Wolfserinnerungen - Der Erste Schnee von Scarla ================================================================================ Kapitel 8: Erwachen ------------------- Er lebte. Er wusste, dass das bemerkenswert und wichtig war, aber er wusste nicht wieso. Er blinzelte ein wenig und schaute sich um. Er wusste, dass er ein Wolf war und er wusste auch, dass es nicht sein normaler Zustand war, er diese Gestalt aber dennoch gerne mochte. Was er nicht wusste, war alles andere. Wo war er hier und warum? Er schaute sich um und erkannte, dass er in einer Höhle stand. Er wusste, dass er eine Höhle gesucht hatte, aber wieso? Was war nur geschehen? Wieso stand er hier und wo war hier überhaupt? Er stand auf und roch am Boden. Es nahm den Geruch eines anderen Wolfes wahr, der hier gewesen, aber wieder gegangen war. Eine Wölfin, älter als er und von einer Macht umgeben, die ihn zögern ließ. Wollte er sie wirklich treffen? Sicher war er sich da nicht. Andererseits aber wusste er, dass auch er mächtig war. Und dass es kaum eine Macht in seiner Welt gab, vor der er sich fürchten musste. In seinen Gedanken tauchten Namen auf. Kenai und Nanook. Und die Erinnerung an ein Mädchen, das verzweifelt nach seiner Hilfe schrie. Wer waren sie und warum brauchte das Mädchen seine Hilfe? »Lugh Akhtar«, flüsterte er leise. Ja, das war sein Name. Er hatte ihn von der wichtigsten Person seines Lebens bekommen, aber nicht von seinen Eltern. Von Nea, die Frau, die er liebte. Und dennoch tat er ihr immer und immer wieder weh. Für einen Moment blieb er bei Nea hängen, dann überlegte er weiter. Eine Frage wurde immer drängender. Ging es Kenai und Nanook gut? Er wusste, dass es wichtig war, doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, wieso, trat eine schwarze Wölfin ein. »Na, bist du wach, Wintersohn?«, fragte sie. So wurde er schon einmal genannt. Von Nea, aber auch von anderen. Und nicht zu unrecht, er war der Sohn des Winters. Das älteste Kind des Winters. Das zumindest wurde immer behauptet, aber etwas an diesen Gedanken war falsch. »Wie du siehst… wo bin ich hier? Und wer bist du?« »Ich bin Skadi, eine Abgesandte deiner Mutter. Und du bist hier in Midgard, in der alten Welt«, erklärte die Wölfin. »Wir haben dich aus dem Wasser gezogen wie ein Fisch!« Ein junger Wolf kam hinter Skadi in die Höhle gesprungen. Er hatte weißes Fell, graue Abzeichen und eisblaue Augen, aus denen er lebenslustig den weißen Wolf anblitzte. »Llew, sei ruhig und geh draußen spielen«, befahl Skadi, klang dabei aber freundlich und warm. »Aus dem Wasser gezogen…?« Nachdenklich neigte der weiße Wolf den Kopf, dann fiel es ihm wieder ein. Sie waren auf dem Rückweg von der Vulkaninsel aufs Festland, da gerieten sie in einen Sturm und kenterten. »Habt ihr noch mehr aus dem Wasser gezogen?«, erkundigte sich Lugh Akhtar zögernd. »Du sprichst von deinen Freunden? Den Schwarzen und den kleinen Weißen? Ja, die erkunden gerade die Insel«, lächelte Skadi. »Den Schwarzen und den Weißen?« »Kenai und Nanook.« Lugh Akhtar seufzte erleichtert. »Würdest… du mir jetzt auch erklären, was du mit all dem anderen meintest? Was bedeutet, dass du eine Gesandte meiner Mutter wärst und was ist die alte Welt?«, fragte er dann. »Du… weißt nicht besonders viel, stimmt’s? Über das Gefüge der Welt, über den Winter und ihre Belange. Hab ich recht?