Wolfserinnerungen - Der Erste Schnee von Scarla ================================================================================ Kapitel 6: Versprechen ---------------------- Kalter, salziger Meereswind blies Lugh Akhtar ins Gesicht. Er schloss halb die Augen, konnte aber noch immer sehen, was um ihn herum vor sich ging. Er beobachtete die Hafenarbeiter und die Matrosen, die eifrig ihrem Geschäft nachgingen, horchte dabei mit halbem Ohr auf das Gespräch zwischen Kenai und irgendeinem Mann, der hier wohl die Schiffsreisen organisierte. So genau wusste er es nicht, es war ihm auch gleich, denn Kenai regelte das Wichtigste. Er hatte mehr Erfahrung damit. Er beobachtete lieber das rege Treiben und dachte nervös an die Insel, die sie anfahren würden. Eine der Vulkaninseln, von denen Kenai erzählt hatte. Obwohl Lugh Akhtar eigentlich nicht schon wieder zu einer Reise hatte aufbrechen wollen, hatte Nea ihn regelrecht dazu gezwungen, denn seine Unaufmerksamkeit, dieses ewige in einer Gedankenwelt hängen hatte sie genervt. Sie wollte, dass er schnell dieses Geheimnis löste, damit er schnell wieder heimkehren und sich um seine Pflichten kümmern konnte. Und damit er unterwegs nicht von einer Schwierigkeit in die nächste stolperte, hatte sie Kenai gebeten, ihn zu begleiten. Sie hatte ja Chess, der auf die aufpasste und Hope und Cinder hatten sich ebenfalls für eine Weile angekündigt, sodass er sie immerhin nicht völlig alleine ließ. Und so waren der junge Zauberer und der ehemalige Söldner also zu zweit auf dem Weg, dem nächsten Geheimnis auf der Spur. »Ich würde dir ja gerne andere Wege anbieten, aber genauso wenig, wie du den Winter beeinflussen kannst, kann ich es mit dem Herbst. Wir müssen also wohl oder übel den langen Weg nehmen, tut mir leid«, sprach Kenai ihn an und traf damit genau ins Schwarze. »Entweder bin ich wirklich sehr durchschaubar oder ich sollte mir abgewöhnen, dass man all meine Gedanken an meinem Gesicht ablesen kann«, antwortete Lugh Akhtar mit einem schiefen Grinsen. »Es ist eine Mischung aus beidem. Dein Gesicht verrät dich zwar überhaupt nicht, das ist nur eine starre Maske, aber deine Augen tun es. Und ja, ich denke, ein bisschen kenne ich dich schon. Ich weiß, wie ungern du hier bist, aber Nea hat recht: Besser schnell und schmerzlos, als dass du durch dein Leben wandelst, ohne irgendetwas mitzubekommen wie in den letzten Tagen«, fand der junge Mann und deutete dann auf eines der Schiffe. »Damit werden wir reisen?«, riet der junge Zauberer. »Ja. Aber mach dir keine Hoffnungen, ich denke nicht, dass es die richtige Insel sein wird. Weißt du, ich denke, dass keine Insel die Richtige sein wird«, bemerkte Kenai und wickelte seinen Schal noch einmal um den Hals. »Wie kommst du darauf?«, erkundigte sich der junge Zauberer. »Ich weiß nicht… nach allem, was du erzählt hast, hört es sich einfach nicht danach an. Es klingt mehr, als wäre es ein Ort irgendwo auf dieser Welt, der uns allen noch fern ist. Ein Ort jenseits allem bekannten. Vielleicht hast du auch recht, vielleicht erinnerst du dich an die Vergangenheit, an etwas, was dir in einem früheren Leben geschehen ist, dann werden wir diesen Ort sowieso nicht finden«, meinte Kenai. »Aber ihr Schrei ist wirklich, er klingt bis in die Gegenwart«, bemerkte eine Stimme. Vor Schreck machten Kenai und Lugh Akhtar einen Satz und wandten sich um, Kenai schon mit dem Messer in der Hand, als sie Nanook erkannten. »Und ihre Schmerzen sind so wirklich wie wir auch«, sprach er unbeirrt weiter. »Nanook… musst du uns so erschrecken?