Wolfserinnerungen - Der Erste Schnee von Scarla ================================================================================ Kapitel 29: Der Erste Schnee ---------------------------- »Hallo, mein alter Freund. Schön dich nach so langer Zeit einmal wieder zu sehen.« »Oh, Lugh Akhtar.« Tariq, der auf der Fensterbank saß und hinausgeschaut hatte, wandte sich um. »Du bist alt geworden«, sprach der Zauberer und trat an die Seite des Königs von Lanta. »Es ist zehn Jahre her, seitdem du mich das letzte mal besucht hast«, lachte der. »Ich weiß. Entschuldige, ich hätte früher kommen sollen.« Lugh Akhtar setzte sich zum alten König auf die Fensterbank und blickte ebenfalls hinaus. Es war Spätherbst, doch das konnte kaum einer wirklich glauben. Der Himmel war wolkenlos und tiefblau, die Bäume bunt und die Felder waren bereit, abgeerntet zu werden, wenn dies nicht schon geschehen war. Es war kaum zu glauben, das der Winter schon vor der Tür stand. Doch er konnte erst beginnen, wenn der neue Winter sein Gefolge um sich gescharrt hatte und um eben dies zu tun, war Lugh Akhtar nun losgezogen. »Das macht nichts. Immerhin bist du jetzt hier«, lächelte Tariq. »Natürlich. Immerhin sind wir Freunde.« Eine ganze Weile schwiegen die Männer darauf, hingen ihren eigenen Gedanken nach. »Weißt du eigentlich, das es fast achtzig Jahre her ist, als wir uns das allererste mal trafen?«, fragte Tariq dann unvermittelt. »Ja. Erinnerst du dich noch an den Tag? Wir haben damals im Schloss verstecken gespielt.« »Ja. Seit damals sind wir Freunde. Damals waren wir Kinder und heute… bin ich ein Greis, aber du nicht. Mir kommt es vor, als hättest du irgendwann aufgehört zu altern«, bemerkte der alte König, dessen Haar mittlerweile so weiß war, wie das Lugh Akhtars. »Das habe ich wohl auch. Es war nie mein Schicksal, alt zu werden und zu sterben«, antwortete der lächelnd. »Nein, bestimmt nicht. Zauberer werden nicht alt und sie sterben nicht. Sie sind anders als wir Menschen.« »Nur manche«, lächelte Lugh Akhtar. »Ja. Manche. Die, die besonders sind. So wie du. Das habe ich schon immer gewusst, es freut mich, dass ich recht behalten habe«, erklärte Tariq und betrachtete die leuchtenden Augen. Sein Freund jedoch antwortete nicht. »Du bist nicht grundlos hier, hab ich recht?« »Wie kommst du darauf?«, erkundigte sich Lugh Akhtar mit einem verstohlenen Lächeln. »Du bist ein Zauberer, du machst niemals etwas grundlos. Auch nicht einen alten, sterbenden Freund besuchen.« »Das stimmt wohl. Weißt du Tariq, es ist jetzt an der Zeit. Ich werde mein Schicksal annehmen, ich werde das Reich des Winters übernehmen. Und ich möchte dich bitten, dass du in mein Rudel kommst. Als mein Freund, dem ich vertraue.« Einen Augenblick erschien es wirklich so, als würde der alte König diesen Vorschlag überdenken, doch schließlich schüttelte er mit einem Lächeln den Kopf. »Nein, Lugh Akhtar. Das ist dein Schicksal, nicht meines. Weißt du, ich bin alt. Ich habe lange gelebt und auch wenn es so manchen Tag zu betrauern gab, so hatte ich dennoch ein schönes Leben. Dank dir, dank unseren Freunden, dank Daina. Und dank Maya. Aber dieses Leben, es ist nun vorbei. Ich habe mein Leben gelebt, und zwar so, das ich keinen Augenblick bereuen muss und das können nicht viele von sich behaupten. Jetzt aber ist es Zeit, weiterzugehen. Ich will Maya wieder sehen, ich bin sicher, dass sie auf mich wartet.« Lugh Akhtar nickte. Es war nicht an ihm, über diese Entscheidung zu richten, es war egal, ob er sie gut fand oder nicht. Er hatte sie zu akzeptieren und nichts anderes würde er tun. So blieb er bei seinem alten Freund sitzen und gemeinsam schauten sie in den Herbst hinaus. Sie mussten nicht sprechen, es reichte, wenn sie beieinander waren. Schließlich bemerkte der alte Zauberer, wie der Atem seines Freundes immer flacher wurde und schließlich ganz versiegte. Natürlich, Tariq war ein alter Mann und es war für ihn an der Zeit gewesen, zu gehen. Das Ende kam nicht unerwartet, im Gegenteil Lugh Akhtar war glücklich, das es so friedlich von statten gegangen war. Er stand auf und verneigte sich tief vor seinem alten Freund. »Auf Wiedersehen, eure Majestät«, flüsterte er. Dann gab er dem toten König noch ein letztes Mal einen Kuss. Ein Abschiedskuss, für einen Freund, der einen durch ein ganzes Leben begleitet hatte. Mehr konnte er nicht tun. Er trat zurück und schaute noch ein letztes Mal aus dem vertrauten Fenster, bevor er seine Macht um sich sammelte und sich selbst in einen Haufen Lichter verwandelte. Dies war seine Art zu reisen, er mochte sie. Als er seine Gestalt wieder manifestierte, war es auf der Spitze des Turms der Zauberer. Außer ihm befand sich nur eine Person hier oben. Es war eine alte Frau mit langem, aschgrauem Haar, die im Wind stand und auf die weite Landschaft blickte. »Hallo Cinder, meine Schwester«, begrüßte er sie leise. Die alte Frau erschrak nicht, es war, als hätte sie auf ihn gewartet. Sie lächelte, als sie sich umwandte. »Hallo, mein Lichterstern«, begrüßte sie ihn. »Kommst du noch einmal zu mir, bevor du gehst?« »Es ist mein Schicksal zu gehen, seit langem schon.« Er lächelte, als er an ihre Seite trat. »Was siehst du?« »Eine Welt, die sich verändert hat. Sie war mir so fremd, als ich hierher kam und jetzt ist sie es wieder.« »Die Zeiten ändern sich immerzu, nichts bleibt für die Ewigkeit bestehen. Denkst du, dein Leben wäre anders verlaufen, wenn du im Schattenfangrudel geblieben wärst?« »Ja. Ich denke nicht, dass ich dort bei der Auswahl meines Gefährtens danach gegangen wäre, ob ich ihn liebe. Meine Kinder, es wären andere gewesen und ich wäre eine andere gewesen… und das wäre schade gewesen. Ich mag mein Leben, so wie es ist.