«, erkundigte sie sich. »Ich weiß mehr, als die meisten anderen. Ich weiß, dass die Jahreszeiten mehr sind, als bloße Geschichten und ich weiß, dass ich bei Zeiten schon beschlossen habe, dass ich damit nicht mehr zu tun haben möchte, als das, was ich jetzt schon kann und weiß«, erklärte er mit einem unverhohlenen Drohen in der Stimme. Dann blinzelte er verblüfft. Wann nur hatte er sich diese Art der Autorität angewöhnt, die ihn jeden Einspruch, jedes noch so sinnvolle Argument schon im Keim ersticken ließ? Eigentlich war das so gar nicht seine Art und er hatte niemals so sein wollen. Er begriff, dass das Gefühl der Macht und der Unantastbarkeit auch vor ihm nicht halt machte und ein Blick in Skadis Augen zeigte ihm, dass sie durchaus wusste, was in ihm vorging. Und sie wirkte darüber eindeutig amüsiert. »Ich habe die Raben bereits losgeschickt, sie geben deiner Mutter und auch deiner Familie Bescheid, dass es dir gut geht und dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchen«, erklärte die schwarze Wölfin und beobachtete, wie der weiße Jungwolf übermütig über das Gras lief. »Die Raben? Ich versteh nicht, was geht hier nur vor sich?« Lugh Akhtar war eindeutig verwirrt. Langsam kam er zu Skadi und trat ins helle Sonnenlicht. Er schaute sich um und stellte fest, dass dies hier nicht seine Heimat war, aber durchaus Ähnlichkeit mit der nördlichen Wildnis Wynters hatte. »Wie komme ich hierher?«, fragte er leise. »Ich bin nicht sicher… vielleicht war es eine Strömung, vielleicht war es aber auch Sedna, die dich hier wissen wollte. Vielleicht hat aber auch eine Macht ihre Finger im Spiel, die wir beide nicht begreifen können, aber letztlich ist es egal. Du bist hier, das allein ist von Bedeutung.« »Wer… wer ist schon wieder Sedna?« »Die Mutter aller Meeressäuger.« Es war nicht Skadi die antwortete, sondern Nanook, das erkannte Lugh Akhtar an seiner Stimme. Er schaute in die entsprechende Richtung und gewahr zwei Wölfe. Einer war schwarz mit rotbraunen und weißen Abzeichen, die Narbe quer über die Schnauze legte die Idee nahe, dass es Kenai war. Der andere war weiß mit schwarzen Abzeichen und braunen Augen, die aber von Innen her zu leuchten schienen. Er wusste sofort, dass es Nanook war. »Geht es euch beiden gut?«, fragte Lugh Akhtar besorgt und trottete zu ihnen. »Ja, Skadi sei dank«, nickte Kenai. Der weiße Wolf wandte sich um und schaute die schwarze Wölfin nachdenklich an. »Lass dir alles von deinen Freunden erklären, aber sei pünktlich zum Sonnenuntergang wieder hier. Sobald der Mond aufgeht, wollen die Nornen dich sprechen«, erklärte die mit einem Lächeln und trottete von dannen, dem kleinen weiß-grauen Wolf hinterher. »Wo sind wir?«, fragte Lugh Akhtar seine Freunde und zuckte unwillig mit den Ohren und der Rute. »Jenseits der bekannten Welt. Ach herrje, wo fangen wir nur an?« Kenai seufzte und setzte sich ins Gras. »Komm mit, ich erkläre es dir.« Nanook dagegen schien schon zu wissen, wo er beginnen wollte. Ohne auf eine Antwort zu warten, lief er los und Lugh Akhtar zögerte nur kurz, folgte ihm dann aber. Nanook führte ihn zum Meer. Er stellte sich auf einen Felsen und schaute auf das graue Wasser. »Unsere Welt, sie ist rund. Wie ein Ball, der im Nichts schwebt. Deswegen sehen wir auch nur bis zum Horizont«, begann er und seine Augen begannen wieder zu glühen. »Rund? Wie kann die Welt denn rund sein?