«, fuhr Kenai ihn an, doch der junge Mann ignorierte den ehemaligen Söldner einfach. »Hast du… etwa auch von ihr geträumt?«, fragte stattdessen der junge Zauberer. »Ja. Beinahe jede Nacht«, bestätigte Nanook. »Weißt du, wer sie ist? Weißt du mehr als ich?«, wollte Lugh Akhtar wissen, doch er sah sofort, dass er damit den jungen Mann nur verschreckte. Er machte einige Schritte zurück und hob abwehrend die Hand. »Hör auf damit! Ich will nicht, lass mich in Ruhe!«, rief er, lief aber nicht weg. »Aber ich… frage doch nur…«, antwortete Lugh Akhtar verwirrt. »Nein! Es soll aufhören, mach, dass es aufhört, ich will nicht!«, schrie Nanook und schlug die Arme über dem Kopf zusammen. »Hört auf so zu schreien, seit doch endlich einmal leise! Ich will nicht, ICH WILL NICHT!« Und bevor der junge Zauberer noch etwas tun konnte, fegte der junge Mann auch schon an ihm vorbei und war in der Menschenmenge verschwunden. Er und Kenai konnten ihm nur verwirrt nachschauen. »Was… war das? Ist er verrückt?«, fragte der Schwarzschopf mit gerunzelter Stirn. »Ich weiß es nicht, ich… habe so etwas noch nie erlebt…«, antwortete Lugh Akhtar zutiefst verunsichert. Eine ganze Weile standen sie noch einfach so da, dann schüttelte der Zauberer langsam den Kopf. »Ich verstehe es nicht, aber nun gut. Wann läuft das Schiff aus?«, fragte er Kenai. »Bald. Wir sollten langsam an Bord gehen, ich glaube nicht, dass der Kapitän gerne Passagiere hat, die sein Schiff aufhalten«, überlegte der junge Mann und der Zauberer nickte zustimmend. Gemeinsam betraten sie das Schiff, suchten ihre Kajüte und begutachteten das Deck, auf denen sie die nächsten Wochen verbringen würden. Sie wollten zu einer Vulkaninsel im östlichen Meer, die ein wenig weiter entfernt war, noch hinter dem östlichen Kontinent. Als das Schiff ablegte, standen sie an Deck und beobachteten, wie der Hafen immer kleiner wurde. Irgendwann war das Festland hinter dem Horizont verschwunden. »So, für gewöhnlich würde ich jetzt nach Sivan schauen, aber ich fürchte, das erübrigt sich«, bemerkte Kenai. Sie waren mit geliehenen Pferden gereist, da der junge Mann seinen Hengst nur ungern mitgenommen hätte. »Wir können uns ja nützlich machen, indem wir nach den anderen Frachttieren sehen und sie beruhigen«, lächelte der junge Zauberer. »Ja… wäre eine Idee«, nickte der junge Mann und gemeinsam schlenderten sie unter Deck in die Frachträume. Hier waren nicht nur Pferde, sondern auch Schafe, Schweine und Rinder, allerdings waren die Tiere nicht nervös wie erwartet, sondern seltsam ruhig. Als würden sie in einem gewöhnlichen Stall stehen. Lugh Akhtar und Kenai mussten sich nicht einmal anschauen. Der ehemalige Söldner zog sein Schwert und schlich durch den Raum, während der junge Zauberer die Magie um sich sammelte. Wenn Tiere einer solchen Situation zum Trotz so ruhig waren, dann geschah das niemals grundlos. So schlich der ehemalige Söldner durch die Gänge, erwartete jede Sekunde von irgendetwas angegriffen zu werden. Lugh Akhtar folgte langsam, während die Luft um ihn herum vor Magie knisterte. »Bitte entschuldigt, dass ich einfach so weggelaufen bin, aber… Es war alles so irrsinnig laut.