte Mana. »Sonst macht sie sich über Dinge Gedanken, wo sie sich keine machen braucht. Nea ist’s nämlich.« Noch bevor Lugh Akhtar bewusst werden konnte, was sie da gesagt hatte, warf sich die weiße Wölfin herum und verschwand theatralisch in einer Feuerwand, die sich um sie herum legte. Lugh Akhtar starrte mit geöffneter Schnauze auf jene Stelle, wo sie zuvor noch gestanden hatte, dann schüttelte er den Kopf. »Nea?«, fragte er sich selbst und überlegte, ob es möglich sein konnte. Er kam zu dem Schluss, dass das dann doch ein bisschen zu viel des Guten war. Hope konnte er noch irgendwie glauben, doch bei Nea schüttelte er dann doch den Kopf. Er schob die Idee beiseite und betrachtete den glitzernden Faden, der ihn zurückbringen würde. Er zögerte noch eine letzte Sekunde, dann ging er los. Zurück in die Wirklichkeit. Kapitel 12: Ein Weg aus Glas ---------------------------- Die Sonne ging gerade auf, als er vor der Wurzel ankam, in der die Nornen lebten. Das Wasser, das aus einer Quelle direkt vor ihm sprudelte, glitzerte sanft im ersten Licht des Morgens. Im Gras glitzerte der Tau und die Welt schien sanft zu leuchten. Skadi lag am Wasser und beobachtete aufmerksam den Höhleneingang. Sie sah ihn zwar, aber sie bewegte sich keinen Millimeter, als wäre sie eine Statue, bei der nur die Augen lebendig waren. So beobachtete sie ihn, während er langsam auf sie zukam. »Mana sagte, du könntest mir den Weg zum Schatten zeigen«, erklärte er und setzte sich zu ihr ins Gras. »Mana? Wer ist Mana?« Erstaunt hob sie den Kopf. »Meine Tochter. Ich bin ihr begegnet, nur war sie viel, viel älter.« Der weiße Wolf lächelte glücklich, als er an die hübsche rotweiße Wölfin dachte. »Du bist… Hast du nicht die Nornen getroffen?« Die schwarze Wölfin blickte nervös zur Höhle und dann wieder ihn an. »Doch, auch. Aber nicht alle und auch nicht gleich. Als erste bin ich einer großen Katze begegnet, ihr Name ist Klangfeuer. Sie hat mich durch meine Erinnerungen geleitet und mich zu Urd gebracht. Dann traf ich auf Dimmur, sie erklärte mir, wie wichtig die Gegenwart ist, und brachte mit zu Verdandi. Und zu letzt traf ich auf Mana, die mir von meiner Zukunft, von meinem Schicksal erzählte. Sie führte mich nicht zur dritte Norne, sondern hinaus. Und sie sagte, dass der Schatten in Utgard ist und dass du den Weg kennst. Zeigst du ihn mir?« »Nach Utgard? Weißt du, was Utgard ist?«, wollte Skadi wissen und stand auf. »Nein. Ich kenne diese Welt nicht, sie ist mir völlig fremd. Selbst dein Welpe weiß mehr über sie, als ich es tu«, antwortete Lugh Akhtar und schaute ins Wasser hinab. »Du handelst unbedacht. Man läuft nicht in unbekanntes Gebiet, ohne vorher zu Fragen, was sich dort verbergen könnte«, fand sie. »Ich weiß, das sich dort der Schatten verbirgt und wenn auch nur die Hälfte von dem Stimmt, was man mir über sie erzählte, dann ist sie mit Abstand der größte Schrecken, dem ich begegnen könnte. Was muss ich mehr wissen?«, wollte er wissen. »Utgard ist die Unterwelt. Nur weil der Schatten das grausamste Wesen ist, das dort herrscht, bedeutet das noch nicht, dass du dich mit dem Rest messen könntest. Das ist… kein Ort für dich«, fand sie. »Skadi, hör zu. Ich weiß, was man Nanook angetan hat und ich weiß, was der Schatten ihm helfen kann. Ich weiß, dass ich auch helfen kann, indem ich den Schatten finde und die beiden zusammenbringe. Und genau das werde ich tun. Hilf mir oder lass es bleiben, das Ergebnis ist sich gleich«, erklärte er fest und stand auf. Auch Skadi erhob sich. »Wirst du dich allein auf die Suche machen, wenn ich dir nicht helfe?«, fragte sie leise. »Ja. Ich werde zu Kenai und Nanook gehen, ich werde mit ihnen sprechen und dann werde ich Utgard suchen«, verkündete er entschieden. »Komme was wolle?« »Ja.« Skadi zögerte, dann seufzte sie und nickte. »Gut, dann werde ich dir wohl helfen müssen.« Skadi wirkte nicht begeistert. »Nein. Ich werde dich nicht zwingen«, widersprach Lugh Akhtar, doch die schwarze Wölfin schüttelte den Kopf. »Es ist aber meine Aufgabe. Meine Herrin ist der Winter und du, der du ihr Sohn bist, und vielleicht auch ihr Nachfolger, stehst ebenso in meinem Schutz, wie sie es tut. Es ist meine Aufgabe, dein Leben mit meinem eigenen zu Verteidigen. Das hat nichts mit Zwang zu tun. Nur mit Pflichtbewusstsein«, antwortete sie ruhig und schaute ihm in die Augen. »Manchen Pflichten sollten wir uns entsagen«, fand der weiße Wolf darauf kühl und ging langsam in jene Richtung davon, in der er Skadis Höhle vermutete. »Und manche sollte man annehmen, egal wie wenig sie einem gefallen«, antwortete sie lächelnd. Sie wusste, dass er gerade von etwas völlig anderem sprach. »Ich weiß.« Er wollte darüber nicht reden. Still liefen sie gemeinsam weiter, bis sie letztlich bei der Höhle ankamen. Nanook lag davor im Gras und sprach leise mit sich selbst. Mehr denn je wirkte er, als wäre er Schwachsinnig, doch Lugh Akhtar wusste es besser. Er versuchte jegliche Emotionen zu verbannen, als er zu ihm trat. »Ich weiß, welche Stimmen du meinst. Verdandi hat sie mir gezeigt«, erzählte er seinem Bruder leise. Es fiel ihm seltsam schwer, dieses weiße Häuflein elend seinen Bruder zu nennen, doch genau das war er und so was nichts Falsches daran. Nanook verstummte und schaute zu ihm auf. Für einen Augenblick schauten sie einander in die Augen, doch das bunte Leuchten, das Lugh Akhtar so sehr ersehnt hatte, das gewahr er nicht. Schließlich stupste er den anderen Wolf freundschaftlich an und trabte in die Höhle. Hier lag Kenai ausgestreckt und schlief noch, das grau-weiße Bündel, das Skadi ihren Sohn nannte, eng an ihn gekuschelt. Lugh Akhtar lächelte sacht über das friedliche Bild, doch er musste seinen Cousin wecken. Langsam tappte er zu ihnen und stieß Kenai leicht mit der Schnauze an. Zähnefletschend fuhr der ehemalige Söldner auf und hätte Lugh Akhtar fast gebissen, wäre der nicht erschrocken beiseite gesprungen. Einen Moment geiferte sein Cousin ihn noch an, dann schlich sich Verwirrung in seinen Blick und er zuckte unwillig mit dem Ohr. »Entschuldige«, sagte er, doch Lugh Akhtar schüttelte schon den Kopf. »Schon gut. Ich weiß ja, dass du es nicht böse meintest«, lächelte der. Die Reflexe, die Kenai sich jahrelang als Söldner antrainiert hatte, konnte er in so kurzer Zeit einfach nicht ablegen. Ihn wunderte eher, dass so etwas nicht schon zuvor geschehen war. Der schwarze Wolf zuckte noch mal entschuldigend mit den Ohren, dann stupste er Llew beruhigend an, denn der junge Wolf hatte leise zu winseln begonnen. Skadi kam zu ihnen hinein und sogleich lief er zu seiner Mutter, um sich von ihr trösten zu lassen. »Kenai, wir müssen reden. Ich muss dir erzählen, was die Nornen mir sagten«, erklärte Lugh Akhtar, während er beobachtete, wie fürsorglich Skadi ihren Sohn ableckte, um ihn zu beruhigen. Er musste an Nea denken und wieder übermannte ihn der Wunsch, einfach nach Hause zu gehen. Er verdrängte den Gedanken, jetzt gab es wichtigeres. Er deutete Kenai mit einem Schwanzzucken, das er ihm folgen sollte und gemeinsam kehrten sie zu Nanook zurück. Dort setzten sie sich ins Gras und Lugh Akhtar erzählte ihnen, von seinen Begegnungen. Er erzählte nicht alles, denn manches war nur für ihn bestimmt, aber es war auch so schon genug. Skadi hörte vom Höhleneingang aus zu. »Gut, dann ist der Weg klar. Wir gehen nach Utgard, wir treffen den Schatten und sie hilft Nanook. Und dann können wir nach Hause, du wirst zum neuen Winter und alle sind glücklich«, fasste Kenai zusammen. »Nicht ganz, aber ja, der Anfang ist gut«, lächelte Lugh Akhtar traurig. Einen Moment lang schauten sie einander wortlos an, doch sie beschlossen, dass jetzt nicht Zeit war, darüber zu reden. Lugh Akhtar wollte einfach nicht. Er wusste, dass er es nicht totschweigen konnte, aber im Moment wollte er es zumindest versuchen. »Skadi, bringst du uns nach Utgard?«, bat er sie leise. »Warte«, antwortete sie stattdessen und verschwand schnell im Wald. Im ersten Impuls wollte der weiße Woolf ihr folgen, doch vermutlich suchte sie stattdessen jemanden, der auf Llew aufpassen mochte. Mitnehmen konnte sie ihn schließlich nicht. Nur Augenblicke später kam sie wieder und deutete ihnen mit dem Zucken ihrer Rute, das sie ihr folgen sollten. Lugh Akhtar tat das nur zögernd und schaute ein paar Mal verwundert zu Llew zurück, der im Höhleneingang saß und ihnen fragend nachschaute. »Willst du ihn allein zurücklassen?«, fragte Nanook irgendwann leise. »Nein, aber manche Gestalten dieser Welt sind keine Freunde von Fremden. Sie werden kommen und auf ihn acht geben, wenn wir außer Sicht sind«, erklärte die schwarze Wölfin. »Da bist du dir auch sicher, ja?« Kenai hörte sich nicht überzeugt an. Lugh Akhtar sah in seinem Blick, das er das kleine Fellknäuel scheinbar in sein Herz geschlossen hatte. »Ja«, antwortete Skadi und lief unbeirrt weiter. Sie schien den Weg wie im Schlaf zu kennen, denn sie lief ohne auch nur ein einziges Zögern ihren Weg. Schließlich verließen sie den Wald und traten auf eine weite Ebene hinaus. Lugh Akhtar blieb wie vom Donner gerührt stehen. Er erinnerte sich noch zu gut an seine Träume von der verheerten Landschaft und von dem Aschenregen, der folgte, als er sie überquerte. »Dort hinten ist eine Höhle. Sie führt in ein Labyrinth, direkt nach Utgard. Alle Gänge, Höhlen und Säle dort unten, sind Utgard. Es gibt Kreaturen, die sind schrecklicher und grausamer, als ihr es euch vorstellen könnt. Seid ihr euch sicher, das ihr dort hinab wollt?«, fragte Skadi und zuckte unruhig mit ihrer Rute. »Ich muss«, antwortete Lugh Akhtar. »Wir müssen«, korrigierte Kenai. Da seufzte der weiße Wolf. »Ich muss und Nanook vielleicht auch, aber du kannst umkehren. Das weißt du, oder?«, fragte er. »Das bedeutet aber nicht, dass ich es tue«, fand sein Cousin mit einem nachsichtigen Lächeln. »Kenai, das ist nicht dein Weg. Wir wissen nicht, was uns genau erwarten wird«, beschwor ihn der weiße Wolf ein weiteres Mal. »Und? Lugh, ich verstehe hier dein Problem nicht. Es ist meine Aufgabe, dich zu beschützen und das werde ich tun. Deswegen bin ich überhaupt nur hier«, lächelte der ehemalige Söldner. »Mich muss aber keiner beschützen. Ich… find es schön, dass ihr es alle tun wollt, aber es ist nicht nötig. Ich kann gut auf mich selbst acht geben«, fand der weiße Wolf. »Nein«, antwortete Kenai mit einem nachsichtigen Lächeln. »Nein?« »Nein. Kannst du nicht. Dafür bist du viel zu lieb. Du läufst sehenden Auges in jede Falle, die sich vor dir auftut, einfach nur, weil du dich weigerst, irgendwo etwas Schlechtes zu sehen. Also muss ich auf dich aufpassen. Komm jetzt, wir haben endlich ein Ziel«, meinte der schwarze Wolf und machte einige Schritte auf die Ebene hinaus, bevor er sich umwandte und ungeduldig zu ihnen zurückschaute. Lugh Akhtar zögerte noch einen kurzen Moment, doch als Nanook ebenfalls loslief, da war ihm klar, das Kenai nicht zurückbleiben würde. Er wandte sich noch einmal zu Skadi um. »Begleitest du uns auch?«, fragte er leise. »Nein. Ich würde, ich müsste, aber ich weiß, dass du das nicht willst, also nicht, nein. Ich werde hier warten«, antwortete er. »Gut. Wir… ich beeil mich«, erklärte er und lächelte. Dann folgte er seinen Freunden. Er huschte geduckt über die Ebene, er hatte Angst. Er fühlte noch den Ascherege in seinem Fell und er wusste nicht, wie weit der Weg genau sein würde. Er spürte, wie angespannt auch Nanook war, nur Kenai schien keine Furch zu kennen. Er trabte erhobenen Hauptes und mit wehender Rute voran. »Ist das der Weg, den du in deinen Träumen gelaufen bist?«, fragte er nach einer Weile und schaute neugierig zu Lugh Akhtar zurück. »Ja«, antwortete der einsilbig. Dann liefen sie wieder schweigend weiter. Es schien Jahre zu dauern, bis sie in der Ferne den Zugang zu Utgard entdeckten. Lugh Akhtar zögerte, es erschien ihm hier irgendetwas falsch. Es war zu ruhig, zu friedlich. Doch es änderte sich nicht, als sie die Höhle betraten. »Etwas hier ist falsch«, murmelte er. »Wie meinst du das?«, fragte Kenai. Lugh Akhtar blickte nach draußen. »Kein Gewitter, kein Regen aus glühender Asche. Und ich bin nicht allein. Es ist anders als in meinem Traum«, erklärte er unruhig. Es machte ihn nervös, er hatte immer erwartet, dass es genauso ablaufen würde. »Sei doch froh. Besser, als wenn du mit Brandnarben nach Hause musst, oder?« Kenai machte einige zögernde Schritte in die Höhle hinein. »Ja, aber es… ich habe das Gefühl, das es so falsch ist. Das es anders sein muss«, erklärte der weiße Wolf, als er seinem Cousin langsam folgte. »Ich hatte auch bei jedem Mord das Gefühl, das es falsch ist. Hat nichts daran geändert, das ich es getan habe«, erklärte Kenai eher desinteressiert. Auch das irritierte Lugh Akhtar. Kenai sprach nicht über seine Zeit als Söldner. Nie. Alle wussten, dass er einer gewesen ist und alle wussten auch, dass er gemordet hatte, aber Kenai selbst sprach nicht darüber. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr hatte er das Gefühl, das ihm jemand oder etwas eine Wirklichkeit vorgaukelte, der ihn und seine Freunde nicht besonders gut kannte. Konnte das wirklich möglich sein? »Kenai, wie heiße ich?«, fragte er plötzlich. Er hatte das Bedürfnis, das Ganze auf die Probe zu stellen. Er musste sich vergewissern, dass dies wirklich sein Cousin war. Der blieb stehen und schaute ihn erstaunt an. »Was soll die Frage?« »Ich will herausfinden, ob du wirklich du bist. Ich… ich hab das Gefühl, in einer… anderen Wirklichkeit zu sein. Und das, was diese Wirklichkeit erschaffen hat, war nicht besonders gut. Erzähl mir etwas, was nur mein Cousin wissen kann, niemand sonst«, bat der weiße Wolf eindringlich. »Ich glaube, langsam wirst du paranoid, aber gut. Kekoa, der Name war mein Vorschlag«, erklärte sein Cousin. Und das beruhigte Lugh Akhtar. Er hatte es keinem erzählt und er glaube nicht, das Kenai es jemanden erzählt hatte. »Danke«, flüsterte der weiße Wolf. Das Gefühl, das etwas völlig falsch lief, war noch immer übermächtig, aber er hatte nun dennoch jemand, dem er blind vertrauen konnte, das beruhigte ihn etwas. Langsam liefen sie weiter. Lugh Akhtar schaute sich dabei immer wieder nach Nanook um, der seltsam still blieb. Er hatte nichts mehr gesagt, seitdem sie hierher gekommen waren. Der weiße Wolf hatte Angst ihn zu verlieren. Sie liefen lange durch die unterirdischen Höhlen und Lugh Akhtar wartete bereits auf das Feuerflackern, das sie zu den Dornenranken führen würde, aber er wartete vergeblich. Stattdessen gewahren sie ein sachtes Schimmern, wie von Eis oder Glas. »Was ist das?«, fragte Kenai vor ihm. »Letztes Mal war es eine riesige Höhle, von Fackeln erhellt. Und irgendwo mittendrin hing der Schatten sterbend in Rosenranken. Was es diesmal allerdings ist, weiß ich nicht«, antwortete der weiße Wolf nervös und schaute wieder zurück zu Nanook. Der folgte ihm wie in Trance, er schien nichts mehr um sich herum wahrzunehmen. Sie folgten dem Licht, das immer heller schimmerte, bis sie letztlich in einer Höhle ankamen, doch auch diese war nicht wie beim letzten Mal. Dieses mal schien das Licht keine wirkliche Quelle zu haben. Es kam von überall gleichzeitig her, ohne, dass irgendetwas es aussendete. Und es wurde von Glasbrocken verstärkt und gebrochen. Dies war das Schimmern, das sie gesehen hatten. »Auch anders?«, erkundigte sich Kenai. »Ja. Vor allem das da«, antwortete Lugh Akhtar und deutete auf das zerfallen Schloss aus Glas, das vor ihnen lag, so im defusen Zwielicht gelegen, das man es eben noch erkenne konnte. Sein Cousin nickte wortlos und trabte auch schon los. Er hatte nicht viele Schritte getan, da schrie er schmerzerfüllt auf. Mit zwei Sätzen war Lugh Akhtar bei ihm und sah, dass sich Kenai eine riesige Scherbe eingetreten hatte. Die Wunde blutete heftig, dabei steckte der Glassplitter noch. »Soll ich sie rausziehen?« Der weiße Wolf war kein Kriegsheiler, mir solch großen Verletzungen kannte er sich nicht aus. »Dann blutet es stärker und wir haben nichts, um es zu verbinden«, wimmerte Kenai und zitterte leicht. »Was tun wir dann? So kannst du nicht laufen.« Unruhig fegte der weiße Wolf mit der Rute über den Boden. »Hör auf damit, sonst hast du gleich einen Splitter im Schwanz«, fuhr Kenai ihn an. Lugh Akhtar zuckte zusammen, hörte aber sofort auf. Da bemerkte er, das Nanook an ihm vorbei lief. Langsam und noch immer wie ein Traumwandler. »Nanook, bleib hier, wer weiß, was hier noch so alles herumliegt«, rief er seinem Bruder zu, doch der reagierte nicht. Er zuckte mit den schwarzen Ohren und schüttelte unglücklich den Kopf. Was sollte er tun? »Komm«, nahm ihn da Kenai die Entscheidung ab und folgte Nanook humpelnd. »Lass das, das ist zu anstrengend. Wenn du hier stürzt, könntest du dich bei lebendigem Leib aufspießen.« »Wir müssen weiter und wenn unser Weg hier durchführt, dann müssen wir das eben in Kauf nehmen. Manchmal muss man Opfer bringen, Lugh. Es kann nicht immer jeder lebend aus einem Kampf zurückkehren. Und um mich ist es nicht Schade, das wäre zumindest eine kleine Sühne von all der Schuld, die ich mir aufgeladen habe«, fand Kenai. »Nein. Manchmal muss man Opfer bringen, ja, aber nein, ich will das nicht. Entweder alle gemeinsam oder keiner.« »Ich sag ja, viel zu naiv. Sei lieber froh, dass du und deine Freunde bisher immer unbeschadet aus der Sache herausgekommen sind, so viel Glück wirst du nicht immer haben, mein Freund.« »Kenai… Verdammt!« Lugh Akhtar blieb stehen und schaute erst seinen Cousin böse an, dann blickte er Nanook hinterher, der das alles gar nicht wahrzunehmen schien. »Wir hätten niemals hierher kommen dürfen. Nicht, wenn es so enden soll.« »Hör auf zu jammern und hilf mir«, fuhr Kenai ihn an. Die paar Augenblicke hatten gereicht, dass er nun sehr viel stärker zitterte. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Lugh Akhtar schaute ihn einen Moment lang an, dann schüttelte er entschieden den Kopf. »Nein«, sagte er fest und entschieden, ohne jeden Widerspruch zuzulassen. »Nein! NEIN!« Er wollte nicht mehr. Das lief alles so unglaublich falsch. Das konnte einfach nicht sein. Er weigerte sich, dies hier als Wirklichkeit zu akzeptieren. Er kniff die Augen zu und versuchte verzweifelt, sich zurückzuwünschen zu einem Augenblick, der besser war. Von dem aus nicht alles nur Bergab ging. Er wusste, dass er eigentlich nur den Blick vor der Wahrheit verschloss. Als er die Augen schließlich wieder öffnete, wusste er sogleich, dass etwas anders war. Kenai und Nanook bewegten sich nicht mehr. Sie standen noch ebenso da, wie zuvor auch, nur schienen sie jetzt zu Statuen erstarrt. Oder zu Glas. Er zögerte kurz, bevor er Kenai anstupste. Raues Wolfsfell, kein Stein, kein Glas. Aber was war denn geschehen? Da fiel sein Blick auf das Glasschloss. Er wusste, dass er dort eine Antwort bekommen würde. Ohne noch eine Sekunde zu vergeuden, lief er los. Er nahm keine Rücksicht auf seine verletzlichen Pfoten, er verkratzte sie sich am scharfen Glas und so mancher Splitter fand seine Weg auch ganz in seine Ballen, doch jedes mal, wenn der schier unerträgliche Schmerz seine Beine hinaufjagte, wusste er zumindest, das er noch am Leben war. Er humpelte schwer durch das Tor, hoffte, dass es nicht über ihn zusammenbrechen mochte, dass es hielt. Er erklomm eine Freitreppe, die ins Innere führte, betrat die große Eingangshalle. Es gab Löcher im Boden, das ganze Gebäude war alles andere als Stabil. Er fürchtete, dass er einbrechen würde, doch auch das geschah nicht. Wie von einer fremden Hand geleitet, ging er zielstrebig zur nächsten Treppe und stieg auch sie hinauf. Er erklomm jede Treppe, die er sah, immer in der Erwartung, früher oder später abzustürzen, doch es hielt. Das Glasschloss sollte scheinbar nicht zu seinem gläsernen Sarg werden. Schlussendlich war er oben angelangt. Er trat aus dem Turm auf einen großen Balkon hinaus und konnte unter sich das zerstörte Glasfeld sehen. War es einst eine Stadt? Oder war es immer schon nur ein Haufen Glastrümmer? Was war das hier nur für ein seltsamer Ort? »Weißt du, ich wollte immer schon ein Schloss aus Glas in eine Geschichte einbauen«, erklärte ihm eine Stimme verträumt. Er fuhr herum und gewahr das Mädchen im Schatten des Turmes stehen. »Ich hab davon einmal in einem Buch gelesen. Es hat mich tief fasziniert. Ich hab lange darüber nachgedacht, wo ich dich zum allerersten Mal treffen möchte, Lugh Akhtar, und ich fand, das sie doch ein ganz passabler, netter Ort sein würde. Denkst du nicht auch?« Sie trat langsam ins Licht und verwandelte sich dabei in eine weiße Füchsin mit schwarzen Abzeichen und roten Augen. »Wer bist du?«, fragte der weiße Wolf, obwohl er die Antwort bereits kannte. »Ich? Ich bin diese Geschichte hier, mein Liebster. Ich bin Chaya. Ich bin Schatten.« Kapitel 13: Die Füchsin Schatten -------------------------------- Lugh Akhtar besah sich den Fuchs genau. Es erschien ihm lächerlich. Die kleine Gestalt wirkte alles, aber nicht gefährlich oder gar Angst einflößend, und doch hatten alle voll Furcht von ihr gesprochen. Sie war klein, er hatte schon Hauskatzen gesehen, die größer waren. Er war sich nicht sicher, ob es das Fell war, oder wirklich sie, aber für einen Fuchs wirkte sie zudem ein bisschen dick und unförmig. Auch die schwarzen Abzeichen die sie zur Schau stellte, passten nicht gerade in das Bild eines Polarfuchses, wie er sie kannte. Ja, alles in allem war es ein lächerlicher Gedanke, dass sie der Schatten sein sollte. »Du bist Chaya, ja? Du lebst hier? In diesem Glasschloss?«, fragte er enttäuscht. Sie war nicht, was er gesucht hatte und er wusste nicht, ob er es hier noch finden würde. »Nein. Ich fand nur, dass es für dieses Treffen vielleicht der passende Ort sein könnte. Mir gefällt der Gedanke, ein ganzes Schloss aus nichts anderem als aus Glas.« Sie lächelte verträumt, aber nur für einen Moment, dann wischte sie mit ihrer langen Rute über den Boden und schaute ihn auffordernd an. »Erzähl.« »Erzählen? Was?«, fragte er abweisend und schaute noch mal über die Glaslandschaft. »Irgendetwas, mir egal. Weißt du, wie lange ich schon darauf gewartet habe, dich zu treffen?« »Aber wieso?« »Weil du mein Geschöpf bist. Es gab Zeiten, da habe ich dich gehasst. Da bist du mir ziemlich auf die Nerven gegangen, aber es gab immer ein paar, die dich mochten. Also hab ich weiter gemacht. Und was ist daraus geworden? Eine ganze Welt! Kannst du dir das vorstellen? Es war ein Zeitvertreib, etwas, um die Langeweile zu bekämpfen, weil ich an nichts anderem weiterarbeiten konnte, und was ist es jetzt? Wer hätte das je für möglich gehalten?« Sie seufzte zufrieden. »Weißt du, was ich am Meisten an dir liebe?« »Ich… glaube, ich verstehe nicht…«, murmelte der weiße Wolf unsicher, doch die Füchsin plapperte einfach weiter. »Deine Augen! Du musstest ungewöhnlich werden, deswegen habe ich dich weiß gemacht. Eigentlich mag ich schwarz ja lieber… na gut, damals mochte ich schwarz lieber. Aber du musstest anders sein, vom ersten Moment an. Deswegen bist du weiß. Und deswegen hast du schwarze Ohren. Einfach, aber doch unverkennbar, außergewöhnlich.« »Bist du… schwachsinnig…?«, erkundigte sich der weiße Wolf vorsichtig, doch sie schien ihm gar nicht zuzuhören. Sie schnaubte abfällig. »Weißt du, alle versuchen immer möglichst komplizierte Muster zu machen, am Besten so, das sie es sich selbst ohne Vorlage nicht mehr merken könnten. Oder ganz in bunt, so viele Farben, wie möglich. Ich find das lächerlich. Einfachheit hat viel mehr stil. Und du bist einzigartig. Ich meine, du bist WEISS! Und hast schwarze Ohren. Und deine Augen! Ich könnte dir stundenlang in die Augen schauen, weißt du das? Ich habe schon viele Figuren erschaffen, aber deine Augen… Sie mussten leuchten wie das Nordlicht! Und ja, das tun sie. Ich liebe sie einfach«, schwärmte sie unbeirrt weiter. »Ja. Hör mal, das ist ja alles schön und gut, aber ich suche jemanden. Und das ist wichtig. Ich muss gehen«, sprach Lugh Akhtar und wollte an ihr Vorbeitreten, doch mir ihrer Rute hielt sie ihn zurück. »Ich weiß, ich wirke nicht so, aber du kannst mir glauben. Ich bin der Schatten, wie sie mich alle nennen. Wenn du jetzt weiter durch Utgard läufst, dann ist das nur vergebliche Liebesmüh«, erklärte sie ruhig und mit einem sehr bestimmten Lächeln auf den Lippen. »Du bist ein Fuchs. Du bist klein, dick und eine Quasselstrippe. Glaub mir, dich suche ich bestimmt nicht«, antwortete der weiße Wolf und lief in den Schatten des Turms. »Das war jetzt wirklich beleidigend!«, fand die Füchsin und lief ihm nach. »Aber es ist doch so. Wenn du das bist, was ich suche, dann kann ich Nanook auch gleich das Messer ins Herz rammen, das ist wahrscheinlich barmherziger.« Frustriert und mit schmerzenden Pfoten lief er die Treppe wieder hinab. »Oh bitte, ich kann dir auch gerne das passende Messer dazu beschaffen«, fauchte die Füchsin böse, huschte an ihr vorbei und baute sich dann ein Stück unter ihr so weit auf, wie es möglich war. Lugh Akhtar konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, es wirkte fast lachhaft. »Weißt du, sollte der Schatten nicht ein bisschen größer und gemeiner sein, als du es bist? Ich wurde auch immer unterschätzt, deswegen weiß ich, das man sich nur allzu schnell von dem verleiten lassen sollte, was man sieht, aber ich bitte dich, was soll das werden?«, fragte er belustigt. »Oh glaubst du, ich würde in einem Kampf nicht gegen dich ankommen? Weißt du, mein Bester, körperlich mag das vielleicht stimmen, wobei ich dir sagen muss, das du auch nicht gerade Goliath bist… aber bei allem anderen solltest du mich nicht zu sehr unterschätzen«, fauchte sie. »Was könntest du mir schon antun? Dafür sorgen, das ich mich zu Tode lache?« Lugh Akhtar schnaubte abfällig. In dem Moment löste sich das Glas zu seinen Pfoten und er musste einen großen Satz an der Füchsin vorbei machen, sonst wäre er in die Tiefe gestürzt. »Ein heroischer Tod, in dem du dich für jemand anderes opferst, würde dir zwar besser stehen, aber im Zweifelsfall lässt sich auch das arrangieren. Weißt du ich würde mich ja mit dir Geistig duellieren, aber ich fürchte, du wärst waffenlos« fauchte sie und trabte erhobenen Schweifes die Treppe hinab. Für einen Moment schaute Lugh Akhtar ihr nach, blickte dann auf das Loch im Boden und wieder ihr nach, dann verstand er. »Das warst du?«, fragte er ungläubig und folgte ihr, so schnell es mit seinen geschändeten Pfoten ging. »Ja, stell dir vor. Aber hey, ich bin ja nur eine kleine, dicke Quasselstrippe, die alle ins Verderben stürzen wird, wenn sie wirklich die ersehnte Retterin sein soll«, fauchte sie und lief einfach weiter, ohne zurückzuschauen. Als Lugh Akhtar sie mit einem großen Satz überholte, da sah er die Tränen, die in ihrem Augenwinkel glitzerte. »Entschuldige, das war… nicht so gemeint. Ich hab mir nur einfach… etwas anderes vorgestellt«, versuchte er zu erklären. »Und was? Ein Monster? Entschuldige bitte, dass ich kein Feuer spucken kann«, erklärte sie sarkastisch und blitzt ihn so kalt an, das er inne hielt, doch er folgte ihr weiter. »Bitte, so war das nicht gemeint. Bitte, bleib doch stehen. Ich brauche Hilfe. Für Nanook.« Er wurde immer leiser. »Ja, Nanook…« Sie blieb stehen und setzte sich auf die Stufen. »Wenn du wirklich der Schatten bist, dann kannst du ihm helfen«, sprach der weiße Wolf und stellte sich unter sie, sodass ihre Augen auf gleicher Höhe waren. »Kannst bitte aufhören von dem Schatten zu sprechen? Das hört sich immer so an, als wäre ich gar nicht anwesend, das nervt ein bisschen. Nenn mich Chaya. Oder Schatten. Ist beides okay«, bat die Füchsin. »Warum… beides?« »Das ist… nicht so einfach zu erklären. Weißt du, Schatten ist kein richtiger Name, für mich, es ist eher… eine Bezeichnung. Ich… will dir das nicht erklären, das ist… zu persönlich. Lass es mich so sagen, Chaya ist der Name, den andere mir gaben und Schatten ist es, wie ich selbst mich nenne.« Sie zwinkerte ihm keck zu. »Okay. Ich… bin mir nicht ganz Sicher, ob ich es wirklich verstehe, aber gut. Was ist jetzt mit Nanook?« »Das ist nicht ganz so einfach. Ich weiß, was du von mir willst und… ich kann es nicht. Also ich kann es schon, aber… nein, ich kann es nicht.« Sie schüttelte entschieden den Kopf und schaute nachdenklich in seine leuchtenden Augen. Lugh wirkte verwirrt. Er zuckte mit den Ohren und versuchte, nicht zu fragen, den er ahnte, das es besser war, sie einfach sprechen zu lassen. »Zeig mir deine Pfoten«, befahl sie stattdessen. Er zögerte kurz, doch dann legte er seine Pfote so, dass man seine blutigen Ballen sehen konnte, in denen noch teilweise die Glassplitter steckten. Die Füchsin, Schatten, zögerte kurz, dann jedoch beugte sie sich hinab und begann langsam daran zu lecken. Sie leckte die Splitter heraus und das Blut ab, bis nur noch das zerschundene Fleisch übrigen war. Das wiederholte sie auch mit den anderen drei Pfoten, bis zumindest alles sauber war. »Glas war wohl doch keine gute Idee«, seufzte sie schlussendlich und wischte sich in einer menschlichen Geste die Glassplitter von der Zunge. »Und das war völlig sinnlos, wenn wir zurücklaufen, werden meine Pfoten wieder genauso aussehen«, murmelte er. »Ach Lugh Akhtar. Weißt du eigentlich, dass ich die Einzige bin, die deinem Namen treu bleibt? Alle anderen sehen die Schönheit des Namens nicht, wenn sie über dich schreiben, dann bist du immer nur Lugh. Es ist einfacher, schneller, ja, aber das bist in dem Moment niemals du.« Die Füchsin seufzte, schüttelte dann den Kopf. »Komm mit mir, ich versuche es dir zu erklären.« Sie ging langsam die Stufen hinab und er folgte ihr. Die Pfoten schmerzten noch immer und er spürte, wie er sich wieder Dreck eintrat, aber zumindest keine Glassplitter. Sie verließen den Turm, doch statt das sie weiter hinab in die Eingangshalle liefen, wählte Schatten scheinbar willkürlich einen Raum aus. Sie betrat ihn und als der weiße Wolf ihr folgte, da gewahr er einen gemütlichen Haufen aus Decken und Kissen. »Ich liege gerne bequem«, erklärte sie lächelnd und wühlte sich in den Haufen ein. Lugh Akhtar legte sich zu ihr und begann damit, abermals seine Pfoten zu säubern, beobachtete sie dabei aber aus dem Augenwinkel. »Also, die Nanook-Problematik. Weißt du, dies hier ist alles meine Welt. Ich habe sie geschaffen. Jeder kleine Stein, jedes Staubkorn und… ja, auch jeder Glassplitter, sie alles sind meine Ideen. Das alles hier ist bloß… ein Gedanke. Ein Wunsch, dass diese Welt wirklich existieren möge. Sie ist in gewisser Weise auch Wirklichkeit, ja, denn dass ich sie niederschreibe, macht sie… greifbar. In gewisser Weise«, begann die Füchsin. »Also bist du… eine Art Gott?« »Wenn du mich so nennen willst, dann ja. Ich bevorzuge das Wort Schöpferin. Dort… wo ich herkomme, ist das nämlich nichts besonders. Klar, manche finden es ziemlich erstaunlich und so, aber eigentlich ist es das nicht. Deswegen, Gott… Gott hört sich so hochtrabend an, so angeberisch so… ich weiß auch nicht. Ich mag das Wort nicht, obwohl es für dich wohl am ehesten meine Existenz greifbar macht. Nenn mich also Gott, wenn du das möchtest, auch wenn es nicht ganz stimmig ist«, willigte sie ein. »Du bist auf jeden Fall nicht irgendwer.« »Nein, bestimmt nicht. Wie gesagt, ich habe diese Welt erschaffen, mit allem Guten und mit allem Schlechten, was in ihr zu finden ist. Und dabei musste ich ihr Regeln geben. Keine Welt kann ohne Regeln existieren. Die Schwerkraft zum Beispiel, oder das du essen, trinken und atmen musst. Das ihr sterben könnt. Ich habe vieles an meine Welt angepasst, das macht es greifbarer für andere. Allerdings habe ich auch beschlossen, dass ihr Magie haben sollt. Keine Fabeltiere, aber Magie durchaus. Und ich habe beschlossen, das schlicht und ergreifend nicht alles möglich ist. Wenn irgendwer begonnen hat, einen bestimmten Weg zu gehen, dann kann er nicht einfach mittendrin umkehren und sagen, dass er keine Lust mehr hat«, erklärte sie. »Und Nanook hat diesen Weg begonnen?« »Nein. Aber ich habe diesen Weg für ihn vorgesehen. Allerdings kann ich jetzt nicht einfach sagen, dass er umkehren darf, das würde nicht den Regeln entsprechen und an die muss auch ich mich halten. Das bedeutet, das Nanook diesen Weg weitergehen muss. Ich darf euch ein bisschen helfen, euch dann und wann einen Wink geben, einen kleinen Tipp, aber ich darf euch nicht alles Vorrausnehmen und ich darf auch nichts ungeschehen machen«, erklärte die Füchsin. »Und warum? Du hast die Regel doch eingeführt, dann ändere sie doch einfach.« »Das ist nicht möglich, niemals. In dem Moment, als ich sie beschlossen habe, da wurde sie für mich unantastbar. Ich kann sie nicht mehr ändern, genauso wenig, wie du die Sonne daran hindern kannst, aufzugehen. Es ist so und nichts und niemand kann diese Regel ändern. Ja, ich weiß, keine besonders schlaue Idee, so eine Regel einzuführen, aber es war nötig, sonst könnte diese Geschichte nicht erzählt werden.« »Gut. Du kannst es also nicht einfach ändern. Du aber hast unsere Seelen aufgespalten, du hast ihm das angetan, was er durchleiden muss, also tu etwas, damit es besser wird. Erträglicher«, verlange Lugh Akhtar. »Kann ich nicht. Entweder findest du das letzte Stück seiner Seele, oder er stirbt. Andere Optionen kann ich dir leider nicht bieten.« »Toller allmächtiger Gott«, brummte der weiße Wolf missgelaunt. »Ich habe nie etwas von allmächtig gesagt. Ja, ich kann alle Regeln außer Kraft setzen, aber sobald ich das einmal tun würde, müsste ich es ein anderes Mal auch tun und wieder und immer wieder. Und was bringen Regeln, wenn man ständig ausnahmen machen muss? Du bist mit der Regel aufgewachsen, dass auf Mord eine schwere Strafe steht. Wie würdest du es finden, wenn die Strafe immer wieder aufgehoben würde?« »Das ist nicht dasselbe.« »Nein, da hast du recht, aber es nimmt sich trotzdem nicht viel. Ich weiß, du hast erwartet, einen Wunderheiler oder so was zu finden, aber das bin ich nicht. Und das werde ich auch nicht sein. Das will ich auch gar nicht sein. Ich kann dir helfen, aber nur, wenn du dir auch helfen lässt. Und auch nur auf meine Art und Weise.« »Dann hilf. Egal was du tust, tu nur etwas. Ich weiß nämlich nicht, was ich noch tun kann.« Er rollte sich zusammen und schob die Schnauze unter die Pfoten. »Jetzt hör auf zu jammern. Erst einmal müssen wir uns um Kenai kümmern. Mit einer solchen Glasscherbe schafft er es nie zurück zu Skadi«, beschloss die Füchsin und sprang aus dem Haufen heraus. »Und um Nanook, er ist… irgendwie seltsam…« Zögernd stand auch der weiße Wolf auf. »Er ist immer seltsam. Er wird von diesem Schloss hier regelrecht angezogen. Von meiner Magie.« Sie lächelte zufrieden. »Deine Magie?« »Ja. Worte. Nichts anderes. Bloß ein paar geschriebene Sätze. Das ist meine Magie. Die Einzige, die ich beherrsche. Und das nicht einmal besonders gut.« Schatten grinste verkniffen, tänzelte dann aber gut gelaunt durch die Tür hinaus. Lugh Akhtar dagegen zögerte. Sie war definitiv seltsam. Er verstand, warum Kanoa ihn gewarnt hatte. Er verstand, dass er sich vor ihr in Acht nehmen sollte. Doch für den Moment hatte er keine Wahl, als sein Leben in ihre Hände zu legen. So folgte er ihr. »Weißt du eigentlich, das ich deinen Schülernamen von allen am allerschönsten finde?«, fragte sie, als er bei ihr war und schaute ihn aus leuchtenden Augen an. »Du kennst meinen Schülernamen?« »Ich weiß mehr über dich, als du selbst weißt«, lachte sie. »Vergiss nicht, ich habe dich erschaffen. Mit allem Guten und mit allem Schlechten. Du bist mein Geschöpf. Ja, ich kenne ihn, Lichtertänzer. Ich weiß alles über dich.« Kapitel 14: Auf, nach Hause --------------------------- Lugh Akhtar wünschte sich nichts mehr, als Stille. Seitdem sie aufgebrochen waren, sprach Schatten ununterbrochen. Und er verstand nicht ein Wort von dem, was sie ihn scheinbar mitzuteilen versuchte. Es war, als sprach sie über eine ganz andere Welt, die er nicht kannte und die er nicht verstand. »Wir sind gleich da«, murmelte er irgendwann, nur um kurz etwas anderes zu hören, als ihre Stimme. »Ich weiß«, antwortete sie. Das schien das Ende zu sein, denn es folgte kein neuerlicher Redeschwall, sodass Lugh Akhtar erstaunt zu ihr aufschaute. Sobald sie aufgebrochen waren, hatte sie Menschengestalt angenommen und lief auf zwei Beinen neben ihm her. Jetzt fuhr sie gedankenverloren über das Tuch, das sie mitgenommen hatten, um Kenais Pfote zu verbinden. »Hab ich… etwas Falsches gesagt? Oder getan?«, fragte er zögernd, nachdem sie ihn eine Weile angeschwiegen hatte. »Nein, aber ich möchte dich nicht weiter nerven«, meinte sie und wirkte dabei seltsam traurig. Sie lief neben ihm her, als wäre sie in ihren Gedanken weit, weit fort. Lugh Akhtar beobachtete sie eine Weile, doch er vermochte ihre Gedanken nicht zu erraten. Stattdessen schaute er wieder voran und gewahr Nanook und Kenai. Sein Cousin lag auf dem Boden und schien, als würde er bald das Bewusstsein verlieren, während Nanook einfach nur bei ihm saß und in ihre Richtung schaute. Bewegungslos wie eine Statue. Doch seine Augen leuchteten. »Ist er nicht wunderbar?«, flüsterte Schatten da und ihre Augen leuchteten wieder. »Wunderbar?« Der weiße Wolf meinte sich verhört zu haben. Wie konnte sie es wunderbar finden, wenn sein Cousin so leiden musste und keiner wusste, ob er überleben würde? Wie nur konnte sie es wunderbar finden, wenn Nanook immer so leiden musste? »Für einen Moment ist er nur er selbst. Keine fremde Gedanke, keine Gefühle, die nicht seine sind, nur er selbst. Und deswegen leuchten seine Augen.« »Du könntest seine Augen immer leuchten lassen«, bemerkte der weiße Wolf. Er wollte einfach nicht begreifen, wieso sie es nicht tat, schien sie doch durchaus die Macht dazu zu haben. Er verstand ihre Argumentation, aber sie schadete doch keinem. Wieso nur tat sie es nicht? Doch Schatten schien es nicht weiter zu interessieren, was er dachte, sie ging nicht darauf ein. »Nanook, der Eisbär«, lächelte sie, als sie sich vor Lugh Akhtar Bruder zu Boden setzte. »Chaya, ich habe dich gefunden«, sprach der Wolf und schaute sie aus seinen leuchtenden Augen an. Das Mädchen antwortete mit einem Lächeln. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Du bist auch etwas besonderes, denn du bist anders als die anderen«, lächelte sie. »Du bist wie ich, nicht wie sie.« »Ich bin alle, ich bin ich«, antwortete er und seine Augen wurden wieder braun. Eine tiefgehende Trauer schlich sich in sie. »Ich würde gerne sagen, dass du und ich eins sind, aber das wäre gelogen. Ich verstehe dich, wie kein anderer, das kannst du mir glauben, aber wir sind nicht dasselbe«, lächelte Schatten. »Ich weiß. Dafür wird es andere geben«, bestätigte Nanook. Das Mädchen nickte und Lugh Akhtar fragte sich, wovon sie sprachen. Da wandte sich Schatten Kenai zu. »Der Bär«, lächelte sie und setzte sich im Schneidersitz vor ihm und schaute stolz auf ihn hinab. Kenai jedoch schaute nur aus fiebrigen Augen zu ihr auf. »Ich bin gerade ungemein froh, dass du kein Bär bist. Eigentlich müsstest du einer sein, immerhin gehörst du mehr oder weniger zum Herbst, aber der Wolfspelz steht dir besser. Wobei es keinen so großen unterschied macht, ein Wolf kann so viel wiegen, wie ein ausgewachsener Mann, entsprechend könnte ich allein dich sowieso niemals tragen«, plapperte sie weiter, während Kenai ihr gar nicht zuhörte. »Schatten, meinst du nicht, wir sollten erst einmal dafür sorgen, das die Glasscherbe aus seiner Pfote kommt und es vernünftig verbunden wird?«, merkte Lugh Akhtar zaghaft an. »Ja, du hast recht. Allerdings musst du das machen, ich kann kein Blut sehen. Außer in Filmen und in Videospielen, aber da ist es ja nicht echt, sobald es echt ist, wird mir schlecht«, erklärte sie und rutschte herum, sodass sie Kenais schwarzen Wolfskopf in ihrem Schoß betten konnte. »Und… wie genau stellst du dir vor, das ich das tue?«, erkundigte sich der weiße Wolf und deutete vielsagend mit seiner Schnauze auf seine Pfoten. »Verwandle dich doch einfach«, seufzte Schatten. »Verwandeln…?« Es war absurd, er war noch nicht einmal auf die Idee gekommen. Er hatte automatisch angenommen, das er hier seine Magie nicht nutzen konnte und entsprechend auch nicht in der Lage war, sich zu verwandeln, als er sich jetzt jedoch darauf konzentrierte merkte er schnell, das es sogar leichter war, als gewöhnlich. »Männer.« Theatralisch verdrehte das Mädchen die Augen. »Auf die nächstliegenden Dinge kommt ihr immer nicht.« Lugh Akhtar schaute sie einen Moment irritiert an, dann jedoch musste er tatsächlich lächeln. Er wusste nicht, woran es lag, aber Schattens ruhige Zuversicht, ihr sichtbares Wissen, das es nicht schlimmer kommen konnte, wenn sie selbst es nicht wollte, beruhigte ihn ungemein. So setzte er sich im Schneidersitz vor Kenai und ergriff seine Pfote, während Schatten demonstrativ in die andere Richtung blickte, ihre Hände aber um den schwarzen Wolfskopf verkrampften. Der junge Zauberer ergriff die Scherbe so gut es ging, ohne sich selbst daran zu verletzen, doch so konnte er sie nicht richtig greifen. Er überlegte kurz, was er tun konnte, nahm dann den Gürtel ab und wickelte das Leder um das Glas, dann zog er ihn mit einem starken Ruck heraus. Kenai jaulte laut auf und fing an zu zappeln, und auch Nanook fing laut an zu jaulen. In seiner Menschengestalt verstand er sie beide nicht, aber er wusste, dass sie vor Schmerz schrieen. Das Mädchen dagegen beugte sich über Kenais Kopf und sprach leise und beruhigend auf ihn ein. Sie drückte sich fest an ihn und vergrub ihre Finger tief in seinem Fell, schien vor Mitleid regelrecht überwältigt. Lugh Akhtar indes nahm den Stoff, den sie eigens dafür mitgenommen hatten, und legte einen festen Verband an, in den er zusätzlich auch seine Magie verwob. Er konnte keine Wunden heilen, aber er konnte die Magie dazu bringen, sie schneller heilen zu lassen. Nach einer Weile beruhigten sich sein Cousin und Nanook wieder und auch Schatten erwachte aus ihrem beruhigenden Summen und schaute nachdenklich zu ihm auf. »Was… tun wir jetzt?«, wollte der junge Zauberer unsicher von ihr wissen. »Wir gehen zu Skadi. Wird lustig, der gute Kenai wiegt bestimmt seine siebzig Kilo, wenn nicht mehr. Ich würde ja behaupten, dass er als Mensch leichter ist, aber mit den ganzen Muskeln, die er sich als Söldner antrainiert hat, wäre das eine glatte Lüge. Hast du eine Idee, wie wir ihn leichter tragen können?«, fragte sie. »Du bist hier die Schöpferin des Universums, ich bin nur dein Geschöpf«, wies der Zauberer alle Verantwortung von sich, doch er hatte begriffen, dass sie nicht die Führung übernehmen würde. Sie war eine Beobachterin, der Anführer war nach wie vor er. »Gut, Nanook und ich müssten ihn gemeinsam eigentlich tragen können, die Frage ist nur, ob Nanook gerade in der Lage ist, überhaupt etwas zu tragen. Wenn dieses vermaledeite Glas nicht wäre, würde ich sogar fast behaupten, das ziehen leichter ist, aber damit schlitzen wir ihn nur komplett auf wie ein Schlachtschwein.« »Somit sind wir uns einig, Glas war eine grauenhaft schlechte Idee. Aber versuchen wir es«, fand Schatten und deutete ihm, das er auch Nanook verwandeln sollte. Das tat er, doch sein Bruder wirkte so verstört und weltfremd, dass er sich schon keine Hoffnungen mehr machte, dass sie diesen Ort allzu bald verlassen konnten. Doch er irrte sich. »Nanook, mein kleiner Eisbär, kannst du Lugh Akhtar helfen, Kenai hinauszutragen? Damit wir bald nach Hause kommen«, bat sie ihn lächelnd und der verstörte junge Mann reagierte. Erst schaute er sie verständnislos an, dann blickte er auf Kenai hinab und nickte schließlich. Er stand auf und nahm den schwarzen Wolf bei der Hüfte, während Lugh Akhtar hinter den Vorderpfoten anpackte. Sie hoben ihn an und schleppten ihn einige Meter weit, doch Kenai war wirklich nicht leicht, sodass sie ihn bald wieder absetzen mussten. »Das Problem ist die Haltung, wenn ihr aufrecht laufen könntet, wäre es weniger anstrengend«, bemerkte Schatten. »Stell dir vor, darauf bin ich auch schon gekommen«, knurrte Lugh Akhtar schlecht gelaunt. »Oh, entschuldige. Eine schlechte Angewohnheit, wenn ich ein Problem habe, dann fang ich an, laut darüber nachzudenken. Ich spreche das Problem laut aus und geh dann verschiedene Möglichkeiten für eine Lösung durch. Das wird oft missverstanden, die meisten denken, das ich glaube, sie hätten das Problem nicht erkannt, wie du eben auch.« Das Mädchen lächelte entschuldigend. Lugh Akhtar tat sofort wieder leid, das er sie angefaucht hatte, aber er wollte so schnell wie möglich von hier fort, deswegen verzichtete er auf eine Entschuldigung. »Hast du den eine Lösung gefunden?«, fragte er stattdessen. »Nein. Wir brauchen… einen Stock, einen Ast oder so etwas. Und Seile. Haben wir nicht. Oder wir müssen…« Sie stöhnte laut auf und haute sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Manchmal bin ich auch zu dämlich. Verwandle ihn in etwas Kleines. Ein Kaninchen zum Beispiel, oder eine Katze. Dann ist er leichter, dann können wir ihn tragen.« »Eine zweite Tierart ist schwer«, gab Lugh Akhtar zu bedenken. »Vertrau mir, es wird funktionieren.« Der junge Zauberer zögerte, seufzte dann. Jetzt machte es ihn nervös, dass alles, was Schatten voraussagte, auch eintrat. Einerseits hatte es etwas beruhigendes, es schien, als könnte ihnen kein Leid zustoßen, ohne das sie es wollte, zugleich verlieh ihr das aber auch eine unglaubliche Macht, die er ihr nicht zusprechen wollte. Dennoch tat er schließlich, was sie wollte. Er dachte kurz über die Katze nach, doch als er sich erinnerte, wie sein Cousin zu seiner Narbe gekommen war, lächelte er nur sanft und entschied sich für das Kaninchen. Auch das würde Kenai nicht gefallen, aber besser als die Katze war es allemal. Und es ließ sich leichter tragen. So lag der ehemalige Söldner bald als Kaninchen auf dem Boden und Schatten hob ihn auf. Behutsam bettete sie ihn auf ihrer Armbeuge und flüsterte ihm leise etwas zu, dann deutete sie den beiden jungen Männer, das es Zeit war zu gehen. Gemeinsam liefen sie los. Zurück durch die Höhlen, zurück durch die Ebene, bis sie wieder beim Wald waren. Kenai indes schlief in Schattens Armen, die ihn mit einem zufriedenen Lächeln streichelte. Am Waldrand wartete derweil Skadi. Sie spannte sich sichtbar, als sie Schatten erkannte, sie bewegte sich nicht mehr, bis sie bei ihr waren. »Hallo Skadi«, lachte das Mädchen und hockte sich hin, um das schwarze Wolfsfell zu streicheln. »Chaya«, flüsterte die Wölfin und neigte ehrerbietend den Kopf. »Danke, dass du ihnen bisher geholfen hast. Am Besten gehst du jetzt zu Llew zurück, du solltest ihn nicht zu lange alleine lassen. Er wird noch gebraucht«, lächelte das Mädchen und zwinkerte der Wölfin zu. Die nickte fasziniert, stand auf und trabte in den Wald, zurück zu ihrem Lager. »Was tun wir jetzt?«, wollte Lugh Akhtar wissen. Er wäre gerne mit Skadi gegangen und hätte in ihrer Höhle gelebt, bis es Kenai wieder besser ging, aber er wagte nicht zu widersprechen. »Jetzt triffst du Sedna. Oder doch Kenai…« Das Mädchen wirkte unschlüssig. »Sedna? Und… Kenai?« »Dein Onkel, der Wind. Ja, ich denke, das geht schneller. Sedna ist die Schöpferin der Meeressäuger, sie könnte uns auf einem Wal oder so etwas nach Hause bringen, aber der Wind geht schneller«, erklärte sie lächelnd. Bevor Lugh Akhtar darauf noch etwas sagen konnte, wandte sie sich. »Hugin! Munin!« »Wenn ich der Winter bin, muss ich sie alle kennen?«, fragte der Zauberer leise. »Ja. Aber du wirst sie alle nach und nach kennen lernen, ich werde sie dir vorstellen. Glaub mir, die Meisten wirst du mögen, mit anderen allerdings, wie den beiden Raben, solltest du dich nie zu sehr einlassen«, erklärte sie. »Warum?« »Weil sie auf ihrer eigenen Seite stehe. Immer. Sie sind niemanden treu, außer sich selbst«, erklärte Nanook. Daraufhin war der Zauberer ihn einen irritierten Blick zu. Er vergaß nur allzuschnell, dass der junge Mann bei ihnen war. Er war einfach zu still. »Ganz genau«, bestätigte Schatten und schaute Lugh Akhtar ernst an. »Sie haben Brand die Sinne vernebelt.« »Sie sind für Hopes Sturz verantwortlich?«, rief er aus. »Ja. Deswegen gib immer acht, wenn du mit ihnen zu tun hast«, sagte sie eindringlich. In dem Moment flatterten zwei Raben zu ihnen hinab, einer in weiß, einer in schwarz. »Chaya, du bist wieder zurück?«, fragte der Schwarze. »Ja. Ich habe einen Auftrag für euch«, erklärte sie kalt. »Auftrag?« »Ja. Fliegt zum Herbst und bittet ihn darum, uns den Wind zu schicken, wir brauchen ihn hier. Er muss uns in die neue Welt bringen«, erklärte sie. Sogleich flatterten die beiden Vögel wortlos los. »Und jetzt?« »Jetzt warten wir«, lächelte das Mädchen. »Wir könnten uns ja ein bisschen unterhalten.« »Natürlich… gern«, nickte der junge Zauberer mit einem künstlichen Lächeln. »Dann erzähl mir, was ist dein größter Wunsch?« Erstaunt zögerte der weiße Wolf. Er hatte erwartet, dass sie ihn jetzt wieder in Worten ertränken würde, doch stattdessen setzte sie sich auf den Boden und schaute ihn aufmerksam an. Er und Nanook setzten sich ebenfalls. Dann begann er zu erzählen. Kapitel 15: Vivax Animus ------------------------ »Und du hast dann die Glasscherbe herausgezogen. Weil sie kein Blut sehen kann.« Ungläubig schüttelte Hope den Kopf. »Ganz genau«, bestätigte Lugh Akhtar. »Und danach seid ihr mit dem Wind hierher… na ja… geflogen?« »So in etwa.« Der junge Zauberer nickte und beobachtete einen Vogel, der vor dem Fenster herumhüpfte. »Und was habt ihr jetzt vor? Also wegen Nanook und wegen… Schatten?« Selbst Hope erschien es abwegig, das sie das mächtigste Wesen dieser Welt sein sollte. »Ich weiß es nicht. Ich will nach Hause, aber ich kann nicht. Erst muss ich Nanook helfen. Und ich muss… na ja, Schatten irgendwie wieder los werden.« Genervt und frustriert stand er auf und lief ungeduldig auf und ab. »Wieso? Sie ist doch ganz nett«, fand Hope. »Wenn sie mal still ist, ja. Und wenn ich verstehen würde, wovon sie eigentlich spricht. Hast du einmal versucht, ihr zuzuhören? Sie wechselt in einem einzigen Satz fünfmal das Thema, sie scheint nicht einmal Luft zu benötigen und sie erzählt von Dingen, die gar keinen Sinn ergeben. Ich… ich verstehe sie einfach nicht«, murrte er schlecht gelaunt. »Das musst du auch nicht. Meine Schwestern verstehen dich auch nicht immer, wenn du ihnen etwas erzählst. Sie wissen nicht, dass du zwischen zwei Welten lebst, und deswegen Dinge sagst und tust, die für sie keinen Sinn ergeben. Sie sehen nur dein Verhalten, das können sie jedoch nicht immer nachvollziehen. Trotzdem hassen sie dich nicht.« »Aber ich spreche doch nicht ununterbrochen davon. Und wenn ich die Macht für Veränderungen habe, dann tue ich das auch. Warum nutzt man seine Macht nicht, wenn man sie hat? Um Gutes zu tun. Damit andere nicht mehr grundlos leiden müssen«, fand der junge Zauberer. »Oft genug, das sie dich für wunderlich halten. Und selbst die Mächtigen müssen sich an Regeln halten. Wir dürfen mit unserer Macht nicht direkt töten zum Beispiel. Ich hätte es getan, hätte ich damals die Möglichkeit gehabt, lieber früher als später. Aber das hat Rex gerettet. Und mich auch, denn einen Mord hätte ich mir selbst nicht verzeihen können«, überlegte der Rotschopf. Lugh Akhtar entging keinesfalls, das er von sich noch immer Sprach, als gehörte er zum Sommer, doch er ging nicht darauf ein. »Das ist etwas anderes. In dem Fall hätte es jemanden gegeben, den du geschadet hättest, aber wem schadet sie den, wenn sie Nanook hilft? Ihm geht es besser, er muss nicht mehr leiden, aber wer soll davon einen Nachteil ziehen?« »Vielleicht weiß sie mehr als du. Könnte das nicht sein? Sie könnte Dinge wissen, die du nicht einmal erahnst. Vielleicht wird er zum Mörder, wenn er nicht mehr die Schmerzen seiner Opfer spürt, vielleicht macht es ihm spaß, andere zu Quälen. Kannst du das wissen?« »Willst du wirklich sagen, das du Nanook einen Mord zutraust?«, wollte der Zauberer mit gerunzelter Stirn wissen und blieb stehen. »Nein. Nicht er. Aber wenn es um jemand anderen ginge, wäre das doch durchaus eine Option, oder? Wer weiß, was mit Nanook geschehen wird, du kannst es nicht wissen und ich auch nicht. Sie schon. Und deswegen denke ich, dass du keine vorschnellen Schlüsse ziehen solltest. Sie könnte immer mehr wissen als du.« »Und warum sagt sie es nicht einfach?« »Vielleicht darf sie es nicht. Manchmal wird einem das Verboten und man kann sich nicht über jedes Verbot hinweg setzen.« »Und das weißt du alles woher…?«, erkundigte sich der Zauberer ein wenig bissig. »Ich habe beim Sommer eine Menge gelernt. Dort wurden mir auch Informationen anvertraut, die ich nicht verraten darf, auch jetzt nicht. Vielleicht ist es bei Schatten ähnlich und sie darf es nicht, auch wenn sie es sehr gerne tun würde. Außerdem… ich habe das Gefühl, das es eine Menge Dinge gibt, die sie sagt, ohne es direkt auszusprechen. Vielleicht solltest du einmal auf die Worte lauschen, die sie nicht ausspricht.« »Das ändert aber dennoch nichts daran, das ich sie nicht mag.« Der Zauberer seufzte und schaute nachdenklich das Fenster an. »Ich denke, ich werde einen Spaziergang durch Altena machen. Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Und um herauszufinden, was genau ich jetzt tun soll.« »Macht das. Und nimm dein Schwesterherz mit, die muss auch mal wieder etwas rauskommen. Seit Lifs Geburt war sie nicht mehr draußen, das tut ihr definitiv nicht gut«, fand der Rotschopf. »Ihrer Figur?«, erkundigte sich Lugh Akhtar mit zuckenden Lippen. »Nein, ihrer Laune. Sie geht wegen allem an die Decke und ich habe das Gefühl, das Lani ein bisschen angst vor ihr hat«, seufzte Hope. »In dem Fall ist es mir eine Ehre, sie mit mir zu ziehen«, meinte der junge Zauberer ernst und verließ mit ausdruckslosem Gesicht den Raum, innerlich allerdings lächelte er. Er stieg die schmale Treppe des kleinen Reihenhauses hinauf, das Cinder und Hope in Altena bewohnten, und fand seine kleine Schwester im Schlafzimmer, wo sie gedankenverloren ihr Neugeborenes betrachtete. »Cinder, was tust du hier so allein?«, fragte er leise, um sie nicht zu erschrecken. »Ich denke nach«, antwortete sie seufzend. »Hör auf zu grübeln, das steht dir nicht«, fand er. »Komm lieber mit mir in die Stadt. Ich möchte nicht alleine gehen, aber Nanook und Schatten ertrage ich im Moment nicht und wo Kenai steckt, weiß ich nicht.« Einen Augenblick lang zögerte seine Schwester, dann nickte sie und stand auf. Gemeinsam, aber auch schweigend verließen sie das Haus und schlenderten in Richtung Zauberturm. »Wohin willst du gehen?«, fragte Cinder nach einer Weile. »Ich weiß nicht, irgendwohin, wo Hektik und Lärm ist.« »In der alten Welt ist viel passiert, oder?« Cinder schaute auf den Boden während sie lief. »Ja, auch. Hope hat erzählt, das du seit Lifs Geburt nicht mehr draußen gewesen bist. Wieso?« »Ich weiß nicht… ich will irgendwie nicht. Ich habe das Gefühl, das etwas Schlimmes passiert, wenn ich Lani und Lif alleine lasse. Ich weiß auch nicht, warum ich jetzt mit dir gehe.« »Vielleicht, weil du mir vertraust? Vertraust du mir?« »Natürlich, welche Frage«, schnaubte sie verächtlich. »So selbstverständlich ist das nicht. Manchmal ist vertrauen schwer, obwohl man kein Grund für Misstrauen hat«, erklärte er nachdenklich. »Ich glaube eher, dass ich Misstrauen lernen sollte«, fand sie und Lugh Akhtar wusste ganz genau, was sie meinte. »Nein. Bleib so, wie du bist, das steht dir am besten.« Cinder lächelte dankbar, dann schwiegen sie wieder, aber es war kein peinliches Schweigen. Es war im gegenseitigen Einvernehmen, einfach, weil sie gerade keine Worte brauchten. »Ich glaube, Hope ist meiner Leid.« »Was? Wie kommst du denn darauf?«, überrascht blieb Lugh Akhtar stehen. »Er hat bestimmt geglaubt, mit mir könnte er Nanami vergessen, aber er hat eingesehen, dass es nicht geht«, sprach sie einfach weiter, schien gar nicht bemerkt zu haben, dass er stehen geblieben war. Mit ein paar schnellen Schritten war er wieder an ihrer Seite und schaute sie aus großen Augen an. »Hat er das etwa gesagt?«, fragte er entsetzt. »Nein. Er ist auch nicht anders als sonst, aber ich… habe das Gefühl, das er mich anders ansieht. Er kümmert sich auch nicht mehr so sehr um Lani, als würde sie ihn zu sehr an Chiyo erinnern«, antwortete sie seufzend. Lugh Akhtar schaute sie im Laufen erstaunt von der Seite her an. Er wusste nicht, ob er laut lachen sollte, oder ob das völlig fehl am Platz war und sie nur verletzen würde. »Cinder… das er dich anders ansieht, liegt nicht an Nanami«, begann er vorsichtig. »Hat er eine andere?«, wollte sie sogleich bissig wissen und blitzte ihn gefährlich an. »Nein!«, versicherte er sogleich. »Sondern?« »Das… ist einfach so. Ich denke, es liegt am Vaterstolz. Frisch gebackene Väter sehen ihre Frauen immer irgendwie anders an, als wenn sie plötzlich Dinge in ihnen sehen, die sie vorher nicht wahrgenommen haben.« Darauf schwieg Cinder eine Weile und schien darüber nachzudenken, bis sie schließlich nickte. »Gut, okay, von mir aus. Und was ist mit Lani?« »Er hat jetzt auch einen Sohn, da kann er seine ganze Liebe nicht mehr nur seiner Tochter angedeihen lassen. Auch wenn Lif nicht viel tut als weinen, trinken und schlafen, so ist er dennoch Hopes Sohn und verdient eben genauso viel Aufmerksamkeit, wie Leilani.« Wieder schwieg Cinder misstrauisch, dann jedoch nickte sie. »Das macht Sinn.« »Und deine Idee, dass er dich nicht mehr lieben könnte, definitiv nicht.« »Es wäre möglich gewesen.« Darauf lächelte der junge Zauberer nur. »Nun, nächstes Thema. Jetzt erzählst du mir, was dich beschäftigt. »Nicht viel«, antwortete Lugh Akhtar. »Ich will einfach nur nach Hause, aber vorher muss ich noch ein paar Probleme lösen.« »Probleme welcher Art?« »Ich muss Nanooks Seelenstück finden und ich weiß nicht, wo ich suchen soll. Und ich muss den Winter davon überzeugen, dass ich eine ganz schlechte Wahl bin, ich will nämlich nicht.« Erst schwieg Cinder nachdenklich, dann wollte sie etwas sagen, doch ihre Worte bekam Lugh Akhtar nicht mit, denn er blieb wie vom Donner gerührt stehen und starrte in die Menge. »Was ist?«, fragte seine Schwester verwundert und neugierig und versuchte auszumachen, was ihn so erschrocken haben könnte, doch sie konnte nichts entdecken. »Das ist doch…«, murmelte Lugh Akhtar leise, dann wandte er sich abrupt ab und ging mit großen Schritten wieder den Weg zurück. Cinder schaute noch einen Moment verwirrt in die Menge, dann folgte sie ihm. »Was ist los?«, wollte sie wissen. »Nichts«, antwortete er barsch. »Fjodor! Bleib stehen verdammt!«, rief da eine Stimme hinter ihnen. Lugh Akhtar blieb stehen und schloss die Augen, während Cinder immer verwirrter aussah. Ein junger Mann, so unglaublich auffällig, das sie sich wirklich fragte, wie sie ihn je hatte übersehen können, kam zu ihnen gelaufen. Er riss Lugh Akhtar grob herum und zwang ihn, das Gesicht zu heben, sodass der Fremde es genau betrachten konnte. »Weiße Haare helfen dir nicht, ich erkenn dich trotzdem«, schnauzte er den jungen Zauberer an. »Ich weiß, ich dachte auch eher, dass ich in der Menge unentdeckt bleiben könnte«, lächelte der und öffnete die Augen wieder. »Was hast du gemacht, wie siehst du überhaupt aus? Wie so ein richtig feiner Herr, passt gar nicht zu dir. Und wo verdammt noch mal warst du all die Jahre? Und deine Haare… weiß wie ein alter Mann und deine Augen, wie hast du das nur wieder geschafft?« Der Fremde seufzte theatralisch und ließ ihn los. »Da lässt man dich für zehn Minuten aus den Augen und was passiert? Erst jagst du eine ganze Stadt in die Luft und dann verschwindest du einfach ohne ein Wort zu sagen!« »Ich bin nicht einfach verschwunden, ich habe meine Lehrzeit beendet und hab…«, begann der Zauberer, doch sein Gegenüber ließ ihn gar nicht erst aussprechen. »Natürlich, deswegen habe ich auch seit bestimmt fünf Jahren nichts mehr von dir gehört! Du hast Altena verlassen und dann? Den Rest weiß ich nur aus Erzählungen! Und zwar gewiss nicht deine! Hinter der Mauer sollst du gewesen sein! Und eine Schülerin hast du auch, einen ganzen Krieg hast du gestoppt! Wann hast du gedacht, dass du mir das einmal erzählen willst? Oder soll ich jetzt dein komplettes Leben aus dritter Hand erfahren? Was habe ich nur getan, das du mir so das Herz brichst?« In einem neuerlichen Anfall theatralischer Tragik ließ sich der Unbekannte zu Boden sinken, nur um im nächsten Augenblick wieder mit funkelnden Augen zu stehen und Lugh Akhtar anzublitzen. »Es heißt, du hättest Nikolais Platz einnehmen sollen, aber du hast abgelehnt. Und im Schloss von Lanta gehst du ein und aus, wie es dir beliebt. Und Wynter soll auch dein Werk gewesen sein. Oh, und das Kaiserpaar von Navarre soll mit dir befreundet sein. Wer ist sie überhaupt, deine Frau von der erzählt wird?« Mit einer ausladenden Geste deutete er auf Cinder, die leise kicherte, bei dem ungewöhnlichen Auftritt, der sich ihr hier bot. »Bin ich dir denn so gleich, dass du mir nichts von alledem selbst erzählen wolltest? Ja, ich verstehe, wenn ich unerwünscht bin, ich sollte gehen.« Sogleich wandte er sich ab und ging, während Lugh Akhtar ebenfalls ernsthaft das Problem zu haben schien, nicht sogleich laut loszulachen. »Wer ist das…?«, erkundigte sich Cinder gut gelaunt. »Vivamus, warte!«, rief Lugh Akhtar ihm lachend nach und folgte durch das dichte Gedränge. Er hielt den Arm des Fremden fest und zog ihn zurück. »Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich vermisst habe!« »Was meinst du, warum ich dich schon seit Jahren suche. Aber du warst mir immer zumindest einen Schritt voraus«, antwortete Vivamus und umarmte Lugh Akhtar fest, während Cinder dazu stieß, die immer begeisterter von dem Neuling war. Der Zauberer derweil löste sich sacht von seinem Gegenüber und wandte sich ihr zu. »Wenn ich euch einmal bekannt machen darf. Das hier, ist meine kleine Schwester Cinder. Sie ist auch meine Schülerin, aber zu allererst einmal ist sie…« Vivamus schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, Lugh Akhtar nicht ausreden lassen zu wollen, denn er unterbrach ihn abermals. »Hallo Cinder. Ich bin Vivax Animus, Fjodors großer Bruder«, stellte er sich vor und streckte ihr die Hand hin. »Großer… Bruder?« Die junge Frau schaute mit leuchtenden Augen zu Lugh Akhtar. »Ja. Der Sohn von Kanoa und Channa, er ist nicht wie wir«, antwortete der lächelnd. »Wie ihr?«, erkundigte sich Vivamus misstrauisch. »Ja. Ich erklär es dir, aber nicht jetzt«, antwortete der Zauberer. »Jetzt bin ich erst einmal froh, dass du da bist. Lasst uns zurückgehen, ich glaube, ich muss euch beiden ein bisschen etwas erklären«, lachte Lugh Akhtar. »Ja, die Idee finde ich gut«, nickte Vivamus. Gemeinsam kehrten sie in Richtung des Hauses, während Lugh Akhtar schon einmal ganz vorne begann. An dem Tag, als er sein Schicksal besiegelte. Kapitel 16: »Wir sind Brüder.« ------------------------------ »Nun, wenigstens versteh ich jetzt, warum Mama immer sagte, dass du anders bist. Und warum du immer so gut warst, ohne je etwas dafür zu tun«, seufzte Vivamus und schaute Lugh Akhtar wohlwollend und gut gelaunt an. »Als wenn du schlecht wärst«, lachte der junge Zauberer. »Nein, das nicht, aber das, was ich dir die zwei Jahre voraus hatte, hast du in nicht einmal zwei Monaten aufgeholt und das will schon etwas heißen«, erklärte Vivamus. »Warum stellst du dich eigentlich als Vivax Animus vor, wenn Lugh Akhtar dich immer Vivamus nennt?«, erkundigte sich Cinder neugierig und schaute ihren Halbbruder neugierig an. »Das konnte er als kleines Kind nicht aussprechen und irgendwann hat er Vivamus daraus gemacht. Allerdings ist er der Einzige, der mich so nennen darf, bei allen anderen besteh ich auf Vivax«, erklärte Vivamus mit einem Lächeln. »Und jetzt erzählst du, was ist dir in den letzten Jahren widerfahren?«, erkundigte sich Lugh Akhtar. »Oh, das ist schnell erzählt. Nachdem du Altena zerstört hast, hab ich angenommen, dass du nach Hause gehen würdest, wie du immer wolltest, also bin ich dorthin gegangen. Dort warst du nicht, also bin ich in den Westen gereist, zu Mama und Tuwa in der Hoffnung, das du da wärst, aber… na ja, ich fürchte, dort sind wir nicht mehr wirklich erwünscht.« Bitterkeit schlich sich in Vivamus’ Blick und Lugh Akhtar verstand sofort, was er meinte. Er wagte es nicht zu erwähnen, dass er selbst mit offenen Armen empfangen worden war, denn dieses Glück schien seinem Bruder nicht vergönnt, obwohl Channa ihrem ältesten Sohn eigentlich näher stehen müsste, als ihm. »Was hast du dann getan?« »Ich bin nach Altena zurückgekehrt, um dort zu erfahren, dass du im Norden als Zauberer deine Dienste tust. Ich bin dorthin gereist, aber ich muss dich verpasst haben. Danach hörte ich lange nichts von dir, ich habe angenommen, dass du dem Mörder, der damals sein Unwesen trieb, zum Opfer gefallen bist. Ich bin nach Altena zurückgegangen und hab hier eine ganze Weile gelebt. Dann war die Versammlung, wo du verkündet hast, den Winter zu suchen. Ich habe gewartet, ob du zurückkehren würdest und dann ist der Krieg ausgebrochen. Als es immer schlimmer wurde, bin ich mit Rena nach Navarre geflohen. Wir haben dort eine Weile gelebt, sind aber schließlich doch wieder hierher zurückgekehrt«, erzählte er. »Rena?«, erstaunt schaute Lugh Akhtar seinen Bruder an. »Ja. Sie ist meine Verlobte, so heißt sie« bestätigte Vivamus. »Ich kenne auch eine Rena, ihr Vater heißt nicht zufällig Ikaika?«, erkundigte sich der junge Zauberer vorsichtig. »Das weiß ich nicht, ich habe ihn nicht getroffen. Aber ich weiß, das er ein Verbannter ist, sein Schülername ist Blutfeder.« »Blutfeder… es würde auf jeden Fall zu ihm passen und ein Verbannter ist er auch. Wusstest du, dass deine Verlobte königliches Blut in sich trägt? Ikaika ist der Halbbruder des alten Königs von Lanta, der Onkel von König Fjodor. Und wenn wir über dieselbe Rena sprechen, dann ist sie die Cousine des Königs von Lanta«, erklärte der junge Zauberer. Vivamus dachte einen Moment sichtlich über die Möglichkeit nach, zuckte er mit den Schultern. »Ist egal. Ich hab ihr nicht den Antrag gemacht, weil ich ins Königshaus einheiraten will, sondern weil sie sonst wohl alleine bleiben müsste«, erklärte er. »Inwiefern das?« »Ihre Eltern sind nicht verheiratet und du weißt genauso gut wie ich, wie schwer es uneheliche Kinder haben. Und unsere Tochter hat ihr da gewiss auch nicht weitergeholfen. Deswegen sind wir verlobt, im Sommer wollen wir heiraten, dann sind wir die nervenden Blicke hoffentlich los«, fand Vivamus schulterzuckend. »Das hört sich nicht gerade so an, als wenn du sie lieben würdest«, bemerkte Cinder mit einer gehobenen Augenbraue und einem warnendem Blick. »Liebe wird überbewertet«, antwortete Vivamus dennoch mit einem gönnerhaften Lächeln. Darauf schauten sich Lugh Akhtar und Cinder kurz an. Er wusste genau, was sie dachte und er wusste, das Vivamus gerade wieder einmal dabei war, sich in Schwierigkeiten zu reden, doch Cinder konnte nur den Mund öffnen, da klackerte es ans Fenster. Verwundert wandten sie sich um und entdeckten eine Taube, die auf dem Fenstersims saß und mit dem Schnabel an das Glas klackerte. Hope, der bisher sehr still geblieben war, schritt wortlos zum Fenster und öffnete es. Er nahm die Taube und löste gekonnt den Zettel von ihrem Bein. Er las ihn und Lugh Akhtar wusste sofort, das etwas geschehen war. Das verriet ihm Hopes Blick zu genüge. Er wusste aber auch, dass er es gar nicht wirklich wissen wollte. Als sich Hope schließlich mit einem traurigen Blick an ihn wandte, da schüttelte er wortlos den Kopf. »Gleich was es ist, ich will es nicht wissen«, sagte er entschieden. »Das wirst du wissen wollen. Lugh, es…«, begann der Rotschopf, doch Lugh Akhtar schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich will es nicht wissen. Ich weiß, dass es etwas Schlechtes ist, das sehe ich dir an, und deswegen will ich es nicht wissen. Alles, was Schlecht ist, will ich nicht mehr hören.« »Es ist aber wichtig, das du es«, sprach Hope unbeirrt weiter, doch der junge Zauberer wollte in diesem Moment nichts auf der Welt weniger. »Nein!«, fauchte er entschieden und schüttelte noch einmal klar den Kopf. »Ich will nicht. Ich will bloß nach Hause. Ich will nichts mehr mit den Jahreszeiten zu tun haben, ich will nichts mit der alten Welt zu tun haben, ich wünschte, ich hätte Nanook niemals getroffen. Und ich will auch das jetzt nicht, aber diesmal kann ich vorher nein sagen. Also nein.« Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte er sich um und ging. Er verließ das Haus. Ruhig, aber bestimmt, während seine Gedanken rasten. Er ging schnellen Schrittes durch die Straßen Altenas, trat schließlich auf den weiten Platz, der sich vor dem Turm der Zauberer befand. Er überlegte, ob er zurückgehen sollte, ging dann jedoch zum Brunnen und setzte sich auf den Rand. Das hatte er auch früher schon des Öfteren getan. Er schaute ins Wasser und dachte nach. Er versuchte nicht an das zu denken, was wohl auf dem Zettel gestanden hatte, doch er konnte nicht anders, er malte es sich in den dunkelsten aller Farben bis ins kleine Detail immer weiter aus. Nach einer Weile, die ihm wie Stunden vorkamen, spürte er, wie sich jemand neben ihn setzte und als er schließlich aufblickte, sah er Vivamus, der ihn traurig anlächelte. »Du hast dich wirklich kein Stück verändert, kleiner Bruder«, bemerkte er. »Hätte ich es denn tun sollen?«, fragte er abweisend. »Nein. Ich mag dich so, wie du bist, auch wenn du immer dafür verantwortlich bist, dass meine Erfolge geschmälert werden. Aber du bist mein Bruder und deswegen habe ich dich lieb«, fand Vivamus und plätscherte mit der Hand ein wenig im Wasser. Es war Sommer, die Kühle tat ihm sichtlich gut. »Ich dachte, Liebe wird überbewertet«, bemerkte der junge Zauberer kalt. »Liebe zu einem Mädchen, ja. Die Liebe zur Familie ist etwas anderes. Seine Familie kann man sich nicht aussuchen, man muss sie nehmen, wie sie sind. Und man hat sie lieb, egal was sie tun. Immer.« Lugh Akhtar antwortete darauf nicht. Er wusste nicht genau, ob das nun eine handfeste Beleidigung war, oder nicht. »Du bist schon immer vor Problemen lieber davon gelaufen, obwohl du das gar nicht müsstest. Immerhin kannst du selbst Nikolai in Angst und Schrecken versetzen.« »Ich habe kein Problem. Ich will nur nicht noch eine schlechte Nachricht hören, davon hatte ich schon genug. Ich will wieder zurück, ich will zu Nea«, flüsterte er. »Sie ist dir sehr, sehr wichtig, nicht wahr?«, fragte Vivamus leise. »Natürlich. Ich hätte für sie mein Leben gegeben, hätte man es in der anderen Welt haben wollen.« »Wäre aber schade um dich gewesen. Nun, egal. Gut, was beschäftigt dich also genau? Du willst nicht der Winter werden und du willst Nanook helfen, du weißt aber in beiden Fällen nicht weiter. Und du willst nach Hause, hab ich was vergessen?«, »Nein.« »Gut. Dann zäumen wir doch mal das Pferd von hinten auf. Wenn du nach Hause willst, warum gehst du dann nicht? Was hindert dich daran?« Lugh Akhtar blinzelte verwirrt. »Mich hindert…«, begann er, doch wollte ihm kein Grund einfallen. »Ob du hier herumsitzt und dir selbst leid tust, oder ob du nach Hause gehst, dich an deiner Familie erfreust und dort überlegst, was du weiter tun willst. Der Unterschied ist doch bloß, das es dir dort besser geht«, meinte Vivamus schulterzuckend. »Unter anderem deswegen hab ich dich so vermisst. Du machst mein Leben leicht, weil du die Hindernisse, die mir unüberwindbar erscheinen, einfach in alle vier Winde verwehen lässt«, lachte der junge Zauberer. »So gefällst du mir schon viel besser, Fjodor. Also, nächstes Problem, Nanook. Hast du denn schon mal Schatten um einen Hinweis gebeten? Nach allem, was du mir erzählt hast, denke ich, dass sie dir gewiss helfen würde. Sie mag dir vielleicht nicht alles sagen können, aber auch ein kleiner Hinweis kann manchmal helfen.« Darauf sagte Lugh Akhtar nichts, denn er wollte erst sehen, was es für ein Hinweis sein würde, der Schatten ihn gab. Er glaubte nicht, dass er wirklich brauchbar war. »Und der Winter?« »Geh zu ihr und besprich das mit ihr persönlich. Vielleicht findet ihr gemeinsam einen Weg.« »Ach Vivamus. Du machst alles so leicht«, seufzte der junge Zauberer. »Ich bin einfach gut darin, Lösungen zu finden«, lachte der und schaute auf. »Gut, dann sollte ich Schatten suchen gehen und schauen, was sie mir erzählen wird.« Lugh Akhtar wollte schon aufstehen, doch sein großer Bruder hielt ihn zurück. »Warte. Erst gibt es noch etwas anderes, und es ist wichtig das du es weißt.« Vivamus wirkte gar nicht mehr fröhlich. »Es geht bestimmt um Nea, oder? Ist ihr etwas passiert?« »Nein, es geht um König Fjodor.« »Um Tariq?« Damit hatte der junge Zauberer nun nicht gerechnet. »Ja. Ihr seid befreundet hab ich gehört?« »Ja, seit Jahren schon. Er hat mir immer die Zeit versüßt, die ich in Lanta verbringen musste. Was ist mit ihm, ist er krank?« Besorgnis schwang in seiner Stimme. Vivamus stand auf ud kletterte auf den breiten Brunnenrand. Er setzte sich hinter seinen kleinen Bruder und nahm ihn fest in den Arm, bevor er sagte, was zu sagen war. »Nein, aber dennoch geht es ihm jetzt gewiss nicht gut. Seine Frau, die Königin von Lanta, sie ist tot.« »Maya ist tot?« Fast gewaltsam machte sich der junge Zauberer aus dem Griff seines Bruders los, sprang auf und starrte ihn entsetzt an. »Ja. Sie ist im Kindbett gestorben, keine Stunde nachdem sie der kleinen Prinzessin das Leben schenkte.« »Sie ist…« Lugh Akhtar konnte es nicht glauben. Wie konnte die Welt nur so grausam sein? Er erinnerte sich noch gut daran, wie er Maya das allererste Mal traf. Er mochte sie, sehr gern sogar. Und nun sollte sie nicht mehr sein? Vivamus zog ihn wieder auf den Brunnenrand zurück und nahm ihn abermals tröstend in seine Arme. Eine Weile saßen sie still und schweigend beieinander, dann stand der junge Zauberer wieder auf. »Gut. Dann ist der Weg jetzt klar. Erst reisen wir nach Lanta, zu Tariq, und wenn es ihm besser geht, dann geht es weiter, zu Nea«, beschloss er. »Wenn du willst, begleite ich dich«, bot sein Bruder an. »Willst du nicht bei Rena und deiner Tochter bleiben?« »Für eine Weile kommen sie gut ohne mich zurecht. Familie bedeutet eben nicht nur Frau und Kind«, antwortete er, lächelte und erhob sich ebenfalls.. »In dem Fall freu ich mich, das du uns begleiten wirst«, antwortete Lugh Akhtar nach einem kurzen Zögern. Abermals zog Vivamus seinen kleinen Bruder in seine Arme, dann hob er seinen Kopf an und gab ihm einen Kuss. Auf dem Platz im Herzen Altena, Umgeben von hunderten Menschen. Als sie sich wieder voneinander lösten, bemerkte der junge Zauberer Cinder, die verwirrt ein paar Schritte entfernt stand. »Ich dachte, es wäre nicht richtig, wenn ein Mann einen Mann küsst. Das gehört sich nicht sagen sie immer«, erklärte sie mit gerunzelter Stirn. »Es ist hier nur nicht üblich«, erklärte Lugh Akhtar und lächelte traurig. Als Cinder dieses Lächeln sah, veränderte sich etwas in ihrem Blick. »Hat Vivax es dir gesagt?«, fragte sie. »Ja. Ich werde zu Tariq gehen und schauen, was ich tun kann«, bestätigte der junge Zauberer. »Das ist eine gute Idee«, fand Hope, der sich von anderer Seite durch die Menschen drängte. Er ging zu Cinder, umarmte sie und legte sein Kinn auf ihren Kopf ab. »Warum ist es in Altena nicht üblich, das Männer andere Männer küssen, in anderen Gebieten aber scheinbar schon?«, wollte die von ihrem Ehemann wissen. »Wie kommst du denn jetzt auf solch eine Frage?«, wollte der erstaunt wissen und schaute sie fragend an. »Weil Vivax und Lugh Akhtar sich eben geküsst haben und Lugh sagte, das es hier nur nicht üblich ist. Und das wiederum bedeutet ja, das es das woanders durchaus ist.« »Ihr habt was?« Es war deutliche Überraschung in Hopes Blick, aber keine Abneigung, wie der junge Zauberer eigentlich erwartet hatte. »Jetzt sag aber nicht, das du Nea für ihn verlässt!« Darauf musste sich Lugh Akhtar stark zusammennehmen, um nicht laut herauszuprusten. Ein breites Grinsen konnte er jedoch nicht vermeiden. »Er ist mein Bruder, Hope. Und es ist nicht so, wie es aussieht.« »Die Südländer haben wirklich keine Ahnung von nordischen Bräuchen, oder? Sonst würden sie da nicht so viel hineininterpretieren«, fand Vivamus, zeigte sich dabei eindeutig amüsiert. »Ein nordischer Brauch? Der wäre mir neu.