Wolfserinnerungen - Der Erste Schnee von Scarla ================================================================================ Kapitel 12: Ein Weg aus Glas ---------------------------- Die Sonne ging gerade auf, als er vor der Wurzel ankam, in der die Nornen lebten. Das Wasser, das aus einer Quelle direkt vor ihm sprudelte, glitzerte sanft im ersten Licht des Morgens. Im Gras glitzerte der Tau und die Welt schien sanft zu leuchten. Skadi lag am Wasser und beobachtete aufmerksam den Höhleneingang. Sie sah ihn zwar, aber sie bewegte sich keinen Millimeter, als wäre sie eine Statue, bei der nur die Augen lebendig waren. So beobachtete sie ihn, während er langsam auf sie zukam. »Mana sagte, du könntest mir den Weg zum Schatten zeigen«, erklärte er und setzte sich zu ihr ins Gras. »Mana? Wer ist Mana?« Erstaunt hob sie den Kopf. »Meine Tochter. Ich bin ihr begegnet, nur war sie viel, viel älter.« Der weiße Wolf lächelte glücklich, als er an die hübsche rotweiße Wölfin dachte. »Du bist… Hast du nicht die Nornen getroffen?« Die schwarze Wölfin blickte nervös zur Höhle und dann wieder ihn an. »Doch, auch. Aber nicht alle und auch nicht gleich. Als erste bin ich einer großen Katze begegnet, ihr Name ist Klangfeuer. Sie hat mich durch meine Erinnerungen geleitet und mich zu Urd gebracht. Dann traf ich auf Dimmur, sie erklärte mir, wie wichtig die Gegenwart ist, und brachte mit zu Verdandi. Und zu letzt traf ich auf Mana, die mir von meiner Zukunft, von meinem Schicksal erzählte. Sie führte mich nicht zur dritte Norne, sondern hinaus. Und sie sagte, dass der Schatten in Utgard ist und dass du den Weg kennst. Zeigst du ihn mir?« »Nach Utgard? Weißt du, was Utgard ist?«, wollte Skadi wissen und stand auf. »Nein. Ich kenne diese Welt nicht, sie ist mir völlig fremd. Selbst dein Welpe weiß mehr über sie, als ich es tu«, antwortete Lugh Akhtar und schaute ins Wasser hinab. »Du handelst unbedacht. Man läuft nicht in unbekanntes Gebiet, ohne vorher zu Fragen, was sich dort verbergen könnte«, fand sie. »Ich weiß, das sich dort der Schatten verbirgt und wenn auch nur die Hälfte von dem Stimmt, was man mir über sie erzählte, dann ist sie mit Abstand der größte Schrecken, dem ich begegnen könnte. Was muss ich mehr wissen?«, wollte er wissen. »Utgard ist die Unterwelt. Nur weil der Schatten das grausamste Wesen ist, das dort herrscht, bedeutet das noch nicht, dass du dich mit dem Rest messen könntest. Das ist… kein Ort für dich«, fand sie. »Skadi, hör zu. Ich weiß, was man Nanook angetan hat und ich weiß, was der Schatten ihm helfen kann. Ich weiß, dass ich auch helfen kann, indem ich den Schatten finde und die beiden zusammenbringe. Und genau das werde ich tun. Hilf mir oder lass es bleiben, das Ergebnis ist sich gleich«, erklärte er fest und stand auf. Auch Skadi erhob sich. »Wirst du dich allein auf die Suche machen, wenn ich dir nicht helfe?«, fragte sie leise. »Ja. Ich werde zu Kenai und Nanook gehen, ich werde mit ihnen sprechen und dann werde ich Utgard suchen«, verkündete er entschieden. »Komme was wolle?« »Ja.« Skadi zögerte, dann seufzte sie und nickte. »Gut, dann werde ich dir wohl helfen müssen.