« »Für eine Weile habe ich wirklich geglaubt, das du und Hope, das ihr euch nie wieder vertragen würdet.« »Ich auch. Aber ich kann es nicht ändern und irgendwie war es gut, dass es so gekommen ist. Es hat uns näher zusammengebracht, irgendwie.« Lugh Akhtar nickte und eine ganze Weile schwiegen sie. »Hast du eigentlich angst vorm sterben?«, fragte der alte Zauberer irgendwann. »Nein, denn ich sterbe nicht. Niemand stirbt wirklich, solange es irgendjemanden gibt, der sich an ihn erinnert«, antwortete Cinder mit einem Lächeln. »Glaubst du?« »Weiß ich.« Sie lächelte ihn an, ging dann zu ihm und gab ihm einen Kuss. »Und dies hier, war meine Unsterblichkeit.« »Das war sie wohl, ja…«, nickte der alte Zauberer und lächelte. Es war Zeit zu gehen. Er machte ein paar Schritte von ihr fort, wollte gerade ein paar Abschiedsworte flüstern, als ihm wieder einfiel, warum er überhaupt gekommen war. »Kann ich dich um einen Gefallen bitten?«, fragte er. »Welchen?«, wollte sie wissen. »Kannst du dich um Kekoa kümmern, wenn ich weg bin? Dafür kümmere ich mich um Leilani.« »Und deine anderen Kinder?« »Die sind in guten Händen, wenn sie auf meinen Vorschlag eingehen. Nur Kekoa noch nicht. Würdest du das tun?« Cinder brauchte nicht überlegen, sie lächelte und nickte dann. »Natürlich.« »Dann wird es Zeit, auf wieder sehen zu sagen. Ich weiß nicht, ob wir uns noch einmal treffen werden.« »Ich hoffe es. Und wenn nicht, dann lebe wohl, Lichtertänzer.« »Du auch, Sternenwanderin.« Da wurde Lugh Akhtar wieder zu Licht und machte sich auf den Weg zum nächsten Freund, dem es galt, eine Lebewohl auszusprechen. Hope saß in seinem Arbeitszimmer, das so mit Büchern voll gestopft war, dass man sich nicht einmal umdrehen konnte, ohne angst haben zu müssen, mindestens ein dutzend Bücher umzuwerfen. Er saß an seinem Schreibtisch und las in einem alten Buch, das Lugh Akhtar nur zu gut kannte. »Kannst du es nicht mittlerweile auswendig?«, fragte er lachend. »Ja, aber ich lese dennoch immer wieder gerne darin. Weil ich es kann. Und das kann nicht jeder«, lächelte der alte Mann und schlug das Nachtbuch zu. »Ich weiß. Wie geht’s dir, alter Freund.« »Den Umständen und dem Alter entsprechend gut. Und dir?« »Ich verabschiede mich von meinem Freunden. Von den Menschen, die mir in meinem Leben am Wichtigsten waren. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich weinen soll, weil es ein Abschied für immer ist, oder ob ich lache, weil es so viele sind.« »Dann lache lieber, Tränen stehen dir nicht«, antwortete Hope. »Hätte man mir vor achtzig Jahren erzählt, wie viele Freunde ich einmal haben würde, ich hätte diese Person gnadenlos ausgelacht«, überlegte Lugh Akhtar. »Manchmal geht man andere Wege, als man anfangs vermutet. Erinnerst du dich noch an den Tag, als ich Vivamus kennen lernte? Also… so richtig kennen lernte?« »Als er dir den Kuss gab?« Lugh Akhtar lachte leise. »Natürlich. Wie könnte ich ihn vergessen?« »Weißt du, es hat zwar sehr, sehr lange gedauert, aber ich denke, ich habe endlich wirklich verstanden, wie wichtig euch diese Geste ist. Wie wichtig euch die Menschen sind, denen ihr den Kuss gebt.« »Für diese Menschen würde ich mein Leben geben. Der Schülername ist eine Sache, aber wer diesen benutzt, der hat Kontrolle über mich, ohne das ich es will. Wen ich den Bruderkuss gebe, dem jedoch gebe ich die Kontrolle immer freiwillig und ohne Einschränkungen.« »Ja. Dafür, dass du mir so viel Vertrauen entgegenbringst, möchte ich dir vom Herzen danken. Vielen, vielen Dank.« Darauf antwortete Lugh nicht, lächelte nur still. Schließlich nickte er. »Ich muss jetzt gehen. Aber vorher habe ich noch etwas für dich«, lächelte der alte Zauberer. »Eine Frau, die so alt ist wie ich und mich nicht ständig damit aufzieht, dass ich viel älter bin als sie? Wobei das ja mittlerweile auch egal ist. Irgendwann verliert das Alter seine Bedeutung.« »Das stimmt wohl. Aber nein, es ist etwas anderes. Ich möchte dir einen neuen Schülernamen geben«, lächelte Lugh Akhtar. »Damit meinen nicht mehr die ganze Welt kennt?« »Genau.« Der alte Zauberer trat zu seinem Freund, der schwerfällig aufstand. Das Alter war auch an ihm nicht spurlos vorüber gegangen. Lugh Akhtar umarmte seinen Schwager. »Dein neuer Schülername, der Feuerfuchs ersetzen soll, der soll Flammenschwinge lauten«, flüsterte er. »Flammenschwinge…«, flüsterte Hope zurück und nickte glücklich. »Jetzt muss ich gehen. Auf wieder sehen, Flammenschwinge. Vielleicht treffen wir einander einmal wieder.« »Ich würde es mir wünschen. Und wenn nicht, dann lebe wohl Lichtertänzer.« Lugh Akhtar lächelte und verwandelte sich wieder ins Licht. Dieses Mal war der Weg weiter. Er führte ihn in den Osten. In einem Pferdestall wartete Kenai bereits auf ihn, denn irgendwie schien der alte Mann gewusst zu haben, dass er kam. »Hallo Lugh Akhtar, kommst du auch endlich zu mir?« »Hallo Kenai. Ja, natürlich. Ich kann nicht gehen, ohne mich von dir zu verabschieden«, lächelte der alte Zauberer. »Frühling sagte mir schon, dass du heute kommen würdest, aber sie wusste nicht wann.« »Das dachte ich mir fast, als du mich als erstes begrüßt hast«, lächelte Lugh Akhtar. »Ich weiß langsam, wie sie sich anzukündigen pflegen«, nickte der ehemalige Söldner. »Nun, ich wollte dich gar nicht lange stören. Nur auf wieder sehen sagen.« »Weil du jetzt gehst?« »Ja. Es wird zeit.« Kenai nickte, schüttelte aber sogleich wieder den Kopf. »Beantwortest du mir eine Frage?«, wollte er wissen. »Welche?« »Hast du mich damals eigentlich gehasst? Als Nea und ich uns so nah standen?« »Hast du mich gehasst, als du meinetwegen erst so spät von der Geburt deines Sohnes erfahren hast?