« Hope wirkte neugierig, nicht ablehnend. Er war damit aufgewachsen, das diese Geste einem Paar vorbehalten war, das er sich so offen, ja sogar interessiert und in keinster Weise ablehnend zeigte, wunderte Lugh Akhtar. Er hatte bestenfalls Neutralität erwartet. Es dauerte einen Moment bis er begriff, das Hope nur auf seine Erklärung neugierig war und erst dann urteilen würde. Er lächelte sacht, dann erklärte er. »Das war ein Bruderkuss. So nennt man es in Wynter. Es ist dort ein Symbol für Zusammengehörigkeit, nicht zwangsläufig für Liebe«, erklärte er. »Zusammengehörigkeit? Inwiefern?« »Du küsst die, die dir am Nächsten stehen. Das kann deine Familie sein, aber auch gute Freunde. Man nennt es Bruderkuss, weil man damit deutlich macht, dass man zusammengehört. Es ist ein Beweis dafür, dass dir jemand sehr, sehr wichtig ist. Ein Bruder, vielleicht nicht vom selben Blut, aber ein Bruder im Geiste sehr wohl. Ich weiß, das man das in Altena nicht tut, aber in Wynter ist es nichts wirklich ungewöhnliches.« »In deiner Heimat also ein Brauch für einen aufrichtigen Freundschaftsbeweis? Und wenn du nicht wüsstest, dass man es nicht überall versteht, dass es eben auch nicht jeder versteht, dann würdest du uns auch küssen? Also Cinder und mich?« »Ja. Aber da ich es eben weiß, mach ich es anders. So nenne ich euch Freunde«, lächelte Lugh Akhtar. »Gut. Ich finde die Geste an und für sich ja ganz niedlich, aber bin schon immer der Ansicht gewesen, dass man nicht jedes Ritual vollziehen muss. Tun wir doch also weiterhin so, als hättest du es uns nicht erklärt. Dann würden wir es nicht verstehen und du würdest es nicht tun. Gute Idee? Ich find auch«, lächelte Hope. »Also ich würde gerne einmal geküsst werden«, warf Cinder da ein. Sie bemerkte den irritierten Blick ihres Mannes sehr wohl, doch sie lächelte nur beruhigend. »Okay, wenn du willst…«, meint er, hob ihren Kopf an und gab ihr einen Kuss. Darauf lachte sie. »Ich meinte jetzt zwar von Lugh Akhtar, aber okay, dann eben von dir«, erklärte sie kichernd und kuschelte sich an ihn, während Hope zufrieden lächelte. »Ich möchte auch noch mal«, bemerkte da Vivamus und schob traurig die Unterlippe vor. Er warf Lugh Akhtar einen schnellen Blick zu und bevor der wusste wie ihm geschah, lag er auch schon lachend in den Armen seines Bruders. »Ein Liebesbeweis am Tag reicht mir«, erklärte er grinsend und legte einen Finger auf Vivamus’ Lippen. Im ersten Moment wirkte sein großer Bruder fast enttäuscht, dann jedoch entdeckte der junge Zauberer das abenteuerlustige Glitzern in den Augen seines Gegenübers, das ihm überdeutlich zeigte, dass die Sache noch nicht ausgestanden und vorbei war. »Gut, von mir aus«, meinte Vivamus und schlenderte in Richtung von Hope und Cinder. »Dann suche ich mir eben ein anderes Opfer…« »Ich kenne dich, du warst früher ab und zu bei uns zu Hause um mit Cloud und Sky zu üben. Ich weiß, dass du etwas vorhast«, bemerkte Hope dazu misstrauisch. Er ahnte, das er das Opfer sein würde, als Vivamus dann jedoch wirklich nach ihm griff, was er dennoch zu langsam. Er wurde zu seinem Gegenüber gezogen und bevor er es sich versah, wurde ihm auch schon ein Kuss auf die Lippen gedrückt. Im ersten Moment wehrte er sich nicht einmal. Dann war es auch schon vorbei. »So, ich geh jetzt nach hause. Ich muss Rena irgendwie erklären, das sie für eine Weile auf sich gestellt ist«, erklärte Vivamus gut gelaunt und trottete von dannen. »Ich find es ja wirklich nett, das er mir so nachhaltig beweisen muss, wie lieb er mich hat, aber nötig gewesen wäre es nicht«, kommentierte Hope mit kraus gezogener Nase und schaute ihm missmutig nach. Lugh Akhtar antwortete darauf nicht. Er lächelte nur, dann war auch er mit einem schnellen Schritt bei Hope und drückte ihm den zweiten Kuss auf den Mund. Bevor der Rotschopf auch nur wirklich verstanden hatte was geschehen war, was der junge Zauberer auch schon außer Reichweite. »Oh Lugh, ich hasse dich!«, fauchte Hope darauf und versuchte nach ihm zu greifen. Lugh Akhtar jedoch wich geschickt aus. »Ist doch alles halb so wild, mein Fuchs, irgendwie sah es sogar ganz niedlich aus. Fast wie bei einem Liebespaar«, fand Cinder lachend. »Ja, Liebespaar. Ich kann mir gerne einen Kerl suchen, nur dann hast du ein Problem«, fuhr er sie grob an. »Oh bitte, wenn es männlich ist, teil ich dich gerne mit ihm!«, rief sie begeistert aus. Darauf schaute der Rotschopf sie irritiert an, damit hatte er nicht gerechnet. »Oh, ich mag die Idee. Im Norden findet man ganz viele von den Kerlen sagtest du?«, wandte sie sich mit leuchtenden Augen an Lugh Akhtar. »Dort ist es zumindest nichts neues und ungewöhnliches«, bestätigte der. »Oh, lass uns mit Lugh gehen, Hope! Ich möchte noch einen Mann!« Der Rotschopf starrte sie irritiert an. »Cinder, wir sind keine Haustiere«, bemerkte er dann lachend. »Doch, eigentlich schon. Ihr lasst euch füttern, hegen und pflegen und ab und zu kuschelt man mit euch einmal ein bisschen«, erklärte sie grinsend. »Na, schönen dank auch«, lachte er und nahm sie in den Arm, um ihr dann zuzuflüstern: »Dann will ich nachher auch meine Kuscheleinheiten bekommen.« »Vielleicht«, grinste sie. »Na gut, du bist die Chefin. Aber jetzt hilf mir, den da zu fangen«, bat der Rotschopf und deutete auf Lugh Akhtar. Der grinste breit. Vivamus hatte noch nie einen guten Einfluss auf ihn gehabt und obwohl sein großer Bruder jetzt weg war, spürte er dennoch seine Abenteuerlust und auch den Schalk im Nacken, der ihn dazu trieb, noch einmal irgendetwas unheimlich dummes, und völlig sinnloses zu tun. »Nein, ich denke eher nicht. Lasst uns nach Hause gehen, immerhin sind Lif und Leilani mit Nanook und Schatten allein, wer weiß was passiert, wenn wir zu lange weg sind«, meinte Cinder lachend. »Vielleicht ist Kenai ja bis dahin wieder da. Verpasst du ihm auch noch einen Kuss?«, wollte Hope interessiert wissen. »Nein, ich denke eher nicht«, meinte der junge Zauberer, der sich langsam wieder beruhigte. Der Rotschopf nickte nachdenklich, dann liefen sie los. »Aber du, Lugh… das ist wirklich nichts Schlechtes gewesen, oder? Also der Kuss…«, erkundigte sich Hope nach einer Weile vorsichtig. »Nein. Im Gegenteil, es ist so ähnlich, wie wenn du jemanden deinen Schülernamen verrätst. Das tut man wirklich nicht mit jedem.« »Wow, also kann ich mich ja wirklich geschmeichelt fühlen. Würdest du ihn jedem aus unserer Gruppe von damals verpassen? Also gemäß dem Fall, das sie es denn wollten.« Darüber dachte Lugh Akhtar einen Moment lang nach, dann verneinte er. »Nur dir. Als Beweis, das ich dir blind mein Leben anvertrauen würde, ganz gleich, was du getan hast. Wir sind Brüder. Nicht direkt verwandt, aber doch irgendwie.« »Und Ice nicht?« Auch jetzt zögerte Lugh Akhtar, dachte einen Moment nach, dann schüttelte er abermals im Kopf. »Ice und ich sind Freund. Gute Freunde, aber dennoch nicht mehr.« »Dann fühl ich mich gleich doppelt geehrt. Auch, wenn ich es nicht wollte, so danke ich dir, das du mich dennoch dazu… na ja, gezwungen hast. Ich denke, ich verstehe, was er wirklich bedeutet. Und dafür danke ich dir.« Darauf lächelte der junge Zauberer nur. Er glaubte nicht, das Hope wirklich die Bedeutung verstand, aber es freute ihn, dass sein Freund zu verstehen schien, wie wichtig es ihm war, dass der Rotschopf deswegen nicht böse war oder gar ablehnend reagiert. Und so pfiff er gut gelaunt ein Lied, während sie liefen. Nach Hause, zu einem wichtigen Teil seiner Familie. Nicht dem allerwichtigsten, doch viel fehlte nicht, wurde ihm bewusst, während er so darüber nachdachte. Nein, viel fehlte wirklich nicht. Kapitel 17: Sommer ------------------ Seufzend schloss Lugh Akhtar die Tür hinter sich und rutschte am rauen Holz hinab, sodass er bald auf dem Boden saß. Er starrte einen Moment den steinernen Boden an, dann schaute er auf. »So anstrengend gewesen?«, erkundigte sich Vivamus mitfühlend. »Es ist einfach so… so viel Leid. Ich glaube, ich brauche mal wieder ein paar Tage nur voll Lachen und Freuen, aber die sind noch so fern.« »Sogar noch ferner, als du glaubst. Geht es Tariq so schlecht?«, wollte Schatten wissen. »Du machst ja richtig Mut«, kommentierte Kenai mit hochgezogener Augenbraue. »Ich bin realistisch«, antwortete das Mädchen mit einem Schulterzucken. »Ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt etwas mitbekommt. Ich habe den Wind gebeten, dass er Ikaika hierher holt, damit sich irgendwer um die Belange Lantas kümmert. Ich denke nicht, das Tariq dazu in der Lage ist, zumindest nicht in nächster Zeit und ich weiß nicht, wem man das sonst anvertrauen könnte.« »Die Idee ist auf jeden Fall gut. Menschen sind zu Machtgierig, irgendwer könnte es nur allzu schnell ausnutzen«, nickte Kenai. »Renas Vater? Bleiben wir noch, bis er hier ist? Ich würde ihn recht gerne einmal kennen lernen«, überlegte Vivamus. »Ja. Ich kann Tariq so nicht einfach alleine lassen«, meinte Lugh Akhtar, stand dann umständlich auf und kam zu ihnen. Er setzte sich zu Schatten auf die Fensterbank, doch sie stand auf und ging ein paar Schritte von ihm fort. Er hatte schnell gemerkt, dass sie Nähe vermied, doch er wusste nicht, woran es lag. Er betrachtete sie einen Moment lang nachdenklich, dann beschloss er, dass es Zeit war, sie endlich zu fragen. »Schatten, kannst du mir helfen?« »Kommt darauf an, wobei?«, wollte sie wissen. »Nanook. Kannst du mir… einen Hinweis geben? Wie ich ihm helfen kann? Wo sein Seelenstück ist? Weißt du es?« Schatten senkte ihren Blick. Sie begann auf ihrer Unterlippe herumzukauen und lehnte sich an die kalte Wand, während sie nachdenklich vor sich hin starrte. »Du weißt es, aber du willst es mir nicht verraten.« Der junge Zauberer wirkte, als habe er nie etwas anderes erwartet. »Ich weiß es. Und ich kann dir einen Hinweis geben, aber ich bin mir nicht sicher, ob du das wirklich willst, Lugh Akhtar. Das Ergebnis wird dir letztlich nicht gefallen«, warnte sie genau das, was Hope schon vermutete. »Kannst du das nicht mich entscheiden lassen?« »Wenn du erkennst, worauf das alles hinauslaufen wird, ist es schon zu spät, dann kannst du nicht mehr umdrehen und auch nicht auf der Stelle verweilen. Ab einem bestimmten Punkt gibt es kein zurück mehr und das Ziel siehst du erst, wenn du ihn schon überschritten hast.« »Aber das allerschlimmste, was ich Nanook antun könnte, ist doch sowieso, wenn ich nichts tun würde, oder?« Sie biss sich so sehr auf die Lippen, das sie zu bluten begann, während es sichtbar in ihrem Kopf raste. Schließlich nickte sie. »Du hast recht. Ich kann dir nicht genau sagen, wo er ist, aber ich kann dir immerhin einen Hinweis geben. Und das, was geschehen wird, ist wirklich besser, als auf der Stelle zu treten. Der fehlende Seelensplitter ist ein Stern.« »Ein… Stern.« Lugh Akhtar zog bloß vielsagend die Augenbraue hoch und warf Vivamus einen kurzen Blick zu, der dennoch alles aussagte, was er in diesem Augenblick dachte. Sein großer Bruder zuckte darauf hilflos mit dem Schultern. »Ja, ein Stern. Nicht irgendein Stern natürlich, aber… doch, ein Stern«, meinte sie darauf und leckte sich das Blut von den Lippen. »Gut. Also darf ich jetzt nicht nur herausfinden, wie ich zu den Sternen hinaufkomme, sondern auch, welcher von den Milliarden es nun genau ist. Das hat mich jetzt wirklich weitergebracht«, erklärte er bissig und sarkastisch. »Das Nordlicht ist der Weg zu den Sternen, das soll nicht das Problem sein, aber…« Sie hielt erschrocken inne, als wenn sie ihm begriff war, etwas zu sagen, was sie nicht sagen durfte. »Über das Nordlicht kommst du jedenfalls hinauf. Du musst nur Aurora bitten.« »Na, immerhin etwas«, seufzte der junge Zauberer und stand auf. Mit harschen Schritten lief er an ihr vorbei und verließ den Raum. Draußen lehnte er sich gegen die Tür. Er verstand selbst nicht, was mit ihm los war. Er seufzte und stieß sich ab, ging die Gänge entlang, zu einem der ausladenden Innengärten, wo er sich im Schatten ins Gras legte und den blauen Himmel über sich betrachtete. Schließlich schloss er die Augen und lauschte auf den Geräuschen in seiner Umgebung. »Du hast es noch immer nicht verstanden, oder?«, fragte ihn da eine Stimme. Er hatte niemanden kommen hören, so hatte er damit nicht gerechnet, doch er erschrak dennoch nicht. Dazu war er es viel zu sehr gewohnt, dass der Wind plötzlich neben ihm auftauchte. Der Wind besaß eine gewisse Narrenfreiheit in der Welt der Jahreszeiten, als Bote war es ihm erlaubt, zu jeder Zeit zu tun, was er wollte. Doch er kannte die Stimme und er wusste, dass sie nicht dem Wind gehörte. Sondern dem Sommer. Er überlegte, ob er sich schlafend stellen sollte. Es war nicht so, das er den Sommer nicht mochte, aber er konnte ihn nicht einordnen, er war zu undurchschaubar und das war ihm suspekt. Letztlich entschied er sich jedoch dagegen. Wenn er wirklich der Winter werden würde, musste er sich mit dem Sommer ebenfalls gut stellen. »Was soll ich denn verstehen?«, fragte er und öffnete die Augen. Der Sommer lag in der Gestalt des Löwen neben ihm und schaute auf ihn hinab. »Sie will dir nichts Böses. Keiner hier will dir etwas Böses. Sie alle sind nur dazu da, um dir zu helfen. In dieser Geschichte gibt es keinen Bösewicht. Es gibt Probleme, aber zu jedem Problem gibt es die passende Antwort und du hast doch schon jetzt alles, was du brauchst«, erklärte er sanft. »Ich weiß, was ich brauche, aber dieses Wissen nutzt nichts, wenn ich es nicht bekommen kann.« »Aber das kannst du. Du hast alles was du brauchst, bereits in deinen Besitz. Du könntest nach Hause gehen, Nanook befreien und einen Packt mit dem Winter schließen. Einfach so.« Lugh Akhtar runzelte die Stirn. »Aber um Nanook zu helfen, muss ich einen Stern finden«, meinte er. »Ja, genau.« Der Winter lächelte wissend. »Du darfst mir auch nicht mehr sagen«, seufzte der junge Zauberer. »Doch. Ich habe es aus eigener Kraft erkannt, mir musste man es nicht sagen. Deswegen bin ich an kein Schweigen gebunden. Das bedeutet aber nicht, dass ich es dir verrate. Wenn du Winters Platz einnimmst, musst du auch so etwas begreifen, sieh es als Teil deiner Ausbildung.« »Macht es dir nichts aus, das Nanook deswegen leiden muss?« »Nein.« Diese Antwort kam nicht einmal unerwartet. Der junge Zauberer war sich nicht sicher, ob der Sommer so etwas wie Leid überhaupt empfinden konnte. Er schien ihm Mitleidlos. »Wieso?«, fragte er dennoch. »Weil ich weiß.« Das war nicht die Antwort, die sich der Zauberer erhofft hatte, zumal er sie nicht verstand, doch er wusste, das er keine genauere erhalten würde. »Hab ich eigentlich eine Wahl, was den Winter betrifft?«, fragte er stattdessen. »Ja. Du wirst es, auf die eine oder andere Weise, aber du hast dennoch die Wahl.« »Welche denn? Wenn ich es so oder so werde, dann ist das keine Wahl mehr«, fauchte der Zauberer und setzte sich kopfschüttelnd auf. »Dann ist es Zwang, das Gegenteil einer Wahl. Wo soll da die Wahl denn sein? Ob ich es heute oder morgen werde?« »Auch. Du hast ein ganzes Menschenleben zeit, um den richtigen Zeitpunkt zu finden.« »Auch? Wo darf ich denn noch wählen?« »Wer dich auf deinem Weg begleiten wird. Und welche Gestalt sie haben werden.« »Bleibt denn nicht das jetzige Rudel erhalten?«, fragte Lugh Akhtar erstaunt. »Nein. Wenn Winter ihren Posten abgibt, dann verlieren sie ihre Langlebigkeit. Sie alle sterben dann, wenn sie ihr Leben gelebt haben. Außer du nimmst sie in deine Dienste, aber ich denke nicht, dass sie das wollen. Du musst also dein eigenes Rudel um dich scharren. Wähle gut aus, sie begleiten dich so lange des Weges, wie sie selbst es wollen.« »Wie, sie selbst…? Wann sterben sie? Ab und zu geschieht das, das weiß ich, aber wann? Und wieso?« »Wir sind unsterblich, wusstest du das? Solange wir unsere Arbeit tun, sind wir unsterblich. Und die, die uns begleiten, sind es auch«, begann der Sommer. »Drafnar sagte, das auch ihr sterben könnt, also seid ihr es nicht. Oder? Irrt er sich?« »Nein. Wir können sterben, aber wir sind trotzdem unsterblich. Solange wir die Jahreszeiten sind, können wir auch nicht sterben. Stell dir aber vor, du müsstest ewig leben, gleich ob du es willst, oder nicht. Alles um dich herum vergeht, alles verändert sich, nur du bleibst immer da.« Lugh Akhtar musste nicht nachdenken, er schüttelte sofort den Kopf. »Ich würde es nicht wollen«, sagte er. »Nein, wir auch nicht. Und deswegen dürfen wir unseren Posten abgeben, wir werden dann sterblich.« »Und eure Gefährten auch?« »Bei ihnen ist es noch einmal anders. Ja, sie sind solange unsterblich, wie wir sind, was wir sind, aber sie haben noch eine andere Wahl. Wenn sie finden, dass ihre Zeit gekommen ist, dann können sie auch schon vorher gehen. Sie sterben, obwohl die Jahreszeiten noch sind, was sie sind. Anders herum geht es nicht, du könntest sie nicht mehr aus deinen Diensten entlassen. Du hast nur die Wahl, sie zu dir zu holen, sie wieder gehen zu lassen, liegt nicht in deiner Macht. Das müssen sie selbst tun.« »Oder man tötet sie«, murmelte Lugh Akhtar. »Oh, ich sehe, du hast von Brand gehört«, lächelte der Sommer. »Ja. Mana hat mir in der Höhle der Nornen davon erzählt.« »Er hat etwas Unverzeihliches getan. Ich habe ihm vertraut, genauso, wie allen anderen auch. Und er hat dieses Vertrauen mit Füßen getreten. Früher hätte ich gesagt, dass er bekam, was er verdiente, aber das stimmt nicht. Ich handelte, ohne nachzudenken, ebenso wie er. Nur hatte ich Erfolg.« »Und er nicht.« »Nein. Aber seine Stelle habe ich seither nur einem Einzigen wieder angeboten. Gleich zweimal. Er hat beides mal abgelehnt.« »Wem?« Der Sommer schwieg, schien sich nicht sicher, ob er darüber sprechen sollte, doch wie auch Lugh Akhtar zuvor, schien ihm klar zu sein, das er sich mit dem jungen Zauberer einlassen musste. »Meinem Sohn.« »Hope«, nickte der. »Ich habe es mir fast gedacht.« »Du weißt mehr, als ich dachte.« Der Löwe stand auf. Er schien verunsichert, er wirkte nicht begeistert. »Außer mir und meiner Tochter, die es mir erzählte, weiß davon niemand. Zumindest nicht von mir. Ich habe auch nicht vor, es jemanden zu verraten«, beruhigte der junge Zauberer ihn. »Hope weiß es auch, ich habe es ihm verraten. Als er sich mir als Licht anschloss.« »Hope weiß bescheid?« Diese Aussage überrascht Lugh Akhtar, damit hatte er nicht gerechnet. »Ja. Allerdings hat er keinen Zweifel daran gelassen, dass es ihm egal ist. Ich bin der Sommer, nicht mehr, nicht weniger. Ein Mittel zum Zweck für ihn.« »Nimmst du es ihm übel?« »Sollte ich denn?« Lugh Akhtar schaute in die grünen Augen. Er sah den Schmerz in den Augen des Sommers, den er zu unterdrücken versuchte. Er verstand ihn. »Ich glaube, ich würde es tun. Wenn Kekoa mir sagte, das ich ihm egal wäre, würde ich es ihm wohl übel nehmen. Ich… denke, ich hoffe, das ich ihm nicht schaden würde, aber ja, es wäre für mich, wie ein Messerstich, wie ein offener Verrat. Ja, ich würde es ihm übel nehmen.« Der Sommer lächelte still vor sich hin. »Aber du kannst auch ihn verstehen, nicht wahr?«, mutmaßte er. »Natürlich. Für mich wird immer Channa meine Mutter bleiben und Vivamus mein Bruder, obwohl wir nicht verwandt sind. Nicht direkt.« »Ja, das dacht ich mir. So ist es eben, wenn man nicht bei seinen Kindern ist, wenn sie aufwachsen, wenn man diesen Platz einem anderen überlässt. Mach nicht den gleichen Fehler, Lugh Akhtar. Egal wie sehr man dich auch an anderer Stelle brauchen mag, lass es niemals wichtiger werden, als deine Familie. Selbst wenn es dein Bruder ist«, mahnte der Sommer. »Nein. Dahingehend muss ich Vivamus recht geben. Familie ist immer mehr, als Frau und Kind. Auch meine Brüder und Schwestern sind meine Familie und sie sind nicht weniger wichtig.« Der Sommer zögerte, schließlich jedoch lächelte er. »Du wirst deinen Weg finden. Du kannst und weißt alles, was nötig ist. Folge dem Leben und der Dunkelheit, dann ist dein Ziel zum greifen nah. Versuch zu begreifen. Sieh das, was verborgen ist und vor allem: Hör auf die Worte, die nicht ausgesprochen werden, den sie sind viel, viel wichtiger, als jedes gesprochene Wort je sein könnte.« »Ich werde tun, was ich kann«, nickte der junge Zauberer. »Gut. Mehr kann ich von einem Sterblichen wohl nicht erwarten. Ich muss jetzt gehen. Auf wieder sehen, Lugh Akhtar. Das nächste Mal treffen wir uns von gleich zu gleich. Oder gar nicht mehr. Es liegt in deiner Hand.« Lugh Akhtar nickte, doch da fiel ihm noch etwas ein. »Sommer, Mana sagte, das auch Nea vom selben Blut ist, wie Hope. Stimmt das?« Der Sommer zögerte, schaute ihn an, dann lächelte er. Er sagte nichts, er lächelte nur, doch Lugh Akhtar verstand sie. Die Worte, die nicht ausgesprochen wurden. Und er verstand sie. »Danke«, flüsterte er, während der Sommer verschwand. Bis zu ihrem Wiedersehen. Von gleich zu gleich, den nun wusste Lugh Akhtar genau, was er tun würde. Er erkannte nun das leuchtende Tor, von dem sein Vater einst gesprochen hatte, vor so unendlich langer Zeit. Er sah es, und er würde hindurchgehen. Kapitel 18: Wiedersehen ----------------------- »Nea ist doch die Schwester von diesem Fuchs in Altena, nicht wahr?« Seit Stunden schon fragte Vivamus seinen kleinen Bruder aus. Über alles, was geschehen war, über die Personen, die er kannte, über Personen, mit denen er befreundet war. Und eben auch über Lugh Akhtars Familie. »Der Fuchs? Wenn du Hope meinst, dann ja«, nickte der lachend. »Ja, so heißt er dann wohl. Dann ist sie doch bestimmt die kleine Süße, die Schülerin von Nikolai, oder? Die Jarek, in die alle so viele Hoffnungen setzen und die sich als wahre Enttäuschung herausstellte.« »Genau die. Aber unterschätz sie nicht, sie kann mehr, als man meinen könnte«, lächelte Lugh Akhtar. »Und du hast sie geheiratet? Das hätte ich jetzt nicht gedacht.« »Wieso?«, wollte Kenai wissen. »Ich finde ja auch, das sie zu mir besser passen würde, aber Lugh ist doch keine schlechte Partie.« Der junge Zauberer musste seinen Cousin nicht anschauen um zu wissen, dass er nicht ernst meinte, was er sagte. Stattdessen lächelte er nur. »Du musst wissen, das Vivamus ihr den Hof gemacht hat, aber sie hat ihn dreimal abgewiesen. Seitdem mag er sie nicht mehr«, erklärte er grinsend. »Stimmt nicht. Ihr Vater hat mich abgewiesen. Mit einem Besen hat er mich durch die Straßen gejagt, und als räudigen Köter beschimpft«, knurrte der junge Mann. »Hat er? Wieso?«, erkundigte sich Kenai interessiert. »Weil ich ein Bastard bin. Wie du, soweit ich weiß, Söldner. Und so etwas ist nun nicht gerade das Richtige, für ein Mädchen wie sie.« Vivamus musterte seinen Cousin kalt. »Ich bin kein Söldner mehr. Und ja, wie schwer das Leben so ist, das musst du mir nicht sagen, das weiß ich zu genüge, aber immerhin bist du ein Zauberer.« »Das macht nichts. Trotzdem bin ich bloß der Dreck unter den Schuhen der feinen Gesellschaft. Warum hat er dich nicht abgewiesen?« Interessiert wandte der junge Mann sich seinem kleinen Bruder zu. »Weil ich ihn nie gefragt habe. Sie übrigens auch nicht, wir sind nicht verheiratet«, antwortete der lächelnd. »Nicht? Das erstaunt mich jetzt sogar fast noch mehr. Ist ihrem Vater das jetzt egal?« »Nein, natürlich nicht. Welchem Vater wäre es denn schon egal, wenn seine Tochter… ja, im Prinzip das Leben einer Konkubine lebt.« »Aber wieso…?« »Weil wir uns auf anderer Ebene kennen lernten. Er wollte mich töten und ich hätte ihn gewähren lassen. Irgendetwas wollte nicht, das ich sterbe, deswegen nahm mein Schicksal seinen Lauf. Danach lernte ich sie erst genauer kennen und auch lieben. Als ich erfuhr, das er Neas Vater ist, da konnte ich nicht mehr zulassen, das ihm etwas geschieht, denn obwohl sie selbst weiß, das er eine Strafe verdiente, wusste ich, das sie es nicht vergessen würde, wenn ich es zuließe. Also ließ ich es nicht zu.« »Um ihr besser den Hof machen zu können?« »Ja, im Prinzip schon«, bestätigte der junge Zauberer. »Und er hat dich daraufhin gewähren lassen?« Ungläubig schüttelte sein Bruder den Kopf. »Er hatte keine wirkliche Wahl. Er verdankt mir so ziemlich alles, was er hat und Nea lässt sich bestimmt auch nicht mehr viel von ihm verbieten. Was soll er also tun?« »Er hat also gar keine Wahl, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, ja?« »Nein. Falcon mag Lugh Akhtar. Er hat eingesehen, dass die Herkunft egal ist, solange die Person nur das Herz auf den rechten Fleck trägt und er weiß aus eigener Erfahrung, das es in diesem Fall so ist«, mischte sich Schatten ein. »Na, dann stünde einer Hochzeit doch nichts mehr im Weg. Wo ist das Problem?« »Es ist nicht der richtige Zeitpunkt«, lächelte Lugh Akhtar. »Aber…«, begann Vivamus, doch Kenai unterbrach ihn. »Lass ihn doch einfach tun, was er tun möchte«, fand er. Darauf schwieg der junge Mann und der ehemalige Söldner wandte sich ab. Für Lugh Akhtar aber was das noch nicht vorbei. Er hätte den Rat des Sommers nicht gebraucht um hier auch die unausgesprochenen Worte zu verstehen. Er wusste, dass er mit seinem Bruder darüber noch einmal reden musste, aber er beschloss, es auf später zu verschieben. Stattdessen wandte er sich zu Nanook um, der still und leise hinter ihnen hergetrottet war. Er wartete, bis der junge Mann zu ihm aufgeschlossen hatte, dann lief er neben ihm her. »Wie geht es dir?«, fragte er leise. »Seitdem Schatten bei uns ist, wird es besser. Ich weiß nicht was sie tut, aber es ist anders als vorher. Besser. Gut.« »Ach ja?« Überrascht schaute der junge Zauberer auf das Mädchen, das gut gelaunt zwischen Vivamus und Kenai lief und interessiert dessen Gesprächen lauschte. Er hatte verwundert registriert, dass sie jetzt kaum noch etwas sagte, stattdessen dafür umso aufmerksamer zuhörte. Er verstand nicht, woher ihr plötzlicher Sinneswandel kam, es war, als wäre sie nun eine völlig andere Person. »Ich habe sie gefragt, ob sie das macht, aber sie hat nur gelächelt. Ich glaube, das sie uns manchmal hilft, ohne das wir es wissen und ich glaube auch, dass sie dafür keinen Dank haben will und es uns deswegen nicht sagt«, überlegte Nanook laut weiter. »Jeder will Anerkennung für das, was er tut«, widersprach Lugh Akhtar, doch Nanook verneinte. »Tala wollte es nicht. Ihn hat es nie nach Anerkennung gelüstet, er wollte einfach nur helfen. Er wollte unrecht ungeschehen machen, doch das kann man nicht. Versucht hat er es dennoch. Immer und immer wieder. Vielleicht treibt sie ja etwas ähnliches an, vielleicht will sie auch etwas zurechtbiegen, was sie verbrochen hat.« »Und damit es keiner merkt, verzichtet sie auf allen Lob?« Lugh Akhtar schnaubte abfällig. »Weißt du, ich denke, du tust ihr unrecht. Sie ist nicht, wie sie scheint. Ist dir aufgefallen, das sie sich von niemanden berühren lässt, außer wenn sie es will? Sie vermeidet jeglichen Körperkontakt.« »Und? Ich auch. Ich mag es nicht, wenn mich ein Fremder berührt, vielleicht ergeht es ihr ja ebenso.« Lugh Akhtar wischte das Thema mit einer Handbewegung beiseite. »Lass uns nicht über sie sprechen.« »Du bist fast zu Hause«, bemerkte da Nanook. »Ja. Es ist schon ein ganzes Jahr her, das ich fort gegangen bin… es kommt mir vor, wie eine Ewigkeit«, seufzte der junge Zauberer. Nanook nickte schweigend. Den Rest des Weges sprachen sie kein Wort mehr. Als sie schließlich vor der Tür standen, ging die Sonne gerade unter. Es war Zeit für das Abendessen. Er überlegte, ob er einfach hineingehen sollte, entschied sich dann jedoch dafür, anzuklopfen. Er wollte niemanden erschrecken. Wie erwartet, öffnete Chess. Er starrte Lugh Akhtar für einige Augenblicke nur still an, dann zauberte sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Er ließ sie wortlos ein, lief dann voran in die Küche. »Nea, stell noch ein paar Teller mehr auf den Tisch, wir haben unangekündigten Besuch«, sagte er ruhig, während er eintrat. Lugh Akhtar und seine Freunde folgten ihm langsam, blieben erst im Flur stehen. »Schon wieder Lana, die alte Schachtel?«, seufzte Nea zur Antwort. »Nein, ich bin’s«, sprach da der junge Zauberer und trat ein. Nea ließ den kleinen Stapel Teller fallen, den sie zuvor noch in der Hand gehalten hatte und starrte ihn ungläubig an, während es im Haus völlig still war. Es schienen Jahre zu vergehen, bis sie endlich begriff, wenn sie da vor sich hatte, denn als es endlich so weit war, stieß sie die Stühle beiseite, die ihr im Weg waren, und warf sich in die Arme des jungen Zauberers. Sie weinte und lachte zugleich, während sie sich eng an ihn drückte. Zudem schien sie nicht zu wissen, was sie sagen sollte, sie wirkte schier überwältigt vor Glück. Lugh Akhtar umarmte sie und für eine lange Zeit standen sie einfach nur still da. »Entschuldige bitte, dass ich so lange weg war«, flüsterte er schließlich. »Danke, das du zurückgekommen bist«, antwortete sie und trat schließlich zwei Schritte zurück. Sie lächelte. »Ich denke, ihr habt Hunger. Nur einen Augenblick, gleich ist es fertig.« »Du kannst ja schon mal damit anfangen, deine Begleiter vorzustellen und zu erzählen, was geschehen ist«, meinte Chess, während er misstrauisch Vivamus beobachtete, der eher missmutig auf das Geschehen blickte. »Nun, so viele gänzlich Unbekannte gibt es ja gar nicht«, meinte Lugh Akhtar, während er sie alle hereinbat und sie sich um den Tisch setzten. »Nein, Nanook kenne ich«, nickte Nea, dann warf auch sie Vivamus einen eher missmutigen Blick zu. »Und ihn auch.« »Er ist mein großer Bruder«, lächelte Lugh Akhtar. Daraufhin erhielt er zwei eher zweifelnde Blicke. »Jetzt schaut nicht so. Vivamus ist wirklich mein Bruder. Der Sohn von Kanoa und Channa.« »Eine Jugendsünde könnte man sagen«, grinste Vivamus, wandte sich dann direkt an Chess, den er ebenso kalt musterte, wie der zuvor ihn. »Im Gegensatz zu dir.« »Hör auf. Chess kann nichts dafür, das Channa nicht über ihre Vergangenheit gesprochen hatte«, mischte sich Lugh Akhtar daraufhin sanft ein. »Er hat uns einmal besucht. Mama hat eine Stunde lang allein mit ihm gesprochen und dann ist er gegangen. Als ich sie gefragt habe, wer er sei, hat sie nur gesagt, das er ein Zauberer ist und er mich nicht zu interessieren bräuchte.« »Ich sag ja, bei den eigenen Eltern unerwünscht«, knurrte Vivamus bitter. »Nein, Lugh nicht. Ihn hat Mama mit offenen Armen empfangen«, widersprach Chess. Daraufhin erhielt Lugh Akhtar von seinem älteren Bruder einen so ungläubigen, kalten, fast hasserfüllten Blick, das sich der Zauberer hart auf die Lippe beißen musste, um bei der Sache zu bleiben. Er bat seinen Bruder mit einem Blick, dass sie später darüber sprechen würden und Vivamus sagte nichts weiter dazu. »Nun, Nanook kennst du auch noch nicht, Chess. Er ist… auch nicht irgendwer, aber das erzähl ich euch auch noch. Und das Mädchen…« Er konnte nicht aussprechen, denn sie unterbrach ihn. »Chaya. Mein Name ist Chaya.« Lugh Akhtar sagte zwar nichts dazu, doch er schaute ihr einige Augenblicke in die Augen, bevor er sich wieder abwandte. »Chaya. Den Namen kenne ich. Ich glaube, Hope hat ihn einmal gebraucht…« Nea runzelte die Stirn, überlegte, während sie das Essen auf den Tisch brachte. Schatten lächelte daraufhin, doch sie sagte nichts. Dann aßen sie und Lugh Akhtar erzählte. Nicht einmal jetzt erzählte er alles, es gab Dinge, die waren nicht für jeden Bestimmt, aber das Meiste erzählte er. Nea und Chess hörten aufmerksam zu, unterbrachen ihn nicht ein einziges Mal. Nebenher erledigten sie, was eben anfiel, doch die ganze Zeit über hörten sie aufmerksam zu. Als Lugh Akhtar schließlich endete, war es schon spät. Eine ganze Weile sagte keiner etwas, nur Nea stand irgendwann auf und schaute in die Runde. »Es ist spät, wir sollten jetzt schlafen gehen«, fand sie. »Und morgen Weitersprechen?«, fragte Vivamus und schaute dabei Lugh Akhtar vielsagend an. »Ja. Nanook, Vivamus, ihr könnt das Gästezimmer haben. Kenai, dein Zimmer ist genauso, wie du es verlassen hast…« Nea konnte nicht einmal aussprechen, da wunk er schon ab. »Ich schlaf im Stall. Bei Sivan. Schatten kann mein Zimmer haben, wenn sie möchte«, bot er an. »Danke.« Schatten lächelte und stand auf, um sich sofort dorthin zurückzuziehen. Woher sie den Weg kannte, fragte niemand erst. Auch Kenai verließ den Raum und Chess zeigte Vivamus und Nanook ihren Schlafplatz, sodass nur noch Nea und Lugh Akhtar in der Küche zurückblieben. »Was wolltest du nicht vor den anderen erzählen?«, fragte sie ihn, nachdem sie einen Moment lang geschwiegen hatten. Er lächelte glücklich. »Kennst du mich so gut, das du es sogleich durchschaut hast?«, fragte er leise. »Natürlich«, lächelte sie und setzte sich auf seinen Schoß, um ihm ganz nah zu sein. »Warum frag ich auch. Es hätte mir klar sein sollen«, nickte er lächelnd. »Willst du mir erzählen, was es ist?« Er nickte, doch sagte er nichts. Stattdessen vergrub er sein Gesicht an ihrer Schulter und sog tief ihren Geruch ein. Für einen Augenblick gab er sich seinem Rausch völlig hin. Er drückte sie fest an sich, bevor er zu sprechen begann. »Als ich Mana getroffen habe, da erzählte sie mir von allen Kindern, die von den Jahreszeiten abstammen. Du kennst mich, Cinder, Soul, und Kenai. Sie berichtete mir von den anderen.« »Die da wären?« »Zum einem Nanook. Außerdem werden Kenai und der Frühling ein gemeinsames Kind haben, Duran. Und auch der Sommer ist bereits Vater. Hast du eine Idee, von wem?« Nea zögerte einen Moment. Sie schien sich nicht sicher, ob sie darauf wirklich antworten sollte, doch schließlich tat sie es. »Von Hope.« Sie lächelte schüchtern. »Woher…?« Er starrte sie erstaunt an. »Als wir damals im Sommerreich waren, da hat der Sommer ihn die ganze Zeit so seltsam angesehen. Wie ein Vater seinen Sohn. Ich dachte, dass das nicht sein kann, das der Blick etwas anderes bedeuten muss, aber jetzt, wo du so fragst, ist das meine Antwort.« »Und recht hast du. Er hat es mir selbst noch einmal bestätigt. Weißt du, was das bedeutet?« »Das ich gar nicht das dreizehnte Kind eines dreizehnten Kindes bin. Zumindest nicht von meinem Vater. Damit ist auch klar, warum ich nicht so begabt bin, wie sie alle erwarteten.« »Genau«, lächelte der junge Zauberer. Nea lächelte ebenfalls, dann stand sie auf. »Lass uns ins Bett gehen.« Lugh Akhtar zögerte, dann nickte er. Gemeinsam gingen sie die Treppe hinauf, doch der junge Zauberer zögerte. Er lächelte Nea kurz zu, dann wandte er sich ab und ging ins Kinderzimmer. Er wollte Mana und Kekoa sehen. Und er staunte nicht schlecht, als er sah, wie groß sie geworden waren. Ihm war klar gewesen, das sie in einem Jahr ein gutes Stück wachsen würden, aber es erstaunte ihn dennoch. Langsam trat er ans Kinderbett und streichelte Mana über die Wange. »Sie sind ganz schön gewachsen«, flüsterte er und lächelte. »Natürlich. Zeit lässt sich nicht zurückdrehen«, antwortete Nea, die in der Tür stand. »Ich weiß. Deswegen will ich auch schnell finden was ich suche, damit es nicht allzu viel gibt, was ich bereuen müsste«, antwortete er und lächelte glücklich. Nea nickte sacht, dann schüttelte sie aber den Kopf. »Lugh Akhtar, irgendetwas ist… ich weiß auch nicht, ich habe kein gutes Gefühl.« »Wegen Schatten?« Er trat wieder zu ihr und nahm sie in die Arme. »Nein. Ich weiß nicht wieso, aber sie… wirkt auf mich sehr vertrauenerweckend. Ich denke nicht, dass sie uns etwas Böses will. Im Gegensatz zu Vivax. Er hat so geschaut…« Sie schüttelte den Kopf und entzog sich seiner Umarmung. »Vivamus? Ja, er ist sauer, das war überdeutlich, aber…« Begann er, doch sie schüttelte entschieden den Kopf. Sie ging wortlos den Gang entlang zum Schlafzimmer und der junge Zauberer folgte ihr erstaunt. »Nea, was ist?«, fragte er leise, bittend. Sie war mit einem schnellen Schritt an ihm vorbei und schloss die Tür, lehnte sich dagegen. »Nea…?« »Lugh Akhtar, vertrau mir. Mein Gefühl hat mich nie betrogen. Es hat mir gesagt, das die Reise, die Nikolai mir vorschlug, eine gute Idee ist, es hat mir gesagt, das du harmlos bist, es hat mir gesagt, das ich dich bis hinter die Mauer begleiten muss und noch tausend andere Dinge mehr. Es hat mich noch nie betrogen. Selbst Hopes Verrat war keine wirkliche Überraschung, selbst das habe ich irgendwie geahnt.« Sie seufzte. »Aber Vivamus ist mein Bruder. Wieso sollte er mir etwas tun wollen?« »Ich weiß es nicht. Aus Eifersucht vielleicht. Missgunst ist keine schöne Sache, aber sie kommt oft vor. Auch unter Geschwistern. Unter Freunden. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich habe kein gutes Gefühl, wenn ich an deinen Bruder denke. Irgendetwas Unausgesprochenes steht zwischen euch im Raum und das… könnte gefährlich sein.« »Vivamus würde mir nie etwas Böses tun. Da bin ich mir ganz sicher«, beschwichtigte der junge Zauberer. »Das behaupte ich auch nicht. Ich sage nur, dass du wachsam sein sollst. Und das das Problem nicht Chaya ist. Sie ist seltsam, sie ist anders, aber sie ist nicht böse. Und selbst wenn, wir könnten es nicht ändern.« »Ich werde mit Vivamus reden. Morgen. Können wir jetzt endlich ein anderes Thema angehen?«, erkundigte er sich und strich ihr über die Wange. »Wiedersehen feiern?«, erkundigte sie sich lächelnd. »Ja. Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich vermisst habe«, antwortete er. »Doch. Ich hab dich noch viel, viel mehr vermisst«, lächelte sie. »Das bezweifle ich.« Bevor sie ihm widersprechen konnte, verschloss er ihre Lippen mit einem Kuss, bevor er ihr ins Ohr flüsterte. »Sei ruhig. Lass mich einfach bei dir sein.« Darauf lächelte Nea nur und schwieg. Kapitel 19: »Wir hatten immer uns.