« Skadi wirkte nicht begeistert. »Nein. Ich werde dich nicht zwingen«, widersprach Lugh Akhtar, doch die schwarze Wölfin schüttelte den Kopf. »Es ist aber meine Aufgabe. Meine Herrin ist der Winter und du, der du ihr Sohn bist, und vielleicht auch ihr Nachfolger, stehst ebenso in meinem Schutz, wie sie es tut. Es ist meine Aufgabe, dein Leben mit meinem eigenen zu Verteidigen. Das hat nichts mit Zwang zu tun. Nur mit Pflichtbewusstsein«, antwortete sie ruhig und schaute ihm in die Augen. »Manchen Pflichten sollten wir uns entsagen«, fand der weiße Wolf darauf kühl und ging langsam in jene Richtung davon, in der er Skadis Höhle vermutete. »Und manche sollte man annehmen, egal wie wenig sie einem gefallen«, antwortete sie lächelnd. Sie wusste, dass er gerade von etwas völlig anderem sprach. »Ich weiß.« Er wollte darüber nicht reden. Still liefen sie gemeinsam weiter, bis sie letztlich bei der Höhle ankamen. Nanook lag davor im Gras und sprach leise mit sich selbst. Mehr denn je wirkte er, als wäre er Schwachsinnig, doch Lugh Akhtar wusste es besser. Er versuchte jegliche Emotionen zu verbannen, als er zu ihm trat. »Ich weiß, welche Stimmen du meinst. Verdandi hat sie mir gezeigt«, erzählte er seinem Bruder leise. Es fiel ihm seltsam schwer, dieses weiße Häuflein elend seinen Bruder zu nennen, doch genau das war er und so was nichts Falsches daran. Nanook verstummte und schaute zu ihm auf. Für einen Augenblick schauten sie einander in die Augen, doch das bunte Leuchten, das Lugh Akhtar so sehr ersehnt hatte, das gewahr er nicht. Schließlich stupste er den anderen Wolf freundschaftlich an und trabte in die Höhle. Hier lag Kenai ausgestreckt und schlief noch, das grau-weiße Bündel, das Skadi ihren Sohn nannte, eng an ihn gekuschelt. Lugh Akhtar lächelte sacht über das friedliche Bild, doch er musste seinen Cousin wecken. Langsam tappte er zu ihnen und stieß Kenai leicht mit der Schnauze an. Zähnefletschend fuhr der ehemalige Söldner auf und hätte Lugh Akhtar fast gebissen, wäre der nicht erschrocken beiseite gesprungen. Einen Moment geiferte sein Cousin ihn noch an, dann schlich sich Verwirrung in seinen Blick und er zuckte unwillig mit dem Ohr. »Entschuldige«, sagte er, doch Lugh Akhtar schüttelte schon den Kopf. »Schon gut. Ich weiß ja, dass du es nicht böse meintest«, lächelte der. Die Reflexe, die Kenai sich jahrelang als Söldner antrainiert hatte, konnte er in so kurzer Zeit einfach nicht ablegen. Ihn wunderte eher, dass so etwas nicht schon zuvor geschehen war. Der schwarze Wolf zuckte noch mal entschuldigend mit den Ohren, dann stupste er Llew beruhigend an, denn der junge Wolf hatte leise zu winseln begonnen. Skadi kam zu ihnen hinein und sogleich lief er zu seiner Mutter, um sich von ihr trösten zu lassen. »Kenai, wir müssen reden. Ich muss dir erzählen, was die Nornen mir sagten«, erklärte Lugh Akhtar, während er beobachtete, wie fürsorglich Skadi ihren Sohn ableckte, um ihn zu beruhigen. Er musste an Nea denken und wieder übermannte ihn der Wunsch, einfach nach Hause zu gehen. Er verdrängte den Gedanken, jetzt gab es wichtigeres. Er deutete Kenai mit einem Schwanzzucken, das er ihm folgen sollte und gemeinsam kehrten sie zu Nanook zurück. Dort setzten sie sich ins Gras und Lugh Akhtar erzählte ihnen, von seinen Begegnungen. Er erzählte nicht alles, denn manches war nur für ihn bestimmt, aber es war auch so schon genug. Skadi hörte vom Höhleneingang aus zu. »Gut, dann ist der Weg klar. Wir gehen nach Utgard, wir treffen den Schatten und sie hilft Nanook. Und dann können wir nach Hause, du wirst zum neuen Winter und alle sind glücklich«, fasste Kenai zusammen. »Nicht ganz, aber ja, der Anfang ist gut«, lächelte Lugh Akhtar traurig. Einen Moment lang schauten sie einander wortlos an, doch sie beschlossen, dass jetzt nicht Zeit war, darüber zu reden. Lugh Akhtar wollte einfach nicht. Er wusste, dass er es nicht totschweigen konnte, aber im Moment wollte er es zumindest versuchen. »Skadi, bringst du uns nach Utgard?