« Wieder machten die zwei einen erschrockenen Satz und blieben dann wie erstarrt stehen. »Nanook?«, fragte Lugh Akhtar ins Blaue hinein. »Ja. Entschuldigt, ich wollte euch nicht erschrecken«, meinte der junge Mann und tauchte aus einer Pferdebox auf. »Was tust du hier?«, erkundigte sich Kenai misstrauisch, senkte aber das Schwert, während Lugh Akhtar die Magie ganz entließ. »Ich habe gesehen, wie ihr an Bord gegangen seid und da bin ich euch gefolgt…«, meinte der junge Mann und zog den Sternenstein aus der Tasche. »Ich möchte ihn dir wiedergeben.« »Wieso bist du hier unten geblieben? Weiß der Kapitän davon, dass du hier bist?«, fragte Lugh Akhtar. »Tiere sind besser als Menschen. Sie sind nicht so voller Gedanken«, lächelte Nanook und kletterte auf den Gang hinaus. Kenai ignorierte er dabei einfach. »Was meinst du damit, sie sind nicht so voller Gedanken?«, fragte der mit gerunzelter Stirn. »Sie… sind nicht so laut. Sie tun mir auch nicht so weh. Sie sind die angenehmere Gesellschaft«, erklärte der junge Mann und hielt Lugh Akhtar den Stein hin. Der nahm ihn entgegen, runzelte aber die Stirn. »Sind wir laut?«, fragte er. »Manchmal. Wenn ihr aufgeregt seid oder so, dann schreit ihr. Und tut mir weh… Entschuldige, ich kann es nicht besser beschreiben. Evan und Leji haben es auch nie verstanden, nur Tala wusste, was ich meine«, antwortete der junge Mann. Kenai warf Lugh Akhtar einen fragenden Blick zu, doch der konnte auch nur den Kopf schütteln und mit den Schultern zucken. Er wusste nicht, was Nanook meinte. Vielleicht war der junge Mann wirklich verrückt… aber er wirkte so gewöhnlich, so normal. »Wieso bist du uns gefolgt?«, fragte Kenai. »Weil ich glaube, dass ihr mich zu dem Mädchen bringen könnt.« »Wir wissen selbst nicht, wo sie ist. Wir suchen sie ebenfalls.« »Ich weiß.« Lugh Akhtar und Kenai tauschten einen vielsagenden Blick. Sie beide fanden Nanook ein wenig seltsam, aber sie begriffen, dass hinter ihm viel, viel mehr steckte, als der junge Mann zu sagen bereit war. »Habe ich das richtig verstanden, du möchtest uns begleiten?«, hakte Kenai noch einmal nach. »Ja«, nickte Nanook. »Gut, dann gebe ich dem Kapitän Bescheid, bevor er den blinden Passagier zu Gesicht bekommt«, meinte der ehemalige Söldner und ging wieder in Richtung Oberdeck, bei Lugh Akhtar blieb er aber noch einmal stehen. »Meinst du, du wirst mit ihm fertig?«, fragte er leise. »Natürlich. Was soll er mir denn schon antun können?«, beruhigte der junge Zauberer ihn leise. Kenai nickte und ging endgültig, während sich Lugh Akhtar zu Nanook umwandte. »Ich würde dir ja gerne mehr sagen, aber ich kann es nicht. Ich weiß nicht mehr. Ich bin schon froh, dass ich lesen, schreiben und rechnen kann, von magischen Dingen oder dergleichen habe ich keine Ahnung«, erklärte der junge Mann und lehnte sich an eine der Boxen. Lugh Akhtar betrachtete ihn genauer. Nein, dieser junge Mann wirkte nicht wie ein Schwachsinniger. Mehr wie jemand, der etwas verloren hatte und nun versuchte es zu finden, weil es von unschätzbarem Wert für ihn