« Kenai lächelte. Er verstand, was Lugh Akhtar damit sagen wollte. »Nein. Es… war schade, zumal ich keine zweite Chance bekommen habe, aber… nein. Es war nicht deine Schuld.« »Genau. Das ich Nea fast verloren hätte, war auch nicht deine Schuld, sondern meine ganz allein. Das weiß ich auch. Jetzt. Also mach dir keine Gedanken. Nicht, wegen solch alter Geschichten. Vergeben und vergessen wie es so schön heißt«, lächelte der alte Zauberer. Kenai wirkte nicht völlig überzeugt, eine ganze Weile dachte er noch nach, bevor er schließlich nickte. »Ich finde, meine Taten wiegen schwerer, aber wenn du sie mir vergibst…«, sprach er. »Es waren nicht deine Taten, es war nicht deine Schuld. Hör auf, dich grundlos zu grämen. Wir sind Freunde, Kenai. Du bist kein Zauberer und du bist nicht dort aufgewachsen, wo ich herkomme, aber ich versichere dir, dass ich dir nichts übel nehme, das habe ich dir als Zauberer und als Nordmann schon oft genug bewiesen. Und deswegen möchte ich mich von dir jetzt verabschieden. Als Freund.« Jetzt nickte der ehemalige Söldner mit einem Lächeln. »Dann sage ich dir auch als Freund auf wieder sehen. Lebe wohl, Lugh Akhtar.« »Wir werden uns gewiss wieder treffen. Immer dann, wenn der Frühling dich zu einem Sonnenfest mitnimmt«, lächelte der Wolf und Kenai nickte. Sie umarmten sich noch einmal, der Zauberer gab auch diesem Freund einen letzten Kuss mit auf den Weg und dann ging Lugh Akhtar. Es ging zurück nach Altena, denn hier lebte Vivamus, wenn er nicht gerade bei Skadi in der alten Welt war. Und zurzeit war er das nicht. So traf er seinen Bruder also auf der Stadtmauer, wo der alte Mann allein und nachdenklich in die Ferne schaute. »Hallo Vivamus«, begrüßte Lugh Akhtar ihn. »Oh, du bist es, Fin. Schön dich zu sehen«, lächelte der alte Mann. »Nachdem ich mich so lange nicht gemeldet habe, ich weiß«, lächelte Lugh Akhtar schuldbewusst. »Das bin ich von dir ja gewohnt. Hattest du zu tun?« »Auch, ja. Winter hat mir noch ein paar Tricks mit auf den Weg gegeben.« »Das heißt, jetzt wird es ernst?« »Ja. Jetzt ist es an der Zeit, mein Rudel zusammen zu suchen, meine Freunde um mich zu scharren, damit ich nicht allein mein zweites Leben leben muss.« »Es sollen also wieder Wölfe sein? Weißt du schon, wen du nehmen willst?« »Ja, deine die Geschichte meiner Freunde begann als Wolf. Doch eine Abfuhr wurde mir schon erteilt.« Der alte Zauberer lächelte. »Wirklich? Von wem?« »Tariq. Er… ist gestorben. Er fand, es wäre für ihn Zeit zu gehen, deswegen hat er abgelehnt. Außerdem wollte er Maya wieder sehen. Ich hoffe, das er das auch tun wird.« »Ich würde es ihm wünschen. Es ist nicht leicht, in so jungen Jahren schon seine Frau zu verlieren.« »Er hatte nie ein leichtes Leben. Man glaubt, ein König hätte nicht viel zu tun, aber in Wirklichkeit haben wir es viel, viel leichter als er. Selbst wenn Maya nicht gestorben wäre.« »Das glaube ich auch«, nickte Vivamus. »Hast du schon eine Alternative?« »Die brauch ich nicht. Mein Rudel ist immer so groß, wie ich Wesen finde, denen ich vertraue.« »Dann ist gut.« Lugh Akhtar lächelte. »Wie geht es Skadi?«, fragte er dann. »Besser als mir. Es ist wirklich ein bisschen frustrierend, wenn man selbst immer älter wird, die Frau, die man liebt aber nicht.« »Und Pegah?« Da lächelte Vivamus glücklich. »Ihr geht es gut. Sie hat letztens Llew und Altena besucht, ich bin froh, das die drei sich so gut verstehen.« »Ich bin froh, dass du und Skadi so gut miteinander auskommt. Ich hatte gehofft, das ihr euch näher kommen würdet, aber Pegah war dann doch eine Überraschung.« »Ich würde gerne noch mehr Zeit mit ihr verbringen. Aber nicht als alter Mann.« »Mit Pegah?« »Mit Skadi.« Da lächelte Lugh Akhtar. »Könnte sich einrichten lassen.« »So mächtig bist nicht einmal du, Fin«, lachte Vivamus. »Doch. Wenn du dich meinem Rudel anschließen willst, dann schon«, lächelte der alte Zauberer. »Deinem Rudel…?« »Skadi ist ein wenig wie der Winter. Sie altert langsamer, sie lebt viel länger als die Menschen. Und in meinem Rudel wird es dir ebenso ergehen.« »Ich… mag die Idee, aber… könnte ich sie denn noch treffen, wenn ich in deinem Rudel bin? Ich meine, sie…« »Ich will auch sie fragen, ob sie Interesse hat und ich wüsste nicht, wieso sie ablehnen sollte. Willst du dich mir anschließen?« Vivamus musste darüber nicht nachdenken, er nickte lachend. »Ja. Gerne.« »Dann wirst du das Eis sein, Buntschweif.« Vivamus lächelte dankbar. Dann trat Lugh Akhtar an ihn heran und gab ihm einen Kuss. Kaum hatten sie sich wieder voneinander gelöst, war Vivamus kein alter Mann mehr. Er war wieder jung und er lächelte erfreut. »Ist mit mir dasselbe geschehen, wie mit dir?«, fragte er. »Das weiß ich nicht, was ist denn mit mir geschehen?«, wollte Lugh Akhtar wissen. »Du scheinst mir wieder jünger. Ein paar Jahre nur, aber… jünger.« »Nun, bei dir scheint es fast ein ganzes Leben gewesen zu sein. Wüsste ich es nicht besser, behauptete ich, du wärst noch keine dreißig«, lächelte Lugh Akhtar. Sein Bruder nickte nachdenklich, lächelte dann ebenfalls. »Dann freue ich mich über meine neue Jugend und hoffe, das mit dem Alter auch seine Gebrechen verschwunden sind.« Lugh Akhtar nickte und deutete in den Himmel hinauf. »Es wird Zeit, lass uns zu Skadi gehen und sie fragen.