« ----------------------------------- Lugh Akhtar sprach am nächsten Tag nicht mit Vivamus. Und auch am darauf folgendem nicht. Er genoss die Zeit zu Hause in vollen Zügen, er wollte sie nicht durch Streit trüben. Doch er musste es wohl, früher oder später. Am Tag bevor sie abreisen wollten, fasste er sich also ein Herz. Es war Nachmittag und die Sonne hatte den Zenit schon überschritten, da beschloss er, dass es endlich an der Zeit war. So konnten sie nicht gemeinsam weiterreisen. Er suchte seinen Bruder im ganzen Haus, doch er fand ihn nicht. Er lief über den Hof und durch den Pferdestall, aber auch hier war er nicht zu finden. Letztlich stellte er sich unter den Torbogen und lauschte auf die Stille. Da sah er in der Ferne weißes Fell aufblitzen. Er zögerte kurz, war sich nicht ganz sicher, was es war. Es konnte auch ein Schneehase sein, der schon viel zu früh sein weißes Winterfell bekommen hatte, oder ein Eiswolf, der auf seiner Suche nach einem neuen Revier, in die Zentralen Gebiete Wynters gekommen war. Er erkannte aber, dass es Schatten war, die in ihrer Fuchsgestalt übermütig durch das hohe Gras sprang. Er zögerte kurz, dann jedoch verwandelte er sich in den weißen Wolf und lief zu ihr. Vielleicht wusste sie, wo Vivamus steckte. Als er näher kam, erkannte er, das Schatten nicht alleine war. Vivamus saß bei ihr im Gras und lachte, während die Füchsin um ihn herum sprang. Sie schienen ihn nicht zu bemerken. Schließlich warf sich Schatten ins kühle Gras, rollte sie auf den Rücken und hechelte nur noch. »Das dicke Fell ist bei diesen Temperaturen nicht gerade von Vorteil, nicht wahr? Warum trägst du ihn überhaupt? Für gewöhnlich legen Eisfüchse ihr weißes Fell ab, wenn es zu warm ist, dann werden sie ganz dunkel.« »Ich weiß, aber ich mag den weißen Pelz lieber. Und ich bin zu Unsportlich«, lachte sie, während ihr Atem sich langsam beruhigte. Vivamus lächelte, doch dann schaute Schatten aus ihren roten Augen auf Lugh Akhtar. Sie schien ihn durchaus bemerkt zu haben. »Ich denke, dein Bruder möchte jetzt mit dir sprechen, Vivax«, erklärte sie und stand auf. Leichtfüßig trottete sie durch das hohe Gras davon, während Lugh Akhtar langsam zu Vivamus ging und sich neben ihn ins Gras legte. Er verwandelte sich in einen Menschen zurück, denn sonst hätte sein Bruder ihn nicht verstanden. Auf den Rücken liegend beobachtete er die Wolken, die über den Himmel zogen. Vivamus schwieg ihn derweil an. Schließlich seufzte er. »Bist du wütender wegen Nea oder wegen Channa?«, fragte er leise. »Ich bin nicht wütend.« Der junge Zauberer seufzte abermals. Er wusste, dass das Gespräch nicht leicht werden würde und er wusste, dass er es genauso gut mit einer Wand führen könnte. »Ich finde es auch nicht gut, das Channa mich mit so offenen Armen empfangen hat und dich eben nicht, aber ich kann da doch nichts für.« »Nein, aber du hättest es mir sagen können«, knurrte Vivamus. »Ich wollte dir nicht weh tun.« Er erhielt keine Antwort. Er erwartete auch keine. Wie bei einer Wand. »Und was Nea anbelangt… Als ich sie kennenlernte, wusste ich nicht, wer ich bin und auch nicht, wer sie ist. Als ich es wieder wusste, war sie schon längst eine Vertraute, eine so gute Freundin, dass sie sie nicht mehr missen mochte. Und als ich schließlich selbst endlich verstand, wie wichtig sie mir wirklich war, da war schon alles zu spät. Kannst du das verstehen?« »Nein und darum geht es auch nicht. Nimm es dir ruhig, nimm dir alles, was du willst, nimm mir, was mir wichtig war, das ist alles so okay.« »Nein Vivamus, das ist es nicht. Das weiß ich, aber ich kann es jetzt nicht mehr ändern. Was soll ich den deiner Meinung nach tun? Sie sitzen lassen, nachdem ich so lange um sie gekämpft habe?« »Darum geht es hier doch gar nicht, Fjodor. Ich habe sowieso keine Chance, wenn sie dich will, dann ist gleich, was ich sage oder tue, dann wird sie mich sowieso immer zurückweisen. Ich bin nicht so verblendet, um das nicht zu sehen. Außerdem habe ich Rena. Und meine Tochter. Und auch um Channa geht es hier nicht. Sie und Kanoa hatten dich immer schon viel, viel lieber als mich, auch wenn du es nie sehen wolltest.« »Geht es dann… darum das ich besser bin? Das sie mich eher respektieren? Das du immer für mich da sein musstest und deswegen selbst so vieles nicht tun konntest? Ja, das alles habe ich durchaus bemerkt. Sag es mir, worum geht es?« »Um nichts dieser Dinge. Das ist alles… egal. Es ist mir gleich, es gibt etwas viel, viel wichtigeres, aber das dagegen siehst du nicht.« Lugh Akhtar setzte sich auf, schüttelte entschieden den Kopf und starrte eine Weile vor sich hin ins Gras. Er meinte, jede Möglichkeit in Betracht gezogen zu haben, doch scheinbar war dem nicht so. Warum blieb Vivamus überhaupt so ruhig und distanziert? Wieso konnte er nicht einfach einmal all seinen Unmut in die Welt hinaus rufen? »Ich weiß es nicht. Ich dachte, das es eines dieser Dinge wäre, die die Distanz zwischen uns schafft.« »Nein. Die schaffst nur du allein.« »Aber wie, womit?« Er schaute seinen Bruder hilfesuchend und flehend an. Vivamus antwortete nicht, stattdessen stand er schließlich auf und deutete seinem Bruder, dass er mitkommen sollte. Lugh Akhtar beeilte sich, fragte sich, was Vivamus ihm zeigen würde, doch er zeigte ihm gar nichts. »Warum bist du hierher gezogen? Du hast doch in Forea gearbeitet, warum bist du nicht dort geblieben? Oder ins Schloss von Irian gezogen?« »Weil es dazu keinen Grund gibt. Die Städte sterben, die Dörfer nicht. Außerdem hatte ich lange genug Mauer um mich herum. Ich habe nie verstanden, wie du so aufwachsen konntest, wie ich und dann Altena nicht als Gefängnis angesehen hast.« »Manchmal muss man die Flügel eben gegen etwas anderes tauschen. Hier kannst du fliegen, aber manchmal ist es besser, wenn einem die Flügel gestutzt werden, bevor man sich selbst verletzt. In Altena kann man nicht fliegen, deswegen tut es nicht so weh, dass man den Himmel nie wieder erobern wird. Dein Platz war schon immer hier, meiner ist es nie gewesen. Aber davon spreche ich nicht. Du hättest auch außerhalb der Mauern leben können, aber du bist hierher gekommen. Und ich kenne dich, du tust nichts ohne Grund. Wieso?« Lugh Akhtar lächelte und seine Augen leuchteten sanft. Natürlich hatte sein Bruder recht, doch er hatte es nicht einmal Nea verraten. Und er wusste auch, dass er nichts sagen musste. »Können wir wieder über das eigentliche Thema sprechen? Wir wissen beide, dass du den Grund kennst. Manche Dinge vergisst man einfach nicht.« »Aber das hat mit dem Thema zu tun. Fjodor, egal was auch immer passiert ist, wir hatten immer uns. Du und ich gegen den Rest der Welt. Egal was auch geschehen würde, wir würden immer zueinander halten und nichts würde uns jemals auseinander bringen. Oder, um es mit Papas Worten zu sagen: Gemeinsam bis ans Ende der Welt. Das haben wir uns als Kinder geschworen. Egal, wohin uns unsere Wege führen würden, uns sollte nie etwas auseinander bringen. Was ist daraus geworden?« Jetzt verstand Lugh Akhtar, was Vivamus so wütend machte. Er schwieg, schlenderte nur nachdenklich neben seinem Bruder her. »Nimm dir Nea, nimm dir unsere Mutter, nimm dir, was immer du willst. Aber nimm mir nicht deine Ehrlichkeit, dein Vertrauen, dich. Wenn du mir das nimmst, dann bleibt mir nichts mehr.« »Ich will dir nichts nehmen, Vivamus. Ich will nicht, das du das Gefühl hättest, ich hätte dir etwas weggenommen« , flüsterte der junge Zauberer. »Man nimmt immer von anderen irgendetwas. Wichtig ist nur, wie viel man dafür zurückgibt. Weißt du, es tut weh, wenn man vom eigenen Bruder gesagt bekommt, das die Mutter ihn will und einen selbst nicht, aber es tut noch viel mehr weh, wenn man es von einem Fremden erfahren muss. Es tut auch weh, zu erfahren, das die Frau, die man liebte, die einzige Frau, die jemals solche Gefühle in einem wecken konnte, lieber den Bruder möchte, aber auch so etwas hätte ich gerne früher erfahren. Fjodor, ich fühl mich von dir verraten.« »Kein theatralisches Gehabe, als wir uns trafen, sondern bitterer Ernst verpackt in ein Lachen. Bitte entschuldige, ich weiß, ich hätte früher zu dir kommen sollen.« »Wieso bist du es denn nicht?« »Weil du wegen mir schon so oft zurückstecken musstest. Ich finde, dass es an der Zeit ist, dass ich auf eigenen Beinen stehe, meine Probleme alleine löse. Ich kann nicht immer dich vorschicken.« »Aber ich kann trotzdem an deiner Seite sein, wenn es nötig ist. Wie gesagt, Familie sind nicht nur Frau und Kind. Und du bist mehr meine Familie, als unsere Eltern und Rena zusammen.« Darauf schwieg Lugh Akhtar. Er verstand Vivamus. Wann immer es nötig war, war er an seiner Seite gewesen. Wenn sie niemand anderen gehabt hatten, sie hatten immer einander. Er dachte an ihre gemeinsame Kindheit. Wie sie im Sommer draußen über die Felder gelaufen waren und wie sie im Winter gemeinsam am Feuer gesessen und den Geschichten von Kanoa zugehört hatten. Und auch, wie sie in Altena die Nachmittage damit verbracht hatten, durch die Straßen zu laufen, wie sie sich um ihre Lernstunden gedrückt hatten, schließlich doch gemeinsam lernten und abends über ihren Büchern eingeschlafen waren. »Seit wann nennst du mich eigentlich nicht mehr Fin?«, fragte er irgendwann. »Seitdem du nicht mehr mein kleiner Fin bist. Seitdem du erwachsen geworden bist. Seitdem du mich nicht mehr brauchst«, antwortete Vivamus. »Ich brauche dich. Vielleicht nicht immer, aber oft genug. Du gibst mir Mut, wenn du an meiner Seite bist.« »Und du wirst mir gerade zu sentimental.« Vivamus wirkte peinlich berührt. Ein roter Schimmer zierte seine Wangen und er schaute zu Boden. »Du hast damit angefangen«, protestierte Lugh Akhtar lachend. »Ja, schon gut. Was tun wir jetzt?« »Das musst du mir sagen. Ich weiß nicht, ob du noch immer wütend auf mich bist, wenn du es mir nicht sagst.« »Ich bin nicht wütend, Fin. War ich nie. Ich bin enttäuscht, das ist etwas anderes. Aber manchmal hilft es, wenn man Dinge einfach einmal ausspricht. Und das hat es«, antwortete er. »Also ist wieder alles gut zwischen uns?« »Ja. Natürlich. Du bist mein Bruder, der einzige Verwandte von mir, der nicht die Nase rümpft, wenn er mich sieht. Wie könnte ich dir da böse sein?« »Deine Tochter rümpft die Nase wenn sie dich sieht?«, fragte der junge Zauberer und lächelte. »Ja. Ich weiß auch nicht, wieso sie das macht«, grinste Vivamus, schüttelte dann sacht den Kopf. »Morgen geht es ins Reich des Winters. Ist es dort sehr kalt? Dann brauch ich nämlich dickere Kleidung.« »Nein, keine sorge. Du brauchst bloß deinen Tierpelz«, lächelte der junge Zauberer. »Tierpelz…?«, erstaunt blinzelte der junge Mann. »Ja. Hinter der Mauer reist man am besten in Tiergestalt. Meine hast du eben schon gesehen. Nanook und Kenai werden auch zu Wölfen und Schatten ist ein Fuchs.« »Und ich?« »Das weiß ich nicht. Man kann sich niemals sicher sein, was bei der ersten Verwandlung herauskommt. Man kann sich auch nie sicher sein, ob sie funktioniert, aber wem erzähl ich das. Das weißt du selbst zu genüge«, meinte der junge Zauberer und griff in Vivamus Haar. Es war schon lange nicht mehr dunkelbraun, wie in der Kindheit der beiden Brüder, sondern es war so bunt sie das Licht im Turm der Zauberer in Altena. Das was Lugh Akhtars verdienst. Er hatte zeigen wollen, wie gut er war, doch er hatte es nicht mehr rückgängig machen können. Und einen Zauber, der so mächtig war, das er ihn nicht mehr bannen konnte, hatte er bloß ein einziges weiteres Mal vorgefunden. »Hast du die Haare von Navarres Kaiser eigentlich auch auf dem Gewissen?«, erkundigte sich Vivamus. »Nein, das war Neas Bruder, Hope. Und bei ihm war es ein Versehen. Stört es dich nicht, das man dich anstarrt deswegen?« »Stört es dich, das sie dich wegen deiner Augen anstarren?« »Augen sind unauffälliger. Ich kann den Blick senken, dann erkennt man es kaum noch. Wenn du dagegen eine Kapuze trägst, dann wirkst du nur noch auffälliger.« »Stimmt auffallend. Rena kennt sich gut mit Pflanzen aus, ich färbe sie mir. Wenn es nötig ist, sonst ist es mir zu aufwendig.« »Sollte ich vielleicht auch einmal Ice vorschlagen. Was hast du eigentlich vorhin mit Schatten gemacht? Ihr beide wirkt so vertraut in letzter Zeit…« »Weil ich das Gefühl habe, sie auch zu kennen… irgendwie. Ich mag sie, sie ist… irgendwie anders.« »Bin ich etwa der Einzige, der nicht versteht, warum man sie doch mögen sollte? Ich tue es nach wie vor nicht.« »Man muss nicht jeden mögen, Fjodor. Und vielleicht änderst du deine Meinung auch noch. Manchmal dauert es eben, bis man jemanden mag. Oder man tut es nie, aber auch das ist nicht schlimm. Es reicht, wenn du sie akzeptierst.« Lugh Akhtar nickte nachdenklich, blieb dann stehen und schaute zurück. »Wir sollten umdrehen, bald ist Zeit für das Abendessen«, meinte er. »Stimmt«, nickte Vivamus. Dann grinste er. »Willst du nicht schon jetzt herausfinden, was für ein Tier ich werde?« Lugh Akhtar lächelte. Er nickte und konzentrierte sich. Hier, wo die Magie war, mit der er schon seit Jahren tagtäglich zu tun hatte, fiel es ihm seltsam leicht, sodass sich Vivamus Gestalt bald schon veränderte. Der junge Zauberer war nicht einmal wirklich erstaunt, als sein Bruder schließlich in Wolfsgestalt vor ihm stand. Vivamus hatte ein dunkelgraues Fell mit weißen Abzeichen, dazu eine Mähne, die so bunt war, wie sein Haar in der Menschengestalt. Dazu war auch der Schwanz bunt gefärbt. Er verwandelte sich selbst in einen Wolf und trabte langsam los. Vivamus folgte unsicher. »Wolf also«, lachte der. »Ja. Es gibt viele Wölfe in meiner Umgebung«, erklärte der junge Zauberer über die Schulter. Da fegte Vivamus an ihm vorbei und sprang gut gelaunt durchs hohe Gras. »Wettrennen!«, rief er dem weißen Wolf noch zu. Der lachte laut auf und rannte los. Befreit von einer schweren Last, bereit, den nächsten Abschnitt seiner Reise anzutreten. Kapitel 20: Winter ------------------ »Nichts gegen dich, Lugh, aber irgendwie habe ich mir das Reich des Winters… eindrucksvoller vorgestellt.« Kenai schaute sich mit einem Stirnrunzeln um. »Wir sind auch noch gar nicht wirklich in ihrem Reich. Das alles hier gehört schon dazu, ja, aber hier leben ihre… nennen wir sie mal Untergebenen. Cinder und Soul haben hier gelebt und auch Hope und Ice, nachdem sie verbannt wurden. Das wirkliche Reich das Winters, wo nur die zutritt haben, die von ihr die Erlaubnis erhalten, liegt im Herzen, im Revier der Eismonde.« »Also müssen wir noch ein ganzes Stück laufen«, mutmaßte Vivamus. »Sie kann ihr Reich überall beginnen und überall enden lassen, solange es innerhalb der Mauer ist. Jeder Schritt könnte uns über ihre Grenze bringen, wenn sie es will«, antwortete Schatten und machte ein paar schnelle Sätze, um wieder mit den anderen mitzuhalten. Mit ihren kurzen Fuchsbeinen und ihren kleinen Schritten, fiel sie immer wieder ein bisschen zurück, doch es schien sie nicht zu stören. »Wirklich? Dann könnten wir doch eigentlich genauso gut hier waren, bis sie uns bei sich haben will, oder?«, überlegte Kenai. »Nein. Wir müssen laufen, sonst können wir nicht über die Grenze«, antwortete der weiße Wolf und blieb plötzlich stehen, wandte sich zu Schatten. »Weißt du, wo sich die Grenzen gerade befinden?« Die Füchsin schüttelte den Kopf. »Das ist Sache des Winters. Wenn sie meint, dass unsere Pfoten kalt genug sind, dann wird sie uns schon zu sich lassen. Es spielt dabei keine Rolle, ob du den Zugang kennst, wenn sie meint, dass es noch nicht an der Zeit ist, dann wird sie dich diesen letzten Schritt nicht tun lassen.« »Dann gehen wir weiter in Richtung der Eismonde. Soll ich dich tragen? Dann kommen wir schneller voran«, bot der weiße Wolf an. Die Füchsin setzte sich ins harte Gras und zuckte abfällig mit ihrem Ohr. »Hörst du mir nicht zu? Es ist egal, wie schnell oder wie langsam du bist, du musst einfach nur in Bewegung bleiben, den Rest entscheidet sowieso sie.« Lugh Akhtar schaute sie einen Augenblick lang wortlos an, dann wandte er sich mit einem Knurren ab und lief weiter. Die anderen zögerten kurz, bevor sie ihm folgten, bloß Nanook blieb bei ihr. »Ich glaube, dass er das eigentlich als Freundschaftsangebot gemeint hat«, überlegte er leise. Schatten seufzte. »Ich weiß, aber so etwas bemerke ich erst, wenn ich meinem Gegenüber schon kräftig auf den Schwanz getreten bin«, erklärte sie und stand wieder auf. »Und was tust du jetzt?«, wollte Nanook wissen. »Nichts. Warten. Lass uns gehen, sonst verlieren wir sie.« Die Füchsin lief weiter, setzte dabei ihre Pfoten so voreinander, das die Abdrücke im staubigen Boden eine gerade Linie ergaben. Nanook folgte ihr, wirkte dabei sehr nachdenklich. »Woran denkst du?«, fragte sie. »Ich frage mich, wieso du Lugh Akhtar so wenig hilfst«, antwortete er wahrheitsgemäß. Die Füchsin wurde langsamer und hörte mit ihrem Spielchen auf. Sie ging langsam neben dem weißen Wolf her. »Weil ich mir noch nicht sicher bin, ob ich gut finde, was geschehen wird, oder ob es mir nicht gefällt.« »Warum sagst du es ihn nicht einfach? Dann kann er sich darüber Gedanken machen, dann brauchst du es nicht mehr zu tun.« »Eine verlockende Idee, aber leider ist das nicht meine Art.« »Kann ich es dann vielleicht entscheiden? Es geht hier ja schließlich um mich, da ist es doch nur recht, wenn ich selbst entscheiden darf, oder?« »Stimmt. Im Moment entscheide ich nach dem, was ich will, aber schlussendlich sollte das ja egal sein…« Sie ließ sich noch weiter zurückfallen, sodass sie die anderen ganz sicher außer Hörweite wusste. Dann erzählte sie Nanook, was geschehen wird, wenn sie das letzte Stück seiner Seele fanden. Und der junge Mann schwieg dazu. »Ich hätte es dir nicht sagen sollen. Ich hätte es alleine entscheiden sollen, denn du weißt ebenso wenig eine Antwort, wie ich«, seufzte sie schlussendlich. »Hilf Lugh Akhtar. Beide Wege sind nicht schön, aber der gefällt mir schlussendlich besser. Hilf ihm.« Schatten wirkte nicht einmal überrascht, aber auch nicht gerade begeistert. »Wenn das dein Wille ist, dann werde ich das tun. Ein Weg ist genauso schlecht, wie der andere, deswegen ist es schlussendlich sowieso in sich gleich. Aber viel mehr helfen kann ich ihm eigentlich gar nicht.« »Tue, was du tun kannst. Das ist meine einzige Bitte an dich.« »Natürlich. Aber jetzt sollten wir wieder zu den anderen aufschließen.« Nanook nickte und gemeinsam liefen sie über das harte, staubige Gras, bis sie wieder bei ihren Gefährten waren. »Wo wart ihr?«, fragte Vivamus neugierig. »Schatten hat mir etwas erzählt, das nicht für jede Ohren bestimmt ist«, antwortete Nanook wahrheitsgemäß. Lugh Akhtar schien diese Antwort nicht zu gefallen, denn er wirkte eher missmutig, doch er beließ es bei einem unwilligen Zucken der Rute. »Ist es noch weit?«, wollte Kenai wissen, brachte damit das Thema bewusst wieder auf etwas anderes. »Ich weiß es nicht«, antwortete Lugh Akhtar und lief weiter. In seinen Gedanken war er die ganze Zeit über schon weit, weit weg. Deswegen fiel es ihm auch erst im ersten Moment nicht auf, das er die Grenze überschritten hatte. Erst als ihm bewusst wurde, dass er plötzlich durch Schnee lief, stutzte er. Er schaute sich um. Es war Nacht, das Nordlicht leuchtete, und um ihn herum war nichts als Schnee, so weit er sehen konnte. Aber er war nicht allein. Hinter ihm stand Schatten, die nicht erstaunt wirkte, aber auch scheinbar ganz woanders sein wollte, und vor ihm, im Schnee, von dem sie sich nur durch ihre Augen abhob, stand seine Mutter, der Winter. »Wo sind die anderen?«, fragte er. »Sie sind sterblich, sie haben hier nichts zu suchen.« »Kenai und Nanook schon. Sie sind beide wie ich.« »Sie sind anders. Sie haben hier nichts verloren.« Lugh Akhtar zuckte unwillig mit den Ohren, schwieg aber. Er ahnte, dass es sowieso egal war, was er sagte. Stattdessen setzte er sich. »Du bist nicht grundlos hier, was hast du auf dem Herzen?«, fragte der Winter. »Da gibt es gleich zwei Dinge. Zum einem mein Schicksal, zum anderen das von Nanook.« »Ja, ich weiß, du willst ins Sternenreich.« »Um dort das letzte Stück seiner Seele zu finden, ja.« Schatten und der Winter tauschten einen langen Blick, während die Füchsin an die Seite des weißen Wolfes trat. »Und dein anderes begehren?«, fragte die Wölfin und setzte sich ebenfalls. »Man sagte mir, dass ich deine Nachfolge antreten soll«, begann Lugh Akhtar. »Ja. Meine Zeit neigt sich dem Ende. Man muss wissen, wann eine neue Generation an der Reihe ist und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen.« »Jetzt? Was genau meinst du mit jetzt?« »Jetzt. In diesem Leben, denn du hast kein anderes, in dem es möglich wäre.« Lugh Akhtar schaute auf den Schnee. Er dachte nach. Etwas war da, das ihm nicht gefiel. Es klang nicht wirklich so, als ob er den Zeitpunkt wirklich selbst bestimmen könnte. Da kam Hilfe von gänzlich unerwarteter Seite. »Lass es Lugh Akhtar entscheiden. Für dich ist ein ganzes Menschenleben doch bloß ein Wimpernschlag, für ihn aber ist es eine Ewigkeit. Die erste Ewigkeit, die ihm bevorsteht«, begann Schatten. »Aber es ist seine Bestimmung.« »Nicht, das er es sofort tut. Lass ihn entscheiden, für dich macht ein Jahrhundert mehr oder weniger doch sowieso keinen Unterschied mehr. Für ihn schon. Und er weiß doch am Allerbesten, wann es an der Zeit ist.« »Er ist sterblich, Chaya. Und er ist der Einzige, der für diese Position in Frage kommt«, gab der Winter zu bedenken. Darauf lachte die Füchsin schnaubend auf. »Glaubst du, ich würde ihn sterben lassen? Ihn?«, fragte sie. Dabei las der weiße Wolf etwas in ihren Augen, das ihm gar nicht gefallen mochte. Für einen Augenblick fühlte er sich, als wäre er ihr Besitz. »Ich weiß nicht, was du vorhast, weder mit Fjodor, noch mit irgendjemand sonst, Chaya. Und ich weiß, das es nichts gibt, was man von dir nicht erwarten sollte, sonst ist man verloren.« »Ich könnte dir jetzt mein Wort geben, aber ich fürchte, das es dich nicht interessieren würde, oder?« »Ob du mir dein Wort gibst, oder nicht. Du bist anders als ich, ich könnte mich nie darauf verlassen.« Da seufzte Schatten. »Ja, du hast recht. Und ich wollte das auch nicht tun, aber du lässt mir scheinbar keine Wahl. Dass Lugh Akhtar selbst entschieden soll, ist keine Bitte an dich.« Der Winter und die Polarfüchsin schauten einander in die Augen. Der weiße Wolf spürte, wie schwer es beiden fiel, den Blick nicht abzuwenden, doch schließlich senkte die weiße Wölfin den Blick. »Wenn das dein Wunsch ist…«, meinte sie und schaute an ihnen vorbei auf den Schnee. Schatten schnaubte wütend und wandte sich ab. »Wir sehen uns bei Drafnar, ich gebe den anderen bescheid, dass sie sich keine Sorgen machen müssen«, knurrte sie schlecht gelaunt und verschwand mit ein paar Schritten im Nichts. Lugh Akhtar schaute ihr nachdenklich nach. Er hatte das Gefühl, das etwas nicht so war, wie er es erwartet hatte. »Du bist aber nicht nur hier, um mit mir zu besprechen, wann genau du meinen Platz einnimmst. Was willst du noch?« Der Tonfall des Winters war deutlich kälter. »Ins Sternenreich, wie du vorhin schon richtig gesagt hattest. Schatten… Chaya sagte, das Nordlicht führt hinauf, aber wie kann das sein?« »Weil es so ist. Wenn die Lichter einen Weg beschreiben, dann führt er hinauf zu den Sternen.« »Kannst du diesen Pfad für mich öffnen?«, bat er. »Nein. Weißt du, das Polarlicht gehört meinem Rudel nicht nur an, weil es eben scheint. Es scheint das ganze Jahr hindurch, es untersteht somit nicht mir.« »Sondern allen Jahreszeiten?« »Nein. Sie ist uns gleich gestellt und wir alle unterstehen Drafnar und Paivi. Das Nordlicht aber ist noch viel mehr als das. Nicht einmal Paivi kann ihr einen Befehl erteilen, denn der Tag hat über das Nordlicht keine Macht.« »Also ist sie nur Drafnar untergeordnet. Deswegen hast du auch so schnell zugestimmt, als er damals fragte, ob er das neue Nordlicht aussuchen dürfe?« »Ja. Es obliegt uns, unsere Vorschläge zu machen, aber die endgültige Entscheidung trifft Drafnar.« »Das Nordlicht ist also sozusagen euer Bruder oder eure Schwester… Aber wieso gehört sie dann dem Winter an?« »Weil sie zugleich trotzdem zu meinem Rudel gehört. Ich besitze auch einen Teil ihrer Macht, aber sie ist dennoch immer mächtiger als ich. Es ist… kompliziert.« »Du hast also keinen Einfluss darauf, wer es wird.« »Doch. Drafnar entscheidet, aber nicht immer. Und ernennen muss auch ich. Ich könnte auch jemand anderes wählen, aber Drafnars Urteil war noch nie schlecht, also halte ich mich daran.« Der weiße Wolf schwieg darauf verwirrt, schüttelte dann den Kopf. »Du hast recht, es ist kompliziert. Und ihr solltet das nicht Cinder erfahren lassen, die glaubt nämlich, dass ihr Nalani gezwungen habt. Ich will gar nicht wissen was sie tut, wenn sie davon erfährt…« Der Winter lächelte sanft. »Gut, wieder zurück zum Thema. Du kannst mir den Weg nicht öffnen. Aber Aurora kann es tun, oder? Kannst du sie herrufen, damit ich sie darum bitten kann?« »Chaya kann es auch. Aber du hast recht, Aurora ist der bessere Weg.« Sie betonte den Namen auf eine sonderbare Art und Weise und dem weißen Wolf viel wieder ein, das die Mitglieder ihres Rudels ihre sterblichen Namen ablegten, wenn sie ins Rudel kamen. Aurora war hier nicht Aurora, sondern Polarlicht. Wie auch Nalani zuvor. »Wo kann ich sie finden?«, fragte er leiser. »Auf dem Berg dort«, antwortete Winter und deutete in Richtig einiger Felsen, dessen Spitze nicht sichtbar war. Und Lugh Akhtar erinnerte sich, als er das erste mal hier gewesen war, war Cinder von dort wieder zu ihnen gestoßen. »Dann werde ich ihr jetzt einen Besuch abstatten. Hab dank, wir sehen uns gewiss bald wieder«, sprach er noch und lief los. Der Aufstieg war lang und beschwerlich, aber er ahnte, dass Zeit hier keine Rolle spielte. Deswegen lief er auch nicht den direktesten Weg, sondern den, bei dem es das geringste Risiko gab. Er konnte es wirklich nicht gebrauchen, auf halbem Weg abzustürzen. Schließlich kam er aber oben an und wurde dort auch schon von Schatten erwartet. Sie saß da und schaute in den klaren Nachthimmel hinauf, Sternenlicht glitzerte in ihren roten Augen. »Ist Aurora nicht hier?«, fragte er, ohne sich lange mit einer Begrüßung aufzuhalten. »Ich weiß nicht, kann sein, kann nicht sein…«, meinte sie verträumt. Er runzelte die Stirn, kam dann langsam zu ihr, als er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm. Da stand Aurora, er hatte sie im ersten Augenblick nur nicht gesehen. »Aurora, hallo«, begrüßte er sie erfreut und trabte zu ihr. Er rieb seine Nase an ihrem dunklen Fell und sie tat es ihm gleich. »Du willst zu den Sternen hab ich gehört«, meinte sie leise. »Ja. Ich muss einen bestimmten von ihnen finden, um meinem Bruder zu helfen«, antwortete er. »Lässt du mich den Weg gehen? Der Winter sagte, das nur du es könntest.« »Natürlich. Ich vertraue darauf, dass du keinen Schaden anrichten wirst« »Schaden anrichten…?« »Ich bin die Wächterin dieses Weges. Ich darf nur vorbeilassen, wen ich für Vertrauenswürdig halte. Ich habe noch nie jemanden hier vorbeigelassen, außer Drafnar. I-ich habe ein wenig angst, das ich mich täuschen könnte«, erklärte sie und ihre Stimme zitterte leicht. »Keine sorge, ich werde nichts anstellen.« »Drafnar wird auch dort sein. Irgendwo. Such ihn, damit du nicht versehentlich in ein Fettnäpfchen trittst«, riet sie ihm und er nickte dankbar, aber auch unsicher. Dann begannen Lichter um ihn herum zu leuchten. Blass erst, aber immer heller, strahlender, leuchtender, bis er schließlich vom farbigen Licht umhüllt war, bis diese schließlich einen Pfad bildete. Schatten stellte sich an die Stelle, an der das Licht auf den Felsen traf und schaute ihn auffordernd an. »Dir gebührt der erste Schritt zu den Izarras«, erklärte sie. »Izarras?«, fragte er erstaunt und kam langsam näher. »So nennen wird das Sternenvolk in der alten Welt. Izarra. Stern«, erklärte die Füchsin. »Izarra… irgendwie.. gefällt er mir…«, meinte der weiße Wolf und setzte vorsichtig eine Pfoten auf das Licht. Es war ein seltsames Gefühl, doch er meinte, dass er es nicht das erste Mal verspürte. Irgendwann, irgendwo, war es ihm schon einmal so ergangen, doch es mochte ihm nicht einfallen, wann und wo. »Keine Sorge, es hält dich«, erklärte die Füchsin, während er langsam und vorsichtig weiterlief. Kaum stand er gänzlich auf dem Licht, da sprang sie an ihm vorbei und lief lachend und voll Freude voran. »Ich wollte schon immer einmal diesen Weg beschreiten!«, jauchzte sie und ihre Freude wirkte ansteckend, den auch Lugh Akhtar wurde unwillkürlich schneller und lief bald hinter ihr her. Er wusste nicht, ob es ihm nur so erschien, oder ob es wirklich so war, aber der Lichterweg erschien ihm viel kürzer, als die Felsen hinaufzuklettern, nur Augenblicke zuvor. Als sie schließlich das Ende erreichten, warf sich die Füchsin rücklings auf den Boden und keuchte schwer, während der junge Zauberer lächelnd und neugierig um sich blickte. Erst erschien ihm diese Welt gar nicht anders, als jene, aus der er kam. Der Boden war ein anderer, es war vielmehr so, als würden sie auf Wolken laufen, doch davon abgesehen, konnte er nichts erkennen, außer einem gelegentlichen Glitzern in der Ferne. »Aurora sagte, das wir zu allererst einmal Drafnar suchen sollten«, erklärte er der japsenden Schatten. »Der kommt schon von selbst«, antwortete die und wälzte sich langsam auf die Seite. »Meinst du?« Die Füchsin antwortete nicht, stattdessen musste der junge Zauberer grinsen. Er verstand nicht, wie sie so schnell außer Atem sein konnte, aber eine gewisse Schadenfreude machte sich in ihm breit. »Wer seid ihr?«, fragte da eine Stimme. Erschrocken wandte er sich um und erblickte zum ersten Mal in seinem Leben einen Stern von nahmen. Er wusste nicht genau, was er erwartet hatte, aber er wusste, das es nicht das gewesen war. Vor ihm stand eine goldfarbene Wölfin mit silbernen Augen. Ihren Rücken zierten zwei riesige goldene Schwingen und die, halb ausgebreitet, wie eine schützende Mauer wirkten. Sie schien zu leuchten, während sie ihn neugierig, mit zur Seite geneigtem Kopf anschaute. »Bist du ein Stern? Ein Izarra?«, fragte er leise. »Ja. Ich bin Evangeline.« Kapitel 21: Im Sternenreich --------------------------- »Ja, es gibt wirklich viele Wölfe um mich herum«, murmelte er. Schatten grinste darauf und stand wieder auf, trat an seine Seite. »Was hast du gesagt?«, fragte Evangeline und legte langsam die Flügel an. »Nichts, nur… ich habe mir etwas anderes vorgestellt«, erklärte der weiße Wolf und lächelte verlegen. »Etwas anderes?« Die goldene Wölfin schien nicht zu verstehen. Sie deutete eine verdutzte Kopfschütteln an, machte dann zwei Schritte auf ihn zu. »Wer seit ihr?«, fragte sie. »Ich bin Lugh Akhtar und meine Begleiterin heißt Schatten«, stellte der weiße Wolf sie vor. »Ihr kommt aus einer anderen Welt, nicht wahr?«, erkundigte sich Evangeline neugierig weiter. »Ja.« »Was tut ihr dann hier?« »Wir suchen… einen Stern. Und einen alten Freund von mir.« Evangeline runzelte die Stirn und wirkte ein wenig irritiert, sie schien nicht ganz zu verstehen, was er meinte. »Sie haben keine Freunde, sie haben nur sich selbst«, flüsterte ihm Schatten zu. Er schaute sie verwundert an. »Was…?«, fragte er. »Die Izarra. Sie sind anders als wir, sie leben nicht in Gemeinschaften, sie leben immer allein. Sie haben keine Familie und keine Freunde, sie… leben einfach nur, träumen vor sich hin.« »Das ist… aber kein schönes Leben«, fand der weiße Wolf leise. »Nur für uns nicht. Für sie ist es in Ordnung so. Du weißt doch, man kann verschiedene Lebensweisen haben und auch mit einer völlig anderen glücklich sein.« »Was besprecht ihr?«, wollte Evangeline wissen. »Wir suchen Drafnar. Weißt du, wo er ist?«, erkundigte sich Schatten, bevor Lugh Akhtar etwas sagen konnte. »Ja, natürlich. Jeder weiß, wo er ist«, antwortete sie. »Kannst du uns zu ihn bringen?«, erkundigte sich der weiße Wolf. »Ja«, nickte die goldene Wölfin, doch sie bewegte sich keinen Millimeter. »Tust du es auch?«, fragte Schatten belustigt weiter. »Oh, ja, natürlich. Kommt mit«, rief sie begeistert, wandte sich ab und trabte los. »Sie ist…« Lugh Akhtar schien kein Wort zu finden. »Sie ist es nur nicht gewohnt, zu interpretieren. Du hast sie gefragt, ob sie es kann, nicht ob sie es tut. Das es für uns dasselbe bedeutet, ist ihr nicht klar. Überleg einfach, ob deine Fragen eindeutig sind, dann wird auch eine eindeutig Reaktion erfolgen.« Lugh Akhtar wirkte nicht begeistert, eher ein wenig irritiert. Er schien nicht zu wissen, was er mit ihrem Hinweis anfangen sollte, doch er entschied sich dafür, einfach zu tun, was sie sagte. Sie folgten Evangeline. Die führte sie über eine Landschaft aus dunklen Wolken. Ab und zu waren Lücken und sie konnten weit hinabschauen, da hatte der weiße Wolf angst, dass sie hindurch fallen konnte. Er wusste nicht, was dann geschehen würde, doch das Evangeline und Schatten so selbstsicher liefen, macht ihn selbstsicher, sodass er nicht stehen blieb. Bald fiel ihm auch auf, das Evangeline keineswegs eine geflügelte Wölfin war. Sie wechselte ihre Gestalt, nur ihre Flügel blieben immer dieselben. Als sie letztlich bei Drafnar ankamen, wäre der weiße Wolf fast weitergelaufen. Er sah die schwarze Gestalt einfach nicht, die da stand, und ihnen schon entgegenblickte. Erst, als Evangeline stehen blieb wurde ihm klar, das hier wohl etwas sein musste, doch obwohl er sich umschaute, gewahr er Drafnar nicht. »Ein Wiedersehen doch schneller, als ich es erwartet hätte«, sprach er und Lugh Akhtar sprang erschrocken einen halben Meter in die Höhe. »Hallo Drafnar, die beiden haben nach dir gefragt«, erklärte Evangeline, jetzt in Gestalt eines Dachses, und lief zu ihm. In ihrem sanften Leuchten konnte der weiße Wolf auch seinen Freund endlich erkennen. »Danke, das du sie zu mir gebracht hast, kleiner Stern«, lächelte er sie an. Er hatte die Gestalt eines Mannes, etwas, was Lugh Akhtar noch nicht oft gesehen hatte. Er hätte die wahre Gestalt der Nacht bevorzugt. Letztlich jedoch war es egal. Auch er verwandelte sich und kam zu seinem Freund. »Ich wusste, dass wir uns wieder sehen würden, ich hatte es nur noch nicht so bald erwartet«, lächelte er. »Und ich hatte meine Tochter in deiner Begleitung erwartet, vielleicht auch Nea, aber nicht Chaya.« Ehrfürchtig verneigte er sich vor der Füchsin. »Es ist mir eine Ehre, euch kennen zu lernen.« Schatten neigte ihrerseits ihren Kopf so tief sie konnte. »Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Mani, Drafnar, Nacht.« »Drafnar, wir sind nicht grundlos hier«, mischte sich Lugh Akhtar ein und machte einen Schritt zwischen sie beide. »Das dachte ich mir fast, allerdings weiß ich nicht, was ihr zu finden hoffen könntet…« Nachdenklich neigte der Mann den Kopf, während Schatten sich ebenfalls in das Mädchen verwandelte und neben den jungen Zauberer trat. »Ich suche einen Stern. Ich weiß nicht, kennst du Nanook?« Drafnar runzelte verwundert die Stirn, schüttelte den Kopf. »Nanook sagt mir nichts«, antwortete er. Da erzählte der weiße Wolf von seinem Bruder. Er hielt sich kurz und knapp, aber er ließ dennoch nichts aus. Als der junge Zauberer bei Schattens Hinweis anbelangt war, runzelte er die Stirn und schaute sie zweifelnd an. Das entging auch Lugh Akhtar nicht, doch er erzählte zu Ende. »Und jetzt bin ich hier und suche eben diesen Stern«, endete er kurz und knapp. »Ein… Izarra?«, fragte Drafnar zweifelnd. »Ein Stern«, antwortete sie und schaute zu Boden. Drafnar schien zu verstehen, was sie damit sagen wollte, denn er nickte. »Du bist hier falsch, Lugh Akhtar. Es ist kein Stern, es kann keiner sein«, erklärte er. »Es kann keiner sein? Wieso?« »Weil ein Seelenstück nur in einem Körper leben kann, in dem keine vollständige Seele lebt. Bei einem Izarra wirst du das aber nicht finden«, erklärte er. »Ich dachte auch, dass ich es bei einem Menschen nicht finden würde, Nanook hat mir das Gegenteil bewiesen. Woher also nimmst du die Gewissheit?« »Weil Izarra anders sind als Menschen«, antwortete Drafnar und streichelte Evangeline, die als geflügelte Stute an seiner Seite stand. Lugh Akhtar wollte nachfragen, doch etwas in Drafnars Blick sagte ihm, dass er still bleiben sollte. »Mag deswegen mein Bruder sie so gerne beobachten?«, fragte Evangeline. »Ja«, nickte der Mann und nickte nach hinten. »Er beobachtet sie wieder.« »Er ist auch seltsam«, bemerkte sie verträumt und schlich als Katze davon. Auch jetzt wieder wollte der junge Zauberer etwas sagen, doch Drafnar schüttelte sanft den Kopf. »Jeder von ihnen lebt in einer ganz eigenen Welt. Das macht sie nicht schlecht oder böse oder dergleichen. Nur eben anders, zumindest für uns. Für sie ist es anders, wenn man sich für das Interessiert, was außerhalb der eigenen Welt geschieht. Wie Fylgien das tut.« »Das mag sein, aber woher nimmst du dir nun deine Gewissheit, das ich den Stern hier nicht finde?« »Weil die Izarra keine Seelen haben, sie sind selbst Seelen. Deswegen haben sie hier auch keine feste Gestalt, unsere Seele hat auch keine. Wenn von ihnen ein Stück fehlen würde, oder ihnen etwas anhinge, was dort nicht hingehörte, würdest du es sofort sehen. Ich kenne sie alle, bei niemanden von ihnen ist das der Fall, also wirst du hier vergebens suchen.« »Nicht ganz. Ich möchte, das Lugh Akhtar Fylgien sieht«, mischte sich Schatten ein. »Wieso?« Nicht nur der junge Zauberer interessierte dies, auch Drafnar schien es nicht genau zu verstehen. »Er wird noch eine große Rolle in Lugh Akhtars Leben spielen«, erklärte sie mit blitzenden Augen und kicherte mädchenhaft. Die beiden Männer warfen sich einen Blick zu, doch sie sagten nichts weiter. »Gut, von mir aus, wenn es dich glücklich macht«, seufzte der junge Zauberer, schüttelte dann den Kopf. »Aber wo finde ich denn den richtigen Stern?« Drafnar dachte einen Moment nach, dann schien ihm etwas einzufallen. Seine Augen weiteten sich erstaunt und er schaute Schatten an. »Der Stern?«, fragte er und erhielt ein Nicken zur Antwort. »Und dafür schickst du ihn hierher?« »Ich habe ihn nirgendwohin geschickt«, protestierte das Mädchen. »Ich habe ihm gesagt, dass der letzte Seelensplitter ein Stern ist, mehr nicht. Ich habe sogar versucht ihm klar zu machen, das er hier falsch sein würde, aber so sind Männer eben, wenn sie glauben, das sie recht haben, ist egal, wie sehr es dir augenscheinlich widerstrebt, sie tun dennoch, wovon sie überzeugt sind.« Drafnar lächelte. »Gut. Ich darf es ihm auch nicht sagen, nicht wahr?« »Er muss von alleine darauf kommen«, bestätigte sie. »Okay. Dann gebe ich dir einen anderen Hinweis, vielleicht verstehst du den ja besser. Manchmal muss man in die Ferne sehen, manchmal liegt das Ziel aber auch nur eine kleine Bewegung entfernt.« Lugh Akhtar runzelte die Stirn, in seinen Gedanken raste es, doch er verstand es nicht. Er beschloss, dass er sich darüber später Gedanken machen würde, deutete stattdessen in die Richtung, in die Evangeline verschwunden war. »Dann wird es wohl Zeit, Fylgien kennen zu lernen, wer auch immer er ist.