«, bat er sie leise. »Warte«, antwortete sie stattdessen und verschwand schnell im Wald. Im ersten Impuls wollte der weiße Woolf ihr folgen, doch vermutlich suchte sie stattdessen jemanden, der auf Llew aufpassen mochte. Mitnehmen konnte sie ihn schließlich nicht. Nur Augenblicke später kam sie wieder und deutete ihnen mit dem Zucken ihrer Rute, das sie ihr folgen sollten. Lugh Akhtar tat das nur zögernd und schaute ein paar Mal verwundert zu Llew zurück, der im Höhleneingang saß und ihnen fragend nachschaute. »Willst du ihn allein zurücklassen?«, fragte Nanook irgendwann leise. »Nein, aber manche Gestalten dieser Welt sind keine Freunde von Fremden. Sie werden kommen und auf ihn acht geben, wenn wir außer Sicht sind«, erklärte die schwarze Wölfin. »Da bist du dir auch sicher, ja?« Kenai hörte sich nicht überzeugt an. Lugh Akhtar sah in seinem Blick, das er das kleine Fellknäuel scheinbar in sein Herz geschlossen hatte. »Ja«, antwortete Skadi und lief unbeirrt weiter. Sie schien den Weg wie im Schlaf zu kennen, denn sie lief ohne auch nur ein einziges Zögern ihren Weg. Schließlich verließen sie den Wald und traten auf eine weite Ebene hinaus. Lugh Akhtar blieb wie vom Donner gerührt stehen. Er erinnerte sich noch zu gut an seine Träume von der verheerten Landschaft und von dem Aschenregen, der folgte, als er sie überquerte. »Dort hinten ist eine Höhle. Sie führt in ein Labyrinth, direkt nach Utgard. Alle Gänge, Höhlen und Säle dort unten, sind Utgard. Es gibt Kreaturen, die sind schrecklicher und grausamer, als ihr es euch vorstellen könnt. Seid ihr euch sicher, das ihr dort hinab wollt?«, fragte Skadi und zuckte unruhig mit ihrer Rute. »Ich muss«, antwortete Lugh Akhtar. »Wir müssen«, korrigierte Kenai. Da seufzte der weiße Wolf. »Ich muss und Nanook vielleicht auch, aber du kannst umkehren. Das weißt du, oder?«, fragte er. »Das bedeutet aber nicht, dass ich es tue«, fand sein Cousin mit einem nachsichtigen Lächeln. »Kenai, das ist nicht dein Weg. Wir wissen nicht, was uns genau erwarten wird«, beschwor ihn der weiße Wolf ein weiteres Mal. »Und? Lugh, ich verstehe hier dein Problem nicht. Es ist meine Aufgabe, dich zu beschützen und das werde ich tun. Deswegen bin ich überhaupt nur hier«, lächelte der ehemalige Söldner. »Mich muss aber keiner beschützen. Ich… find es schön, dass ihr es alle tun wollt, aber es ist nicht nötig. Ich kann gut auf mich selbst acht geben«, fand der weiße Wolf. »Nein«, antwortete Kenai mit einem nachsichtigen Lächeln. »Nein?« »Nein. Kannst du nicht. Dafür bist du viel zu lieb. Du läufst sehenden Auges in jede Falle, die sich vor dir auftut, einfach nur, weil du dich weigerst, irgendwo etwas Schlechtes zu sehen. Also muss ich auf dich aufpassen. Komm jetzt, wir haben endlich ein Ziel«, meinte der schwarze Wolf und machte einige Schritte auf die Ebene hinaus, bevor er sich umwandte und ungeduldig zu ihnen zurückschaute. Lugh Akhtar zögerte noch einen kurzen Moment, doch als Nanook ebenfalls loslief, da war ihm klar, das Kenai nicht zurückbleiben würde. Er wandte sich noch einmal zu Skadi um. »Begleitest du uns auch?