« Verblüfft sprang der weiße Wolf zu seinem Freund auf den Felsen hinauf. »Wäre sie es nicht, gäbe es kein Horizont. Wenn du über den Rand eines Balls blickst, dann siehst du auch nur das, was vor deinen Augen liegt, nicht das dahinter. Der Horizont ist der höchste Punkt des Balls, den wir sehen können. Es geht dahinter weiter, aber das entzieht sich unserem Blick«, antwortete Nanook und deutete mit seiner Schnauze in die Ferne. »Okay. Mir war bisher eigentlich ziemlich egal, welche Form unsere Welt hat, aber okay. Warum ist es wichtig?«, fragte Lugh Akhtar weiter. »Wenn du diese Welt wagerecht in der Mitte teilst, weißt du in etwa, wo die Grenzen verlaufen. Der obere Teil, der Norden, ist die neue Welt, der untere Teil die alte Welt.« »Neue und alte Welt? Aber es ist doch bloß… eins.« »Nein, das ist es nicht. Nie gewesen. In der neuen Welt regieren der Tag und die Nacht und auch die Jahreszeiten. Hier, in der alten Welt, regiert alles. Und nichts. Das Chaos, die Ordnung, das Licht und der Schatten. Ich habe es nicht richtig begriffen, es ist seltsam. Es ist, als wäre es eine Welt der Götter, aber es gibt keine Götter«, meinte Nanook und wirkte scheu und verunsichert. »Ich verstehe nicht… wie kommst du darauf?« »Die Norne hat es mir gezeigt. Sie hat mir unsere Welt gezeigt. Sie ist wunderschön. Aber ich begreife sie nicht. Hier zumindest sind wir in der alten Welt. Skadi ist im Rudel des Winters geboren, aber sie lebt hier. Und das Mädchen, es lebt auch hier. Nicht auf Midgard, aber in dieser Welt«, erklärte er leise. »Es ist leichter zu begreifen, wenn man es gesehen hat. Auch mir haben sie es gezeigt, aber wie diese beiden Welten geordnet sind… Nun ja, das sind Dinge, die uns nicht zu interessieren brauchen«, überlegte Kenai. Unwillkürlich sträubte sich dabei Lugh Akhtars Fell, doch er sagte dazu nichts. Stattdessen wollte er wieder vom Felsen hinab springen, doch als er Nanooks Blick in die Ferne sah, da hielt ihn irgendetwas zurück. Er tauschte einen schnellen Blick mit Kenai. Der verstand, nickte und ging dann, während der weiße Wolf sich zögernd an Nanooks Seite setzte. Der schien in Gedanken so weit fort wie die Sterne es waren. Lugh Akhtar wusste nicht, was er tun sollte, er kannte Nanook kaum. Wollte er lieber alleine sein, oder doch lieber über etwas sprechen? Wollte er gemeinsam schweigen oder einfach alles was ihn beschäftigte in die Welt hinausschreien? Der weiße Wolf wusste es einfach nicht. Er spürte aber, dass seine Anwesenheit hier richtig war. Zögernd legte er seinen Kopf auf dem Rücken seines Freundes ab und schloss die Augen. Er konnte Nanooks Herzschlag hören. Er war ruhig und gleichmäßig und nach einer Weile fiel Lugh Akhtar auf, dass sein Herz im gleichen Takt schlug. Eine ganze Weile lauschte er, atmete ganz ruhig und wartete einfach nur, dann spürte er, wie etwas in Nanooks Körper sich heftig zusammenzog. Erschrocken riss er den Kopf zurück, dann merkte er, dass es ein Schluchzen war, das den anderen weißen Wolf geschüttelt hatte. Nanook hatte den Kopf gesenkt und weinte leise, glitzernde Tränen rannen das weiße Fell hinab und tropften zu Boden. Für einen Augenblick fühlte sich Lugh Akhtar noch hilfloser als zuvor, denn jedoch wurde ihm bewusst, dass er es sowieso nicht mehr schlimmer machen konnte, egal was er tat, deswegen tat er einfach, was er bei jedem anderen auch getan hätte. Der weiße Wolf trat wieder zu Nanook und rieb seine Nase so fest es ihm möglich war in dem weißen Fell. Er drängte seinen ganzen Körper an den seines Freundes, versuchte ihm so nah wie möglich zu sein, um so seinen Schmerz zu lindern, ihm zu zeigen, dass er nicht alleine war. Irgendwann beruhigte der sich langsam wieder. Er legte sich hin und Lugh Akhtar legte sich zu ihm, den Kopf wieder auf seinem Rücken. »Geht es wieder?