« Vivamus nickte und gemeinsam verwandelten sie sich in eine Art Reisegestalt. Der Weg in die alte Welt war weit, doch sie beide waren ihn schon so oft gegangen, dass er ihnen vertraut war und ihnen nicht mehr so weit vorkam. Als sie sich bei der Weltenesche Yggdrasil in ihren Wolfsgestalten materialisierten, da wurden sie von Hugin und Munin begrüßt. Es hatte lange gedauert, die beiden für sich zu gewinnen, doch mittlerweile begegneten die Raben dem Zauberer nicht mehr mit Ablehnung, sondern allenfalls noch mit einer hochnäsigen Gleichgültigkeit. Auch wenn es nicht so wirken mochte, so war dies dennoch ein großer Schritt für sie alle. Doch heute sollten nicht die Raben von Interesse sein, heute begrüßten die Brüder sie nur flüchtig und liefen schon zur Höhle weiter, in der Skadi nach wie vor lebte, zu Füßen der Weltenesche. »Skadi, bist du hier?«, fragte Lugh Akhtar, während er den Felsen hinaufsetzte. Ja, er spürte die Jahre, die ihm Vivamus Einwilligung gebracht hatte. Da trat die schwarze Wölfin auch schon hinaus. »Ich bin immer hier, Lugh Akhtar? Und, oh! Vivax, was…?« Erstaunt schaute sie den dunkelgrauen Wolf an. »Skadi, Liebste«, lachte Vivamus und sprang ebenfalls hinauf, begrüßte sie mit der Schnauze. »Du siehst so anders aus, was…?« Sie schaute Hilfe suchend auf Lugh Akhtar. »Na, so anders auch nicht, der Schwanz zumindest ist noch immer bunt«, lachte Vivamus und wedelte mit seiner vielfarbig leuchtenden Rute. »Nein, das meinte ich auch gar nicht, er…« Sie schien nicht recht in Worte fassen zu können, was sie sagen wollte. »Er hat sich mir angeschlossen und das hat ihm die Jugend wiedergegeben«, erklärte Lugh Akhtar lächelnd. »Oh, wirklich? Das ist wunderbar!«, rief die Wölfin und man sah ihr die ehrliche Freude an. Sie rieb ihren Kopf an seinem dichten Fell, sie schob ihn fast beiseite, doch er nahm es mit einem Lachen hin. »Deswegen sind wir aber nicht hier«, mischte sich der weiße Wolf lachend ein und schaute in die Höhle, ob Pegah da war. Sie war es nicht. »Warum dann?« Skadi schaute in neugierig an. »Ich wollte dir einen Platz in meinem Rudel anbieten«, erklärte er lächelnd. »Was? Wirklich?« »Ja. Ein Platz an Vivamus Seite. Llew hat seinen Weg schon gefunden und Pegah ist auch alt genug, um alleine zurecht zu kommen, sie… brauchen dich nicht mehr. Sie wollen gewiss nicht, das du gehst, immerhin bist du ihre Mutter, und sie lieben dich, aber… sie brauchen dich nicht. Ich schon. Und Vivamus auch, also… bitte. Sag ja.« Da lächelte Skadi. Sie musste über diesen Vorschlag nicht nachdenken. »Ich bin anders als die anderen. Nie vor mir und auch nie nach mir hatten die Mitglieder eines Rudels ein gemeinsames Kind. Nur ich. Und deswegen wusste niemand, wo mein Platz in dieser Welt ist. Deswegen habe ich lange nach meinem Platz gesucht. Immer und immer wieder und überall, wo es mir möglich war. Und jetzt, endlich, da gibst du ihn mir. Hab vielen Dank, Lugh Akhtar, ich nehme gerne an.« Der weiße Wolf lächelte glücklich und verwandelte sich selbst und auch Skadi in Menschen. »Dann sollst du der Frost sein«, sprach er, während er Vivamus schon einmal einen verzeihungheischenden Blick zuwarf, doch der verzog seine Wolfsschnauze bloß zu einem zufriedenen Lächeln. Dann küsste Lugh Akhtar sie und er wusste, hätte Skadi je irgendwelche Alterserscheinungen gehabt, so wären sie nun fort gewesen. Doch er sah in ihren Augen, dass dafür ihm ein paar Jahre mehr genommen worden waren. »Damit wären wir schon zu dritt«, bemerkte Vivamus. »Ja, und während ich euch in euer neues zuhause geleite, werden wir unterwegs noch einen alten Freund auflesen«, lachte der und gemeinsam verwandelten sie sich wieder. Diesmal führte ihr Weg sie ins Winterreich, in die Gebiete der sieben Wolfsrudel, die hier lebten. Zum Rudel der Blutmonde, das mittlerweile von einer Wölfin geführt wurde, die Lugh Akhtar nicht kannte, doch zu ihr wollte er auch nicht. Er begrüßte die Leitwölfin flüchtig, aber nur der Höflichkeit wegen, um den Frieden zu wahren. Danach lief er gleich weiter, ließ Skadi und Vivamus bei der Leitwölfin zurück. Hierbei mussten sie nicht zugegen sein. Deswegen war er allein, als er die Höhle betrat. Es war dunkel hier, das Eis hielt das Licht der Nachmittagssonne fern. In der Dunkelheit lag bloß ein einziger Wolf. Einst hatte er einmal ein nachtschwarzes Fell besessen, und seine Augen waren eisblau und stechend gewesen. Nun war das Fell grau, die Schnauze fast weiß, ebenso wie die blinden Augen. »Dustiar, bist du das?«, fragte der alte Wolf. »Nein, mein alter Freund. Ich bin es, Lugh Akhtar.« »Oh Lugh. Wie schön noch einmal deine Stimme zu hören.« Das alte Tier versuchte ein Schwanzwedeln, doch es war nur ein mattes Angeben und wieder fallen lassen. »Man glaubt, manche bekommt das Alter niemals in seine Fänge, doch ich muss feststellen, das es letztlich jeden bekommt. Du bist alt geworden, Ikaika.« »Ich war schon alt, als wir uns das erste Mal trafen, Lugh Akhtar. Vergiss nicht, dein Vater war jünger als ich und euer Meister ist nur unwesentlich älter«, grinste Ikaika mit seinem alten, vergammelten Gebiss. »Das weiß ich wohl, aber manches will man auch dann nicht sehen, wenn man es weiß. Und dies gehört wohl auch dazu. Obwohl du für mich immer schon zur älteren Generation gehörtest, konnte ich mir dich dennoch nie als alten, blinden Greisen vorstellen«, lächelte Lugh Akhtar traurig und legte sich neben seinen Freund. »Oh, dieser Zustand wird wohl auch nicht mehr lange anhalten. Ich spüre es, meine Zeit ist gekommen. Es kann sich nur noch um Tage handeln.« »Denkst du wirklich, das du so lange noch hast?« »Ich wünsche es mir zumindest.« Ikaika seufzte und bewegte sich ein wenig um bequemer zu liegen. »Weißt du, warum ich mich dem Studium der Alchemie verschrieben habe?« »Weil du Reichtum begehrtest?« »Weil ich Leben begehrte. Natürlich, vorrangig soll die Alchemie aus Metall Gold machen, doch mit ihr lässt sich auch ein Lebenselixier herstellen, das die Unsterblichkeit verspricht. Und ja, ich hänge an meinem Leben. Sehr sogar.