« »Nein, du sollst ihn nicht kennen lernen«, widersprach Schatten. »Du sollst ihn nur sehen. Damit du ihn erkennst, wenn es nötig ist. Und damit du schon jetzt die Gewissheit hast, das er genau der Richtige ist.« »Der Richtige? Wozu?« Drafnar wirkte misstrauisch. »Keine Angst. Er wird den Platz einnehmen, der ihn vorherbestimmt ist, aber es gibt auf dem Weg dahin noch einen anderen wichtigen halt«, lachte das junge Mädchen und lief an ihm vorbei voran. Drafnar und Lugh Akhtar schauten einander kurz an, wussten, das auch der jeweils andere nicht verstand, wovon sie sprach, dann folgen sie ihr. Der Weg war gar nicht weit, ein wenig von ihnen entfernt saßen zwei Wölfe. Eine war Evangeline, neben ihr saß ein weiterer goldener Wolf mit hellen und dunklen Abzeichen, um den sie ihren Flügel gelegt hatte. Er starrte voll Sehnsucht in die Ferne. »Das ist er?«, fragte der junge Zauberer. »Genau. Schau ihn dir gut an«, riet ihm das Mädchen. »Was ist so besonders an ihm?« »Nun, er soll das Reich der Izarras irgendwann einmal anführen. Im Moment tu ich das, nachdem ihr alter Anführer niedergegangen ist, aber es muss jemand tun, der auch zu ihnen gehört. Und dafür passt Fylgien einfach perfekt«, meinte Drafnar. »Weil ihn auch die anderen Welten interessieren, ja«, bestätigte Schatten mit leuchtenden Augen. »Aber ich denke, das hast du nicht gemeint, nicht wahr, Lugh Akhtar?« »Nicht wirklich, aber das wirst du mir sowieso nicht verraten, so gut kenne ich dich mittlerweile. Aber gut. Fylgien also ist sein Name und er wird der Herr des Sternenreiches. Gibt es noch etwas über ihn zu wissen?« Schatten seufzte und verdrehte die Augen. »Ja, aber das interessiert dich aktuell ja scheinbar sowieso nicht. Merk ihn dir dennoch, du wirst es nicht bereuen. Und Drafnar, versichere Lugh Akhtar bitte noch einmal, das er ein wirklich guter Kerl ist, das wird dir später noch viel bedeuten, mein weißer«, fand sie und wandte sich ab. »Sie hat recht. Er ist wirklich ein guter Kerl und ich bin wirklich gespannt, was für ein Schicksal ihn erwarten wird. Willst du es mir nicht verraten, Chaya?« »Darüber werden wir noch sprechen, aber ein anderes Mal. Das hat jetzt noch Zeit, mehr als ein Jahrzehnt«, lächelte sie und deutete in jene Richtung, aus der sie gekommen waren. »Wollen wir zurückgehen, Lugh Akhtar?« »Ja, hier sind wir ja falsch«, nickte er. »Ich begleite euch noch«, sagte Drafnar. Gemeinsam gingen sie los, Drafnar und Schatten kannten den Weg. Lugh Akhtar nicht, aber er folgte ihnen und schaute sich dabei noch einmal interessiert um. Diese Welt war anders als seine, er wusste nicht genau, was er von ihr halten sollte. Und dann schaute er nach unten. Er blieb wie vom Donner gerührt stehen, seine Augen wurden immer größer, während er hinabstarrte. Drafnar und Schatten waren schon ein Stück weitergelaufen, bis sie bemerkten, dass er nicht mehr bei ihnen war. Sie wandten sich um und während Drafnar fragend schaute, lächelte Schatten. »Was ist das?«, fragte der junge Zauberer staunend. »Das ist die Erde«, erklärte Schatten und trat neben ihn. »Die Erde? Die Welt, in der wir leben?« Seine Augen wurden noch größer, als er sie anschaute. »Ja. Sie ist wunderschön, nicht wahr?«, lachte Schatten. Wortlos und mit offenem Mund nickte der junge Zauberer bestätigend. »Sie ist… blau.« »Ja. Das sind die Meere, sie ist über und über bedeckt mit Wasser. Und sie ist wunderschön.« »Oh ja…«, seufzte der junge Zauberer verträumt. Für eine ganze Weile blieben sie noch so stehen und Lugh Akhtar verstand, wieso Fylgien so fasziniert von seiner Welt schien, doch letztlich wusste er, das er zurück musste. Er nickte und deutete Schatten und Drafnar, voran zu gehen. Zurück in seine Welt, die schöner war, als er es je für möglich gehalten hätte. Und Nanook hatte recht, sie war rund und ein Weg aus Licht verband diese beiden Welten. Doch er wusste, dass er mit dem Träumen aufhören musste. Er hatte einen neuen Hinweis, den es zu lösen galt. Und er hoffte inständig, dass einer seiner Freunde eine Idee haben würde, denn er hatte keine. So war er nicht nur von Staunen und Glück erfüllt, als er das Nordlicht hinab lief, sondern auch von Sorge und Mutlosigkeit. Er hoffte, dass ihm bald etwas einfallen würde, denn er hatte nicht mehr viele Optionen offen. Und mit jedem Weg, wurden es weniger. Kapitel 22: Wasserspiele ------------------------ Mit einem tiefen Seufzen machte Lugh Akhtar seine Augen wieder auf. Er dachte schon seit Stunden hin und her, überlegte, was Drafnar meinen konnte und auch, was Schattens Hinweis bedeuten mochte. Er hatte einfach keine Idee. Es schien etwas zu sein, das zum Greifen nah war, doch gleich, was er sich einfallen ließ, er fand nichts. Schließlich starrte er einfach nur noch vor sich hin, ohne bewusst etwas zu denken. Er beobachtete die Welt vor seinem Fenster, freute sich auf den nahen Herbst und fragte sich, ob er wohl bald wieder dauerhaft zu Hause sein würde. Im Moment sah es noch nicht danach aus. Er seufzte und stand langsam auf. Er überlegte, ob er Vivamus, Nea oder auch Schatten suchen sollte, hoffend, dass einer von ihnen ihm doch noch irgendwie weiterhelfen konnte, doch er musste einsehen, dass das wohl nur vergebliche Liebesmüh war. Er wusste, dass sie getan hatten, was sie konnten. Dennoch konnte er einfach nicht mehr herumsitzen. Er musste etwas tun, ganz gleich, was es auch war. Er brauchte einen freien Kopf, Abstand vom Problem, aber er hatte im Moment mehr das Gefühl, das er schon fast im Ertrinken begriffen war, ohne etwas dagegen tun zu können. Für einen Moment wollte er wieder der weiße Wolf ohne Erinnerung sein, dessen größtes Problem es war, wie er Maya davon abhalten konnte, ihn zu streicheln. Im Moment wünschte er, er könnte zu Maya gehen und ihr von all seinen Problemen erzählen und das war seltsam, den die beiden hatten einander nie so nah gestanden, wie er beispielsweise Kenai stand, oder Chess. Und dennoch hatte er das Gefühl, das die Trauer um sie schier sein Herz zerriss. Jetzt erst, wo er doch schon seit Monaten von ihrem Tod wusste. Wie in Trance bewegte er sich durch den Raum und verließ ihn. Er wusste nicht, wohin er gehen wollte, er ging einfach, ohne über einen Weg oder gar ein Ziel nachzudenken. Er verließ das Haus, ohne jemanden zu treffen, und lief einfach über die Wiese, in irgendeine Richtung davon. Jeder Weg erschien ihm gleich. Schließlich kam er zu einer klaren Quelle. Dieser Ort war der Grund, warum er ausgerechnet hier wohnen wollte, doch die Geschichte um ihn, kannten nur Vivamus und er. Und er würde sie niemanden verraten, nicht einmal Nea. Im ersten Augenblick verstand er nicht, wieso ihn seine Schritte ausgerechnet hierher geführt hatten, doch dann sah er die helle Gestalt auf den harten Felsen sitzen, die Füße im Wasser und die roten Augen nachdenklich in den Wald gerichtet. »Schatten, ich weiß nicht weiter. Ich verstehe eure Hinweise nicht, kannst du mir nicht noch einen geben? Oder mir anderweitig helfen?«, bat er und trat langsam zu ihr ans Wasser. »Ich kann dir nur sagen, dass du es verstehen wirst. Sehr bald«, antwortete sie ohne ihn anzuschauen. »Das hilft mir aber jetzt nicht.« Er ließ sich zu Boden sinken und starrte mit gerunzelter Stirn ins Wasser. »Ich weiß, aber versteh doch: Was wäre das für eine Geschichte, wenn du immer sofort alles wüsstest, alles verstehen könntest?« »Schatten, mich interessiert hier deine Geschichte nicht, ich versteh sowieso nicht, was du meinst.« »Ich weiß. Dabei ist das alles hier meine Geschichte… nichts dafür würde geschehen oder existieren, würde es mich nicht geben.« »Ja, schon gut, du bist eine Göttin und wir alle sind deine braven Lämmer. Dass du Größenwahnsinnig bist, habe ich zumindest mittlerweile verstanden«, knurrte er schlecht gelaunt und zog sich die Stiefel aus. »Ich bin nicht Größenwahnsinnig. Das wäre ich, wenn ich in meiner Welt behaupten würde, dass alle ihr Leben nur mir verdanken. Hier bin ich bloß realistisch.« Da stieg Wut in dem jungen Zauberer hoch. Er blitzte sie wütend, fast hasserfüllt an. »Das ist mir völlig gleich. Hast du das noch nicht verstanden? Es ist mir egal, wer oder was du bist, du machst doch sowieso nur allzu gerne ein großes Geheimnis aus dir«, fauchte er. »Du doch auch, oder glaubst du wirklich, noch immer, das deine Begabung ein großes Mysterium ist und das du der arme, tragische Held bist, der einem ach so Leid tun muss? Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, mein Lieber: Dir fällt so ziemlich alles in den Schoß, du musstest bisher für fast nichts etwas tun. Also hör auf, dir selbst Leid zu tun und tue jetzt endlich etwas für einen Status als Held«, knurrte sie böse. »Ich habe niemanden darum gebeten«, fauchte Lugh Akhtar und stand erregt wieder auf. »Oder hat irgendwer jemals von mir eine Bitte gehört, die darauf zielt, dass immer ich es sein muss, der anderen hilft? Dem alles zufällt, sei es das Mädchen, oder die Magie.« »Dann stell dir doch einmal vor, wie dein Leben anders hätte verlaufen können. Du hättest auch ein unbegabter Tropf sein können. Ich habe aus dir einen Zauberer gemacht, der, seiner Herkunft zum Trotz, geachtet wird, sei es aus Anerkennung oder aus Angst. Stell dir vor, du wärst nur ein Mensch! Es wäre gelaufen, wie bei Kenai, alle Welt hätte dich verachtet, niemand hätte dein Freund sein sollen und Nea wärst du wohl auch nicht begegnet. Als hör auf, dir eine andere Vergangenheit zu wünschen, freu dich lieber, das du diese bekommen hast.« »Oh, ich meckere dir zu viel? Dann verändere doch einfach deine Geschichte, mach aus mir das, was du haben willst. Der demütige junge Mann, der für all sein Glück und all sein Leid so dankbar ist.« »Das wärst aber nicht DU!« Schatten sprang auch auf und schüttelte entschieden den Kopf. »Ich könnte dich zu alle dem machen, was ich mir wünsche, aber das wäre dann irgendwer, jemand anderes, niemand, über den ich schreiben wollen würde! Gerade deine Fehler machen dich zu dem, der du bist und dafür liebe ich dich.« Erstaunt blinzelnd hielt der Zauberer inne, bevor er sie wütend anblitze. »Daher weht also der Wind. Du kannst es nicht ertragen, dass ich Nea habe und deswegen machst du mir das Leben schwer. Das ist kindisch.« Schatten schaute ihn einen Moment lang verblüfft an, dann brach sie in schallendes Lachen aus. »So war das nun wirklich nicht gemeint. Du bist mein Geschöpf, Lugh Akhtar, du bist fast so etwas wie mein Kind. Ich habe keine Kinder, ich weiß nicht, wie es ist, sie zu lieben, aber so stell ich mir diese Liebe vor. In manchen Moment hasst man sie bis aufs Blut und trotzdem würde man ihnen nie etwas antun, was ihnen wirklich schadet. Oder warum glaubst du, hat Tariq seine Frau verloren und nicht du? Und das, obwohl Nea nicht gerade zu meinen Lieblingen gehört, sie ist einfach zu perfekt. Das macht sie für mich langweilig und uninteressant, während du dagegen vor Fehlern nur so strotzt. Ihr seid ein schönes Paar und ich verstand nie wieso, aber ich könnte mir niemand anderen für dich vorstellen. Auch mich nicht.« Darauf schwieg Lugh Akhtar. Ihm lagen eine Menge unschöner Dinge auf der Zunge, doch er schluckte sie alle schweren Herzens hinunter. Er wusste einfach, dass es unklug war, mit Schatten zu streiten, sie würde ihn niemals ein Argument zuspielen, gegen das sie nicht ankam. Und er war nicht so dumm sich auf ein Gefecht einzulassen, das er nicht gewinnen konnte. Stattdessen also setzte er sich wieder hin und schob nun auch seine Füße ins kalte Wasser. Er schwieg. Auch Schatten setzte sich wieder und schwieg ihn eisig an. »Du sagst immer, du wüsstest alles über mich. Du sagst, du hättest mich geschaffen, mir meine Vergangenheit und meine Zukunft gegeben. Aber wenn du so mächtig bist, wieso bist du dann hier? Wenn du diese ganze Welt erschaffen konntest, wieso suchst du dann nicht jemand anderen, der interessanter ist, als ich?« »Ich bin nicht mächtig, Lugh Akhtar. In meiner Welt ist das, was ich tue, nichts Besonderes. Es gibt unzählige, die ihre eigene Welt erschaffen und viele davon sind viel schöner und phantastischer als alles, was ich mir selbst überlegen könnte. Es gibt einige, die mögen das, was ich mir erträume, aber es sind nicht besonders viele. Und diese Welt existiert nur wegen dir. Ich habe sie für dich erfunden. Jede einzelne Zeile existiert nur deinetwegen.« »Erzählst du mir von deiner Welt?« Schatten zögerte. Sie schien darüber nicht sprechen zu wollen, doch schließlicht tat sie es doch. »Sie ist anders als diese hier. Es gibt dort keine wirkliche Magie. Nur Worte sind in der Lage, so etwas Ähnliches zu erzeugen. Wir reisen nicht zu Fuß oder auf Pferden, wir haben… Kutschen, die sind schneller als jedes Pferd. Und wenn wir über den Ozean müssen, dann fliegen wir in Metallvögeln über den Himmel. Dort sind diese unendlich scheinenden Wiesen kaum noch zu finden, überall stößt man auf Straßen, die sich durch die Natur fressen und sie zerstören. Wir tun unserem Planten weh, aber wir haben gelernt, wie wir am besten wegschauen können.« Tränen glitzerten in ihren Augen und sie wirkte traurig und unglücklich. »Und deswegen schaffst du diese Welt? Damit du hier leben kannst, wenn es deine nicht mehr gibt?« Sie lächelte sanft, schüttelte aber den Kopf. »Nein, so einfach ist das leider nicht. Ich bin körperlich immer noch in meiner Welt, nur mit meinen Gedanken, meinen Gefühlen, mit ihnen bin ich hier.« »Warum… weichst du dann jeder Berührung aus? Wenn du doch nur ein Gedanke bist, dann kann es dir doch gleich sein, ob man dich berührt.« »Eigentlich schon. Ich weiß auch nicht, wieso es so ist, aber Berührungen jeder Art sind mir unangenehm, wenn ich sie nicht will und dabei spielt es keine Rolle, ob es sich dabei um meinen engsten Vertrauten oder meinen ärgsten Feind handelt. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, wieso das so sein mag, aber eine wirkliche Antwort habe ich nie gefunden.« »Und wann willst du sie?« »Wenn es mir schlecht geht. Oder wenn ich gerade die ganze Welt umarmen will.« Lugh Akhtar lächelte sanft, stand auf und kam um die Quelle herum, um sich neben ihr niederzulassen. Weit genug, dass sie nicht fortrücken würde, aber doch so nah, wie er ihr selten zuvor gekommen war. »Wieso hast du dir einen eigenen Namen gegeben? Du sagtest bei unserem ersten Treffen, das Chaya der Name ist, den andere dir gaben, Schatten nennst du dich selbst. Wieso?« »Aus demselben Grund, wie du auch: Um deutlich zu machen, wie ich mich fühle. Du nanntest dich Makani, weil du dich gefangen fühltest, weil du frei sein wolltest. Ich nenne mich Schatten, weil ich mir vorkomme wie einer. Ich bin immer da, ich bin allgegenwärtig, aber ich werde dennoch nie wahrgenommen. Es hat schon Tage gegeben, da hat man mich völlig übersehen, da hat man mich Tage später gefragt, ob ich überhaupt dabei war, oder war erstaunt, mich auf einem Foto oder dergleichen zu sehen.« »Wie ein Schatten…«, murmelte der junge Zauberer. »Ja. Ich habe auch Geschwister, einen großen Bruder und eine kleine Schwester und es geht fast immer nur um sie. Ich bin das brave Mädchen, das sich überall anstrengt und um das man sich keine Sorgen zu machen braucht. Weil ich nicht will, das sich meinetwegen jemand sorgen muss. Nur deswegen vergisst man mich allzuschnell und wenn es dann einmal nötig ist, das man sich doch um mich sorgt, da tut es keiner, weil sie mich schon längst vergessen haben. Manchmal falle ich auf, meistens aber nimmt man mich gar nicht wahr. Ich bin überall und nirgendwo.« Während sie sprach, rollten dicke Tränen ihre Wangen hinab. Sie machte sich nicht die Mühe, sie fortzuwischen, denn es kamen immer wieder neue nach und Lugh Akhtar saß hilflos neben ihr, wusste nicht, was er tun sollte. Schließlich rutschte er endgültig an sie heran, um sie in den Arm zu nehmen und fest an sich zu drücken. »Gibt es denn niemanden, der dich auch wahrnimmt, wenn einmal nicht die Sonne scheint? In einer Regennacht zum Beispiel?« »Doch. Aber es sind nicht besonders viele und die meisten trauen sich nicht, weiter nachzufragen. Sie nehmen es einfach hin«, antwortete sie und vergrub ihr Gesicht in seiner Kleidung. Lugh Akhtar drückte sie fest an sich, hatte Mitleid mit ihr. Er verstand gut, wie sie sich fühlte, es war ihm einst ähnlich ergangen. »Kannst du… nicht einfach aufhören, Schatten zu sein? Das du nur noch Chaya bist? Was heißt Chaya eigentlich?« Ein dumpfes Lachen war zu hören. Schatten wischte ihr Gesicht an seiner Kleidung trocken und lächelte aus ihrem verweinten Gesicht zu ihm hoch. »Chaya bedeutet Schatten. So was nennt man wohl Ironie, was?« Lugh Akhtar nickte lächelnd. »Ja, irgendwie schon«, bestätigte er. »Dann wird es wohl schwierig, das aus Schatten gänzlich Chaya wird.« »Nicht unbedingt. In einer anderen Sprache bedeutet es Leben. Und leben schaffe ich, auch wenn es mich nicht immer mag«, antwortete sie Augenzwinkernd. »Ja…« Lugh Akhtar wirkte unentschlossen. Jetzt, wo sich das Mädchen ihm so sehr geöffnet hatte, fiel es ihm seltsam schwer, sie weiterhin als die Ursache allen Übels zu sehen. Er entschloss sich, dass es an der Zeit für einen neuen Weg war. »Ich mach dir einen Vorschlag, Chaya. Wenn du mir meine bösen Worte verzeihen kannst, dann verzeih ich dir, dass du mir so wenig helfen kannst«, bot er an. Sie kicherte kurz auf, wurde aber sofort wieder ernst. »Entschuldige, ich muss immer in den unpassendsten Momenten lachen. Und von meiner Seite aus gibt es nichts zu verzeihen, du sagst und tust sowieso mehr oder weniger nur das, was ich will«, antwortete sie und schaute ihn aus ihren roten Augen auf jene Art und Weise an, wie es sonst nur Nea tat. »Sicher, das du dich wirklich nicht in mich verliebt hast?«, fragte er unvermittelt. »Ziemlich, ja«, antwortete sie kichernd und machte sich aus seiner Umarmung los. »Also, sind wir jetzt Freunde?« »Wenn du mir die Worte sowieso in den Mund legst, ist das eine ziemlich überflüssige Frage«, fand er. »Stimmt wohl, aber ich möchte es dennoch von dir hören.« Sie stand auf und zog ihn ebenfalls hoch. »Okay, okay. Gut, Freunde. Aber nur, wenn du aufhörst zu weinen, dazu hast du doch eigentlich gar keinen Grund.« »Ich weiß. Ich bin eben sehr emotional«, antwortete sie lachend. »Das ist mir auch schon aufgefallen«, bestätigte Lugh Akhtar, schüttelte dann sacht den Kopf. Er wischte über die feuchten Tränenspuren in ihrem Gesicht. Er fand immer schon, dass es viel zu viele vergossene Tränen gab. Er schaute sie nachdenklich an, überlegte, wie er ihr eine Freude machen konnte, damit sie ganz sicher an diesem Tag keine Tränen mehr vergoss. »Komm ja nicht auf die Idee, mich jetzt küssen zu wollen«, warnte sie ihn lachend, als sie seinen Blick bemerkte. »Eine Umarmung reicht erstmal an Nähe. Außerdem bezweifle ich, das es Nea besonders gut gefallen wird, wenn du jetzt mich küsst und nicht sie.« »Nea kennt diese Geste der Nordländer. Sie hat sie…«, begann er, doch Schatten unterbrach ihn. »Ein Mädchen aus dem Dorf hat ihr schon einmal einen auf den Mund gedrückt, nachdem Nea ihrer Schwester das Leben gerettet hat, ich weiß«, antwortete sie und ihre Augen blitzten. »Genau«, antwortete Lugh Akhtar verblüfft. Schatten grinste darauf gut gelaunt. Sie schien wirklich sehr viel mehr zu wissen, als sie aussprach. »Okay. Kein Kuss, natürlich nicht. Dafür kenne ich dich nicht gut genug«, antwortete er und lächelte. »Das ist so nicht ganz richtig. Ich bekomme meinen Kuss, aber in einer anderen Gestalt und mit einer anderen Bedeutung«, erklärte sie mit einem wissenden glitzern in ihren Augen und der junge Zauberer verstand, das sie weit interessanter war, als er bisher vermutet hatte. Sie tat nur selten das, was er erwartete. Da blitzte etwas in ihren Augen. Im allerersten Moment wusste Lugh Akhtar ihren Blick nicht einzuordnen dann erkannte er, das auch Vivamus ihn nur allzu gerne in den Augen glitzern hatte. Er war sich nicht ganz sicher, ob das bei Schatten etwas Gutes oder etwas Schlechtes zu bedeuten hatte. »Soll ich dir noch einen Hinweis geben, wo du den Seelensplitter finden kannst?«, fragte sie in einem beiläufigen Tonfall und schaute demonstrativ in den Wald. Misstrauisch zögerte er. Es war nicht so, das er ihr nicht traute, aber dieses glitzern in ihren Augen sagte ihm, das er vorsichtig sein sollte. Dennoch nickte er. Abermals blitzte es in ihren Augen auf, bevor sie einen schnellen Schritt an seine Seite machte, und ihn mit einem sanften Hüftschwung anstieß. Der Rest geschah für ihn, wie in Zeitlupe. Er wusste genau, dass er sich nicht mehr würde halten können, er versuchte dennoch einen Ausfallschritt zu machen. Der brachte nur, dass er auf dem nassen Stein ausglitt und nun endgültig keine Chance mehr hatte. Er fiel ins kalte Wasser. Er blieb sitzen und starrte genervt zu ihr hoch. »Das soll ein Hinweis sein?«, fragte er bissig. »Ja«, nickte sie lachend und setzte sich an den Rand. »Du solltest die Kleidung ausziehen, sonst holst du dir eine Erkältung. Für den Spätsommer ist es schon sehr kalt hier oben im Norden.« Er schnaubte, griff dann schnell zu, um sie zu sich ins Wasser zu ziehen. Sie kreischte lachend auf, wehrte sich aber nicht. Stattdessen spritzte sie ihm gleich Wasser ins Gesicht und er tat es ihr lachend gleich. Für eine Weile spielten sie einfach nur gut gelaunt herum, bis sie schließlich schwer atmend wieder hinauskletterten, mittlerweile zitternd und nass bis auf die Haut. »Es ist nicht kälter als sonst im Spätsommer, vorhin war nur die Sonne nicht da, jetzt ist sie es. Wir können ganz gemütlich in der Sonne trocknen«, erklärte er und zog die Nase hoch. »In nasser Kleidung, gute Idee, meinte sie sarkastisch und zog sich hinter einem Busch das Kleid über den Kopf. Wissend, was geschehen würde, hatte sie sich ein anderes Kleid mitgenommen, das sie jetzt anzog, sich dann in die Sonne setzte. Auch Lugh Akhtar folgte ihrem Rat und entledigte sich seines Oberteils, die Hose wollte er anlassen. Doch kaum hatte er sich des Stoffes entledigt, prallte etwas hart und kalt auf seine Brust. Ohne darüber nachzudenken griff er danach und umschloss Cinders Halbmondanhänger. Er fragte sich nur einen Augenblick, warum er den Mond trug, dann fiel ihm wieder ein, dass sie getauscht hatten, als er das letzte mal in Altena gewesen war. Damit Cinder an ihn dachte, wenn sie der Mut verließ. Und er an sie, wenn es ihm so ging. Doch das war für diesen Moment egal, denn jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er verstand, was Drafnar und Schatten versucht hatten, ihm klar zu machen. Mir einem Jauchzen wandte er sich zu dem Mädchen um und umarmte sie fest. »Danke Schatten! Ich weiß jetzt, wo ich den Stern finden kann!« Kapitel 23: Ein neuer Morgen ---------------------------- Nachdenklich saß Lugh Akhtar auf dem Boden, an eine Wand gelehnt, und starrte vor sich hin. Die Treppe, die auf das Dach des Turmes führte, war noch immer hell, es war noch nicht Zeit zu gehen. Allerdings wusste er auch nicht, ob er wirklich gehen wollte. Nachdenklich betrachtete er den Sternenanhänger in seiner Hand, drehte ihn langsam in den Händen. In ihm verborgen war das letzte Stück von Nanooks Seele. Für gewöhnlich leuchtete und glitzerte er, doch hier in der Dunkelheit, wo kein Lichtstrahl hingelangte, da schien er von einer Tiefe erfüllt, die dem Nichts gleichkam. Eigentlich hätte Lugh Akhtar sich freuen müssen, das er ihn endlich besaß, doch je länger er den Sternenstein betrachtete, desto mehr wurde ihm bewusst, das er nicht wirklich wusste, was letztlich geschehen würde und nach allem, was Schatten gesagt hatte, war er sich auch gar nicht so sicher, ob er es wirklich wissen wollte. Und er wollte auch nicht nachfragen, denn er hatte angst davor, genau die Antwort zu erhalten, mit der er fast schon rechnete. Die, die er nicht bekommen wollte. Er schloss die Hand zu einer festen Faust und drückte sich mit den Beinen nach oben, als er sah, dass einige Personen den Raum betraten. Aaron war dabei, und Nanook. Und auch Schatten, deren rote Augen mitfühlend zu ihm hinüber leuchteten. »Wo ist Kenai«, fragte er leise, nur um überhaupt etwas zu sagen. »Beim Frühling. Endlich. Er hätte schon viel früher gehen müssen«, antwortete Nanook scheu und drückte sich an der Wand entlang, die am weitesten von Lugh Akhtar entfernt war. Seitdem er wusste, welche Bedeutung der Sternenstein für ihn hatte, versuchte er sich möglichst weit weg zu halten, als hätte er angst. »Das stimmt. Wieso hast du nichts gesagt, Chaya?« Seit ihrem Gespräch nannte der junge Zauberer sie immer öfter so, was sie zwar mit einem Lächeln registrierte, ihr ansonsten aber egal zu sein schien. »Weil ich ihn gerne hier habe. Ich mag ihn und er macht sich gut an deiner Seite«, fand sie nachdenklich. »Du hast es einfach verdrängt«, mutmaßte der Zauberer mit einem Lächeln und sie nickte. »Arme Frühling«, mischte sich Cinder ein, die gemeinsam mit Vivamus hinaufgekommen war. »Nicht wirklich. Für die Jahreszeiten ist das alles nicht so wichtig, wie für uns.« Schatten lächelte verstehend, wandte sich dann aber wieder zu Lugh Akhtar. »Können wir reden?« Er nickte, wartete ab, in welche Richtung sie sich wenden würde. Anders als er erwartet hätte, lief sie die Stufen wieder hinab und er folgte ihr, hoffte, das sie das Unvermeidliche nicht allzu lange hinauszögern würde. Er wollte diese Seele nicht zusammenfügen, doch da er wusste, dass er keine Wahl hatte, mochte er es lieber schnell hinter sich bringen. Schatten lief nicht weit, gleich der erstbeste Raum, in dem sie ungestört bleiben würden, war ihr recht. Sie lotste ihn hinein und schloss die Tür. »Ich will dir verraten, was geschehen wird, damit du dich darauf vorbereiten kannst«, erklärte sie leise und deutete ihm, sich zu setzen. »Ich dachte, ich muss es selbst herausfinden«, antwortete er, tat aber, wie ihm geheißen und setzte sich. »Manche Dinge sollte man nicht tun, ohne dass irgendwer einen darauf vorbereitet hat. Erinnerst du dich an den Tag, als wir uns das allererste mal getroffen haben?« Sie setzte sich zu ihm. »Natürlich. Den vergesse ich wahrscheinlich nie.« Normalerweise hätte er wohl gelächelt, so jedoch blieb er ernst, verdrängte seine Gedanken, hoffend, dass sie nie ausgesprochen werden würden. »Weißt du noch das du sagtest, das du Nanook genauso gut ein Messer ins Herz rammen könntest, wenn wirklich ich es bin, die du suchst?« »Ja, aber du weißt, dass ich das nicht so meinte«, beeilte er sich zu versichern, doch sie schüttelte traurig den Kopf. »Die Ironie daran ist, was es völlig egal war, ob ich diejenige bin oder nicht. Damals schon und jetzt immer noch. Das Messer wird Nanook nicht erspart bleiben, nur eben, das es nicht unbedingt ein Messer ist.« »Also stirbt er. Aber wieso? Seine Seele ist doch dann ganz, eigentlich sollte es ihm doch besser gehen.« »Ja, das ist so eine Sache… Ohne das letzte Stück seiner Seele kann er mit seiner Gabe nicht umgehen. So ist sie vielmehr ein Fluch. Allerdings kannst du eine kaputte Seele nicht einfach so wieder zusammensetzen, Lugh Akhtar. Das kannst du mit einem Porzelantopf machen, oder mit einem Bogen Papier. Eine Seele zusammensetzen käme dem Versuch gleich, eine… einen Körper lebend zusammenzusetzen, der in tausend Stücke zerhackt wurde: Es ist nicht möglich. Nicht einmal hier und nicht einmal für mich.« Der junge Zauberer blinzelte sie erstaunt an. Er hatte angenommen, dass es nichts gab, das Schatten nicht tun konnte. »Jetzt schau mich nicht so an. Es gibt Regeln, an die müssen wir alle uns halten und eine davon ist, das jeder, der Tod ist, auch Tod bleibt. Er kann höchstens zu etwas anderem werden, einem Schutzgeist zum Beispiel, aber mehr ist nicht möglich. Auch nicht für mich.« »Also muss Nanook sterben. Oder sich weiterhin quälen«, nickte er nachdenklich. »Genau.« »Weiß er, was ihn erwarten wird?« »Ja. Als wir Nea besuchten, da habe ich es ihm gesagt.« »Hat er angst?« Schatten zögerte. »Ich weiß es nicht. Das musst du ihn fragen. Aber damals bat er mich darum, das ich dafür sorgen soll, das sein Leiden auch wirklich enden kann.« »Das ich den Stern finde. Gut. Es ist bestimmt schon Zeit«, nickte der junge Zauberer und stand auf. »Einen Moment hast du noch, und wenn du gerne allein sein möchtest…«, bot sie sanft an, doch er schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Ich möchte es lieber hinter mich bringen. Aber eine Frage habe ich noch. Was wird mit Nanooks Seele geschehen?« »Wenn sie wieder ganz ist?« »Ja.« »Dann wirst du sie wieder sehen.« Lugh Akhtar und Schatten schauten einander an. Er las in ihren Augen, dass das, was Nanook erwarten würde, nicht so grausam war, wie er es ich vorstellte und das beruhigte ihn. Und dennoch war ihm jede Sekunde klar, dass er im Begriff war, seinen eigenen Bruder zu töten. Gemeinsam verließen sie den Raum und folgten den anderen auf die Plattform. Der höchste, von Menschenhand gebaute Punkt, von dem Lugh Akhtar wusste. Zwischen Himmel und Erde, der Punkt, an dem nur die Magie Macht hatte. Die niedrige Mauer war von einem Feuerring gesäumt, auf die Bodenplatten war mit Kreide ein Pentagramm gezeichnet, in der Mitte wartend stand Nanook und in den fünf Ecken standen Vivamus, Cinder, Aaron und Hope, stellvertretend für die Elemente Wasser, Wind, Erde und Feuer. Während Lugh Akhtar zögernd am Aufgang stehen blieb, ging Schatten zu Nanook und umarmte ihn fest. Sie flüsterte ihm etwas zu, lief dann weiter um ihren Platz an der Stirnseite einzunehmen, stellvertretend für den Elementar des Geistes. Der junge Zauberer schluckte noch einmal schwer, schloss die Augen und atmete einmal bewusst langsam ein und aus, bevor er zu Nanook ging. »Bereit?«, fragte er leise. »Schon lange«, antwortete der und wirkte seltsam alt und voller Wahnsinn, als er den Zauberer anschaute. Er sah mehr aus, wie ein verdurstender, dem man das Glas Wasser vorhielt, ihm aber das Trinken nicht erlaubte. »Hast du angst?« Ein Flackern war in denn dunklen Augen Nanooks zu sehen. Er zögerte, dann nickte er. »Ich mag das Leben. Ich mag nur nicht, wenn es immer so weh tut. Weißt du, was nach dem Leben kommt?« »Nein, aber Schatten sagte mir, das es etwas schönes sein wird«, log Lugh Akhtar, während ihm eine Träne über die Wange rollte. Nanook erkannte die Lüge, doch er lächelte dankbar und küsste auf eine kindliche Art und Weise die Träne weg. »Fang an«, bat er. Und das tat Lugh Akhtar. Er wusste nicht genau, was er tun musste, das hatte ihm nie jemand beigebracht, doch er wusste, das seine Instinkte ihn den richtigen Pfad wählen lassen würden. So holte er den Stern hervor, während er sich konzentrierte und die Magie um sich herum sammelte. Er wusste, dass er als allererstes die beiden Seelenstücke von ihren Hüllen befreien musste. Er ließ die Magie wirken, er selbst wusste nicht, wie genau er es tun konnte. Er tat es instinktiv, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass er selbst es war. Er nahm nichts um sich herum wahr. Er spürte nur den Schlag seines eigenen Herzens und hörte seinen eigenen Atem und das Blut, das in seinen Ohren rauschte. Er hatte die Augen geschlossen, ohne es überhaupt zu merken. Er spürte Macht in sich, die herausbrechen wollte, doch er hielt sie im Zaum. Dann öffnete er seine Augen wieder und sah Nanooks wahres Wesen. Er hatte ein leuchtendes, schillerndes Etwas erwartet, einen Schemen, so hell und gleißend, das er ihn nicht ansehen konnte, doch die Seele war die Gestalt des weißen Wolfes, die Nanook annehmen konnte. Das einzige, was anders war, waren die leeren Augenhöhlen, wo das letzte Stück der Seele fehlte. Als Lugh Akhtar dies sah, fuhr er mit einem Aufschrei zurück. Er verließ das Pentagramm, verlor damit die Macht über die Magie und über Nanooks Seele, über alles, was er entfesselt hatte. Es war dem schnellen Eingreifen von Cinder und Vivamus zu verdanken, das nichts Schlimmeres geschah. Vivamus bannte die Magie, während Cinder die Seele im Zaum zu halten versuchte. Allerdings war sie nicht so gut wie Lugh Akhtar, weswegen sie kaum eine Chance hatte. Sie würde nicht lange durchhalten. Doch der junge Zauberer nahm das gar nicht wahr, wie unter Schock starrte er vor sich hin, begriff noch einmal mit der Macht eines Kanonenschlags, das er gerade im Begriff gewesen war, einen Menschen, seinen Bruder, zu töten. Dann begegnete er Nanooks Blick. Auch wenn es nur noch eine leere Hülle war, das eigentliche Leben in Wolfsgestalt über seinem Kopf schwebte, so war da dennoch etwas in den leeren Augen. Ein stilles Flehen, das er nicht zulassen durfte, das es dem jungen Mann in seinem nächsten Leben ebenso schlecht ergehen würde, das er noch einmal durch ein Tal der Pein laufen musste. Da wusste Lugh Akhtar, das er keine Wahl hatte. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Er verstand, dass es dieser Moment war, auf den Schatten ihn hatte vorbereiten wollen. Langsam trat er wieder in den Kreis. Erst übernahm er die Magie von Vivamus, der erschöpft zwei Schritte zurücktrat, dann nahm er die Last von Cinder, die Bewusstlos zu Boden sackte. Er nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie Hope seinem Impuls folgen und zu Cinder laufen wollte, dich er blieb wo er war, schaute nur besorgt zu ihr hinüber. Er wusste nicht, woran das lag, aber er war froh darüber, denn sonst hätte wohl niemand sagen können, was geschehen wäre. So jedoch konnte Lugh Akhtar sich wieder konzentrieren. Er zog auch den Seelensplitter aus dem Sternenstein, der darauf in tausende blaue Splitter zersprang. Er fügte beide Teile zusammen, doch das war nicht so einfach, wie er es erwartet hatte. Es schien schmerzhaft für Nanook zu sein, denn seine Seele krümmte sie gepeinigt und sein Körper schrie und wälzte sich auf dem Boden. Dem jungen Zauberer fiel es mit jeder Sekunde schwerer, dies zu ignorieren, doch er wusste genau, dass er jetzt nicht mehr abbrechen durfte, sonst hatte er nichts gewonnen, aber alles verloren. Und nicht nur er. So quälte er also die Seele weiter, bis es plötzlich totenstill war. Das Feuer war ausgegangen, die Seele war verschwunden, die geballte Magie hatte sich in alle vier Winde verweht. Es war vorbei. Ganz plötzlich und niemand wusste zu sagen, ob es ein gutes oder ein schlechte Ende gefunden hatte. Lugh Akhtar spürte, wie Hope an ihm vorbeistürzte, hin zu Cinder, und sie sanft ansprach. Er spürte, wie Vivamus sich einfach an Ort und Stelle auf den Boden fallen ließ und Aaron, ängstlich zitternd, an einer Wand halt suchte. Und er sah, wie Schatten zu ihm kam und sich neben dem reglosen Körper Nanooks zu Boden setzte. Sie hob seinen Kopf in ihren Schoß und summte leise ein Lied, als würde sie ein Kind beruhigen, das von Alpträumen heimgesucht wurde. Lugh Akhtar ging zu ihr und ließ sich ebenfalls zu Boden sinken. »Hat es funktioniert?«, fragte er leise. Tränen rannen über seine Wangen, doch er fühlte keine Trauer. Er fühlte rein gar nichts, als wäre er eine völlig leere Hülle, die einfach nur reagierte, wie sie zu reagieren hatte, ohne dabei bewusst zu denken oder zu fühlen. Er schaute Schatten an, doch es war nicht sie, die antwortete. »Danke, Lugh Akhtar…«, flüsterte Nanook und öffnete die Augen. Jetzt leuchteten sie ebenso hell, wie die des jungen Zauberers und in ebenso vielen Farben. »Du bist nicht..?«, begann der, doch Schatten schüttelte sanft den Kopf. »Er wird sterben, Lugh Akhtar. Das kannst du nicht verhindern«, erklärte sie sanft. »Du hast dafür gesorgt, dass es jetzt nicht mehr wehtut«, flüsterte Nanook leise. »Dafür danke ich dir. Wir sehen uns bestimmt irgendwann wieder.« Dann schloss er seine Augen und der junge Zauberer wusste, dass es für immer war. Da brach all der Schmerz über ihn zusammen und er weinte lange, den toten Bruder in den Armen. Die Nacht kam, doch die Tränen wollten nicht aufhören. Nach und nach verließen seine Freunde den Turm. Auch Vivamus ging, nachdem er eine Weile bei ihm gewacht hatte. Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, war nur noch Schatten bei ihm. Sie allein war die ganze Nacht geblieben und hatte mit ihm um Nanook getrauert. Jetzt stand sie auf deutete ihm, dass er mit ihr kommen sollte. Nur schweren Herzens ließ er seinen Bruder zurück, doch er folgte ihr. Sie ging mit ihm an den östlichen Rand der Plattform und deutete auf die Welt, die im ersten Licht des neuen Tages hell erstrahlte. »Weine nicht mehr. Freue dich, die Welt ist noch genauso schön wie zuvor auch. Und Nanook muss jetzt nicht mehr Leiden. Und ich versichere dir, du wirst ihn wieder sehen. Es kann etwas dauern und vielleicht erkennst du ihn nicht sofort, aber du wirst ihn wieder sehen. Und dann kannst du dich mit ihm gemeinsam über sein neues, glückliches Leben freuen«, sagte sie zu ihm. Und sie hatte recht. Als er sich umschaute, erkannte auch er, dass die Welt genauso schön war wie zuvor. Er lächelte und wusste, dass er bereit war, sein Leben weiterzuleben. Er würde Nanook wieder sehen und so lange hatte er ja noch andere, gute Freunde an seiner Seite, die für ihn da sein würden. Und für die er da sein musste. So freute er sich über diesen neuen Morgen und obwohl er einen sehr wichtigen Menschen verloren hatte, so wusste er doch, das alles gut so war. Und auch, das alles gut bleiben würde. Kapitel 24: Abschied -------------------- Der Himmel war dunkel, fast schwarze Wolken hingen so tief, das man meinte, nur die Hand ausstrecken zu brauchen, um sie zu berühren. Es regnete, den ganzen Tag hindurch schon. Es war ein feiner Nieselregen, der langsam aber beharrlich alles durchnässte, was durch ihn hindurch lief. Wer nicht musste, ging nicht vor die Tür, erledigte seine Arbeit drinnen vor dem Kamin, der auch Tagsüber schon in manchem Haus in diesen Spätherbsttagen brannte. So war es nicht verwunderlich, das die dunkel gekleidete Gestalt, die Kapuze des Umhangs tief ins Gesicht gezogen, niemanden antraf, als sie allein durch das Dorf lief. Man sah ihr an, dass sie schon lange Unterwegs war, denn die Stiefel waren dick mit Matsch verkrustet, der Umhang dunkel vom Regen und Straßendreck. Die Schritte, einst wohl weit ausgreifend und beschwingt, waren klein und wirkten müde. Als die Gestalt das Dorf schon fast verlassen hatte, da blieb sie noch einmal stehen und blickte sich suchend um. Kein Mensch war zu sehen und es schien auch nicht so, als würde jemand auftauchen, dennoch ging sie nicht weiter, stand und wartete. Eine ganze Weile geschah nichts, dann jedoch raschelte es in einem Busch und eine Polarfüchsin, das weiße Fell nass und Platt am Körper klebend, trat auf den Weg vor ihn. Aus roten Augen, die mit einem Schwarzen Muster umrandet waren, das an Flügel erinnerte, schaute sie zu ihm auf und setzte sich auf den matschigen Boden. »Hallo Chaya. Ich wusste, dass ich dich noch einmal treffen würde, bevor ich nach Hause kommen kann«, sprach die Gestalt und schob die Kapuze zurück. Es war Lugh Akhtar, der aus seinen leuchtenden Augen wohlwollend auf die weiße Füchsin blickte. Die verzog ihre Schnauze zu einem Zähnebleckenden Grinsen, wirkte dabei aber seltsam nachdenklich, fast traurig. »Sprichst du nicht mehr mit mir?