«, fragte er leise. »Nein. Ich würde, ich müsste, aber ich weiß, dass du das nicht willst, also nicht, nein. Ich werde hier warten«, antwortete er. »Gut. Wir… ich beeil mich«, erklärte er und lächelte. Dann folgte er seinen Freunden. Er huschte geduckt über die Ebene, er hatte Angst. Er fühlte noch den Ascherege in seinem Fell und er wusste nicht, wie weit der Weg genau sein würde. Er spürte, wie angespannt auch Nanook war, nur Kenai schien keine Furch zu kennen. Er trabte erhobenen Hauptes und mit wehender Rute voran. »Ist das der Weg, den du in deinen Träumen gelaufen bist?«, fragte er nach einer Weile und schaute neugierig zu Lugh Akhtar zurück. »Ja«, antwortete der einsilbig. Dann liefen sie wieder schweigend weiter. Es schien Jahre zu dauern, bis sie in der Ferne den Zugang zu Utgard entdeckten. Lugh Akhtar zögerte, es erschien ihm hier irgendetwas falsch. Es war zu ruhig, zu friedlich. Doch es änderte sich nicht, als sie die Höhle betraten. »Etwas hier ist falsch«, murmelte er. »Wie meinst du das?«, fragte Kenai. Lugh Akhtar blickte nach draußen. »Kein Gewitter, kein Regen aus glühender Asche. Und ich bin nicht allein. Es ist anders als in meinem Traum«, erklärte er unruhig. Es machte ihn nervös, er hatte immer erwartet, dass es genauso ablaufen würde. »Sei doch froh. Besser, als wenn du mit Brandnarben nach Hause musst, oder?« Kenai machte einige zögernde Schritte in die Höhle hinein. »Ja, aber es… ich habe das Gefühl, das es so falsch ist. Das es anders sein muss«, erklärte der weiße Wolf, als er seinem Cousin langsam folgte. »Ich hatte auch bei jedem Mord das Gefühl, das es falsch ist. Hat nichts daran geändert, das ich es getan habe«, erklärte Kenai eher desinteressiert. Auch das irritierte Lugh Akhtar. Kenai sprach nicht über seine Zeit als Söldner. Nie. Alle wussten, dass er einer gewesen ist und alle wussten auch, dass er gemordet hatte, aber Kenai selbst sprach nicht darüber. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr hatte er das Gefühl, das ihm jemand oder etwas eine Wirklichkeit vorgaukelte, der ihn und seine Freunde nicht besonders gut kannte. Konnte das wirklich möglich sein? »Kenai, wie heiße ich?«, fragte er plötzlich. Er hatte das Bedürfnis, das Ganze auf die Probe zu stellen. Er musste sich vergewissern, dass dies wirklich sein Cousin war. Der blieb stehen und schaute ihn erstaunt an. »Was soll die Frage?« »Ich will herausfinden, ob du wirklich du bist. Ich… ich hab das Gefühl, in einer… anderen Wirklichkeit zu sein. Und das, was diese Wirklichkeit erschaffen hat, war nicht besonders gut. Erzähl mir etwas, was nur mein Cousin wissen kann, niemand sonst«, bat der weiße Wolf eindringlich. »Ich glaube, langsam wirst du paranoid, aber gut. Kekoa, der Name war mein Vorschlag«, erklärte sein Cousin. Und das beruhigte Lugh Akhtar. Er hatte es keinem erzählt und er glaube nicht, das Kenai es jemanden erzählt hatte. »Danke«, flüsterte der weiße Wolf. Das Gefühl, das etwas völlig falsch lief, war noch immer übermächtig, aber er hatte nun dennoch jemand, dem er blind vertrauen konnte, das beruhigte ihn etwas. Langsam liefen sie weiter. Lugh Akhtar schaute sich dabei immer wieder nach Nanook um, der seltsam still blieb. Er hatte nichts mehr gesagt, seitdem sie hierher gekommen waren. Der weiße Wolf hatte Angst ihn zu verlieren. Sie liefen lange durch die unterirdischen Höhlen und Lugh Akhtar wartete bereits auf das Feuerflackern, das sie zu den Dornenranken führen würde, aber er wartete vergeblich. Stattdessen gewahren sie ein sachtes Schimmern, wie von Eis oder Glas. »Was ist das?