« »Was hält dich hier?« »Die Menschen. Sie sind alle gleich und doch alle so anders. Ich will noch so viele von ihnen kennen lernen, ihre Geschichten hören, sie verstehen.« Lugh Akhtar hob den weißen Kopf und lächelte. »Ich kann dir ein neues, altes Leben anbieten, Ikaika. Willst du dich meinem Rudel anschließen?« Eine ganze Weile sagte der alte Wolf nichts. »Nach allem, was ich Cinder angetan habe?« »Ich bin nicht Cinder und du bist mein Freund und ein guter noch dazu. Deswegen stell ich dich vor die Wahl. Zu sterben, dann werde ich die letzten Stunden bei dir bleiben, oder zu leben. Mit mir gemeinsam, in meinem Rudel. Entscheide dich, ich fürchte, du hast nicht besonders viel Zeit, um darüber nachzudenken.« Ikaika brauchte auch nicht lange. »Ja. Auch, damit ich mich bei Cinder entschuldigen kann.« Lugh Akhtar lächelte, er hatte eigentlich nichts anderes erwartet. Auch dieses Mal verwandelte er sich selbst und seinen Gegenüber in Menschen, doch Ikaika blieb nur still liegen, während Lugh Akhtar ihm den Kuss gab, der ihren Packt besiegelte. »Du bist jetzt die Kälte, mein alter, junger Freund. Willkommen in meinem Rudel, Blutfeder«, lächelte er, während ihn die eisblauen Augen, die nun wieder sehen konnten, nachdenklich anblinzelten. »Ja, man sieht, dass für den Winter die Zeit still steht«, antwortete der und fuhr nachdenklich über das jünger werdende Gesicht des Zauberers. »Mit jedem neuen Mitglied meines Rudels, dreht sie sich für mich sogar zurück. Und bei dir hat sie Gott sei dank einen großen Satz zurück gemacht«, lächelte der und stand auf. »Ja, ich fühle es. Wie einfach einem die Welt doch erscheint, wenn man nicht mehr die Last des Alters tragen muss, aber dennoch seine Weisheit besitzt.« »Komm jetzt, ich möchte euch in euer neues Heim bringen, bevor ich die letzten zusammenrufe.« Ikaika nickte und während er aufstand, kleidete er sich wieder in den schwarzen Wolfspelz, der nun nicht mehr grau durchsetzt war. Gemeinsam verließen sie die Höhle. Sogleich schlossen sich ihnen Skadi und Vivamus an und sie liefen ins Winterreich. »Wartet hier, ich werde euch den Rest nach und nach schicken«, sprach er zu seinen neuen Gefährten und trabte davon. Zum Gebirge, an dessen Spitze der Lichterweg ins Sternenreich begann. Diesmal erwartete ihn niemand, diesmal lief er allein den leuchtenden Pfad entlang, bis er auf die Wolken trat, die das Fundament des Sternenreiches bildeten. Doch hier oben musste er nicht lange suchen, nur ein paar Meter vom Weg entfernt saß Drafnar und schaute auf die Erde hinab. »Hallo… Mani, Nacht, Drafnar?« Lugh Akhtar ging zu ihm und setzte sich auf den Rand der Wolke. Seltsamerweise hatte er keine Angst, hinab zufallen. »Wie du möchtest. Alle paar Jahrhunderte ist es sowieso an der Zeit für einen neuen Namen, wenn du möchtest, kannst auch gerne du ihn aussuchen«, erklärte Drafnar, ohne ihn anzuschauen. »Nein danke, es reicht, wenn ich mich selbst an einen neuen Namen gewöhnen muss. Lugh Akhtar hat mir gut gefallen, es wird schwierig sich daran zu gewöhnen, das Fremde mich jetzt wohl als Winter bezeichnen werden.« »Du suchst also jetzt die Mitglieder deines Rudels?« »Ja. Ich lebe schon seit fast einem Jahrhundert auf dieser Welt, mein altes Leben muss langsam zu ende gehen.« »Warte ab, irgendwann wird dir ein Jahrhundert vorkommen, wie ein kurzer Augenblick angesichts der Unendlichkeit, die vor dir liegt.« Lugh Akhtar nickte, er wusste, das Drafnar recht hatte. »Bist du traurig, das deine Kinder sich dazu entschlossen haben, das es an der Zeit ist, zu sterben?«, fragte er leise. »Nein. Ich weiß nicht, was danach kommt, aber ich denke, das es noch irgendetwas geben wird.« »Schatten erzählte mir mal, das wir zu Seelen werden. Und irgendwann werden wir Wiedergeboren. Wie Nanook.« »Dann ist doch alles gut.« »Warum lebst du noch? Du bist so alt wie die Welt, du hast doch schon alles einmal gesehen, was hält dich noch hier?« »Die angst. Ich bewundere meine Kinder, dass sie den Mut haben, den letzten Schritt zu tun, denn ich habe ihn nicht. Ich fürchte nicht die Fremde, das Unbekannte, ich fürchte nur, dass es wehtun könnte. Ich denke, ich brauche noch einige Zeit um es herausfinden zu wollen.« »Willst du das hier tun?« »Nein. Ich war nur hier, weil dieses Volk mich brauchte. Wohin mein Weg mich jetzt führen wird… ich weiß es nicht.« »Dann komm zurück. Werde wieder zur Nacht, wir können es auf Dauer nicht sein.« »Das war auch niemals eure Aufgabe, deswegen erscheint sie euch so schwer.« Drafnar seufzte und machte eine Handbewegung, die den ganzen Erdball unter ihnen einbezog. »Aber ich denke, du hast recht. Es ist zeit, zurückzukehren. Fylgien ist so weit, er kann seine Aufgabe hier übernehmen und dann brauchen sie mich hier nicht mehr.« Lugh Akhtar stand auf und nickte dankbar. »Dann tu, was du hier noch tun musst. Ich habe noch ein paar Besuche zu erledigen.« »Glaubst du nicht, das deine Tochter wütend sein wird, wenn du ihr Fylgien nimmst?«, hielt Drafnar ihn noch einmal zurück. »Nein. Nicht angesichts des Angebotes, das ich für sie habe«, lächelte der Zauberer. »Nun, in dem Fall werde ich Fylgien jetzt nach Hause holen. Wir treffen uns später irgendwann.