«, fragte er sanft und lächelte. »Doch, natürlich, nur…« Sie seufzte und schaute auf den Boden, schob mit ihren Pfoten ein wenig den Matsch hin und her. »Weißt du, Lugh Akhtar, es ist jetzt Zeit, Lebewohl zu sagen. Und das habe ich noch nie gerne getan.« »Lebewohl? Aber wieso?« Er starrte sie aus großen Augen an, verstand nicht, wieso sie gehen wollte. »Wir sind doch gerade erst Freunde geworden.« »Ich weiß, aber…« Sie verwandelte sich in das Menschenmädchen. Langsam ging sie zu Lugh Akhtar und umarmte ihn, drückte sich fest an ihn. »Deine Geschichte ist hier zu Ende, mein weißer Wolf. Du kannst jetzt dein Leben so führen, wie du es tun willst. Die Zeit deiner Abenteuer ist vorbei, ab jetzt musst du nur noch der liebevolle Ehemann und Vater sein. Lebe, wie du es willst, nicht mehr, wie ich es dir andichte.« »Und deswegen musst du gehen?«, fragte er leise. »Ja. Ich habe dich nur auf deinen Abenteuern begleitet, auf dem Weg in dein Glück, darfst du den Weg alleine aussuchen. Außerdem gibt es andere, die darauf warten, das jemand ihre Geschichte erzählt.« »Andere? Wer?« »Mana zum Beispiel. Auch sie werde ich für eine Weile auf ihrem Weg begleiten. Und nicht nur sie. Aber das ist dann eben nicht mehr deine Geschichte und deswegen muss ich mich hier von dir verabschieden.« »Für immer?« »Nein, natürlich nicht.« Sie lachte und schlenderte langsam in die Richtung, in die zu gehen er im begriff gewesen war, bevor er angehalten hatte. »Also… werden wir uns noch einmal wieder sehen?« »Ja. Spätestens in Manas Geschichte«, lachte sie. »Und danach?« Sie zögerte, während sie vor sich hin schlenderte. Sie verschränkte die Arme hinter dem Rücken und schaute in den Himmel hinauf, während sie ging. »Das weiß ich noch nicht. Das ist deine Entscheidung, Lugh Akhtar. Wenn du lust hast, irgendwann noch einmal ein Abenteuer zu erleben, dann werde ich auf jeden Fall wieder an deiner Seite sein. Ich aber will dich zu nichts drängen, diese Entscheidung liegt ganz allein bei dir.« Der junge Zauberer nickte und lächelte dankbar. Eine Weile liefen sie nebeneinander her. »Darf ich dich etwas fragen, Chaya?«, erkundigte er sich irgendwann. »Natürlich. Was auch immer du willst.« »Als wir uns das allererste Mal trafen, da hatte ich das Gefühl, das du meine Augen sehr, sehr gerne magst. Und ich hatte das Gefühl, das mir auch verständlich machen wolltest, dass du jede Gestalt annehmen kannst, die du willst. Warum also hast du rote Augen und nicht solche wie ich?« Sie schwieg lange, schien nachzudenken. Scheinbar wusste sie nicht genau, wie sie es erklären sollte. »Weil es für mich niemals in Frage kam. Ich kann es nicht erklären, aber für mich käme es einem Schlag in die Magengrube gleich, einem anderen Geschöpf ebensolche Augen geben zu müssen. Einzig und alleine Mana durfte sie noch bekommen, weil Mana dir gleich ist. Irgendwie. Und Nanook, weil er ebenso besonders ist.« »Mana hat blaue Augen«, widersprach der junge Zauberer. »Als Mensch, ja«, bestätigte Schatten und lächelte wissend. »Kanoa hat sie doch auch.«, widersprach Lugh Akhtar weiter, ohne auf ihren Einwand einzugehen. »Die leuchten aber nicht so sehr. Sie sind vielfarbig, aber sie leuchten nicht. Das ist ein Unterschied.« Sie lächelte. »Und woher habe ich sie? Wer hat sie mir gegeben und wieso?« Auch jetzt antwortete Schatten nicht sofort. Für eine ganze Weile liefen sie still weiter. »Sie sind ein Geschenk. Von der Magie. Sie hat dir dieses Geschenk gemacht um zu zeigen, dass du ihr Herr bist, das sie tut, was auch immer du verlangen magst. Das sie dich akzeptiert, weil du mit einer Tat ihren Respekt gewonnen hast.« »Das klingt fast so, als wäre die Magie ein Lebewesen.« »Das ist sie auch. In gewisser Weise zumindest.« »Und bei den anderen? Bei Soul zum Beispiel.« »Hat es ähnliche Gründe, nur bei Soul nicht. Sie hatte ihres von Geburt an. Es ist… eher so eine art Mutation könnte man sagen. Es hat keine Bedeutung, es ist einfach da.« Der junge Zauberer nickte zögernd, während sie vom Weg abbogen. Über einen besseren Trampelpfad ging es zu seinem zu Hause. Dort würde Nea auf ihn warten. Derweils wurde der Regen stärker, doch sie beiden waren sowieso nass, deswegen störte es sie gar nicht weiter. »Ich habe noch ein Geschenk für dich, Lugh Akhtar«, sagte Schatten irgendwann, als sie den halben Weg schon fast gelaufen waren. »Ein Geschenk?« Erstaunt blieb der junge Zauberer stehen und schaute sie an. »Ja.« Sie lächelte unsicher und wühlte nervös mit ihren nackten Füßen im Schlamm. Seltsamerweise fiel Lugh Akhtar erst jetzt auf, das er sie noch nie in Schuhen gesehen hatte. Wieso war das wohl so? Er dachte kurz daran, sie das zu fragen, doch er entschied sich dagegen. Das war unwichtig, es war egal, hatte keine Bedeutung. Schon gar nicht in diesem Moment. »Ich habe aber nichts für dich«, sagte er stattdessen. »Ich will auch nichts. Und deswegen mache ich auch keine Geschenke. Ich mache sie, weil mein Gegenüber sich darüber freut, nicht, weil ich selbst etwas haben möchte. Aber egal. Weißt du, was dein Name bedeutet? Was heißt Lugh Akhtar?« »Lichterstern. Lugh bedeutet Licht, Akhtar heißt Stern«, antwortete er und lächelte. Hope hatte es vor langer Zeit einmal Cinder erzählt und sie hatte ihn deswegen des Öfteren schon so genannt. »Genau.« Schatten lächelte und zauberte hinter ihrem Rücken ein Halsband hervor. Es war aus goldenen Platten, wie sein altes zuvor auch. Dazu war es mit Steinen besetzt, doch diese waren nicht alle blau, sondern hatten verschiedene Farben. Und an ihm dran baumelte ein neuer Anhänger in Sternenform, der genauso aussah, wie sein alter auch, nur viel heller leuchtet, als wäre er von einem inneren, blauen Feuer erfüllt. »Das ist ja…« Zögernd griff er danach und sie gab es ihm lächelnd. »Aber er ist doch in Milliarden Splitter zerbrochen!« Staunend schaute er sie an. »Es ist auch nicht derselbe. Es ist ein anderer. Der, den du von deiner Mutter bekommen hast, war aus Eis. Dieser hier ist aus Licht«, erklärte das Mädchen lächelnd. »Und die bunten Steine? Welche Bedeutung haben sie?« »Sie stehen für die, die dir nahe sind. Wer welche Farbe hat, verrate ich dir aber nicht«, antwortete sie und grinste. »Das zu wissen ist auch gar nicht wichtig. Viel wichtiger und auch viel schöner anzusehen ist, dass es viele sind«, antwortete Lugh Akhtar und lächelte glücklich. Er musste daran denken, wie leer und einsam sein Leben war, bevor er Nea getroffen hatte. Bevor sein erstes, wirkliches Abenteuer begann. Ihm war sein Leben egal, heute freute er sich über jeden neuen Tag. »Freut mich, dass dir mein Geschenk gefällt. Dann ist es jetzt wohl an der Zeit, abschied zu nehmen«, überlegte das Mädchen, während es aufhörte zu regnen. »Dann sage ich dir hier Auf Wiedersehen.« Sie nickte und schaute in den Himmel. Er folgte ihrem Blick und erkannte erstaunt, dass es zu schneien begonnen hatte. »Schnee?«, fragte er. »Den mag ich lieber als regen«, grinste sie. »Aber es ist erst Herbst.« »Auch ich kann es schneien lassen, wenn ich es möchte.« Sie zwinkerte, lächelte noch einmal und wandte sich ab. »Nun, wir…«, begann sie, doch er hielt sie am Arm fest. »Ich habe auch noch ein Geschenk für dich«, erklärte er und bevor sie wusste, sie ihr geschah, das küsste er sie auch schon. Für eine Weile starrte sie bloß wie in Trance vor sich hin, dann lächelte sie. »Danke, mein Freund«, flüsterte sie und er wusste, das sie die wahre Bedeutung dieser Geste verstand. »Nicht dafür. Und vergiss nicht, immer zu lächeln und nicht mehr zu weinen. Für Tränen haben wir keinen Grund mehr. Wir beide nicht. Wir sind nicht mehr allein. Gemeinsam bis ans Ende der Welt.« »Bis ans Ende der Welt«, nickte sie bestätigend und lächelte glücklich. Dann verwandelte sie sich wieder in einen Fuchs und verschwand in einer Wolke aus leuchtendem Schnee. Eine ganze Weile blickte Lugh Akhtar ihr noch lächelnd nach, in die Landschaft hinaus. Dann zog er wieder die Kapuze über das weiße Haar und ging weiter. Um ihn herum wurde die Welt mit einer weißen Decke zugedeckt. Man konnte den Weg sehen, den er gegangen war, denn er hinterließ Spuren in der Welt. Doch vor ihm lag ein strahlendes, unbeschriebenes Weiß. Er würde sie mit neuen Spuren schmücken, mit einer neuen Geschichte. Irgendwann. Kapitel 25: Yue --------------- Mit einem Seufzen lehnte sich Lugh Akhtar gegen das Tor und schaute auf die dunkle, verschneite Welt. Mit der Hand griff er unbewusst nach seinem neuen Sternenstein und genoss das Gefühl des Glücks, das durch ihn hindurch strömte. Für einen Augenblick ergab er sich der Freude, die ihn durchflutete, wie das Sonnenlicht die Welt an einem Sommertag. Dann wandte er sich um und sein Herz macht den Nächsten, freudigen Satz. Im Fenster konnte er das sachte Flackern einer Kerze erkennen, einer der beiden erwachsenen Bewohner war also noch wach. Er öffnete die Haustür und trat ein. Leise lief er zum Wohnzimmer und blieb lächelnd stehen. Es war Nea. Sie saß im Sessel, ein Buch in der Hand, und war über ihrer Lektüre eingeschlafen. Mit leicht geöffnetem Mund saß sie da, grunzte ab und an, während im Kamin ein sanftes glühen und eine Kerze ein flackerndes Licht verbreiteten. Er überlegte einen Moment, ob er sie wecken sollte, er konnte sie ja schlecht so sitzen lassen, doch er entschied sich dagegen. Er zog das Buch aus ihren Händen und erkannte erstaunt, dass die Seiten mit ihrer Handschrift bedeckt waren. Er war sich nicht sicher, ob es ihr recht war, das er es las, deswegen schloss er es, ohne einen Blick hineingeworfen zu haben. Er legte es auf dem nahen Tisch, holte dann eine Decke, in die er Nea einwickelte. Dann löschte er die Kerze und trug sie hinauf ins Bett. Dabei murmelte sie leise vor sich hin und er lächelte glücklich. Als er sie dann da liegen sah, erschien es ihm eine solche Zeitverschwendung, selbst schlafen zu gehen, dass er sie noch lange beobachtete, bevor er aufstand und noch einmal kurz nach Mana und Kekoa sah. Als er am nächsten Morgen schließlich aufwachte, da lag Nea schon nicht mehr im Bett. Dennoch stand er nicht sofort auf, sondern streckte sich und ließ eine Weile all die vertrauten Geräusche und Gerüche auf sich einwirken, bevor er sich schließlich aufraffte und hinunterging. »Guten morgen, Lugh Akhtar. Hast du gut geschlafen?«, begrüßte ihn Nea, als er in die warme Küche trat. Chess saß auch schon am Tisch und knabberte verschlafen an einem Käsebrot. Es war ein wenig, als wäre er nie fort gewesen. »Besser als die letzten Wochen zusammen«, antwortete er wahrheitsgemäß und nahm sich Teller und Brot. »Gut, es ist nämlich viel zu tun, der Winter steht kurz bevor«, erklärte Nea, während sie sich setzte und einen Apfel zerschnitt. »Ja, ich weiß«, nickte er und begann zu essen. Als er fertig war, begaben er und Chess sich an die Arbeit. Und alles war wie immer. Es wurde wirklich Winter, die Tage waren kurz, die Nächte lang und kalt. Die Abende verbrachte man vor dem Kamin, wo der Zauberer lang und ausführlich von seiner Reise erzählte. Es schneite immer öfter und länger, sodass am Tag der Wintersonnenwende kaum einer glauben konnte, dass der Winter jetzt erst wirklich begann. Und nur wenige Tage nach der Wintersonnenwende, wurde das Lichterfest gefeiert. In Altena kannte man es nicht, die ersten Jahre hatte diese Tatsache den jungen Zauberer sehr verstört. Desto mehr freute er sich immer wieder, wenn er in den nördlichen Ländern war, wo man es kannte und ausgiebig feierte. Es wurde getanzt, gelacht, gegessen und getrunken. Dabei war es egal, ob Schnee lag oder die Sonne schien. So mancher verbrachte die folgenden Tage auch schon mal einer Erkältung wegen im Bett, doch das war es wert, wenn man nur am Fest teilnehmen konnte. Und so waren auch Lugh Akhtar, Nea und Chess dabei, als die Menschen gut gelaunt durch den Schnee tanzten und das Lichterfest feierte. »Lugh, tanz mit mir!«, rief Lotta, ein Mädchen aus dem Ort. Sie war noch keine zehn Jahre alt, doch kannte sie keine Scheu vor den Zauberern, die von den Erwachsenen mit einer fast schon Gottesgleichen Ehrfurcht behandelt wurden. Statt den jungen Zauberer also um einen Tanz zu bitten, griff sie ihn einfach bei der Hand und zog ihn bettelnd hoch, solange, bis er lachend einwilligte. Er tanzte mit ihr durch den Schnee. Auch Nea und Chess hatten bald jemanden gefunden. Sie tanzten mit unterschiedlichen Partnern den ganzen Abend und die halbe Nacht. Der Mond war schon lange aufgegangen, als sich Nea und Lugh Akhtar ein wenig abseits endlich wieder sahen. »Ihr seid ein wirklich anstrengendes Völkchen. Sie haben mich keine zwei Minuten einmal ausruhen lassen«, lachte Nea gut gelaunt. »Wir sind nur sehr tanzwütig«, lächelte der junge Zauberer. »Ich nehme an, das du mir nicht noch einen letzten Tanz gewährst?« »Nein, bitte nicht. Meine Füße bringen mich auch jetzt schon um.« Sie lächelte sanft. »Wollen wir nach Hause gehen?«, fragte er weiter. »Nein… lass uns… ein wenig spazieren gehen.« Sie stand auf machte ein paar Schritte, bevor sie sich auffordernd zu ihm umwandte. Er folgte ihr gut gelaunt und so waren sie schon bald allein zu zweit auf einem Feldweg, jenseits von Lärm und Trubel der Feier. Die Nacht war Sternenklar, der Mond schien hell vom Himmel herab und das Nordlicht glitzerte und schillerte in allen nur denkbaren Farben, sodass der Schnee um sie herum zu leuchten schien. »Du hast erzählt, dass du irgendwann einmal der Winter sein sollst. Wann?«, fragte sie irgendwann unvermittelt. »Schatten sei dank wann immer ich will. Ich darf es mir aussuchen und ich weiß schon jetzt, dass es nicht allzu bald der Fall sein wird.« »Also… lässt du mich nicht allein?« »Natürlich nicht. Wie könnte ich? Ich liebe dich, Nea. Du, Mana und Kekoa, ihr seid meine Welt.« Da blieb Nea stehen. Für eine ganze Weile schaute sie auf den Weg vor sich und in den bunten Nachthimmel. Sie dachte nach, das sah man ihr an, doch worüber, das wusste der Zauberer nicht. Schließlich schien sie zu einem Entschluss gekommen zu sein, denn sie lächelte glücklich und nickte. »Meinst du, das in deiner Welt noch ein Platz frei ist?«, fragte sie und schaute ihn an und schlang eng die Arme um ihren Körper. »Für wen?«, fragte er verwundert. Nea antwortete nicht, doch sie lächelte unbeirrbar weiter. Schließlich setzte sie sich auch wieder in Bewegung und tänzelte gut gelaunt durch den Schnee. »Sag es mir, wen meinst du?«, fragte er lachend und folgte ihr. »Oh Lugh Akhtar, wenn ihr Männer etwas nicht verstehen wollt, dann versteht ihr es auch nicht, nicht wahr?«, fragte sie und ergriff seine Hände, um mit ihm im Kreis herum über den Weg zu tanzen. »Aber ich will doch verstehen«, begann er. »Ich überlege doch schon, aber…« In dem Moment gewahr er ein farbiges Blitzen im Schnee. Es war nicht das Nordlicht, das von der weißen Decke reflektiert wurde, sondern ein Tier, das erkannte er sofort. Aufmerksam und fragend schaute er es an, erkannte recht schnell, dass es ein Tier war, das hier nichts zu suchen hatte, das erkannte er im rötlichen Fell. Kein Tier, das hier heimisch war, besaß im Winter ein farbiges Fell. Er schaute genauer hin, doch da wurde der Schnee durch eine Windböe aufgewirbelt und als er sich wieder legte, war es verschwunden. Dennoch lächelte der Zauberer, er hatte es trotzdem erkannt. »Hast du was gesehen?«, fragte Nea da. »Ja. Eine… Bekannte hat mich da an etwas erinnert.« Er lächelte sie glücklich an. »Und an… was?« Er schüttelte den Kopf und bot ihr den Arm an. Zögernd hackte sie sich ein und gemeinsam liefen sie langsam weiter. Eine ganze Weile sagte keiner von ihnen ein Wort. Sie genossen die Stille und die kalte, frische Luft. »Nea?«, sprach der Zauberer irgendwann und schaute sie an, sah, das sie mit geschlossenen Augen neben ihm herlief. »Ja?«, fragte sie leise und atmete tief durch. »Natürlich ist für sie noch ein Platz in meiner Welt.« Nea blieb zwar nicht stehen, aber sie öffnete ihre Augen wieder und strahlte ihn an. »Oh, hast du es verstanden? Aber… wieso sie?« »Wieso nicht?« Er lächelte wissend und sie verstand, dass er mehr wusste, als er aussprach, denn davon hatte er ihr nichts gesagt. »Okay, ein Mädchen also.« Nea lachte. »Und lass mich raten, einen Namen hast du auch schon?« »Nur, wenn dir keiner einfällt«, grinste er und umarmte sie ihm Laufen. Sie blieb stehen und umarmte ihn ebenfalls. »Wenn du möchtest, kannst du den auch verwenden«, bot sie ihm an. »Nur, wenn dir keiner einfällt«, antwortete er lächelnd. »Glaub mir, mir wird einer einfallen, ein wenig Zeit zum Überlegen habe ich ja noch«, erklärte sie gut gelaunt. Er nickte und gab ihr einen Kuss. »Lass uns nach Hause gehen, es ist spät«, flüsterte er. »Ja. Ich muss mich aufwärmen, mir ist kalt«, lächelte sie. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Die Wochen, die folgten, waren wunderschön. Den ganzen Winter über wich er nur von Neas Seite, wenn es unbedingt nötig war. Und das war es nicht oft. Aber natürlich vergaß er auch bei all seiner Freude Mana und Kekoa nicht, die so schnell wuchsen, dass er fast dabei zuschauen konnte. Er wusste, dass dies die wohl glücklichste Zeit seines Lebens war. Und er konnte sich nichts vorstellen, was dies hier jemals überbieten sollte. Und schließlich war es dann auch so weit. »Meinst du, der Regen hört irgendwann noch einmal auf?« Mit gerunzelter Stirn schaute Chess hinaus. »Ich weiß nicht… aber ist es nicht egal? Ich zumindest hatte heute nichts mehr vor«, lächelte der junge Zauberer und schaute hinaus in den Regen. »Ich wollte ins Dorf, aber nicht, wenn ich danach zwei Wochen mit einer Lungenentzündung im Bett liege«, seufzte der junge Mann. »Dann verschieb es auf morgen. Oder übermorgen.« »Lugh Akhtar?« Nea stand in der Tür. Sie hatte den Tag im Bett bleiben wollen, denn ihr ging es nicht gut. Dennoch stand sie jetzt hier. »Was ist?« Aufgeregt sprang der Zauberer auf, erwartete schon das Schlimmste, doch sie lächelte beruhigend. »Nein, nichts. Es ist nichts«, sagte sie und kam in die Küche, setzte sich hin, die Hand auf ihrem dicken Bauch abgelegt. »Doch keine Lust, den Tag im Bett zu verbringen?«, fragte er beruhigt. Da blitzte es draußen und kurz danach donnerte es. »Gewitter!«, quietschte sie und war mit einem Satz bei ihm. »Hast du… angst vor Gewittern?« Belustet schaute der junge Zauberer zu ihr hinab. »In Altena nicht, da weiß ich, das nichts geschehen kann, aber seitdem die Mühle abgebrannt ist, weil dort ein Blitz eingeschlagen ist…« Sie schaute mit einem unsicheren Lächeln zu ihm auf. »Oh Nea… das hier ist ein Zaubererhaus, glaubst du wirklich, ich hätte nicht mit Magie dafür gesorgt, das nichts geschehen kann?«, lachte er. »Bist du dir da ganz sicher…?« »Ja. Und selbst wenn nicht: Auch die Unwetter gehören zu einem der Jahreszeiten, alleine deswegen kann nichts geschehen«, erklärte er lächelnd. »Dann… ist ja alles gut…«, murmelte sie, doch als der nächste Blitz den Himmel zerschnitt, schrie sie schrill auf und schmiss sich gegen ihn. Chess grinste hinter seinem Rücken und auch Lugh Akhtar musste sich ein Lachen verkneifen. »Hört auf zu lachen, das ist jetzt nicht mehr lustig«, brummte sie. »Entschuldige, aber… doch, irgendwie schon«, antwortete der junge Zauberer sanft. »Nein Lugh Akhtar. Bitte, ich… hab das noch nie alleine getan.« »Was getan?«, verwundert runzelte er die Stirn, warf Chess einen Hilfesuchenden Blick zu. »Vielleicht… oh, OH!« Der schien es begriffen zu haben, er sprang auf. »Ich reite ins Dorf, das ist wohl das beste.« Er verließ schnell den Raum und der junge Zauberer schaute ihm fragend nach. Es dauerte noch einige Sekunde, bevor auch er es verstand, dann jedoch brach die Panik über ihm zusammen. Bei der Geburt von Mana und Kekoa waren die Schwester von Nea dabei gewesen und sie hatten gewusst, was zu tun war. Diesmal war er völlig allein und er hatte keine Ahnung. Er starrte Nea verzweifelt an. »Hilf mir«, bat er. »Lass mich nur nicht allein«, antwortete sie mit einem Lächeln, dann gingen sie gemeinsam die Treppe hinauf, ins Schlafzimmer. Er nahm sie in den Arm und kam sich so unglaublich hilflos vor. Wie auch schon zur Geburt der Zwillinge. Er wusste, dass er nichts tun konnte, er war schon froh, dass er Nea diesmal zumindest im Arm halten konnte, doch er konnte ihr nichts von ihrem Schmerz nehmen. Jedes mal, wenn sie vor Pein laut aufschrie, war es ihm, als würde sein Herz ein wenig mehr zerrissen und er fragte sich immer mehr, wo Chess nur blieb. Als er und die Hebamme aus dem Dorf endlich ankamen, war es fast schon vorbei. Im Prinzip blieb es nur an der alten Frau, sich um das Neugeborene zu kümmern, während Nea schöpft in Lugh Akhtars Armen lag. Und in genau diesem Augenblick brach der dunkle Himmel auf und zum ersten Mal in diesem Frühling, schien die Sonne warm herab. Sie trocknete die Welt so schnell, wie der junge Zauberer es nie erlebt hatte und bald schon öffnete er das Fenster und ließ die warme Frühlingsluft herein, während Nea zufrieden ihre Tochter betrachtete. »Nun, hast du einen Namen?«, fragte er leise und setzte sich zu ihr aufs Bett, froh darüber, das es ihr so gut zu gehen schien. Er hatte während der ganzen Geburt an Maya denken müssen, die noch im Kindsbett ihrer Erschöpfung erlegen war. Doch Nea ging es gut, sie strahlte ihn an, wie eine kleine Sonne. »Ich hatte letzte Nacht einen Traum. Von einem hübschen Mädchen, sie hatte weißes Haar und rote Augen, aber es war nicht Schatten. Sie lief gemeinsam mit einem Mädchen mit rotem Haar und blauen Augen und einem Jungen mit schwarzem Haar und braunen Augen. Es war Sommer und sie liefen lachend über die goldenen Felder und grünen Wiesen, während über ihnen ein unendlicher, blauer Himmel gespannt war«, erzählte Nea und betrachtete das kleine Bündel Mensch in ihren Armen. Lugh Akhtar betrachtete seine Tochter ebenfalls und erkannte, das sie rote Augen hatte. Er wusste, dass es bei Schatten reine Willkür war, aber er wusste auch, dass es bei dem Mädchen nicht so sein konnte. Er kannte das Phänomen von Tieren, und er spürte, dass es bei seiner Tochter wohl den gleichen Ursprung hatte. Doch solange sie nur gesund und glücklich sein würde, war ihm das egal. »Weißt du, diese drei Kinder… sie waren glücklich. Sie waren zufrieden und sie waren so froh darüber, am Leben zu sein. Und ihre Namen, die sie sich gegenseitig zuriefen, waren Kekoa, Mana und… Yue«, lächelnd schaute sie zu ihm. »Yue?« Lugh Akhtar war keineswegs erstaunt, das Nea von ihren Kindern geträumt hatte. Es erstaunte ihn nur, dass seine jüngste Tochter dort ebenso hieß, wie er es vor einem Jahr schon überlegt hatte. »Ja. Ich möchte sie gerne so nennen. Yue. Ich weiß nicht wieso, aber ich mag den Namen, er klingt schön.« »Er bedeutet Mond, und… als mir Dimmur damals das erste Mal von ihr erzählte, da… habe ich auch an diesen Namen gedacht. Das wäre auch mein Vorschlag gewesen, wäre dir nichts eingefallen«, erklärte er wahrheitsgemäß.« »Ach, wirklich? Dann brauche ich ja nicht fragen, ob du einverstanden bist«, lachte sie. »Nein, wahrlich nicht. Dann ist unsere Familie also komplett. Mana, Kekoa, Yue, du und ich.« Der junge Zauberer lächelte zufrieden. »Genau. Und jetzt will ich schlafen, am besten ein Jahrtausend lang«, lachte Nea. Lugh Akhtar nickte und brachte seine Tochter in ihre Wiege. Dann nahm er die junge Frau in den Arm, wo sie erschöpft einschlief. Er betrachtete sie glücklich und schaute durch das Fenster hinaus in eine helle, freundliche Welt. Sie würde seiner Tochter gewiss gefallen. Er konnte sie schon fast vor sich sehen, wie sie mit ihren Geschwistern über Feld und Flur lief, lachte und tanzte. Sie war schon jetzt sein kleiner Sonnenschein, denn sie hatte die Sonne mitgebracht und den letzten Rest des Winters in sein Reich gebannt. Er schloss die Augen, atmete tief durch und freute sich. Über das, was war, und auch auf das, was kommen würde. Kapitel 26: Sternenwanderin und Sonnentochter --------------------------------------------- »Ich hasse Brüder.« Schlecht gelaunt schmiss Vivamus die Tür hinter sich ins Schloss. »Ich bin mir keiner Schuld bewusst«, antwortete Lugh Akhtar, ohne von seinem Buch aufzublicken, das er mit gerunzelter Stirn las. So sah er auch nicht den bösen Blick, der sein Bruder ihm zuwarf. »Stell dir vor zur Abwechslung spreche ich auch einmal nicht von dir«, brummte er und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen und beobachtete seinen Bruder, der nach wie vor konzentriert las. »Ach, echt?« Nun jedoch schaute der doch auf und schaute Vivamus neugierig und fragend an. »Nein. Stell dir vor, unsere Eltern hatten auch noch andere Kinder außer dir uns mir.« »Aber… Cinder ist ein Mädchen. Und Nanook… na ja, du warst ja dabei.« Er zuckte mit den Schultern. »Stell dir vor, das ist mir auch bewusst.« Vivamus verdrehte die Augen. »Dann verstehe ich dein Problem nicht.« »Ach? Dann frag mal den guten Chess, der könnte eine sehr genaue Vorstellung von meinem Problem haben«, fauchte Vivamus und stand wieder auf, um schlecht gelaunt durch den Raum zu streichen. »Chess?«, verblüfft schaute Lugh Akhtar seinen großen Bruder an. »Ja!«, wütend trat er nach einer Teppichecke, die ein wenig erhoben war. »Was hat er denn getan?«, fragte der junge Zauberer belustigt. »Er hat Rena geküsst«, fauchte Vivamus und verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. »Du weißt doch, dass das hier nicht so viel zu sagen hat«, lächelte Lugh Akhtar. »Aber immer noch genug.« »Warte, du meinst…!« Nun starrte der junge Zauberer seinen großen Bruder fassungslos an. »Von mir aus kann er Rena allein haben. Das ist zwar… na ja, blöd, aber gut, wenn sie ihn liebt, soll sie mit ihm glücklich werden, aber wenn er Rena bekommt, bekommt er auch…« »Altena, deine Tochter, ja.« Lugh Akhtar verstand, was in seinem Bruder vorging. Er könnte es auch nicht sehen, wie seine Kinder einen anderen Mann Vater nennen. »Was hast du jetzt vor?« »Ich weiß nicht… meinst du, sie wird böse, wenn ich ihn umbringe?« »Ja, ich fürchte schon.« Lugh Akhtar schlug das Buch zu und stand auf. »Vielleicht… sprichst du einmal mit ihr, vielleicht… versteht sie dich ja.« »Glaubst du wirklich?« Vivamus wirkte nicht überzeugt. »Ein Versuch ist es wert. Ich muss zu Aaron und Cinder, kommst du mit?«, fragte der junge Zauberer und stand auf. »Was willst du denn bei denen?« »Ich habe vor, Cinder freizusprechen. Sie ist gut genug, es macht keinen Sinn mehr, sie weiter als Schülerin zu behalten.« »Sie ist gerade einmal zweiundzwanzig, findest du nicht, dass das noch etwas jung ist?«, erkundigte sich Vivamus zweifelnd, schloss sie ihm aber an. »Nein. Ich war fünfzehn, und es damals auch nicht zu jung. So etwas kann man nicht am Alter festmachen, es kommt auf das Können an und wenn ein Schüler es mit seinem Meister aufnehmen kann, dann sollte man das auch einsehen und ihn freigeben. Und glaub mir, Cinder ist bereit.« »Das weißt du besser als ich«, lächelte Vivamus. »Aber wieso Aaron?« »Weil du schon wieder vergessen zu haben scheinst, das nicht mehr Nikolai der Gildenmeister ist und ich von eben diesem die Zustimmung brauche.« »Stimmt. Aaron hat es aber auch nicht leicht, er ist in große Fußstapfen getreten und nicht viele haben ihn bisher als Gildenmeister akzeptiert. Sie sehen noch immer Nikolai als solchen an.« »Ich weiß. Deswegen betone ich auch bei jeder Gelegenheit meine Loyalität gegenüber Aaron.« »Braver Junge«, lachte Vivamus. Lugh Akhtar grinste. Sie waren noch nicht weit gekommen, da schloss sich ihnen niemand geringeres als Cinder selbst an. »Lugh, ich habe eine Bitte an dich«, erklärte sie, ohne sich mit langen Begrüßungen aufzuhalten. »Welche denn, Schwesterherz?«, fragte er lächelnd. »Also… du weißt ja, das Leilani langsam alt genug ist, um bei einem Zauberer in die Lehre zu gehen…«, begann sie. »Und du möchtest, das ich dir helfe, den richtigen Meister zu finden?«, mutmaßte der junge Zauberer. »Nein, ich glaube, ich habe schon jemanden…«, verneinte sie. »Du möchtest wissen, ob Lugh deine Entscheidung billigt?«, überlegte Vivamus weiter. »Nein, jetzt lasst mich doch endlich einmal ausreden. Ich möchte, das du Lanis Meister wirst, Lugh Akhtar.« »Ich? Wieso ich?«, fragte der junge Zauberer erstaunt. »Weil du als Zauberer gut bist und mir ebenfalls ein guter Lehrer bist. Ich habe natürlich auch mit Hope darüber geschlossen und er fand die Idee gut. Du musst nur zustimmen«, erklärte Cinder gut gelaunt. »Und wer ist eure Alternative, sollte ich dies nicht tun?«, erkundigte sich der junge Zauberer. »Dann werde ich dir solange auf die Nerven gehen, bis du doch einwilligst«, kündigte sie an. »Aber ich habe bereits eine Schülerin, Cinder. Dich.« »Ich suche mir gerne einen anderen Lehrmeister. Hope vielleicht.« »Du kannst deinen Meister nicht wechseln, außer er stirbt und bei aller Liebe zu dir, das habe ich nicht vor.« »Männer.« Cinder verdrehte genervt die Augen. »Ihr wollt doch gar keine Lösung finden, nicht wahr? Ihr zeigt immer nur Probleme auf.« »Ich zeige hier nur Tatsachen auf. Aber gut, ich soll Lanis Meister sein. Ich mache es, aber nur unter einer Bedingung, und darüber hat Aaron zu entscheiden. Ich werde ihn fragen.« »Wann? Jetzt?« »Ja. Aber du bleibst hier«, erklärte er lächelnd und ging weiter. Als er über die Schulter zurückblickte, sah er, dass seine Schwester zur Abwechslung sogar einmal tat, was er wollte. Er warf Vivamus einen vielsagenden Blick zu und der grinste zur Antwort. Als sie bei Aaron ankamen, wurden sie erst einmal sehr stürmisch von seiner ältesten Tochter Kathlyn begrüßt. Das Gespräch mit Aaron verlief schnell, da der Gildenmeister eigentlich gar keine Zeit für sie hatte. Er stimmte Lugh Akhtars Entscheidung zu und warf sie dann regelrecht wieder hinaus. »Gut, und wann sollen die Feierlichkeiten dann stattfinden?«, erkundigte sich Vivamus, als sie mit gerunzelter Stirn vor der Tür standen. »Am Abend vor dem nächsten Sonnenfest. Ich werde erst Cinder freigeben und dann Leilani als Schülerin nehmen, alles an einem Tag«, antwortete er. »Und ich… werden jetzt wohl mal mit Rena sprechen…«, seufzte Vivamus und ging. Und Lugh Akhtar beschloss, das er sich auf seine neue Schülerin vorbereiten sollte. Der Abend vor der Sommersonnenwende, war schön. Es war warm und klar, man konnte vom Zaubererturm aus Kilometer weit sehen. Es würde an diesem Abend zwei Freisprechungen geben und drei neue Eidsprechungen, das an gleich zweien davon Lugh Akhtar beteiligt sein würde, wussten nicht viele. Die Feierlichkeiten hatten schon begonnen, als Vivamus an seine Seite trat. Lugh Akhtar hatte ihn seit jenem Tag nicht gesehen und da sein Bruder nicht besonders gut gelaunt wirkte, vermutete er, dass Renas Antwort nicht die gewesen war, die er sich gewünscht hatte. Doch das spielte jetzt keine Rolle, denn der erste Meister, der seinen Schüler freigeben würde, stand bereits da und entließ seinen Schüler. Das dauerte im Allgemeinen nicht lange und so trat schon bald Lugh Akhtar vor. Als jedoch Leilani zu ihm vorgeschickt werden sollte, schüttelte er kaum merklich den Kopf und rief Cinder zu sich. »Cinder, meine Schwester, es ist Zeit«, erklärte er lächelnd. Sie nickte, sie hatte jetzt erst verstanden, was er meinte. Also erhob er die Stimme und begann laut und klar zu sprechen. »Cinder Jarek, als du meine Schülerin wurdest, hast du mir eine Eid als Schülerin geleistet. Erinnerst du dich an ihn?« »Ja. Ich schwor vor dem Himmel und der Erde und dem Rudel des Winters selbst, das ich nur meinem Herzen treu sein würde!«, antwortete sie laut und mit klarer Stimme. »Hast du diesem Eid folge geleistet?«, erkundigte sich der junge Zauberer weiter. »Nicht immer, aber so oft es mir möglich war«, erklärte sie wahrheitsgemäß. Eine Weile sagte der junge Zauberer nichts, doch schließlich lächelte er und nickte. »Dem stimme ich zu. Ich kann dir als Meister nichts mehr beibringen, deswegen gebe ich dich heute frei. Nun bist du nicht mehr meine Schülerin, sondern nur noch meine Schwester und mir völlig gleich«, sprach er und umarmte sie. »Danke«, flüsterte Cinder ihm ins Ohr. »Nicht dafür, Sternenwanderin, aber einen Rat will ich dir noch mit auf dem Weg geben. Such dir deine Freunde und Vertrauten gut aus und sei nicht allzu vertrauensselig, dann wirst du es weit bringen. Und vielleicht kannst du dann auch irgendwann den Himmel mit Lichtern füllen, wie du es dir einst erträumt hast, als du diesen Turm das erste mal betreten hast.« Sie nickte dankbar und er entließ sie aus ihrer Umarmung. Stolz und mit hoch erhobenem Kopf ging sie wieder zu Hope zurück, der sie mit einem Kuss und einer Umarmung begrüßte und beglückwünschte. Lugh Akhtar jedoch blieb gleich stehen, er wollte seine Schülerin gleich als allererste in Empfang nehmen. So lächelte er ihr zu, als sie, von ihrem Bruder geschubst, in seine Richtung stolperte. »Hab keine angst, ich will dir nichts böses«, sprach er leise zur ihr und lächelte freundlich um ihr die Furcht zu nehmen, die er in ihren Augen sah. »Passiert jetzt etwas Schlimmes, Lugh Akhtar?«, fragte sie leise und ängstlich. »Nein, im Gegenteil. Jetzt bekommst du deinen Schülernamen«, erklärte er lächelnd. »Das ist gut. Mama sagte, dass die Schülernamen immer besonders schöne Namen sind, ich will auch solch einen schönen Namen haben«, plapperte sie leise und der junge Zauberer nickte bekräftigend. Dann begann er. »Leilani Jarek, leiste mir den Eid vor dem Himmel und der Erde!« Er sprach nicht ganz so laut und hart, wie bei Cinder damals, denn er wollte das Mädchen nicht unnötig verschrecken, doch jetzt schaute sie ihn furchtlos, fast schon freudig an. »Schwöre mir, das du nur deinem eigenen Herzen treu sein wirst!« Cinder hatte damals denselben Schwur leisten müssen und er wusste, dass er ihr ein guter Leitfaden war. Er hoffte, er dasselbe für Leilani sein konnte. Die wirkte ein wenig verunsichert angesichts der kurzen Vorgabe, nickte dann aber. »Ich leiste meinen Eid vor dem Himmel und der Erde, das ich nur meinem Herzen treu sein werde!«, rief sie seltsam laut und klar, ihrer Kinderstimme zum Trotz. Dabei schaute sie Hilfe suchend zu ihren Eltern, die jedoch ermutigend nickten. »Dann entledige dich deines Umhanges, damit ich dir deinen Schülernamen geben kann«, forderte er sie auf und sie tat, wie ihr geheißen. Er kniete sich vor ihr nieder und umarmte sie fest, sodass nur sie hören könnte, was er ihr ins Ohr flüsterte. »Sonnentochter soll dein Name sein«, sprach er leise. »Sonnentochter…?« Sie schaute ihn aus leuchtenden Augen voll Freude an. »Der gefällt mir. Danke, Lugh Akhtar.« »Vergiss nicht, dass er ein Geheimnis ist. Nur wir beide kennen ihn und du darfst ihm niemanden verraten. Auch deinen Eltern nicht.« »Ich weiß, sonst können sie mich damit zwingen, mein Zimmer aufzuräumen«, nickte sie ernst. »Genau«, bestätigte er, hatte ernste Schwierigkeiten, nicht laut loszulachen und auch nicht zu grinsen. Dann nahm er sie bei der Hand und ging gemeinsam zu seiner Schwester und ihrem Mann. Auch die anderen beiden Schüler fanden schnell zu ihren Meistern und so fanden sie sich bald schon zur Feier im Innern des Turms ein. Dort suchte Lugh Akhtar Vivamus. »Erzähl mir, was hat Rena gesagt?«, fragte er, nachdem er seinen großen Bruder in stillere Bereiche gezogen hatte. »Sie war sich nicht sicher. Sie hat durchaus bemerkt, dass es Chess nicht recht ist, wenn die Kleine dabei ist, aber sie kann ihre Tochter auch nicht einfach aus der Hand geben. Und schon gar nicht an jemanden wie mir.« Traurig schaute er auf seine Füße. »Und wenn du sie davon überzeugst, das du nicht ganz so verantwortungslos bist, wie man vielleicht glauben könnte, wenn man dich nicht kennt? Immerhin warst du für mich da, wenn ich dich gebraucht habe. Mehr als die, von denen ich es erwarten würde.« »Sie meint, ein Bruder ist nicht dasselbe, wie eine Tochter.« »Da hat sie auch recht, aber genau deswegen sollte ihr klar sein, dass die Altena eine Menge bedeutet. Sonst hättest du ja nicht nach ihr gefragt.« »Nun, sie will nicht, das Altena ohne Mutter aufwachsen muss. Wenn ich mir eine Frau anlächeln kann, dann kann ich sie abholen. Mehr oder weniger.« Lugh Akhtar schaute nachdenklich durch die Menge, da viel ihm jemand auf. Er dachte erst, er hätte sich verguckt, doch die Augen erkannte er sofort. Er ging zögernd auf die junge Frau zu, die jemanden zu suchen schien. »Skadi…?«, fragte er vorsichtig. »Oh Lugh, endlich habe ich dich gefunden!«, rief sie erleichtert. »Was tust du hier? Wie bist du hierher gekommen und was… ist das für eine Gestalt? Was hast du mit Llew gemacht, wo ist der?« »Chaya sagte, ich soll herkommen, aber sie sagte nicht, wieso«, antwortete Skadi. »Ach, wirklich?