«, fragte Kenai vor ihm. »Letztes Mal war es eine riesige Höhle, von Fackeln erhellt. Und irgendwo mittendrin hing der Schatten sterbend in Rosenranken. Was es diesmal allerdings ist, weiß ich nicht«, antwortete der weiße Wolf nervös und schaute wieder zurück zu Nanook. Der folgte ihm wie in Trance, er schien nichts mehr um sich herum wahrzunehmen. Sie folgten dem Licht, das immer heller schimmerte, bis sie letztlich in einer Höhle ankamen, doch auch diese war nicht wie beim letzten Mal. Dieses mal schien das Licht keine wirkliche Quelle zu haben. Es kam von überall gleichzeitig her, ohne, dass irgendetwas es aussendete. Und es wurde von Glasbrocken verstärkt und gebrochen. Dies war das Schimmern, das sie gesehen hatten. »Auch anders?«, erkundigte sich Kenai. »Ja. Vor allem das da«, antwortete Lugh Akhtar und deutete auf das zerfallen Schloss aus Glas, das vor ihnen lag, so im defusen Zwielicht gelegen, das man es eben noch erkenne konnte. Sein Cousin nickte wortlos und trabte auch schon los. Er hatte nicht viele Schritte getan, da schrie er schmerzerfüllt auf. Mit zwei Sätzen war Lugh Akhtar bei ihm und sah, dass sich Kenai eine riesige Scherbe eingetreten hatte. Die Wunde blutete heftig, dabei steckte der Glassplitter noch. »Soll ich sie rausziehen?« Der weiße Wolf war kein Kriegsheiler, mir solch großen Verletzungen kannte er sich nicht aus. »Dann blutet es stärker und wir haben nichts, um es zu verbinden«, wimmerte Kenai und zitterte leicht. »Was tun wir dann? So kannst du nicht laufen.« Unruhig fegte der weiße Wolf mit der Rute über den Boden. »Hör auf damit, sonst hast du gleich einen Splitter im Schwanz«, fuhr Kenai ihn an. Lugh Akhtar zuckte zusammen, hörte aber sofort auf. Da bemerkte er, das Nanook an ihm vorbei lief. Langsam und noch immer wie ein Traumwandler. »Nanook, bleib hier, wer weiß, was hier noch so alles herumliegt«, rief er seinem Bruder zu, doch der reagierte nicht. Er zuckte mit den schwarzen Ohren und schüttelte unglücklich den Kopf. Was sollte er tun? »Komm«, nahm ihn da Kenai die Entscheidung ab und folgte Nanook humpelnd. »Lass das, das ist zu anstrengend. Wenn du hier stürzt, könntest du dich bei lebendigem Leib aufspießen.« »Wir müssen weiter und wenn unser Weg hier durchführt, dann müssen wir das eben in Kauf nehmen. Manchmal muss man Opfer bringen, Lugh. Es kann nicht immer jeder lebend aus einem Kampf zurückkehren. Und um mich ist es nicht Schade, das wäre zumindest eine kleine Sühne von all der Schuld, die ich mir aufgeladen habe«, fand Kenai. »Nein. Manchmal muss man Opfer bringen, ja, aber nein, ich will das nicht. Entweder alle gemeinsam oder keiner.« »Ich sag ja, viel zu naiv. Sei lieber froh, dass du und deine Freunde bisher immer unbeschadet aus der Sache herausgekommen sind, so viel Glück wirst du nicht immer haben, mein Freund.« »Kenai… Verdammt!