war. »Du hast mehr Ahnung als du glaubst, du hast meinen Sternenstein anfassen können. Das können nicht viele«, meinte er nachdenklich und betrachtete den Stein jetzt zum ersten Mal genauer, seitdem er ihn wieder hatte. Er hatte sich verändert. Lugh wusste nicht, wie er es genauer spezifizieren sollte, er wusste nur, dass da etwas anders war. Die Farbe, sie kam ihm weniger kalt vor. Irgendetwas war mit dem Stein geschehen. Es war, als wäre er plötzlich… vollständig. »Hast du… etwas mit ihm gemacht?«, fragte er leise. »Hab ich ihn kaputt gemacht?« »Nein… Er ist nur…«, begann der junge Zauberer, schüttelte dann aber den Kopf. »Ist egal. Danke, dass du ihn mir zurückgebracht hast.« »Er bedeutet dir viel, nicht wahr? Dir ist viel wohler, wenn du ihn hast«, bemerkte Nanook. »Ja. Ich habe ihn von meiner Mutter bekommen, aber deswegen ist er nicht wertvoll. Er hat mich auf eine Reise geschickt, auf der ich meine Familie traf. Er hat vielleicht nicht dafür gesorgt, dass ich Nea traf, aber sehr wohl, dass ich heute noch mit ihr zusammen bin. Unsere Beziehung hätte niemals halten können, wenn ich nicht gelernt hätte, endlich einmal ehrlich zu sein. Zu anderen, aber vor allem zu mir selbst. Er hat mich zu meinen Schwestern geführt und ich habe meine wirklichen Eltern kennen lernen dürfen. Ja, es war natürlich nicht der Stein, es war der Traum, in dem ich den Winter traf und alles, was danach geschah, aber für mich steht er symbolisch für genau das«, erzählte Lugh Akhtar und lächelte. »Ein Symbol für deine Familie?« »Ein Symbol für all das kostbare Glück, das ich besitze. Manchmal weiß man Glück nicht zu schätzen, manchmal erkennt man auch nicht, was einen wirklich glücklich macht, aber der Stein erinnert mich immer daran, wann immer ich ihn sehe.« »Ich wünschte, es gäbe etwas, was mich daran erinnert. Ich meine, ich sollte mich glücklich schätzen. Ich habe ein Leben auf der Straße hinter mir lassen können, aber ich habe immer das Gefühl, dass es falsch war, dass mir jetzt etwas fehlt. Weißt du, ich kann mich an nichts erinnern, was früher war. Alles, was vor meinem Treffen mir Tala war, ist für mich nur eine schwarze Leere oder verwischte Gedanken. Nichts Wirkliches, nichts Wahres. Aber ich weiß, dass ich etwas Wichtiges aus diesem alten Leben nicht mitgenommen habe. Etwas, was sehr, sehr wichtig war und was es mir jetzt unmöglich machte, für das dankbar zu sein, was ich habe. Ich hoffe, dass mir das Mädchen helfen kann und wird, wenn ich ihr geholfen habe.« Während Nanook noch sprach fiel Lugh Akhtar auf, was ihn auch beim letzten Treffen so verwirrt hatte, doch jetzt war er sich sicher, es sich nicht einzubilden. Wenn Nanook eine starke Gefühlsregung zeigte, dann wurden seine Augen anders. Dann wurden sie wie die Lugh Akhtars. Dann leuchteten sie in den Farben des Nordlichtes. Auch jetzt, wo der junge Mann schwieg, aber von seinen eigenen Gefühlen schier überwältigt war, auch dann leuchteten sie noch. Nur langsam glomm das Strahlen ab und sie wurden wieder braun. Und Lugh Akhtar wusste, wer auch immer Nanook war, er war nicht irgendwer. »Wir werden sie finden«, meinte er zuversichtlich. »Das verspreche ich dir. Wir werden sie finden. Irgendwie.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)