« Der junge Zauberer lächelte erfreut. Im Gegensatz zu Skadi hatte er recht konkrete Vorstellungen und dazu musste er sich nicht erst mit Schatten absprechen. Er zog sie aus der Menge zu Vivamus. »Skadi, darf ich vorstellen? Mein Bruder Vivax Animus. Er hat gerade ein wenig Probleme mit seiner ehemaligen Verlobten, dass sie ihm nicht die gemeinsame Tochter überlassen will, obwohl ihr neuer Kerl kein Interesse an einer Stieftochter hat«, fasste er kurz zusammen, wandte sich dann zu Vivamus um, bevor der ein Wort sagen konnte. »Und das hier ist Skadi, ich hab dir von ihr erzählt. Sie lebt eigentlich in der alten Welt, gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn Llew, der ohne Vater aufwachsen muss. Der weiß nämlich nichts von seinem Vaterglück, aber da ich ihn nicht kenne, weiß ich wiederum nicht, ob das gut so ist, oder eher nicht. Nun, ich lass euch jetzt allein, ich denke, ihr habt euch eine Menge zu erzählen«, grinste der junge Zauberer. »Lugh, warte, nein…«, wollte Vivamus ihn noch zurückhalten, doch der drückte nur Skadi noch ein wenig näher heran und verschwand dann in der Menge. Aus dem Schutz der vielen Leute heraus beobachtete er, wie sein Bruder und Skadi erst unsicher beieinander standen, dann leise, scheu und zögernd miteinander zu sprechen begannen. »Was hast du angestellt?«, fragte Hope, der unbemerkt an seine Seite getreten war. »Hab ich dir von Skadi erzählt?«, wollte der junge Zauberer zurück wissen. »Die schwarze Wölfin mit dem Welpen?« »Genau die.« »Was ist mir ihr?« »Ich bringe sie gerade mit Vivamus zusammen, nachdem sich Chess Rena gekrallt hat.« »Echt?«, begeistert schaute auch Hope zu den beiden hinüber, die schon deutlich angeregter miteinander sprachen. »Ein nettes Paar würden sie zumindest abgeben.« »Nicht wahr? Ich finde auch«, grinste Lugh Akhtar. Er sprach noch eine ganze weile mit Hope. Nicht nur über Skadi und Vivamus, sondern auch über Leilani. Und darauf freute sich der junge Zauberer, das Mädchen würde gewiss nicht nur eine gute Schülerin werden, sondern auch eine große Zukunft vor sich haben. Er wusste nicht genau, was es war, aber sie verkörperte schon jetzt etwas, das er nicht in Worte fassen konnte. Aber er wusste, dass er ihr Schicksal mit in seine Bahn lenkte, indem er ihr beibrachte, was er wusste. Das war seine Aufgabe und wenn er sah, wie gut es ihm immer wieder gelang, war er zuversichtlich, dass es bei Leilani keine Ausnahme geben würde. Kapitel 27: Sommernacht ----------------------- »Lugh Akhtar? Bist du da?«, rief Nea ins Haus, als sie hineinkam. »Ja, bin ich! Was ist denn?«, kam die Antwort aus dem Arbeitszimmer des Zauberers. »Lotta hat mir einen Brief von Kekoa mitgegeben, als ich einkaufen war«, erklärte sie, während sie zu ihm ging. Ihr Lebensgefährte saß am Schreibtisch und schrieb auf einem Bogen Papier herum, wirkte ganz froh über die Unterbrechung. »Hast du ihn schon gelesen?«, fragte er neugierig. »Nein!«, antwortete sie erst entrüstet, doch als sie sein amüsiertes Grinsen sah, lächelte sie ertappt. »Doch, ja, hab ich.« »Und? Was schreibt er so?«, erkundigte sich der Zauberer. »Nichts Besonderes. Es geht ihm gut, Lanta gefällt ihm und… er hat ein Mädchen kennen gelernt.« Nea grinste breit. »Ach, wirklich?« Der Zauberer lächelte zurück. »Wie heißt sie und wer ist sie?« »Ihr Name ist Momo, sie arbeit mit ihm in der Bibliothek. Viel mehr schreibt er gar nicht, aber bei Gelegenheit will er sie uns vorstellen.« »Nun, dann bleibt ja nur noch Yue, die wir irgendwie unterbringen müssen«, lächelte Lugh Akhtar und stand auf. »Ja, vorausgesetzt, dein Fylgien ist wirklich so ein guter Kerl.« »Ist er, glaub mir. Sie werden bald hierher kommen, dann kannst du dir selbst ein Bild von ihm machen«, antwortete der Zauberer und trat um den Tisch herum. »Nun, ich bin gespannt.« Sie lächelte und schlang ihre Arme um seinen Hals. Er zog sie wieder hinunter, sodass er sie bei den Händen halten konnte. »Was schreibst du da eigentlich wieder mal?«, fragte sie leise. »Einen Brief, an Leilani.« Plötzlich wirkte der Zauberer nicht mehr so freudig und gelöst. »Allerdings weiß ich noch nicht so recht, wie ich ihr erklären soll, das sie gerade im Gallopp ins Verderben reitet…« »Ins… Verderben?« Nea schaute ihn zweifelnd an. »Ja, ich fürchte. Sie hat einen Mann kennen gelernt, aber ich denke nicht, dass er gut für sie ist. Du weißt ja, bei Fremden ist sie wie Cinder: Vertrau ihnen blind, bis sie dir das Messer in den Rücken stoßen.« »Wirklich so schlimm…?« »Ich weiß es nicht, ich kenne ihn nicht, aber… nach allem was ich gehört habe, sollte sie sich wirklich in Acht nehmen. Leider… ist sie verliebt und die Liebe hat immer schon jede Vernunft mit den Füßen getreten.« »Das stimmt wohl, das sagen mir meine Schwestern auch immer wieder.« »Was? Das du die Wahrheit nicht siehst?« »Das ich aus Liebe leichtsinnig war. Und sie haben recht, wenn du nicht der wärst, der du aber Gott sei dank bist, hätte ich ein Problem gehabt. Aber ich habe mich nicht getäuscht und das ist die Hauptsache.« »Ja, ich glaube, deine Schwestern werden mich niemals völlig in ihr Herz schließen, was?«, seufzte der Zauberer mit einem Lächeln. »Nein. Nicht solange wir nicht verheiratet sind. Das du ja trotzdem einfach gehen könntest, wenn du es wolltest, das scheinen sie nicht begreifen zu wollen.« Nea seufzte ebenfalls. »Vermutlich glauben sie, dass ich das nicht wagen würde, weil du dann ja meinen Schülernamen kennst. Sie wissen gar nicht, das du ihn auch jetzt schon kennst, oder?« »Nein, ich denke nicht. Aber selbst wenn ich ihn nicht kennen würde, wärst du dann gegangen?« »Nur, wenn du mich darum gebeten hättest, aus freien Stücken niemals«, lächelte er. »Also ist es egal. Nun, sollen sie reden, meistens sind sie ja weit weg«, fand Nea schulterzuckend. »Genau. Lass sie reden. Weißt du was? Ich schreibe jetzt den Brief zu ende… oder ich versuche es zumindest…« Er lächelte ein wenig steif. »Und danach machen wir etwas zusammen. Spatzieren gehen, oder so, worauf du lust hast.« »Ein schöner Mondscheinspatziergang hört sich doch gut an«, lächelte sie. »Gut. Ich beeil mich«, erklärte er grinsend und setzte sich wieder. Es dauerte noch einen Moment bis er fertig war, doch schließlich verschloss er den Brief mit Sigelwachs und stand war. Er schaute aus dem Fenster und lächelte, denn Nea hatte recht. Es war Sommer, doch es war schon so spät, das der Himmel dunkel und der Mond aufgegangen war. Er ging Nea suchen. Er fand sie im Schlafzimmer, wo sie ihr langes Haar bürstete, bevor sie es wieder zum Zopf band, den sie vor ein paar Jahren als ausgesprochen Praktisch für sich entdeckt hatte. »Wollen wir?«, fragte er gut gelaunt und reichte ihr die Hand. »Natürlich«, lachte sie und legte ihre so viel kleiner Hand in seine. Gemeinsam verließen sie das Haus und schlenderten über die Hohlwege, die zwischen den Feldern verliefen. Über ihnen glitzerten die Sterne und der Mond erhellte die Welt fast taghell. Bald schon kamen sie zu einem See. Das Wasser war in der Dunkelheit tiefschwarz, und so glatt, das es aussah, wie ein schwarzer Spiegel, der den Mond spiegelte. Sie beschlossen mit einem einzigen Blick, dass sie sich ans Ufer setzen wollten. Nea schob ihre Füße ins kalte Wasser und planschte ein wenig herum. »Sag mal, kannst du eigentlich schwimmen, Lugh Akhtar?«, fragte sie plötzlich. »Ja, wieso?«, wollte er wissen. »Weil du ja nie am Meer gelebt hast und ich kenne viele, die es deswegen nicht können«, antwortete sie lächelnd. »Kanoa hat es Vivamus und mir beigebracht, als wir einmal beim Spielen im See zu weit hineingelaufen waren«, erzählte er. »Und du? Kannst du schwimmen?« »Ja. Wenn wir in Meeria waren, sind wir oft im Meer schwimmen gewesen«, nickte sie lachend. Da warf ihr Lugh Akhtar einen Blick zu, der ihr nicht so ganz gefallen wollte. »Warst du… schon mal nachts schwimmen?«, fragte er mit einem breiten Grinsen und einen Blitzen in den Augen, bei dem sie sich ganz sicher war, das er etwas vorhatte, das man für gewöhnlich eher Vivamus zutraute. »Nein… nicht so wirklich«, antwortete sie unsicher. Da sprang Lugh Akhtar auf. »Los, zieh dich aus!«, forderte er sie auf. »Ich, was? Lugh Akhtar!«, rief sie schockiert. »Das meine ich ernst, zieh dich aus!« Ungeduldig zog er sie hoch. »Nein! Ich kann mich hier doch nicht…«, begann sie, doch er schüttelte entschieden den Kopf. Widerworte wollte er nicht hören. Stattdessen war er schon eifrig dabei, seinen Gürtel zu öffnen und sich der Stiefel zu entledigen. Als er nur noch in seiner Hose dastand und sie noch immer nichts anderer tat, als ihn fassungslos anzustarren, nahm er das auch noch selbst in die Hand und ergriff ihren Rocksaum, um ihn einfach grob hochzuziehen. »LUGH!«, rief sie entsetzt, doch er dachte nicht daran aufzuhören. Grinsend zog er ihr das Kleid über den Kopf, sodass sie nur im Mieder und Unterrock dastand. »Das kannst du doch nicht tun, wenn uns jemand sieht!«, rief sie erschrocken und griff nach ihrem Kleid. »Ist doch egal! Es ist dunkel, es ist Nacht, wer soll denn jetzt noch hier herumlaufen?«, fragte er lachend und öffnete ihr Mieder. »Aber das gehört sich nicht«, machte sie einen letzten, schwachen Versuch, musste sich aber eingestehen, dass sie durchaus gerne jetzt eine Runde schwimmen mochte. »Es gehört sich auch nicht, unverheiratet das Bett zu teilen, hattest du damit bisher ein Problem?«, fragte er lachend und gab ihr einen flüchtigen Kuss. »Ich gebe mich geschlagen«, lachte sie und wandte sich um, damit Lugh Akhtar zumindest sah, was er tat und sie nicht hinterher die ganzen Knoten aus dem Band machen musste. Er streichelte ihr sanft über die nackte Haut, als er mit seinen Händen zu ihrer Hüfte hinab fuhr. Er schob auch ihren Unterrock hinab, sodass sie völlig entblößt vor ihm stand. Sie lehnte sich zurück, an seine warme, starke Brust, genoss den Kontakt von nackter Haut, während er sie sanft streichelte. Schließlich war sie es, die ihm die Hose hinunterließ, da er dazu keinerlei Anstalten machte. Einen Augenblick lang standen sie noch so beieinander, dann lachte Lugh Akhtar leise und hob sie hoch. »Ab ins Wasser!«, rief er und lief mit ein paar großen Sätzen ins kühle Nass. Nea lachte und schrie auf, als das kalte Wasser über sie zusammenschwappte und Lugh Akhtar sie plötzlich losließ, doch noch waren sie noch nicht so tief, das sie nicht mehr stehen konnten. Sie spritzte dem Zauberer Wasser ins Gesicht, als er sich zu ihr umwandte, und wurde dafür gleich belohnt, indem er nach ihren Beinen griff und sie unter ihrem Körper wegzog. Eine ganze Weile spielten sie lachend im Wasser, bis sie ruhiger wurden und sich dann doch eher aus Schwimmen beschränkten, um langsam wieder zu Atem zu kommen. »Und, war es denn jetzt so schlimm?«, fragte er nach einer Weile grinsend. »Nein, aber jetzt stell dir doch einmal vor, irgendwer hätte uns jetzt gesehen! Was das für einen Skandal geben würde!« »Ein wenig klatsch und tratsch für die Hausfrauen im Dorf, ein paar verstohlene, pikierte, anerkennende Blicke und eine Menge Gerede, wie immer, wenn man sich einen gesellschaftlichen Fehltritt erlaubt. Wo ist da der Unterschied zu sonst?«, fragte er gut gelaunt. »Es könnte deinen Ruf ruinieren, den du dir mittlerweile hier zugegen erarbeitet hast«, fand sie. »Nein«, lachte Lugh Akhtar. »Das ganz gewiss nicht. Was ich in meiner freien Zeit tue, mit der Frau, mit der ich drei gemeinsame Kinder habe, hat nichts damit zu tun, wie ich meine Arbeit als Zauberer verrichte und sie sind nicht so blind, das beide zu verwechseln. Wir könnten nackt auf einer Kuh durchs Dorf reiten, Nea, das würde Klatsch für Monate produzieren, aber es würde nichts an unserer Stellung im Dorf ändern. Man würde uns für einige Zeit anders ansehen, ohne Zweifel, aber letzten Endes ändert es auf Dauer nichts.« »Bist du dir da so sicher?« »Ja. Wir tun damit etwas, was nicht der Norm entspricht, aber wir schaden niemandem und deswegen ist es letzten Endes trotzdem okay«, erklärte er gut gelaunt. »Dann… vertraue ich dir da mal«, lachte sie. Da hörten sie in der Ferne rufe. Einen Augenblick lang erstarrten sie, denn damit hatten sie beide nicht gerechnet, dann schwamm Nea auf der Stelle und schaute ihn mit einem unglücklichen Lächeln an. »Ich glaube dir, aber unbedingt vergewissern muss ich mich dennoch nicht«, erklärte sie. »Sie sind noch weit weg und wer weiß, vielleicht rufen sie ja einen Hund oder so«, antwortete er lachend und machte keine Anstalt, ans Ufer zu schwimmen. Nea wirkte gar nicht glücklich über seine Antwort, doch sie lächelte, nickte und blieb bei ihm. Als sie Stimme das nächste Mal rief, war sie so nah, das Lugh Akhtar heftig zusammenzuckte und erschrocken in die Richtung starrte. Sie hörten jetzt auch die schweren Schritte, die durch das Wäldchen brachen, die den See an einer Stelle umgab. »Weg!«, zischte Nea ihm zu, als er sie Hilfe suchend anschaute. Er nickte und gemeinsam stürzten sie aus dem Wasser. Sie hatten gerade das Ufer erreicht, als auch hinter ihnen die Unbekannten das Wäldchen durchquert zu haben schienen. »Heda! Wer seid ihr, bleibt stehen!«, rief eine Stimme hinter ihnen her. Sie hörten, wie schnelle Schritte sie verfolgten, so liefen sie schnell, aber dennoch lachend, über die Felder ins hohe Gras. Sie waren schneller, doch die Verfolger gaben nicht so leicht auf. Sie verfolgten sie gnadenlos. Schließlich stieß Lugh Akhtar Nea vom Weg ab ins hohe Gras und legte sie neben sie, deutete ihr leise zu sein. Sie hörten, wie die Männer an ihnen vorbeiliefen und er spürte, wie Neas Herz an seiner Seite raste, sie aber dennoch Mühe hatte, sich das Kichern zu verkneifen. Auch ihm jagte das Adrenalin durch die Adern, sein Herz pochte, erwartete jeden Moment, das man sie finden würde, doch der Moment ging vorbei. Als die Männer außer Hörweite waren, jauchzte er laut auf und warf sich regelrecht auf sie drauf. »Oh Lugh Akhtar! Wer hätte je gedacht, das es so viel spaß macht, die Regeln zu brechen«, lachte sie und umarmte ihn fest. Er kicherte zur Antwort, dann küsste er sie lang und intensiv, hielt ihre Hände mit seinen eigenen fest. »Ich liebe dich«, hauchte er atemlos. »Ich liebe dich auch«, antwortete sie und schaute in seine leuchtenden Augen. Selbst jetzt konnte sie noch das Leuchten sehen. »Ich will den Rest meines Lebens mit dir verbringen, Nea. Willst du mich heiraten?« Alle Verliebtheit wich aus ihrem Blick, nun starrte sie ihn aus großen Augen ungläubig an, sodass Lugh Akhtar das Gefühl hatte, etwas unglaublich dummes getan zu haben. »D-du musst nicht, ich kann das verstehen, ich…«, stammelte er und biss sich schließlich auf die Lippen. »Natürlich will ich!«, antwortete sie lachend. »Weißt du, wie lange ich schon darauf warte, das du endlich fragst?« Jetzt schaute er sie verwirrt an. »Du… willst?« »Ja! Natürlich! Ich warte schon mein halbes Leben darauf, das du Hasenfuß dir endlich ein Herz fasst!«, lachte sie und umarmte ihn. »Du willst!«, rief Lugh Akhtar glücklich und warf sich herum, zog Nea dabei mit sich, sodass sie nun auf ihm lag. Er umarmte sie so fest, das sie im wahrsten Sinne des Wortes keine Luft mehr bekam. »Ich hatte solche angst, dass du nein sagen könntest, aber du willst! Oh Nea, ich bin gerade das glücklichste Wesen dieser Welt!« Darauf lachte Nea gut gelaunt und küsste ihn. »Das glaube ich nicht, das bin nämlich ich«, antwortete sie. »Aber jetzt müssen wir unsere Kleider holen.« »Nein, das machen wir später. Irgendwann. Und wenn nicht, und jemand anderes sie findet, dann hat eben ein Fuchs sie gestohlen oder so«, antwortete er und hielt sie fest an sich gedrückt. Er wollte sie nicht loslassen, er wollte sie so nah es irgend ging bei sich spüren. Er wollte sie nie wieder loslassen und für diese Nacht musste er es auch nicht. Sie blieben einfach im Gras liegen. Eng umschlungen und glücklich. Kapitel 28: Alte Freunde ------------------------ »Und dann hat sie mich einfach rausgeschickt. Kannst du dir das vorstellen? Dass sie mich einfach vor die Tür setzt?« Yue gestikulierte entrüstet und schüttelte fassungslos den Kopf. »Und dann sollte ich auch noch babysitten.« Lugh Akhtar, der einige Schritte hinter ihr herlief, hatte redlich mühe, sich das Lachen zu verkneifen, doch er schaffte es. Seine Stimme klang ernst, sachlich und zustimmend, als er ihr antwortete. »Ich werde mit Mana sprechen. So geht das natürlich nicht.« Dass er dabei breit grinste, erkannte seine Tochter nicht, doch sie war auch so in ihrer Geschichte gefangen, das sie es wohl auch nur bemerkt hätte, hätte sie ihn aufmerksam und direkt angesehen. Weder das eine, noch das andere war der Fall. »Ja, bitte. Nur weil sie jetzt Fylgien hat und Mutter ist, kann sie sich ja nun wirklich nicht alles erlauben«, schnaubte Yue und blieb so abrupt stehen, das Lugh Akhtar fast in sie hineingelaufen wäre. Sie bemerkte es nicht, wandte sich stattdessen mit blitzenden Augen zu ihm um. »Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch etwas besorgen muss. Kekoa hat mich darum gebeten.« »Dann lass uns erst das erledigen, Aaron kann warten.« Lugh Akhtar deutete ihr, das sie wieder vorangehen sollte. »Ich glaube, so was kannst auch nur du. Einfach den mächtigsten Mann im ganzen Zauberreich warten lassen…« Yue seufzte, lief aber gehorsam voran. Sie kannte den Weg, obwohl sie noch nicht oft in Altena war. Manche Wege aber hatte sie sich schnell eingeprägt und da sie schon oft geschickt worden war, um das eine oder andere zu besorgen, gehörte dieser dazu. »Er ist für mich nun einmal in allererster Linie mein Schwager. Dann ist er mein Freund. Und dann erst ist er Hochmagier. Und meinen Schwager und meinen Freund kann ich warten lassen, mein Herz.« »Heute aber treffen wir ihn doch in offizieller Sache, solltest du dann nicht zu allererst den Hochmagier sehen?« »Keine gute Idee, vor denen hatte ich noch nie besonders viel Respekt. Immerhin war Aarons Vorgänger mein Meister und ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, wir oft wir uns gestritten haben…« Lugh Akhtar lächelte bei dem Gedanken an alte Zeiten. »Ich glaube, sollte ich jemals Aaron gegenüber Widerworte äußern, dann bist eher du es, der sie mir übel nimmt…«, bemerkte da Yue grinsend. »Man muss Erwachsenen mit Respekt begegnen. Aber mit manchen freundet man sich auch an, und Nikolai gehört eben zu denen. Und vor Freunden hat man eine andere art Respekt. Bei dir und Aaron ist das aber etwas anderes. So selten, wir ihr euch seht, kann mir keiner glaubhaft weismachen, dass ihr vertraute seid«, erklärte ihr Vater sanft und bestimmt lächelnd. »Ja, schon klar«, nickte sie lachend und tänzelte durch die Menschenmenge. Lugh Akhtar beobachtete sie mit einem warmen Lächeln, da bekam er einen heftigen Stoß in den Rücken. Er sah aus dem Augenwinkel, wie eine Gestalt an ihm vorbei lief und er spürte einen heftigen Ruck im Nacken, dann war die Gestalt verschwunden. Und der Zauberer musste nicht danach greifen um zu wissen, dass sie seinen Sternenstein mitgenommen hatte. Sein erster Impuls war, der Gestalt zu folgen, doch er wusste, dass er in diesem Gedränge keine Chance hatte. Yue jedoch hatte ebenfalls bemerkt, was geschehen war, und ihr war es egal, wenn sie unzählige Leute umwerfen musste, sie setzte laut rufend zur Verfolgung an. »Dieb! Bleib stehen!«, rief sie. Er zögerte kurz, drängelte sich dann jedoch auch hindurch. Er hatte keine Schwierigkeiten, seiner Tochter zu folgen, ihr Geschrei war über den Lärm der Menge hinweg gut zu hören. Schließlich schien sie ihn in einer Seitengasse gestellt zu haben, denn ihre fauchende Stimme entfernte sich nicht weiter. Er brauchte nur noch ihrem Geschrei zu folgen. Plötzlich gab es einige erstickende Laute, sodass Lugh Akhtar erschrocken und das Schlimmste befürchtend, ein wenig schneller lief. Als er um die Ecke bog, musste er sich jedoch abermals das Lachen verkneifen. Er hatte erwartet, dass der Dieb Yue niedergestreckt hatte, um weiter zu flüchten, doch das Gegenteil war der Fall. Sie hing rittlings auf seinem Rücken und trat ihn mit Füßen und hiebt mit den Fäusten auf ihn ein, während er jammern versuchte, sie irgendwie wieder los zu werden. »Yue, lass den armen Kerl los«, bat Lugh Akhtar lachend. Da hielt sie inne und ließ sich von ihrem Vater vom Rücken pflücken. »Er hat dich bestohlen«, maulte sie. »Ja, aber deswegen musst du ihn doch nicht so fertig machen. Er kann doch nicht ahnen, das du mehr Kerl bist, als es dein Bruder je war«, lachte er und umarmte sie, wandte sich dann den jungen Mann zu, der verwirrt und auch ein wenig verzweifelt auf dem Boden saß und mit gerunzelter Stirn zu ihnen aufblickte. »Stimmt auffallend, so was hab ich noch nicht erlebt…«, brummte er. »Stehlen lohnt nicht«, mahnte der Zauberer lächelnd und hielt ihm die Hand hin. Der junge Mann zögerte, schnaubte dann abfällig und stand selbst auf. »Los, ruf die Wachen. Mit der Bestie auf dem Versen kann ich sowieso nicht entkommen«, brummte er und schaute zu Boden. »Ich möchte nur mein Eigentum wieder zurück, mehr nicht«, antwortete der Zauberer und hielt auffordernd die Hand hin. Der junge Mann wirkte erstaunt, gab es ihm zögernd, blieb misstrauisch. Da fiel Lugh Akhtar etwas auf. Es war nur ein kurzer Augenblick, eine Sekunde vielleicht, doch es entging ihm nicht. Er nahm den Stein und steckte ihn in seine Tasche, wandte sich dann zu Yue. »Glaubst du, du kommst allein zurecht? Dass du deine Besorgung von Kekoa erledigen kannst?« »Natürlich, aber wieso?« Erstaunt schaute sie zwischen dem Dieb und ihrem Vater hin und her. »Weil ich noch etwas zu klären habe. Geh jetzt und geh dann zu Aaron und sag ihm, dass ich später komme. Vielleicht.« Sie zögerte noch einen Moment, dann nickte sie jedoch und lief los. Lugh Akhtar derweil wandte sich zum Dieb um. »Wie ist dein Name?«, fragte er freundlich. »Ich dachte, ich darf gehen, wenn du dein Schmuckstück wieder hast.« »Ich werde dich nicht aufhalten, wenn du möchtest, kannst du gehen.« Er machte den Weg frei, doch der Dieb bewegte sich nicht. »Warum willst du das wissen?« »Weil eine Freundin mir vor langer Zeit versprochen hat, das ich irgendwann einmal einen guten Freund widertreffen würde. Du erinnerst mich an ihm.« »Inwiefern?« »Auch er hat mir vor langer Zeit einmal den Sternenstein gestohlen.« Der Zauberer lächelte traurig, als er an Nanook dachte. »Und… was habe ich damit zu tun?« »Noch nichts«, lächelte Lugh Akhtar. »Aber verrate mir eines. Warum hast du ihn überhaupt haben wollen? Er ist nicht wertvoll und ich denke, das du das sehr wohl weißt.« Der Dieb wirkte ertappt. Man sah ihm an, dass er nachdachte. »Du lebst auf der Straße, nicht wahr?«, suchte der Zauberer einen anderen Ansatz. »Ja«, bestätige der Dieb. »Wieso? Hast du keine Eltern oder andere Verwandte, zu denen du gehen könntest?« »Nein. Meine Eltern sind tot, ich habe sie nicht kennengelernt und wenn ich Verwandte habe, so haben sie sich nie für mich interessiert.« »Also hast du nur dich selbst.« Lugh Akhtar seufzte. Es gab viel zu viele mittellose Kinder auf den Straßen und die Menschen hatten genug eigene Probleme, als das sie sich dafür interessieren würden. Ab und an tat man mal so, als hätte man ein barmherziges Herz, aber wirkliche Hilfe erhielten sie von niemandem. »Ich kann zumindest für mich sorgen.« Deutlicher Stolz schwang in der Stimme mit. »Als Dieb, ja«, seufzte der Zauberer und schüttelte den Kopf. »Komm mit mir, es ist Zeit, das du einmal eine bezahlte Mahlzeit in den Magen bekommst.« Sogleich flackerte das Misstrauen auf, doch irgendetwas schien den Jungen zu beruhigen, denn er folgte gehorsam. »Du hast Mitleid mit mir. Und es gefällt dir nicht, dass ich stolz auf mein Können bin«, erklärte er lauernd. »Nein, in der Tat. Ich finde, dass niemand so leben sollte und ich finde auch, dass ein gewisses Geschick als Taschendieb nichts ist, worauf man stolz sein sollte. Du bist ein Empath, nicht wahr?« »Ein was?« Der junge Mann zog die Augenbrauen hoch. »Jemand, der die Gefühle anderer Leute fühlen kann. Wenn du willst, könntest du meine Gefühle mit derselben Intensität fühlen, wie ich, nicht wahr?« Der Dieb blieb erstaunt stehen und starrte ihn an. »Woher…?« »Mein Freund konnte das auch. Nur… er konnte es nicht kontrollieren, er konnte es niemals… abstellen. Später habe ich mich dann genauer damit beschäftigt.« »Du bist ein Zauberer, nicht wahr? Normale Menschen wissen so etwas nicht.« Der Dieb lief wieder an seine Seite. »Stimmt, bin ich. Mein Name ist Lugh Akhtar.« »Von dir habe ich gehört… aber es war nicht viel Gutes dabei. Du bist der Bruder der Hochmagierin Cinder, nicht wahr?« »Man sollte nicht zu viel auf das Gerede der anderen Geben. Es gibt einfach zu vieles, was sie nicht kennen und nicht verstehen können. Sie halten mich für Schwachsinnig, aber mache ich auf dich den Eindruck, als wäre ich Krank?« »Nein. Ein wenig seltsam, aber nicht Schwachsinnig, solche kenne ich nämlich zu genüge.« Lugh Akhtar lächelte, dann deutete er auf ein Gasthaus, das in der Straße vor ihnen lag. »Ich hoffe, du hast Hunger, die Wirtin verteilt sehr reichliche Portionen.« »Ich habe fast immer Hunger, ich bin immerhin ein Straßenkind«, antwortete der Dieb mit einem schiefen Lächeln. Lugh Akhtar nickte grinsend, dann tauschten sie kein Wort mehr, bis sie am Tisch saßen. Eine ganze Weile aß der Dieb auch vor sich hin, während der Zauberer mit einem traurigen Lächeln zuschaute, dann jedoch hielt der Junge inne und starrte zurück. »Dann können wir ja jetzt zum Geschäft kommen«, erklärte er. »Geschäft?« »Du wärst der erste, der so etwas ohne Hintergedanken tun würde. Und vergiss nicht, ich weiß, was du fühlst, also spuck schon aus, was dir auf der Zunge brennt.« Lugh Akhtar lächelte belustigt. Er betrachtete sein Gegenüber genau. Er sah anders aus, als Nanook. Sein Haar war Okerfarben, der Pony weiß. Die Augen waren so dunkel, das man eine Farbe im schlechten Licht des Schankraumes kaum ausmachen konnte, doch er hatte im Sonnenlicht gesehen, das sie ein leichtes, farbiges Glimmen besaßen. Eines in einem dunklen blauton, das andere in einem bräunlichen rot. Er war aufgeweckt und schlau und hatte so gar nichts mit Nanook gemeinsam. Dennoch hatte er das Gefühl, nicht falsch zu liegen. »Warum hast du den Stein nehmen wollen, obwohl du wusstest, das er wertlos ist?« Der Dieb wirkte nachdenklich, schien abzuwägen, wie viel von dieser Antwort abhing. »Ich hab das Gefühl, das ich ihn schon irgendwann einmal gesehen habe. Als Baby vielleicht. Und das er damals sehr, sehr wichtig für mich war«, antwortete er dann. Lugh Akhtar lächelte. »Soll ich dir erklären, wieso das so ist?«, fragte er leise. »Ja. Bitte.« Und Lugh Akhtar erzählte es ihm. Obwohl er wusste, wie unglaublich diese Geschichte für den Dieb klingen musste, so unterbrach der ihn nicht einmal. Im Gegenteil, nachdem der Zauberer geendet hatte, kaute er nachdenklich auf einem Stück Brot herum. »Ich nehme an, du glaubst, ich wäre die Wiedergeburt von diesem… Nanook?« »Es wäre möglich«, lächelte der Zauberer. Sein Gegenüber seufzte. »Es würde die Träume erklären«, antwortete er. »Träume?« »Ja. Von dir, einem Söldner mit einer breiten Narbe im Gesicht und einem Mädchen mit weißem Haar und roten Augen. Und dem Stein, von dem ich immer wusste, dass er unglaublich wichtig ist. Ich wusste nur nie wieso.« »Ja, die anderen beiden sind Kenai und Chaya.« »Als ich das Mädchen in deiner Begleitung gesehen habe, dachte ich erst, dass sie es ist, aber sie ist jünger und ihre Gesichtszüge sind anders. Dich aber hab ich gleich erkannt.« »Das Mädchen war Yue, meine Tochter.« Der Dieb nickte und schaute nachdenklich vor sich hin. Schließlich stand er auf. »Nun, danke für das Essen. Ich denke, es ist jetzt Zeit zu gehen, Yue… wird bestimmt schon warten«, meinte er dann und lächelte schüchtern. Er ging an Lugh Akhtar vorbei, ohne eine Antwort abzuwarten. Dem Zauberer fiel es schwer, seinen alten Freund gehen zu lassen, doch er wusste, das Nanook in diesem Leben niemals derselbe sein würde, wie jener, den er kannte. Es gab einfach nichts, was ihre Wege zusammenhalten würde. Doch das stimmte nicht, das wurde ihm im selben Augenblick klar, als der Dieb die Tür öffnete. Die Art, wie er sich bewegte, wie er stand und sah, brüllten es regelrecht hinaus, doch war es ihm nicht aufgefallen. »Warte!«, rief er da dem Dieb noch nach. Der zögerte kurz, schaute zu ihm zurück, während er näher kam. Er schob den Jungen hinaus und ein wenig zur Seite, sodass sie nicht im Weg standen, dann konzentrierte er sich auf die Magie, die um sie herum war, lächelte schließlich. »Ich biete dir eine Lehrstelle an. Als Zauberer. Du hast magische Kraft in dir«, erklärte er dem Jungen. »Als… Zauberer? Ich?«, fragte der zweifelnd. »Ja. Du bekommst vernünftige Kleider, eine Unterkunft, du lernst lesen und schreiben und ein Handwerk, mit dem du nicht mehr stehlen brauchst. Und dafür musst du nur eine Sache tun«, bot Lugh Akhtar mit einem Lächeln an. »Und… was?«, wollte der Dieb wissen. »Du musst mir deinen Namen verraten.« Da lächelte der Dieb und nickte, während Lugh Akhtar einen neuen Schüler und einen alten, neuen Freund erhielt. Kapitel 29: Der Erste Schnee ---------------------------- »Hallo, mein alter Freund. Schön dich nach so langer Zeit einmal wieder zu sehen.« »Oh, Lugh Akhtar.« Tariq, der auf der Fensterbank saß und hinausgeschaut hatte, wandte sich um. »Du bist alt geworden«, sprach der Zauberer und trat an die Seite des Königs von Lanta. »Es ist zehn Jahre her, seitdem du mich das letzte mal besucht hast«, lachte der. »Ich weiß. Entschuldige, ich hätte früher kommen sollen.« Lugh Akhtar setzte sich zum alten König auf die Fensterbank und blickte ebenfalls hinaus. Es war Spätherbst, doch das konnte kaum einer wirklich glauben. Der Himmel war wolkenlos und tiefblau, die Bäume bunt und die Felder waren bereit, abgeerntet zu werden, wenn dies nicht schon geschehen war. Es war kaum zu glauben, das der Winter schon vor der Tür stand. Doch er konnte erst beginnen, wenn der neue Winter sein Gefolge um sich gescharrt hatte und um eben dies zu tun, war Lugh Akhtar nun losgezogen. »Das macht nichts. Immerhin bist du jetzt hier«, lächelte Tariq. »Natürlich. Immerhin sind wir Freunde.« Eine ganze Weile schwiegen die Männer darauf, hingen ihren eigenen Gedanken nach. »Weißt du eigentlich, das es fast achtzig Jahre her ist, als wir uns das allererste mal trafen?«, fragte Tariq dann unvermittelt. »Ja. Erinnerst du dich noch an den Tag? Wir haben damals im Schloss verstecken gespielt.« »Ja. Seit damals sind wir Freunde. Damals waren wir Kinder und heute… bin ich ein Greis, aber du nicht. Mir kommt es vor, als hättest du irgendwann aufgehört zu altern«, bemerkte der alte König, dessen Haar mittlerweile so weiß war, wie das Lugh Akhtars. »Das habe ich wohl auch. Es war nie mein Schicksal, alt zu werden und zu sterben«, antwortete der lächelnd. »Nein, bestimmt nicht. Zauberer werden nicht alt und sie sterben nicht. Sie sind anders als wir Menschen.« »Nur manche«, lächelte Lugh Akhtar. »Ja. Manche. Die, die besonders sind. So wie du. Das habe ich schon immer gewusst, es freut mich, dass ich recht behalten habe«, erklärte Tariq und betrachtete die leuchtenden Augen. Sein Freund jedoch antwortete nicht. »Du bist nicht grundlos hier, hab ich recht?« »Wie kommst du darauf?«, erkundigte sich Lugh Akhtar mit einem verstohlenen Lächeln. »Du bist ein Zauberer, du machst niemals etwas grundlos. Auch nicht einen alten, sterbenden Freund besuchen.« »Das stimmt wohl. Weißt du Tariq, es ist jetzt an der Zeit. Ich werde mein Schicksal annehmen, ich werde das Reich des Winters übernehmen. Und ich möchte dich bitten, dass du in mein Rudel kommst. Als mein Freund, dem ich vertraue.« Einen Augenblick erschien es wirklich so, als würde der alte König diesen Vorschlag überdenken, doch schließlich schüttelte er mit einem Lächeln den Kopf. »Nein, Lugh Akhtar. Das ist dein Schicksal, nicht meines. Weißt du, ich bin alt. Ich habe lange gelebt und auch wenn es so manchen Tag zu betrauern gab, so hatte ich dennoch ein schönes Leben. Dank dir, dank unseren Freunden, dank Daina. Und dank Maya. Aber dieses Leben, es ist nun vorbei. Ich habe mein Leben gelebt, und zwar so, das ich keinen Augenblick bereuen muss und das können nicht viele von sich behaupten. Jetzt aber ist es Zeit, weiterzugehen. Ich will Maya wieder sehen, ich bin sicher, dass sie auf mich wartet.« Lugh Akhtar nickte. Es war nicht an ihm, über diese Entscheidung zu richten, es war egal, ob er sie gut fand oder nicht. Er hatte sie zu akzeptieren und nichts anderes würde er tun. So blieb er bei seinem alten Freund sitzen und gemeinsam schauten sie in den Herbst hinaus. Sie mussten nicht sprechen, es reichte, wenn sie beieinander waren. Schließlich bemerkte der alte Zauberer, wie der Atem seines Freundes immer flacher wurde und schließlich ganz versiegte. Natürlich, Tariq war ein alter Mann und es war für ihn an der Zeit gewesen, zu gehen. Das Ende kam nicht unerwartet, im Gegenteil Lugh Akhtar war glücklich, das es so friedlich von statten gegangen war. Er stand auf und verneigte sich tief vor seinem alten Freund. »Auf Wiedersehen, eure Majestät«, flüsterte er. Dann gab er dem toten König noch ein letztes Mal einen Kuss. Ein Abschiedskuss, für einen Freund, der einen durch ein ganzes Leben begleitet hatte. Mehr konnte er nicht tun. Er trat zurück und schaute noch ein letztes Mal aus dem vertrauten Fenster, bevor er seine Macht um sich sammelte und sich selbst in einen Haufen Lichter verwandelte. Dies war seine Art zu reisen, er mochte sie. Als er seine Gestalt wieder manifestierte, war es auf der Spitze des Turms der Zauberer. Außer ihm befand sich nur eine Person hier oben. Es war eine alte Frau mit langem, aschgrauem Haar, die im Wind stand und auf die weite Landschaft blickte. »Hallo Cinder, meine Schwester«, begrüßte er sie leise. Die alte Frau erschrak nicht, es war, als hätte sie auf ihn gewartet. Sie lächelte, als sie sich umwandte. »Hallo, mein Lichterstern«, begrüßte sie ihn. »Kommst du noch einmal zu mir, bevor du gehst?« »Es ist mein Schicksal zu gehen, seit langem schon.« Er lächelte, als er an ihre Seite trat. »Was siehst du?« »Eine Welt, die sich verändert hat. Sie war mir so fremd, als ich hierher kam und jetzt ist sie es wieder.« »Die Zeiten ändern sich immerzu, nichts bleibt für die Ewigkeit bestehen. Denkst du, dein Leben wäre anders verlaufen, wenn du im Schattenfangrudel geblieben wärst?« »Ja. Ich denke nicht, dass ich dort bei der Auswahl meines Gefährtens danach gegangen wäre, ob ich ihn liebe. Meine Kinder, es wären andere gewesen und ich wäre eine andere gewesen… und das wäre schade gewesen. Ich mag mein Leben, so wie es ist.« »Für eine Weile habe ich wirklich geglaubt, das du und Hope, das ihr euch nie wieder vertragen würdet.« »Ich auch. Aber ich kann es nicht ändern und irgendwie war es gut, dass es so gekommen ist. Es hat uns näher zusammengebracht, irgendwie.« Lugh Akhtar nickte und eine ganze Weile schwiegen sie. »Hast du eigentlich angst vorm sterben?«, fragte der alte Zauberer irgendwann. »Nein, denn ich sterbe nicht. Niemand stirbt wirklich, solange es irgendjemanden gibt, der sich an ihn erinnert«, antwortete Cinder mit einem Lächeln. »Glaubst du?« »Weiß ich.« Sie lächelte ihn an, ging dann zu ihm und gab ihm einen Kuss. »Und dies hier, war meine Unsterblichkeit.« »Das war sie wohl, ja…«, nickte der alte Zauberer und lächelte. Es war Zeit zu gehen. Er machte ein paar Schritte von ihr fort, wollte gerade ein paar Abschiedsworte flüstern, als ihm wieder einfiel, warum er überhaupt gekommen war. »Kann ich dich um einen Gefallen bitten?«, fragte er. »Welchen?«, wollte sie wissen. »Kannst du dich um Kekoa kümmern, wenn ich weg bin? Dafür kümmere ich mich um Leilani.« »Und deine anderen Kinder?« »Die sind in guten Händen, wenn sie auf meinen Vorschlag eingehen. Nur Kekoa noch nicht. Würdest du das tun?« Cinder brauchte nicht überlegen, sie lächelte und nickte dann. »Natürlich.« »Dann wird es Zeit, auf wieder sehen zu sagen. Ich weiß nicht, ob wir uns noch einmal treffen werden.« »Ich hoffe es. Und wenn nicht, dann lebe wohl, Lichtertänzer.« »Du auch, Sternenwanderin.« Da wurde Lugh Akhtar wieder zu Licht und machte sich auf den Weg zum nächsten Freund, dem es galt, eine Lebewohl auszusprechen. Hope saß in seinem Arbeitszimmer, das so mit Büchern voll gestopft war, dass man sich nicht einmal umdrehen konnte, ohne angst haben zu müssen, mindestens ein dutzend Bücher umzuwerfen. Er saß an seinem Schreibtisch und las in einem alten Buch, das Lugh Akhtar nur zu gut kannte. »Kannst du es nicht mittlerweile auswendig?«, fragte er lachend. »Ja, aber ich lese dennoch immer wieder gerne darin. Weil ich es kann. Und das kann nicht jeder«, lächelte der alte Mann und schlug das Nachtbuch zu. »Ich weiß. Wie geht’s dir, alter Freund.« »Den Umständen und dem Alter entsprechend gut. Und dir?« »Ich verabschiede mich von meinem Freunden. Von den Menschen, die mir in meinem Leben am Wichtigsten waren. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich weinen soll, weil es ein Abschied für immer ist, oder ob ich lache, weil es so viele sind.« »Dann lache lieber, Tränen stehen dir nicht«, antwortete Hope. »Hätte man mir vor achtzig Jahren erzählt, wie viele Freunde ich einmal haben würde, ich hätte diese Person gnadenlos ausgelacht«, überlegte Lugh Akhtar. »Manchmal geht man andere Wege, als man anfangs vermutet. Erinnerst du dich noch an den Tag, als ich Vivamus kennen lernte? Also… so richtig kennen lernte?« »Als er dir den Kuss gab?« Lugh Akhtar lachte leise. »Natürlich. Wie könnte ich ihn vergessen?« »Weißt du, es hat zwar sehr, sehr lange gedauert, aber ich denke, ich habe endlich wirklich verstanden, wie wichtig euch diese Geste ist. Wie wichtig euch die Menschen sind, denen ihr den Kuss gebt.« »Für diese Menschen würde ich mein Leben geben. Der Schülername ist eine Sache, aber wer diesen benutzt, der hat Kontrolle über mich, ohne das ich es will. Wen ich den Bruderkuss gebe, dem jedoch gebe ich die Kontrolle immer freiwillig und ohne Einschränkungen.« »Ja. Dafür, dass du mir so viel Vertrauen entgegenbringst, möchte ich dir vom Herzen danken. Vielen, vielen Dank.« Darauf antwortete Lugh nicht, lächelte nur still. Schließlich nickte er. »Ich muss jetzt gehen. Aber vorher habe ich noch etwas für dich«, lächelte der alte Zauberer. »Eine Frau, die so alt ist wie ich und mich nicht ständig damit aufzieht, dass ich viel älter bin als sie? Wobei das ja mittlerweile auch egal ist. Irgendwann verliert das Alter seine Bedeutung.« »Das stimmt wohl. Aber nein, es ist etwas anderes. Ich möchte dir einen neuen Schülernamen geben«, lächelte Lugh Akhtar. »Damit meinen nicht mehr die ganze Welt kennt?« »Genau.