« Lugh Akhtar nickte abermals und zögerte einen Moment. Eigentlich müsste er jetzt seinen neuen Weggefährten in seinem Rudel begrüßen, aber Drafnar war anders. Sie waren Freunde, aber sein Gegenüber war viel älter und mächtiger als er, entstammte einer völlig anderen Welt. Und obwohl beides auch auf Schatten zutraf, war es dennoch etwas völlig anderes, denn die Polarfüchsin ging gänzlich anders mit ihm um. So also verzichtete er auf ein vertrauensvolles Willkommenheißen, neigte stattdessen mit einem dankenden Lächeln den Kopf und ging zum Lichterweg zurück. Er wusste nicht, ob Drafnar nun wütend sein würde, aber wenn, dann würden sie das später regeln. Als er wieder in seiner Welt war und sich in die Lichtgestalt verwandeln konnte, legte er den Weg nach Lanta also solche zurück. Es gab noch jemanden in der Hauptstadt des Menschenimperiums, von dem er sich verabschieden musste und er fand ihn in einem der Schlossgärten, wo er, auch schon ein alter Mann, in der Sonne saß und las. »Hallo Kekoa«, begrüßte Lugh Akhtar seinen einzigen Sohn. Der schien nicht erwartet zu haben, eine vertraute Stimme zu hören, er zuckte zusammen und schaute erstaunt auf. »Vater, was… tust du hier? Und wieso…« Misstrauisch schlich sich in den Blick der braunen Augen, doch Lugh Akhtar lächelte, wusste genau, woher es kam. »Es ist an der Zeit, dir eine Lebewohl zu sagen, mein Sohn.« Der Zauberer setzte sich zu Kekoa. »Lebewohl? Wieso? Wo gehst du hin?« »Erinnerst du dich noch? An die Geschichten, die ich dir und deinen Schwestern als Kinder erzählte?« »Natürlich.« Kekoa lachte. »Wir waren ganz verrückt danach, jeden Abend hingen wir an deinen Lippen.« Lugh Akhtar lächelte und nickte. »Genau, eben diese Geschichten meine ich. Weißt du… es sind keine Geschichten. Nicht alle zumindest.« »Ich weiß.« Der Zauberer schaute seinen Sohn erstaunt an. »Woher?« »Glaubst du, ich wäre so blind und taub? Ich kann zuhören und ich habe sehr wohl verstanden, dass es mehr als Geschichten sein müssen, wenn du dich mit Freunden und Bekannten so angeregt darüber unterhalten kannst. Und mir ist auch nicht entgangen, dass du gerne einmal ausweichst, wenn man dich bei bestimmten Leuten danach fragt, wie du sie kennen gelernt hast. Und ein wenig haben mir Mana und Yue auch erzählt.« Er grinste breit, als er den Blick seines Vaters sah. »Gut, dann… muss ich ja nicht mehr viel erklären. Nun, kurz nachdem du und Mana geboren worden seid und bevor Yue dann den Abschluss bildete, war ich auf einer Reise in der alten Welt. Und dort erfuhr ich, was mein Schicksal sein sollte, irgendwann.« »Von den Nornen?« Lugh Akhtar nickte. »Ja, auch. Ich soll den Platz meiner Mutter einnehmen, den des Winters. Und jetzt ist es an der Zeit, eben dies zu tun, denn ihr braucht mich nicht mehr. Ihr Kinder seid erwachsen, und in Wynter ist es Zeit für eine neue Generation. Also werde ich jetzt gehen.« »Wissen Yue und Mana schon davon? Sie werden nicht erfreut sein«, prophezeite Kekoa ernst. »Noch nicht, aber zumindest mit Mana habe ich auch noch etwas vor. Und zu Yue geh ich noch.« Kekoa nickte, wirkte bedrückt. »Werden wir uns wieder sehen oder habe ich dann einen toten Vater, ohne das es ein Grab zu besuchen gibt?« »Wenn du mich brauchst, Kekoa, dann werde ich immer bei dir sein. Dann komme ich zu dir, wo auch immer du bist.« Sein Sohn nickte dankbar und lächelte. Sie umarmten einander, doch es war zeit zu gehen. »Wir sehen und ganz bestimmt wieder«, flüsterte Lugh Akhtar und gab seinem Sohn noch einen Kuss auf die Stirn, bevor er sich in die Lichtgestalt begab und weiterzog. Zu Yue. Die fand er in einer Hütte am Meer, die sie mit Chinook gemeinsam bewohnte. Es war mittlerweile Abend geworden, die Sonne ging unter. Ein stürmischer Wind peitschte hier an der Küste das Land und Wellen brachen laut an den Klippen, die Unterhalb des Hauses wie Zähne aus dem Wasser ragten. Eine Weile stand der Zauberer da und genoss den Wind, der um ihn herumstürmte und fragte sich, wie lange sein Onkel es wohl noch tun würde, bevor er sich schließlich für das Ende entschied. Er war der letzte von den vier Geschwistern, der noch am Leben war, es gab nur noch eine einzige Person, die ihn als Mensch kennen gelernt hatte, und das war Ikaika. Lugh Akhtar hatte nie verstanden, was seinen Onkel so allein am Leben hielt, denn seine Familie und seine Freunde waren alle schon dahingeschieden. So stand er für eine Weile da und teilte die Einsamkeit seines Onkels, bis er schließlich zum Haus ging und eintrat, ohne anzuklopfen. Hier fand er seine Tochter jedoch nicht, also verließ er das Haus wieder und schaute sich draußen ein wenig um. Er ging zum Meer hinab und hier saß sie, gemeinsam mit ihrem Mann Chinook. Eine Weile beobachtete Lugh Akhtar die beiden, dachte an den Tag zurück, als sie sich kennen lernten. Wie Yue ihn verprügelt hatte und wie Chinook sein Schüler geworden war. Dann nickte er. Er war zu einer Entscheidung gekommen. »Hallo, meine Tochter und guten Abend, Chinook«, begrüßte er die beiden. »Papa, hallo!« Yue löste sich von ihrem Mann und lief so schnell zu ihrem Vater, wie sie es mit ihren alten Knochen tun konnte. Sie war die Jüngste von allen, die er heute besucht hatte, doch selbst sie war schon eine alte Frau. »Yue, mein Sonnenschein.« Er schloss sie in die Arme. »Schön dich wieder zusehen, aber was führt dich her?«, fragte Chinook und kam langsam näher. »Geschäftliches, ob es für euch erfreulich ist oder nicht, liegt ganz bei euch«, lächelte der Zauberer. »Wieso, was ist los?« »Es ist Zeit für mich, ich werde den Platz des Winters einnehmen«, erklärte Lugh Akhtar. »Du willst gehen?« Yue prallte zurück und starrte ihn entsetzt an. »Ich muss, das war immer schon mein Schicksal und das weißt du auch, Yue. Doch ich bin nicht nur hier, um mich zu verabschieden, mein Sonnenschein.« »Sondern?« Auch Chinook wirkte nicht begeistert, doch war er eindeutig gefasster als seine Frau. »Chinook, ich möchte dir einen Platz in meinen Reihen anbieten.« Lugh Akhtar sah in den Augen seines Schwiegersohns die Antwort, bevor er zu Ende gesprochen hatte. »Nein«, sagte er, wie erwartet. »Ich möchte Yue nicht verlassen.