« Lugh Akhtar blieb stehen und schaute erst seinen Cousin böse an, dann blickte er Nanook hinterher, der das alles gar nicht wahrzunehmen schien. »Wir hätten niemals hierher kommen dürfen. Nicht, wenn es so enden soll.« »Hör auf zu jammern und hilf mir«, fuhr Kenai ihn an. Die paar Augenblicke hatten gereicht, dass er nun sehr viel stärker zitterte. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Lugh Akhtar schaute ihn einen Moment lang an, dann schüttelte er entschieden den Kopf. »Nein«, sagte er fest und entschieden, ohne jeden Widerspruch zuzulassen. »Nein! NEIN!« Er wollte nicht mehr. Das lief alles so unglaublich falsch. Das konnte einfach nicht sein. Er weigerte sich, dies hier als Wirklichkeit zu akzeptieren. Er kniff die Augen zu und versuchte verzweifelt, sich zurückzuwünschen zu einem Augenblick, der besser war. Von dem aus nicht alles nur Bergab ging. Er wusste, dass er eigentlich nur den Blick vor der Wahrheit verschloss. Als er die Augen schließlich wieder öffnete, wusste er sogleich, dass etwas anders war. Kenai und Nanook bewegten sich nicht mehr. Sie standen noch ebenso da, wie zuvor auch, nur schienen sie jetzt zu Statuen erstarrt. Oder zu Glas. Er zögerte kurz, bevor er Kenai anstupste. Raues Wolfsfell, kein Stein, kein Glas. Aber was war denn geschehen? Da fiel sein Blick auf das Glasschloss. Er wusste, dass er dort eine Antwort bekommen würde. Ohne noch eine Sekunde zu vergeuden, lief er los. Er nahm keine Rücksicht auf seine verletzlichen Pfoten, er verkratzte sie sich am scharfen Glas und so mancher Splitter fand seine Weg auch ganz in seine Ballen, doch jedes mal, wenn der schier unerträgliche Schmerz seine Beine hinaufjagte, wusste er zumindest, das er noch am Leben war. Er humpelte schwer durch das Tor, hoffte, dass es nicht über ihn zusammenbrechen mochte, dass es hielt. Er erklomm eine Freitreppe, die ins Innere führte, betrat die große Eingangshalle. Es gab Löcher im Boden, das ganze Gebäude war alles andere als Stabil. Er fürchtete, dass er einbrechen würde, doch auch das geschah nicht. Wie von einer fremden Hand geleitet, ging er zielstrebig zur nächsten Treppe und stieg auch sie hinauf. Er erklomm jede Treppe, die er sah, immer in der Erwartung, früher oder später abzustürzen, doch es hielt. Das Glasschloss sollte scheinbar nicht zu seinem gläsernen Sarg werden. Schlussendlich war er oben angelangt. Er trat aus dem Turm auf einen großen Balkon hinaus und konnte unter sich das zerstörte Glasfeld sehen. War es einst eine Stadt? Oder war es immer schon nur ein Haufen Glastrümmer? Was war das hier nur für ein seltsamer Ort? »Weißt du, ich wollte immer schon ein Schloss aus Glas in eine Geschichte einbauen«, erklärte ihm eine Stimme verträumt. Er fuhr herum und gewahr das Mädchen im Schatten des Turmes stehen. »Ich hab davon einmal in einem Buch gelesen. Es hat mich tief fasziniert. Ich hab lange darüber nachgedacht, wo ich dich zum allerersten Mal treffen möchte, Lugh Akhtar, und ich fand, das sie doch ein ganz passabler, netter Ort sein würde. Denkst du nicht auch?« Sie trat langsam ins Licht und verwandelte sich dabei in eine weiße Füchsin mit schwarzen Abzeichen und roten Augen. »Wer bist du?«, fragte der weiße Wolf, obwohl er die Antwort bereits kannte. »Ich? Ich bin diese Geschichte hier, mein Liebster. Ich bin Chaya. Ich bin Schatten.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)