« Der alte Zauberer trat zu seinem Freund, der schwerfällig aufstand. Das Alter war auch an ihm nicht spurlos vorüber gegangen. Lugh Akhtar umarmte seinen Schwager. »Dein neuer Schülername, der Feuerfuchs ersetzen soll, der soll Flammenschwinge lauten«, flüsterte er. »Flammenschwinge…«, flüsterte Hope zurück und nickte glücklich. »Jetzt muss ich gehen. Auf wieder sehen, Flammenschwinge. Vielleicht treffen wir einander einmal wieder.« »Ich würde es mir wünschen. Und wenn nicht, dann lebe wohl Lichtertänzer.« Lugh Akhtar lächelte und verwandelte sich wieder ins Licht. Dieses Mal war der Weg weiter. Er führte ihn in den Osten. In einem Pferdestall wartete Kenai bereits auf ihn, denn irgendwie schien der alte Mann gewusst zu haben, dass er kam. »Hallo Lugh Akhtar, kommst du auch endlich zu mir?« »Hallo Kenai. Ja, natürlich. Ich kann nicht gehen, ohne mich von dir zu verabschieden«, lächelte der alte Zauberer. »Frühling sagte mir schon, dass du heute kommen würdest, aber sie wusste nicht wann.« »Das dachte ich mir fast, als du mich als erstes begrüßt hast«, lächelte Lugh Akhtar. »Ich weiß langsam, wie sie sich anzukündigen pflegen«, nickte der ehemalige Söldner. »Nun, ich wollte dich gar nicht lange stören. Nur auf wieder sehen sagen.« »Weil du jetzt gehst?« »Ja. Es wird zeit.« Kenai nickte, schüttelte aber sogleich wieder den Kopf. »Beantwortest du mir eine Frage?«, wollte er wissen. »Welche?« »Hast du mich damals eigentlich gehasst? Als Nea und ich uns so nah standen?« »Hast du mich gehasst, als du meinetwegen erst so spät von der Geburt deines Sohnes erfahren hast?« Kenai lächelte. Er verstand, was Lugh Akhtar damit sagen wollte. »Nein. Es… war schade, zumal ich keine zweite Chance bekommen habe, aber… nein. Es war nicht deine Schuld.« »Genau. Das ich Nea fast verloren hätte, war auch nicht deine Schuld, sondern meine ganz allein. Das weiß ich auch. Jetzt. Also mach dir keine Gedanken. Nicht, wegen solch alter Geschichten. Vergeben und vergessen wie es so schön heißt«, lächelte der alte Zauberer. Kenai wirkte nicht völlig überzeugt, eine ganze Weile dachte er noch nach, bevor er schließlich nickte. »Ich finde, meine Taten wiegen schwerer, aber wenn du sie mir vergibst…«, sprach er. »Es waren nicht deine Taten, es war nicht deine Schuld. Hör auf, dich grundlos zu grämen. Wir sind Freunde, Kenai. Du bist kein Zauberer und du bist nicht dort aufgewachsen, wo ich herkomme, aber ich versichere dir, dass ich dir nichts übel nehme, das habe ich dir als Zauberer und als Nordmann schon oft genug bewiesen. Und deswegen möchte ich mich von dir jetzt verabschieden. Als Freund.« Jetzt nickte der ehemalige Söldner mit einem Lächeln. »Dann sage ich dir auch als Freund auf wieder sehen. Lebe wohl, Lugh Akhtar.« »Wir werden uns gewiss wieder treffen. Immer dann, wenn der Frühling dich zu einem Sonnenfest mitnimmt«, lächelte der Wolf und Kenai nickte. Sie umarmten sich noch einmal, der Zauberer gab auch diesem Freund einen letzten Kuss mit auf den Weg und dann ging Lugh Akhtar. Es ging zurück nach Altena, denn hier lebte Vivamus, wenn er nicht gerade bei Skadi in der alten Welt war. Und zurzeit war er das nicht. So traf er seinen Bruder also auf der Stadtmauer, wo der alte Mann allein und nachdenklich in die Ferne schaute. »Hallo Vivamus«, begrüßte Lugh Akhtar ihn. »Oh, du bist es, Fin. Schön dich zu sehen«, lächelte der alte Mann. »Nachdem ich mich so lange nicht gemeldet habe, ich weiß«, lächelte Lugh Akhtar schuldbewusst. »Das bin ich von dir ja gewohnt. Hattest du zu tun?« »Auch, ja. Winter hat mir noch ein paar Tricks mit auf den Weg gegeben.« »Das heißt, jetzt wird es ernst?« »Ja. Jetzt ist es an der Zeit, mein Rudel zusammen zu suchen, meine Freunde um mich zu scharren, damit ich nicht allein mein zweites Leben leben muss.« »Es sollen also wieder Wölfe sein? Weißt du schon, wen du nehmen willst?« »Ja, deine die Geschichte meiner Freunde begann als Wolf. Doch eine Abfuhr wurde mir schon erteilt.« Der alte Zauberer lächelte. »Wirklich? Von wem?« »Tariq. Er… ist gestorben. Er fand, es wäre für ihn Zeit zu gehen, deswegen hat er abgelehnt. Außerdem wollte er Maya wieder sehen. Ich hoffe, das er das auch tun wird.« »Ich würde es ihm wünschen. Es ist nicht leicht, in so jungen Jahren schon seine Frau zu verlieren.« »Er hatte nie ein leichtes Leben. Man glaubt, ein König hätte nicht viel zu tun, aber in Wirklichkeit haben wir es viel, viel leichter als er. Selbst wenn Maya nicht gestorben wäre.« »Das glaube ich auch«, nickte Vivamus. »Hast du schon eine Alternative?« »Die brauch ich nicht. Mein Rudel ist immer so groß, wie ich Wesen finde, denen ich vertraue.« »Dann ist gut.« Lugh Akhtar lächelte. »Wie geht es Skadi?«, fragte er dann. »Besser als mir. Es ist wirklich ein bisschen frustrierend, wenn man selbst immer älter wird, die Frau, die man liebt aber nicht.« »Und Pegah?« Da lächelte Vivamus glücklich. »Ihr geht es gut. Sie hat letztens Llew und Altena besucht, ich bin froh, das die drei sich so gut verstehen.« »Ich bin froh, dass du und Skadi so gut miteinander auskommt. Ich hatte gehofft, das ihr euch näher kommen würdet, aber Pegah war dann doch eine Überraschung.« »Ich würde gerne noch mehr Zeit mit ihr verbringen. Aber nicht als alter Mann.« »Mit Pegah?« »Mit Skadi.« Da lächelte Lugh Akhtar. »Könnte sich einrichten lassen.« »So mächtig bist nicht einmal du, Fin«, lachte Vivamus. »Doch. Wenn du dich meinem Rudel anschließen willst, dann schon«, lächelte der alte Zauberer. »Deinem Rudel…?« »Skadi ist ein wenig wie der Winter. Sie altert langsamer, sie lebt viel länger als die Menschen. Und in meinem Rudel wird es dir ebenso ergehen.« »Ich… mag die Idee, aber… könnte ich sie denn noch treffen, wenn ich in deinem Rudel bin? Ich meine, sie…« »Ich will auch sie fragen, ob sie Interesse hat und ich wüsste nicht, wieso sie ablehnen sollte. Willst du dich mir anschließen?« Vivamus musste darüber nicht nachdenken, er nickte lachend. »Ja. Gerne.« »Dann wirst du das Eis sein, Buntschweif.« Vivamus lächelte dankbar. Dann trat Lugh Akhtar an ihn heran und gab ihm einen Kuss. Kaum hatten sie sich wieder voneinander gelöst, war Vivamus kein alter Mann mehr. Er war wieder jung und er lächelte erfreut. »Ist mit mir dasselbe geschehen, wie mit dir?«, fragte er. »Das weiß ich nicht, was ist denn mit mir geschehen?«, wollte Lugh Akhtar wissen. »Du scheinst mir wieder jünger. Ein paar Jahre nur, aber… jünger.« »Nun, bei dir scheint es fast ein ganzes Leben gewesen zu sein. Wüsste ich es nicht besser, behauptete ich, du wärst noch keine dreißig«, lächelte Lugh Akhtar. Sein Bruder nickte nachdenklich, lächelte dann ebenfalls. »Dann freue ich mich über meine neue Jugend und hoffe, das mit dem Alter auch seine Gebrechen verschwunden sind.« Lugh Akhtar nickte und deutete in den Himmel hinauf. »Es wird Zeit, lass uns zu Skadi gehen und sie fragen.« Vivamus nickte und gemeinsam verwandelten sie sich in eine Art Reisegestalt. Der Weg in die alte Welt war weit, doch sie beide waren ihn schon so oft gegangen, dass er ihnen vertraut war und ihnen nicht mehr so weit vorkam. Als sie sich bei der Weltenesche Yggdrasil in ihren Wolfsgestalten materialisierten, da wurden sie von Hugin und Munin begrüßt. Es hatte lange gedauert, die beiden für sich zu gewinnen, doch mittlerweile begegneten die Raben dem Zauberer nicht mehr mit Ablehnung, sondern allenfalls noch mit einer hochnäsigen Gleichgültigkeit. Auch wenn es nicht so wirken mochte, so war dies dennoch ein großer Schritt für sie alle. Doch heute sollten nicht die Raben von Interesse sein, heute begrüßten die Brüder sie nur flüchtig und liefen schon zur Höhle weiter, in der Skadi nach wie vor lebte, zu Füßen der Weltenesche. »Skadi, bist du hier?«, fragte Lugh Akhtar, während er den Felsen hinaufsetzte. Ja, er spürte die Jahre, die ihm Vivamus Einwilligung gebracht hatte. Da trat die schwarze Wölfin auch schon hinaus. »Ich bin immer hier, Lugh Akhtar? Und, oh! Vivax, was…?« Erstaunt schaute sie den dunkelgrauen Wolf an. »Skadi, Liebste«, lachte Vivamus und sprang ebenfalls hinauf, begrüßte sie mit der Schnauze. »Du siehst so anders aus, was…?« Sie schaute Hilfe suchend auf Lugh Akhtar. »Na, so anders auch nicht, der Schwanz zumindest ist noch immer bunt«, lachte Vivamus und wedelte mit seiner vielfarbig leuchtenden Rute. »Nein, das meinte ich auch gar nicht, er…« Sie schien nicht recht in Worte fassen zu können, was sie sagen wollte. »Er hat sich mir angeschlossen und das hat ihm die Jugend wiedergegeben«, erklärte Lugh Akhtar lächelnd. »Oh, wirklich? Das ist wunderbar!«, rief die Wölfin und man sah ihr die ehrliche Freude an. Sie rieb ihren Kopf an seinem dichten Fell, sie schob ihn fast beiseite, doch er nahm es mit einem Lachen hin. »Deswegen sind wir aber nicht hier«, mischte sich der weiße Wolf lachend ein und schaute in die Höhle, ob Pegah da war. Sie war es nicht. »Warum dann?« Skadi schaute in neugierig an. »Ich wollte dir einen Platz in meinem Rudel anbieten«, erklärte er lächelnd. »Was? Wirklich?« »Ja. Ein Platz an Vivamus Seite. Llew hat seinen Weg schon gefunden und Pegah ist auch alt genug, um alleine zurecht zu kommen, sie… brauchen dich nicht mehr. Sie wollen gewiss nicht, das du gehst, immerhin bist du ihre Mutter, und sie lieben dich, aber… sie brauchen dich nicht. Ich schon. Und Vivamus auch, also… bitte. Sag ja.« Da lächelte Skadi. Sie musste über diesen Vorschlag nicht nachdenken. »Ich bin anders als die anderen. Nie vor mir und auch nie nach mir hatten die Mitglieder eines Rudels ein gemeinsames Kind. Nur ich. Und deswegen wusste niemand, wo mein Platz in dieser Welt ist. Deswegen habe ich lange nach meinem Platz gesucht. Immer und immer wieder und überall, wo es mir möglich war. Und jetzt, endlich, da gibst du ihn mir. Hab vielen Dank, Lugh Akhtar, ich nehme gerne an.« Der weiße Wolf lächelte glücklich und verwandelte sich selbst und auch Skadi in Menschen. »Dann sollst du der Frost sein«, sprach er, während er Vivamus schon einmal einen verzeihungheischenden Blick zuwarf, doch der verzog seine Wolfsschnauze bloß zu einem zufriedenen Lächeln. Dann küsste Lugh Akhtar sie und er wusste, hätte Skadi je irgendwelche Alterserscheinungen gehabt, so wären sie nun fort gewesen. Doch er sah in ihren Augen, dass dafür ihm ein paar Jahre mehr genommen worden waren. »Damit wären wir schon zu dritt«, bemerkte Vivamus. »Ja, und während ich euch in euer neues zuhause geleite, werden wir unterwegs noch einen alten Freund auflesen«, lachte der und gemeinsam verwandelten sie sich wieder. Diesmal führte ihr Weg sie ins Winterreich, in die Gebiete der sieben Wolfsrudel, die hier lebten. Zum Rudel der Blutmonde, das mittlerweile von einer Wölfin geführt wurde, die Lugh Akhtar nicht kannte, doch zu ihr wollte er auch nicht. Er begrüßte die Leitwölfin flüchtig, aber nur der Höflichkeit wegen, um den Frieden zu wahren. Danach lief er gleich weiter, ließ Skadi und Vivamus bei der Leitwölfin zurück. Hierbei mussten sie nicht zugegen sein. Deswegen war er allein, als er die Höhle betrat. Es war dunkel hier, das Eis hielt das Licht der Nachmittagssonne fern. In der Dunkelheit lag bloß ein einziger Wolf. Einst hatte er einmal ein nachtschwarzes Fell besessen, und seine Augen waren eisblau und stechend gewesen. Nun war das Fell grau, die Schnauze fast weiß, ebenso wie die blinden Augen. »Dustiar, bist du das?«, fragte der alte Wolf. »Nein, mein alter Freund. Ich bin es, Lugh Akhtar.« »Oh Lugh. Wie schön noch einmal deine Stimme zu hören.« Das alte Tier versuchte ein Schwanzwedeln, doch es war nur ein mattes Angeben und wieder fallen lassen. »Man glaubt, manche bekommt das Alter niemals in seine Fänge, doch ich muss feststellen, das es letztlich jeden bekommt. Du bist alt geworden, Ikaika.« »Ich war schon alt, als wir uns das erste Mal trafen, Lugh Akhtar. Vergiss nicht, dein Vater war jünger als ich und euer Meister ist nur unwesentlich älter«, grinste Ikaika mit seinem alten, vergammelten Gebiss. »Das weiß ich wohl, aber manches will man auch dann nicht sehen, wenn man es weiß. Und dies gehört wohl auch dazu. Obwohl du für mich immer schon zur älteren Generation gehörtest, konnte ich mir dich dennoch nie als alten, blinden Greisen vorstellen«, lächelte Lugh Akhtar traurig und legte sich neben seinen Freund. »Oh, dieser Zustand wird wohl auch nicht mehr lange anhalten. Ich spüre es, meine Zeit ist gekommen. Es kann sich nur noch um Tage handeln.« »Denkst du wirklich, das du so lange noch hast?« »Ich wünsche es mir zumindest.« Ikaika seufzte und bewegte sich ein wenig um bequemer zu liegen. »Weißt du, warum ich mich dem Studium der Alchemie verschrieben habe?« »Weil du Reichtum begehrtest?« »Weil ich Leben begehrte. Natürlich, vorrangig soll die Alchemie aus Metall Gold machen, doch mit ihr lässt sich auch ein Lebenselixier herstellen, das die Unsterblichkeit verspricht. Und ja, ich hänge an meinem Leben. Sehr sogar.« »Was hält dich hier?« »Die Menschen. Sie sind alle gleich und doch alle so anders. Ich will noch so viele von ihnen kennen lernen, ihre Geschichten hören, sie verstehen.« Lugh Akhtar hob den weißen Kopf und lächelte. »Ich kann dir ein neues, altes Leben anbieten, Ikaika. Willst du dich meinem Rudel anschließen?« Eine ganze Weile sagte der alte Wolf nichts. »Nach allem, was ich Cinder angetan habe?« »Ich bin nicht Cinder und du bist mein Freund und ein guter noch dazu. Deswegen stell ich dich vor die Wahl. Zu sterben, dann werde ich die letzten Stunden bei dir bleiben, oder zu leben. Mit mir gemeinsam, in meinem Rudel. Entscheide dich, ich fürchte, du hast nicht besonders viel Zeit, um darüber nachzudenken.« Ikaika brauchte auch nicht lange. »Ja. Auch, damit ich mich bei Cinder entschuldigen kann.« Lugh Akhtar lächelte, er hatte eigentlich nichts anderes erwartet. Auch dieses Mal verwandelte er sich selbst und seinen Gegenüber in Menschen, doch Ikaika blieb nur still liegen, während Lugh Akhtar ihm den Kuss gab, der ihren Packt besiegelte. »Du bist jetzt die Kälte, mein alter, junger Freund. Willkommen in meinem Rudel, Blutfeder«, lächelte er, während ihn die eisblauen Augen, die nun wieder sehen konnten, nachdenklich anblinzelten. »Ja, man sieht, dass für den Winter die Zeit still steht«, antwortete der und fuhr nachdenklich über das jünger werdende Gesicht des Zauberers. »Mit jedem neuen Mitglied meines Rudels, dreht sie sich für mich sogar zurück. Und bei dir hat sie Gott sei dank einen großen Satz zurück gemacht«, lächelte der und stand auf. »Ja, ich fühle es. Wie einfach einem die Welt doch erscheint, wenn man nicht mehr die Last des Alters tragen muss, aber dennoch seine Weisheit besitzt.« »Komm jetzt, ich möchte euch in euer neues Heim bringen, bevor ich die letzten zusammenrufe.« Ikaika nickte und während er aufstand, kleidete er sich wieder in den schwarzen Wolfspelz, der nun nicht mehr grau durchsetzt war. Gemeinsam verließen sie die Höhle. Sogleich schlossen sich ihnen Skadi und Vivamus an und sie liefen ins Winterreich. »Wartet hier, ich werde euch den Rest nach und nach schicken«, sprach er zu seinen neuen Gefährten und trabte davon. Zum Gebirge, an dessen Spitze der Lichterweg ins Sternenreich begann. Diesmal erwartete ihn niemand, diesmal lief er allein den leuchtenden Pfad entlang, bis er auf die Wolken trat, die das Fundament des Sternenreiches bildeten. Doch hier oben musste er nicht lange suchen, nur ein paar Meter vom Weg entfernt saß Drafnar und schaute auf die Erde hinab. »Hallo… Mani, Nacht, Drafnar?« Lugh Akhtar ging zu ihm und setzte sich auf den Rand der Wolke. Seltsamerweise hatte er keine Angst, hinab zufallen. »Wie du möchtest. Alle paar Jahrhunderte ist es sowieso an der Zeit für einen neuen Namen, wenn du möchtest, kannst auch gerne du ihn aussuchen«, erklärte Drafnar, ohne ihn anzuschauen. »Nein danke, es reicht, wenn ich mich selbst an einen neuen Namen gewöhnen muss. Lugh Akhtar hat mir gut gefallen, es wird schwierig sich daran zu gewöhnen, das Fremde mich jetzt wohl als Winter bezeichnen werden.« »Du suchst also jetzt die Mitglieder deines Rudels?« »Ja. Ich lebe schon seit fast einem Jahrhundert auf dieser Welt, mein altes Leben muss langsam zu ende gehen.« »Warte ab, irgendwann wird dir ein Jahrhundert vorkommen, wie ein kurzer Augenblick angesichts der Unendlichkeit, die vor dir liegt.« Lugh Akhtar nickte, er wusste, das Drafnar recht hatte. »Bist du traurig, das deine Kinder sich dazu entschlossen haben, das es an der Zeit ist, zu sterben?«, fragte er leise. »Nein. Ich weiß nicht, was danach kommt, aber ich denke, das es noch irgendetwas geben wird.« »Schatten erzählte mir mal, das wir zu Seelen werden. Und irgendwann werden wir Wiedergeboren. Wie Nanook.« »Dann ist doch alles gut.« »Warum lebst du noch? Du bist so alt wie die Welt, du hast doch schon alles einmal gesehen, was hält dich noch hier?« »Die angst. Ich bewundere meine Kinder, dass sie den Mut haben, den letzten Schritt zu tun, denn ich habe ihn nicht. Ich fürchte nicht die Fremde, das Unbekannte, ich fürchte nur, dass es wehtun könnte. Ich denke, ich brauche noch einige Zeit um es herausfinden zu wollen.« »Willst du das hier tun?« »Nein. Ich war nur hier, weil dieses Volk mich brauchte. Wohin mein Weg mich jetzt führen wird… ich weiß es nicht.« »Dann komm zurück. Werde wieder zur Nacht, wir können es auf Dauer nicht sein.« »Das war auch niemals eure Aufgabe, deswegen erscheint sie euch so schwer.« Drafnar seufzte und machte eine Handbewegung, die den ganzen Erdball unter ihnen einbezog. »Aber ich denke, du hast recht. Es ist zeit, zurückzukehren. Fylgien ist so weit, er kann seine Aufgabe hier übernehmen und dann brauchen sie mich hier nicht mehr.« Lugh Akhtar stand auf und nickte dankbar. »Dann tu, was du hier noch tun musst. Ich habe noch ein paar Besuche zu erledigen.« »Glaubst du nicht, das deine Tochter wütend sein wird, wenn du ihr Fylgien nimmst?«, hielt Drafnar ihn noch einmal zurück. »Nein. Nicht angesichts des Angebotes, das ich für sie habe«, lächelte der Zauberer. »Nun, in dem Fall werde ich Fylgien jetzt nach Hause holen. Wir treffen uns später irgendwann.« Lugh Akhtar nickte abermals und zögerte einen Moment. Eigentlich müsste er jetzt seinen neuen Weggefährten in seinem Rudel begrüßen, aber Drafnar war anders. Sie waren Freunde, aber sein Gegenüber war viel älter und mächtiger als er, entstammte einer völlig anderen Welt. Und obwohl beides auch auf Schatten zutraf, war es dennoch etwas völlig anderes, denn die Polarfüchsin ging gänzlich anders mit ihm um. So also verzichtete er auf ein vertrauensvolles Willkommenheißen, neigte stattdessen mit einem dankenden Lächeln den Kopf und ging zum Lichterweg zurück. Er wusste nicht, ob Drafnar nun wütend sein würde, aber wenn, dann würden sie das später regeln. Als er wieder in seiner Welt war und sich in die Lichtgestalt verwandeln konnte, legte er den Weg nach Lanta also solche zurück. Es gab noch jemanden in der Hauptstadt des Menschenimperiums, von dem er sich verabschieden musste und er fand ihn in einem der Schlossgärten, wo er, auch schon ein alter Mann, in der Sonne saß und las. »Hallo Kekoa«, begrüßte Lugh Akhtar seinen einzigen Sohn. Der schien nicht erwartet zu haben, eine vertraute Stimme zu hören, er zuckte zusammen und schaute erstaunt auf. »Vater, was… tust du hier? Und wieso…« Misstrauisch schlich sich in den Blick der braunen Augen, doch Lugh Akhtar lächelte, wusste genau, woher es kam. »Es ist an der Zeit, dir eine Lebewohl zu sagen, mein Sohn.« Der Zauberer setzte sich zu Kekoa. »Lebewohl? Wieso? Wo gehst du hin?« »Erinnerst du dich noch? An die Geschichten, die ich dir und deinen Schwestern als Kinder erzählte?« »Natürlich.« Kekoa lachte. »Wir waren ganz verrückt danach, jeden Abend hingen wir an deinen Lippen.« Lugh Akhtar lächelte und nickte. »Genau, eben diese Geschichten meine ich. Weißt du… es sind keine Geschichten. Nicht alle zumindest.« »Ich weiß.« Der Zauberer schaute seinen Sohn erstaunt an. »Woher?« »Glaubst du, ich wäre so blind und taub? Ich kann zuhören und ich habe sehr wohl verstanden, dass es mehr als Geschichten sein müssen, wenn du dich mit Freunden und Bekannten so angeregt darüber unterhalten kannst. Und mir ist auch nicht entgangen, dass du gerne einmal ausweichst, wenn man dich bei bestimmten Leuten danach fragt, wie du sie kennen gelernt hast. Und ein wenig haben mir Mana und Yue auch erzählt.« Er grinste breit, als er den Blick seines Vaters sah. »Gut, dann… muss ich ja nicht mehr viel erklären. Nun, kurz nachdem du und Mana geboren worden seid und bevor Yue dann den Abschluss bildete, war ich auf einer Reise in der alten Welt. Und dort erfuhr ich, was mein Schicksal sein sollte, irgendwann.« »Von den Nornen?« Lugh Akhtar nickte. »Ja, auch. Ich soll den Platz meiner Mutter einnehmen, den des Winters. Und jetzt ist es an der Zeit, eben dies zu tun, denn ihr braucht mich nicht mehr. Ihr Kinder seid erwachsen, und in Wynter ist es Zeit für eine neue Generation. Also werde ich jetzt gehen.« »Wissen Yue und Mana schon davon? Sie werden nicht erfreut sein«, prophezeite Kekoa ernst. »Noch nicht, aber zumindest mit Mana habe ich auch noch etwas vor. Und zu Yue geh ich noch.« Kekoa nickte, wirkte bedrückt. »Werden wir uns wieder sehen oder habe ich dann einen toten Vater, ohne das es ein Grab zu besuchen gibt?« »Wenn du mich brauchst, Kekoa, dann werde ich immer bei dir sein. Dann komme ich zu dir, wo auch immer du bist.« Sein Sohn nickte dankbar und lächelte. Sie umarmten einander, doch es war zeit zu gehen. »Wir sehen und ganz bestimmt wieder«, flüsterte Lugh Akhtar und gab seinem Sohn noch einen Kuss auf die Stirn, bevor er sich in die Lichtgestalt begab und weiterzog. Zu Yue. Die fand er in einer Hütte am Meer, die sie mit Chinook gemeinsam bewohnte. Es war mittlerweile Abend geworden, die Sonne ging unter. Ein stürmischer Wind peitschte hier an der Küste das Land und Wellen brachen laut an den Klippen, die Unterhalb des Hauses wie Zähne aus dem Wasser ragten. Eine Weile stand der Zauberer da und genoss den Wind, der um ihn herumstürmte und fragte sich, wie lange sein Onkel es wohl noch tun würde, bevor er sich schließlich für das Ende entschied. Er war der letzte von den vier Geschwistern, der noch am Leben war, es gab nur noch eine einzige Person, die ihn als Mensch kennen gelernt hatte, und das war Ikaika. Lugh Akhtar hatte nie verstanden, was seinen Onkel so allein am Leben hielt, denn seine Familie und seine Freunde waren alle schon dahingeschieden. So stand er für eine Weile da und teilte die Einsamkeit seines Onkels, bis er schließlich zum Haus ging und eintrat, ohne anzuklopfen. Hier fand er seine Tochter jedoch nicht, also verließ er das Haus wieder und schaute sich draußen ein wenig um. Er ging zum Meer hinab und hier saß sie, gemeinsam mit ihrem Mann Chinook. Eine Weile beobachtete Lugh Akhtar die beiden, dachte an den Tag zurück, als sie sich kennen lernten. Wie Yue ihn verprügelt hatte und wie Chinook sein Schüler geworden war. Dann nickte er. Er war zu einer Entscheidung gekommen. »Hallo, meine Tochter und guten Abend, Chinook«, begrüßte er die beiden. »Papa, hallo!« Yue löste sich von ihrem Mann und lief so schnell zu ihrem Vater, wie sie es mit ihren alten Knochen tun konnte. Sie war die Jüngste von allen, die er heute besucht hatte, doch selbst sie war schon eine alte Frau. »Yue, mein Sonnenschein.« Er schloss sie in die Arme. »Schön dich wieder zusehen, aber was führt dich her?«, fragte Chinook und kam langsam näher. »Geschäftliches, ob es für euch erfreulich ist oder nicht, liegt ganz bei euch«, lächelte der Zauberer. »Wieso, was ist los?« »Es ist Zeit für mich, ich werde den Platz des Winters einnehmen«, erklärte Lugh Akhtar. »Du willst gehen?« Yue prallte zurück und starrte ihn entsetzt an. »Ich muss, das war immer schon mein Schicksal und das weißt du auch, Yue. Doch ich bin nicht nur hier, um mich zu verabschieden, mein Sonnenschein.« »Sondern?« Auch Chinook wirkte nicht begeistert, doch war er eindeutig gefasster als seine Frau. »Chinook, ich möchte dir einen Platz in meinen Reihen anbieten.« Lugh Akhtar sah in den Augen seines Schwiegersohns die Antwort, bevor er zu Ende gesprochen hatte. »Nein«, sagte er, wie erwartet. »Ich möchte Yue nicht verlassen.« Der Zauberer lächelte und nickte. »Ich weiß, ich habe es mir fast gedacht, als ich euch eben da hab stehen sehen, aber das macht nichts, Meinungen sind ja schließlich da, um auch mal geändert zu werden. Also frag ich eben auch dich, Yue, würdest du mich mir anschließen? Ihr beide, gemeinsam?« Auch jetzt waren eigentlich keine Worte nötig, der Blick, den Yue und Chinook wechselten, war Antwort genug. »Ja, wenn wir zusammenbleiben können, dann werden wir das gerne tun«, antwortete Chinook und lächelte. Lugh Akhtar lächelte und trat an seiner Tochter vorbei. Er nahm Chinooks Gesicht in beide Hände und schaute in die dunklen Augen. »Dann begrüße ich dich in meinen Reihen, Zeitbezwinger. Du wirst, die winterliche Stille in diese Welt bringen«, erklärte er und gab seinem ehemaligen Schüler einen Kuss. Der trat zurück und schaute zu Boden, jetzt wieder ein junger Mann, während Lugh Akhtar sich zu seiner Tochter umwandte. Er umarmte sie noch einmal, dann nahm er auch ihr Gesicht in die Hände und schaute lange in ihre roten Augen. »Herzlich Willkommen, Lichtschwinge. Deine Aufgabe wird es sein, das Glitzern des Schnees und das sanfte Leuchten in diese Welt zu bringen«, erklärte er ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Auch sie wurde wieder zu einer jungen Frau und auch er selbst hatte abermals ein paar Jahre verloren. »Und… jetzt?«, fragte Yue unsicher. »Jetzt geht ihr zur Vivax, Skadi und Ikaika. Ich muss noch die letzten beiden abholen«, lächelte ihr Vater und verwandelte sie in ihre Reisegestalten, da sie beide noch nicht wussten, wie es möglich war. Dann verwandelte er sich abermals in seine Lichtgestalt und kehrte nach Wynter zurück. Er fand seine zweite Tochter auf der Mauer, die das Winterreich vom Reich der Menschen trennte. Sie schaute auf die weite Ebene vor sich, während die Tränen auf ihren alten, runzeligen Wangen gefroren. »Mana, mein Kleine, was bedrückt dich?«, fragte er sie und nahm sie in die Arme. »Drafnar war da, er hat Fylgien zu sich geholt. Er sagte, das ist an der Zeit, dass er die Izarras anführt«, weinte sie und vergrub ihr Gesicht in seiner Kleidung. »Da hat er recht. Ein Menschenleben ist vorbei und mehr konnten wir euch nicht zusprechen«, versuchte er sie zu trösten, doch er wusste selbst, wie wenig Trost das in Wirklichkeit war. »Es ist dennoch so unfair. Zu wissen, das er noch da ist, irgendwo, und das ich ihn dennoch niemals wieder sehen werde!«, rief sie und weinte noch mehr. »Ich weiß, aber beweine nicht die Zeit, die euch vielleicht entgeht. Lache lieber und erfreue dich an der gemeinsamen Zeit, die ihr hattet. Auch diese war niemals selbstverständlich.« »Ich bin mir nicht sicher, ob es nicht besser gewesen wäre, hätten wir sie nie gemeinsam verbracht. Es schmerzt, wie am allerersten Tag, doch jetzt weiß ich, dass mich der Schmerz bis zu meinem Lebensende begleiten wird. Ich bin einfach zu alt, um mich daran noch zu gewöhnen«, weinte sie. »Man ist niemals zu alt, für nichts«, widersprach der Zauberer sanft, während die letzten Sonnenstrahlen über sie hinweg glitten und die Welt in Dunkelheit versank. »Du nicht, du bist der Winter. Du wirst noch Jahrtausende leben, aber ich nicht. Vielleicht… wäre es besser, es jetzt zu beenden. Kurz und schmerzlos, statt jeden Tag daran denken zu müssen.« »Nein! Mana, hast du denn nichts gelernt? Das Leben ist viel zu kurz und viel zu schön, um es absichtlich wegzuwerfen. Auch wenn Fylgien nicht mehr da ist, so ist er doch am Leben und er würde nicht wollen, dass du einfach aufgibst! Und ich auch nicht.« Mana wirkte nicht überzeugt, doch sie widersprach auch nicht mehr. »Außerdem bin ich nicht grundlos hier.« »Du möchtest dich verabschieden, nicht wahr? Auch du gehst jetzt«, vermutete sie. »Nein. Ich möchte dich darum bitten, dich mir anzuschließen. Ich möchte, das du das Nordlicht wirst.« Er lächelte wissend, während sie ihn erstaunt anschaute. »Das Nordlicht? Wieso?« »Weil das Nordlicht eine ganz besondere Aufgabe hat. Es zeichnet nicht nur bunte Lichter an den Himmel, es bewacht auch das Sternenreich und entscheidet, wer es betreten darf«, erklärte er lächelnd. »Wenn du nicht mein Vater wärst, ich wäre mir sicher, du wolltest mich noch mehr quälen«, antwortete sie verbittert, doch Lugh Akhtar lächelte nach wie vor. »Dann bin ich froh, dass du weißt, dass dem nicht so ist. Weißt du, das Nordlicht darf natürlich im Sternenreich ein und ausgehen, wie es ihm beliebt, wenn die richtigen Leute zustimmen. Und mit dem Herr der Izarras muss es natürlich auch noch regen Kontakt halten«, erklärte er, während der Blick seiner Tochter immer ungläubiger wurde und er sie aus großen Augen anstarrte. »Ich kann…«, flüsterte sie. »Fylgien so oft sehen wie du willst, solange du nur weiterhin deine Aufgaben erfüllst, ja«, lachte Lugh Akhtar. Daraufhin wurde er so stürmisch von seiner Tochter umarmt, dass sie fast gemeinsam zu Boden fielen. »Langsam Mana, hab Mitleid mit dem alten Mann«, grinste er. »Oh Papa, du bist der Allerbeste!«, rief sie aus. »Ich bin nur nicht dumm. Aber du hast das Angebot noch nicht angenommen, mein Kind. Willst du also in mein Rudel kommen? Als Nordlicht?« »Natürlich will ich!«, lachte sie. »Gut. Dann begrüße ich dich als neues Nordlicht, Sternengefährtin«, lächelte er und gab auch Mana einen Kuss auf die Stirn und auch sie wurde wieder zu einer jungen Frau. »Ich hab dich lieb, Papa«, flüsterte sie und vergrub ihr Gesicht wieder in seiner Kleidung. »Ich hab dich auch lieb, Mana«, antwortete er sanft und hielt sie im Arm, während es um sie herum schließlich Nacht wurde. »Ich störe euch ja nur ungern, aber es wird Zeit zu gehen, Lugh Akhtar«, bemerkte da eine Stimme und als sich Vater und Tochter voneinander lösten, da sahen sie sogleich die Polarfüchsin mit den roten Augen und den schwarzen Abzeichen, die auf der Mauer saß und sie mit einem sanften Lächeln beobachtete. »Chaya, meine alte Freundin.« Lugh Akhtar wollte zu ihr gehen, doch Mana war schneller. Mit ein paar Schritten war sie bei Schatten und nahm sie auf den Arm. »Hallo Mana«, flüsterte die Füchsin dem Mädchen zu und die nickte lächelnd. »Was führt dich her?«, fragte der Zauberer. »Du, weil du hier die Zeit verplemperst, während woanders noch jemand sehnsüchtig auf dich wartet. Also beweg dich, geh zu ihr, lass Nea nicht länger warten«, forderte sie ihn mit einem glücklichen Lächeln auf. »Ja, Nea. Du hast recht, es ist Zeit.« Er umarmte noch einmal seine Tochter mit der Füchsin im Arm, dann begab er sich in die Lichtgestalt und machte sich auf zum wichtigsten Ort, zur wichtigsten Person an diesem Abend. Zu Nea. Er fand sie auf der Bank vor ihrem Haus, wo sie in einer Decke gehüllt dasaß und über die weiten Wiesen und Hügel blickte. Der Mond, der gerade erst aufgegangen war, ließ ihr Haar, einst rotbraun, jetzt weiß, geisterhaft aufleuchten und auch ihre grünblauen Augen schimmerten, als würden sie einem Wesen gehören, das nicht dieser Welt entstammte. »Und, hast du ihnen allen Lebewohl gesagt?«, fragte sie sanft. Sie hatte ihn sofort bemerkt. »Ja«, nickte er, setzte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. »Jetzt bleibt nur noch eines.« »Aber nicht sofort. Schau doch, wie wunderschön diese Nacht ist. Für einen Augenblick will ich noch einmal alles vergessen, was sein könnte und nur in der Vergangenheit leben.« »Dorthin begleite ich dich gern. Es erscheint mir noch immer unglaublich, wie viele Jahre wir aneinander vorbei lebten, als wir Kinder waren. Weißt du noch? Derselbe Meister, ich war dabei, als er dich zur Schülerin nahm, doch als ich dich das erste mal wirklich wahrnahm, da wusste ich nicht einmal mehr deinen Namen.« »Nikolai wusste, dass wir zueinander finden würden«, erklärte sie und lächelte. »Glaubst du?« »Ich weiß es.« »Hat er es dir gesagt?« »Das musste er nicht.« Sie lächelte ihn warm an. »Wieso bist du dir dann so sicher?« »Weißt du, nachdem ich meinen Schülernamen erhalten hatte, da fragte ich ihn einmal, wieso er mich Windsbraut nannte. Und er sagte mir, weil er das Gefühl hätte, das ich für den Wind bestimmt wäre. Und als er mich freigab, da sagte er, dass er sich jetzt ganz sicher sei. Mein Weg wäre der, den auch der Wind einschlagen würde. Und das war er ja auch.« »Makani. Wind. Glaubst du, er hat es wirklich auf den Namen darauf bezogen, den ich mir damals selbst gab?« »Ja. Als wir heirateten, da hat er mir zugeflüstert, dass er vom allerersten Augenblick an wusste, dass wir für einander bestimmt waren. Er hatte recht. Ich bin immer wieder erstaunt, wie richtig und passend unsere Schülernamen so manches mal sind, obwohl wir sie eigentlich völlig fremden geben.« »Sie sind uns nie völlig fremd. Wir wissen, wen wir zu uns nehmen, sonst würden wir es nicht tun«, widersprach Lugh Akhtar, schüttelte dann sanft den Kopf. »Aber das ist jetzt gleich. Weißt du, was heute für ein Tag ist?« Sie sagte nicht, lächelte bloß still vor sich hin. »Heute vor fünfzig Jahren haben wir geheiratet. Du hast versprochen, dass du dein ganzes Leben bei mir bleiben würdest und das hast du getan. Dafür danke ich dir, Nea.« »Manchmal ist ein Leben noch viel zur kurz wenn man es mit der Person teilen darf, die einem am liebsten ist auf der Welt«, antwortete sie und lächelte verträumt. Er nickte und zog sie noch dichter an sich heran. »Nea, würdest du sogar noch einen Schritt weitergehen? Würdest du sogar die Ewigkeit mit mir gemeinsam leben wollen?«, fragte er und versuchte, nicht zu zittern aus angst, das sie verneinen könnte. »Ich würde alle Ewigkeiten mit dir verbringen wollen«, antwortete sie und schaute zu ihm auf. Da lachte er befreit, stand auf und zog sie mit sich, tanzte mit ihr im Mondschein über den Hof. »Danke meine Liebste, danke!«, lachte er und blieb endlich stehen. Er schaute ihr lange in die Augen, die sich in all den Jahren nicht verändert hatten. Sie schaute zurück und lächelte warm, freute sich darüber, wie glücklich er war. »Dann begrüße ich dich als letztes, aber wichtigstes Mitglied meines Rudels, denn du, Windsbraut, du wirst der Schnee sein«, sprach er zu ihr und küsste sie. Als sie sich voneinander lösten, waren sie beide wieder jung. »Der Schnee?« Ihrer neuen Jugend scheinbar unbewusst, kam Nea dagegen zu viel näher liegenden Dingen. »Ich weiß doch gar nicht, wie man Schnee machen kann.« »Soll ich es dir beibringen?« »Ja«, nickte sie. »Gut, dann lassen wir es jetzt gemeinsam schneien. Schau in den Himmel und warte auf die ersten Flocken.« Und das tat sie. Gemeinsam schauten sie in den Himmel, der langsam mit dunklen Wolken zuzog. Sie verdeckten den Mond und für einen Augenblick war alles dunkel. Dann sahen sie es. Die erste Schneeflocke, die in diesem Winter hinab fiel. Und sie landete genau auf Neas Nase. Doch die erste Flocke blieb nicht allein, ihr folgten weitere Flocken, mehr und immer mehr, bis es bald dicht um sie herum schneite und die Welt mit einem sanften, weißen Decke bedeckt wurde, die sie auch bei Nacht seltsam hell leuchten ließ. »Dies hier, Nea, dies hier ist der allererste Schnee. Der erste Schnee eines neuen Winters und der erste Schnee eines neuen Lebens und der erste Schnee einer neuen Herrschaft. Der erste Schnee. Von uns gemeinsam.« Epilog: Die Zeit zum Träumen ---------------------------- Wann ist die Zeit, um zu träumen? Nun, eigentlich immer dann, wenn irgendetwas es schafft, unsere Fantasie zu beflügeln. Wenn der Regen gegen das Fenster prasselt und man glaubt, das er eine Geschichte erzählen will. Wenn Blitze über den Himmel zucken und man denkt, das es Wesen sein könnten, die in einer anderen Welt gegeneinander kämpfen. Wenn der Wind ein Lied zu singen scheint, das nur man selbst versteht. Manchmal kann man auch träumen, wenn man einfach nur seine Gedanken in die Ferne wandern lässt. Jeder träumt dabei von verschiedenen Dingen, die meisten Träume sind sehr Bodenständig und realistisch, doch ab und zu gibt es auch jene, die von anderen Welten träumen, deren Gedanken bis in den Himmel hinauf fliegen und ihnen Dinge zeigen, die nicht zu ihrer Welt gehören. Und manche nutzen diese Blicke in fremde Welten und lassen sie unvergessen werden. Sie zeichnen, sie schreiben, sie dichten, sie erzählen und nehmen die anderen mit sich in diese Welten, die sie selbst beim träumen besuchen durften. Dabei erfahren sie von Dingen, die es in ihrer eigenen Welt nicht gibt, die unglaublich und undenkbar erscheinen und vergessen nur allzu schnell, das eigentlich immer etwas ganz anderes im Mittelpunkt steht: Das Leben der einzelnen Figuren. Und je länger man sie sich besieht, desto deutlicher wird, dass sie gar nicht so anders sind. Auch sie haben ihre Probleme, sie haben das gleiche Empfinden von Glück und beweinen dieselben Begebenheiten. Wir leben, lieben und leiden mit ihnen, wann immer sie uns begegnen. Dabei sind sie dennoch immer nur Personen wie wir. Wir begleiten sie auf ihren Reisen, die unglaublich erscheinen und doch irgendwie wahr sind. In dieser eigenen Welt aus Papier und Tinte, sind sie Wirklichkeit. Und manchmal werden sie einem so vertraut, das man glaubt, sie wirklich zu kennen. Sie werden zu Vertrauten, zu Freunden. Dann trocknen sie einem die Tränen und man weiß, das man niemals alleine ist, selbst wenn sonst keiner die Tränen hinter dem Lachen sehen kann. Wann also ist die Zeit zum träumen da? Dann, wann immer man anderen eine anderen oder sich selbst eine Freude machen will. Auch dieser Teil hat also nun sein Ende gefunden^^ Und wieder einmal möchte ich mich bei den Lesern und vor allem bei den Kommi-Schreibern bedanken :D Ich hoffe, ich habe eure Gedanken zum Fliegen gebracht und es würde mich sehr freuen, wenn ihr mich abermals auf eine neue Reise begleiten würdet. Dieses mal jedoch wird es die Reise von Kanoa, Lugh Akhtars Vater, sein ^^ Den Link findet ihr in der Beschreibung^^ Danke nochmal und hoffentlich auf wiedersehen :D Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)