« Der Zauberer lächelte und nickte. »Ich weiß, ich habe es mir fast gedacht, als ich euch eben da hab stehen sehen, aber das macht nichts, Meinungen sind ja schließlich da, um auch mal geändert zu werden. Also frag ich eben auch dich, Yue, würdest du mich mir anschließen? Ihr beide, gemeinsam?« Auch jetzt waren eigentlich keine Worte nötig, der Blick, den Yue und Chinook wechselten, war Antwort genug. »Ja, wenn wir zusammenbleiben können, dann werden wir das gerne tun«, antwortete Chinook und lächelte. Lugh Akhtar lächelte und trat an seiner Tochter vorbei. Er nahm Chinooks Gesicht in beide Hände und schaute in die dunklen Augen. »Dann begrüße ich dich in meinen Reihen, Zeitbezwinger. Du wirst, die winterliche Stille in diese Welt bringen«, erklärte er und gab seinem ehemaligen Schüler einen Kuss. Der trat zurück und schaute zu Boden, jetzt wieder ein junger Mann, während Lugh Akhtar sich zu seiner Tochter umwandte. Er umarmte sie noch einmal, dann nahm er auch ihr Gesicht in die Hände und schaute lange in ihre roten Augen. »Herzlich Willkommen, Lichtschwinge. Deine Aufgabe wird es sein, das Glitzern des Schnees und das sanfte Leuchten in diese Welt zu bringen«, erklärte er ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Auch sie wurde wieder zu einer jungen Frau und auch er selbst hatte abermals ein paar Jahre verloren. »Und… jetzt?«, fragte Yue unsicher. »Jetzt geht ihr zur Vivax, Skadi und Ikaika. Ich muss noch die letzten beiden abholen«, lächelte ihr Vater und verwandelte sie in ihre Reisegestalten, da sie beide noch nicht wussten, wie es möglich war. Dann verwandelte er sich abermals in seine Lichtgestalt und kehrte nach Wynter zurück. Er fand seine zweite Tochter auf der Mauer, die das Winterreich vom Reich der Menschen trennte. Sie schaute auf die weite Ebene vor sich, während die Tränen auf ihren alten, runzeligen Wangen gefroren. »Mana, mein Kleine, was bedrückt dich?«, fragte er sie und nahm sie in die Arme. »Drafnar war da, er hat Fylgien zu sich geholt. Er sagte, das ist an der Zeit, dass er die Izarras anführt«, weinte sie und vergrub ihr Gesicht in seiner Kleidung. »Da hat er recht. Ein Menschenleben ist vorbei und mehr konnten wir euch nicht zusprechen«, versuchte er sie zu trösten, doch er wusste selbst, wie wenig Trost das in Wirklichkeit war. »Es ist dennoch so unfair. Zu wissen, das er noch da ist, irgendwo, und das ich ihn dennoch niemals wieder sehen werde!«, rief sie und weinte noch mehr. »Ich weiß, aber beweine nicht die Zeit, die euch vielleicht entgeht. Lache lieber und erfreue dich an der gemeinsamen Zeit, die ihr hattet. Auch diese war niemals selbstverständlich.« »Ich bin mir nicht sicher, ob es nicht besser gewesen wäre, hätten wir sie nie gemeinsam verbracht. Es schmerzt, wie am allerersten Tag, doch jetzt weiß ich, dass mich der Schmerz bis zu meinem Lebensende begleiten wird. Ich bin einfach zu alt, um mich daran noch zu gewöhnen«, weinte sie. »Man ist niemals zu alt, für nichts«, widersprach der Zauberer sanft, während die letzten Sonnenstrahlen über sie hinweg glitten und die Welt in Dunkelheit versank. »Du nicht, du bist der Winter. Du wirst noch Jahrtausende leben, aber ich nicht. Vielleicht… wäre es besser, es jetzt zu beenden. Kurz und schmerzlos, statt jeden Tag daran denken zu müssen.« »Nein! Mana, hast du denn nichts gelernt? Das Leben ist viel zu kurz und viel zu schön, um es absichtlich wegzuwerfen. Auch wenn Fylgien nicht mehr da ist, so ist er doch am Leben und er würde nicht wollen, dass du einfach aufgibst! Und ich auch nicht.« Mana wirkte nicht überzeugt, doch sie widersprach auch nicht mehr. »Außerdem bin ich nicht grundlos hier.« »Du möchtest dich verabschieden, nicht wahr? Auch du gehst jetzt«, vermutete sie. »Nein. Ich möchte dich darum bitten, dich mir anzuschließen. Ich möchte, das du das Nordlicht wirst.« Er lächelte wissend, während sie ihn erstaunt anschaute. »Das Nordlicht? Wieso?« »Weil das Nordlicht eine ganz besondere Aufgabe hat. Es zeichnet nicht nur bunte Lichter an den Himmel, es bewacht auch das Sternenreich und entscheidet, wer es betreten darf«, erklärte er lächelnd. »Wenn du nicht mein Vater wärst, ich wäre mir sicher, du wolltest mich noch mehr quälen«, antwortete sie verbittert, doch Lugh Akhtar lächelte nach wie vor. »Dann bin ich froh, dass du weißt, dass dem nicht so ist. Weißt du, das Nordlicht darf natürlich im Sternenreich ein und ausgehen, wie es ihm beliebt, wenn die richtigen Leute zustimmen. Und mit dem Herr der Izarras muss es natürlich auch noch regen Kontakt halten«, erklärte er, während der Blick seiner Tochter immer ungläubiger wurde und er sie aus großen Augen anstarrte. »Ich kann…«, flüsterte sie. »Fylgien so oft sehen wie du willst, solange du nur weiterhin deine Aufgaben erfüllst, ja«, lachte Lugh Akhtar. Daraufhin wurde er so stürmisch von seiner Tochter umarmt, dass sie fast gemeinsam zu Boden fielen. »Langsam Mana, hab Mitleid mit dem alten Mann«, grinste er. »Oh Papa, du bist der Allerbeste!«, rief sie aus. »Ich bin nur nicht dumm. Aber du hast das Angebot noch nicht angenommen, mein Kind. Willst du also in mein Rudel kommen? Als Nordlicht?« »Natürlich will ich!«, lachte sie. »Gut. Dann begrüße ich dich als neues Nordlicht, Sternengefährtin«, lächelte er und gab auch Mana einen Kuss auf die Stirn und auch sie wurde wieder zu einer jungen Frau. »Ich hab dich lieb, Papa«, flüsterte sie und vergrub ihr Gesicht wieder in seiner Kleidung. »Ich hab dich auch lieb, Mana«, antwortete er sanft und hielt sie im Arm, während es um sie herum schließlich Nacht wurde. »Ich störe euch ja nur ungern, aber es wird Zeit zu gehen, Lugh Akhtar«, bemerkte da eine Stimme und als sich Vater und Tochter voneinander lösten, da sahen sie sogleich die Polarfüchsin mit den roten Augen und den schwarzen Abzeichen, die auf der Mauer saß und sie mit einem sanften Lächeln beobachtete. »Chaya, meine alte Freundin.