«, fragte er leise, doch Nanook antwortete ihm nicht. »Ich habe das Gefühl, dass irgendetwas versucht, mein Innerstes zu zerreißen. Ich spüre die Gefühle von jenen, die um mich herum sind, als wären es meine eigenen, und wenn niemand bei mir ist, dann spüre ich trotzdem immer das verzweifelte Weinen von jemandem, der etwas wichtiges verloren hat, und das schmerzhafte Fehlen meiner selbst. Und über allem drüber steht immer dieses zerreißende Gefühl, als wäre es nicht richtig, dass ich ich bin. Als sollte ich etwas anderes sein, als wäre in meinem Innern etwas, was dort nichts zu suchen hat. Und ich fühle ihre Einsamkeit, immerzu«, flüsterte er. »Irgendetwas geschieht mit dir, aber ich weiß leider nicht, was es ist, sonst könnte ich versuchen dir zu helfen.« Lugh Akhtar versuchte all seine Gefühle zu unterdrücken, denn er hatte gemerkt, dass seine eigenen Gefühle dem weißen Wolf große Schmerzen bereiteten, dass sie ihn schier zum Wahnsinn trieben, aber das Mitleid das er empfand war so groß, dass es ihn schier überflutete. »Du kannst mir helfen. Du und das Mädchen. Ihr seid der Schlüssel, das haben mir die Nornen verraten, aber sie sagten nicht, wie ihr es tun könnt. Ich hoffe, das Mädchen weiß mehr, wer auch immer sie ist«, flüsterte Nanook. »Und wo immer sie sein mag. Sie kommt mir so seltsam bekannt vor und ich weiß, dass sie wichtig ist, aber ich…« Lugh Akhtar schwieg und schloss die Augen. »Ich hoffe, dass ich sie im Traum wieder treffen kann. Vielleicht weiß ich dann, wo wir sie finden können.« »Sie ist hier, auf der Insel. Nicht in Midgard, denn hier hab ich sie schon überall gesucht, aber in Udgard oder Asgard vielleicht. Dort waren wir noch nicht, Skadi meinte, das wäre kein Ort für uns«, flüsterte Nanook. »Wenn sie dort ist, werden wir gehen, ganz gleich, was Skadi sagt. Ich weiß nicht einmal genau wer sie ist, da sind mir ihre Worte nicht wichtig«, fand der weiße Wolf und rieb die schwarze Nase an den schwarzen Ohren seines Freundes. »Vielleicht verraten dir ja die Nornen mehr, als sie Kenai und mir verraten haben. Wobei ich nicht genau weiß, was sie ihm sagten. Er war anders als er zurückkehrte«, überlegte der. »Wer sind die Nornen eigentlich?«, erkundigte sich der weiße Wolf nachdenklich. »Sie bestimmen unser Schicksal«, antwortete Nanook und seltsamerweise wusste Lugh Akhtar, dass er mehr nicht sagen würde. Für einen Moment blieben sie noch so beisammen, dann bemerkte der weiße Wolf, dass die Sonne den Horizont berührte und er erinnerte sich daran, was Skadi sagte. Er und Nanook standen auf. Gemeinsam und so nah beieinander wie es ging, liefen sie zurück. Vor der Höhle wartete die schwarze Wölfin schon. Das letzte Licht der Sonne ließ ihre Augen bedrohlich rot aufflackern und die wenigen weißen Abzeichen wie Feuer lodern. Sie stand auf und trat ihm entgegen. »Du musst hier bleiben, Nanook. Kenai ist mit Llew in der Höhle, geh zu ihnen, das wird das Beste sein«, erklärte sie. Der weiße Wolf nickte zögernd, trabte dann an ihr vorbei um zu tun, wie ihm geheißen. »Und du wirst mit mir kommen«, erklärte sie Lugh Akhtar. Er nickte und folgte ihr, als sie loslief, an der Höhle vorbei in ein Gebiet, das er nicht kannte. So, wie er die ganze Insel eigentlich nicht kannte. Aber er wusste, dass ihn etwas Interessantes erwarten würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)