« Lugh Akhtar wollte zu ihr gehen, doch Mana war schneller. Mit ein paar Schritten war sie bei Schatten und nahm sie auf den Arm. »Hallo Mana«, flüsterte die Füchsin dem Mädchen zu und die nickte lächelnd. »Was führt dich her?«, fragte der Zauberer. »Du, weil du hier die Zeit verplemperst, während woanders noch jemand sehnsüchtig auf dich wartet. Also beweg dich, geh zu ihr, lass Nea nicht länger warten«, forderte sie ihn mit einem glücklichen Lächeln auf. »Ja, Nea. Du hast recht, es ist Zeit.« Er umarmte noch einmal seine Tochter mit der Füchsin im Arm, dann begab er sich in die Lichtgestalt und machte sich auf zum wichtigsten Ort, zur wichtigsten Person an diesem Abend. Zu Nea. Er fand sie auf der Bank vor ihrem Haus, wo sie in einer Decke gehüllt dasaß und über die weiten Wiesen und Hügel blickte. Der Mond, der gerade erst aufgegangen war, ließ ihr Haar, einst rotbraun, jetzt weiß, geisterhaft aufleuchten und auch ihre grünblauen Augen schimmerten, als würden sie einem Wesen gehören, das nicht dieser Welt entstammte. »Und, hast du ihnen allen Lebewohl gesagt?«, fragte sie sanft. Sie hatte ihn sofort bemerkt. »Ja«, nickte er, setzte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. »Jetzt bleibt nur noch eines.« »Aber nicht sofort. Schau doch, wie wunderschön diese Nacht ist. Für einen Augenblick will ich noch einmal alles vergessen, was sein könnte und nur in der Vergangenheit leben.« »Dorthin begleite ich dich gern. Es erscheint mir noch immer unglaublich, wie viele Jahre wir aneinander vorbei lebten, als wir Kinder waren. Weißt du noch? Derselbe Meister, ich war dabei, als er dich zur Schülerin nahm, doch als ich dich das erste mal wirklich wahrnahm, da wusste ich nicht einmal mehr deinen Namen.« »Nikolai wusste, dass wir zueinander finden würden«, erklärte sie und lächelte. »Glaubst du?« »Ich weiß es.« »Hat er es dir gesagt?« »Das musste er nicht.« Sie lächelte ihn warm an. »Wieso bist du dir dann so sicher?« »Weißt du, nachdem ich meinen Schülernamen erhalten hatte, da fragte ich ihn einmal, wieso er mich Windsbraut nannte. Und er sagte mir, weil er das Gefühl hätte, das ich für den Wind bestimmt wäre. Und als er mich freigab, da sagte er, dass er sich jetzt ganz sicher sei. Mein Weg wäre der, den auch der Wind einschlagen würde. Und das war er ja auch.« »Makani. Wind. Glaubst du, er hat es wirklich auf den Namen darauf bezogen, den ich mir damals selbst gab?« »Ja. Als wir heirateten, da hat er mir zugeflüstert, dass er vom allerersten Augenblick an wusste, dass wir für einander bestimmt waren. Er hatte recht. Ich bin immer wieder erstaunt, wie richtig und passend unsere Schülernamen so manches mal sind, obwohl wir sie eigentlich völlig fremden geben.« »Sie sind uns nie völlig fremd. Wir wissen, wen wir zu uns nehmen, sonst würden wir es nicht tun«, widersprach Lugh Akhtar, schüttelte dann sanft den Kopf. »Aber das ist jetzt gleich. Weißt du, was heute für ein Tag ist?« Sie sagte nicht, lächelte bloß still vor sich hin. »Heute vor fünfzig Jahren haben wir geheiratet. Du hast versprochen, dass du dein ganzes Leben bei mir bleiben würdest und das hast du getan. Dafür danke ich dir, Nea.« »Manchmal ist ein Leben noch viel zur kurz wenn man es mit der Person teilen darf, die einem am liebsten ist auf der Welt«, antwortete sie und lächelte verträumt. Er nickte und zog sie noch dichter an sich heran. »Nea, würdest du sogar noch einen Schritt weitergehen? Würdest du sogar die Ewigkeit mit mir gemeinsam leben wollen?«, fragte er und versuchte, nicht zu zittern aus angst, das sie verneinen könnte. »Ich würde alle Ewigkeiten mit dir verbringen wollen«, antwortete sie und schaute zu ihm auf. Da lachte er befreit, stand auf und zog sie mit sich, tanzte mit ihr im Mondschein über den Hof. »Danke meine Liebste, danke!«, lachte er und blieb endlich stehen. Er schaute ihr lange in die Augen, die sich in all den Jahren nicht verändert hatten. Sie schaute zurück und lächelte warm, freute sich darüber, wie glücklich er war. »Dann begrüße ich dich als letztes, aber wichtigstes Mitglied meines Rudels, denn du, Windsbraut, du wirst der Schnee sein«, sprach er zu ihr und küsste sie. Als sie sich voneinander lösten, waren sie beide wieder jung. »Der Schnee?« Ihrer neuen Jugend scheinbar unbewusst, kam Nea dagegen zu viel näher liegenden Dingen. »Ich weiß doch gar nicht, wie man Schnee machen kann.« »Soll ich es dir beibringen?« »Ja«, nickte sie. »Gut, dann lassen wir es jetzt gemeinsam schneien. Schau in den Himmel und warte auf die ersten Flocken.« Und das tat sie. Gemeinsam schauten sie in den Himmel, der langsam mit dunklen Wolken zuzog. Sie verdeckten den Mond und für einen Augenblick war alles dunkel. Dann sahen sie es. Die erste Schneeflocke, die in diesem Winter hinab fiel. Und sie landete genau auf Neas Nase. Doch die erste Flocke blieb nicht allein, ihr folgten weitere Flocken, mehr und immer mehr, bis es bald dicht um sie herum schneite und die Welt mit einem sanften, weißen Decke bedeckt wurde, die sie auch bei Nacht seltsam hell leuchten ließ. »Dies hier, Nea, dies hier ist der allererste Schnee. Der erste Schnee eines neuen Winters und der erste Schnee eines neuen Lebens und der erste Schnee einer neuen Herrschaft. Der erste Schnee. Von uns gemeinsam.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)