Unsterblich von Flordelis (My Immortal ~ Eternal Chronicles) ================================================================================ Prolog: Wenn Zauber fehlschlagen -------------------------------- Bläulich schimmernde Funken stoben in die Luft und verweilten dort als wäre die Schwerkraft an diesem Ort nicht präsent. Von der Szenerie erstaunt, hielt die Schreinmaid inne, um alles ausgiebig zu betrachten. Im Licht der Funken konnte sie einen riesigen, mit Moos bewachsenen Baum ausmachen, dessen Wurzeln und Äste sich weit in alle Richtungen erstreckten, die sie sah. Der Himmel war vollkommen schwarz, zu finster, um wirklich als Himmel bezeichnet werden zu können. Es war als hätte jemand eine samtene Decke über einen Käfig gelegt, in dessen Inneren sie sich befand. Käfig war wohl die beste Umschreibung, die sie für diesen Ort fand. Es war eine kleine, eine winzige Welt, die sich irgendwo im Nirgendwo befand; so versteckt, dass niemand sie je finden würde, so unscheinbar, dass selbst im unwahrscheinlichen Fall des Findens niemand Interesse daran fassen würde. Dass sie hier war, verdankte diese Welt auch nur dem einzigen Einwohner, der sie bewohnte. Sie brauchte seine Hilfe und sie hoffte, dass er zustimmen würde. Zwar glaubte sie nicht, dass er ablehnen würde, sobald er erfuhr, um wen es ging, doch es bestand die Gefahr, dass er nicht zu Hause wäre. Man hatte ihr gesagt, dass er nur sehr wenig Zeit an diesem Ort verbrachte, er reiste viel herum, da er es liebte, vor Publikum zu stehen und dieses mit seinen Auftritten zu erfreuen. Aber ihr war keine Zeit geblieben, ihn woanders zu suchen – und eine Vision hatte ihr gesagt, dass sie ihn antreffen würde. Blieb nur noch zu hoffen, dass es keine bloße Möglichkeit, sondern die endgültige Zukunft gewesen war. Die einsetzenden Klänge einer Zither fegten ihre Zweifel hinfort, aber ihre Erleichterung hielt sich dennoch in Grenzen. Die gespielte Melodie klang zwar nicht grauenvoll falsch, aber man merkte deutlich die unsichere Hand, die das Instrument führte und nach der falschen Saite griff. Sie setzte ihren Weg fort. Am Fuß des Baumstamms stand eine kleine Hütte, die einem kaum auffiel, wenn man sich nur auf den Baum konzentrierte. Im Vergleich zu diesem war sie wirklich geradezu lächerlich. Doch sie kümmerte sich nicht weiter darum, als sie endlich angekommen war. Gerade als sie die Hand hob, um anzuklopfen, wurde sie von jenseits der Tür aufgefordert, einzutreten. Sie hob ehrlich erstaunt eine Augenbraue, ehe sie eintrat. Im Inneren wurde sie von einer angenehmen Atmosphäre empfangen, für die nicht zuletzt der blaue Teppich und Vorhänge in derselben Farbe verantwortlich waren. Das im Kamin lodernde Feuer verbreitete nicht nur Wärme, sondern auch einen angenehmen Geruch, der ihr nicht im Mindesten bekannt vorkam, ungeachtet aller Welten, in denen sie bislang gewesen war. Die Melodie der Zither verstummte, dafür erklang die sanfte Stimme eines Mannes, die sich einem wie Balsam auf die Seele legte: „Ich bin erfreut über deinen Besuch. Womit habe ich diesen verdient, Tokimi Kurahashi? Oder soll ich dich... Orakel der Zeit nennen?“ Sie lächelte leicht. „Tokimi-san reicht vollkommen aus, Fuu-sama.“ Ihr Blick fiel auf den Magier, den wohl selten jemand so leger gesehen hatte, wie sie im Moment. Normalerweise trug er stets einen verzierten Zylinder auf dem Kopf, doch dieser lag nun auf einem kleinen Tisch, so dass man sein blondes Haar betrachten konnte. Der wuchtige Mantel, den er für seine Auftritte trug, hing an einem Haken und erlaubte damit einen freien Blick auf seinen schmächtigen Oberkörper. In seinen Armen ruhte eine Zither, die er mit seinen schlanken Fingern immer wieder zum Erklingen brachte. Probehalber zupfte er an einer weiteren Saite, das Lächeln auf seinem Gesicht ließ darauf schließen, dass er den Klang genoss. „Also, was kann ich für dich tun, Tokimi-san?“ Er betonte den Suffix derart, dass leicht zu erraten war, dass er einen solchen sonst nie benutzte und nur für sie eine Ausnahme machte. Die Handbewegung, die seine Worte begleitete, lud sie ein, sich auf den Sessel ihm gegenüber zu setzen, was sie auch sofort tat. „Seit wann spielst du Zither?“, fragte sie, ohne seine Frage zu beantworten. „Oh, noch nicht so lange. Eigentlich probiere ich gerade verschiedene Instrumente aus – jeder braucht immerhin sein Hobby.“ Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als sie leise kicherte. „Vielleicht solltest du es eher mit einer Geige versuchen.“ „Ich werde mir diesen Vorschlag zu Herzen nehmen. Darf ich dir einen Tee anbieten, Tokimi-san?“, fragte er freundlich. Sie lehnte das Angebot ab, auch wenn es ihr schwerfiel, dieser Stimme zu widerstehen. Sie konnte verstehen, warum er derart beliebt bei Frauen war – und teilweise auch bei Männern. „Eigentlich wollte ich dich um einen Gefallen bitten.“ „Worum könnte es sich dabei handeln?“ Die Frage war so gedankenverloren gestellt, dass sie offensichtlich zu einem Selbstgespräch gehörte. „Vor kurzem verstarb ein Eternal, dessen Shinken ich gern beeinflussen würde, noch bevor er wiedergeboren wird..“ Das sanfte Lächeln schwand nicht einmal von seinem Gesicht, als er eine Augenbraue hob. „Und was soll ich für dich tun?“ „Es gibt einen Zauber, der das Shinken eines Eternal teilt, ohne dass er davon etwas weiß. Du kennst ja den Effekt, den ein geteiltes Shinken hat, oder?“ „Natürlich“, erwiderte Fuu, während er wieder an seiner Zither zupfte. „Es kann einen Eternal geradezu unsterblich machen. Ich kenne den entsprechenden Zauber, aber er ist sehr kompliziert. Warum gehst du nicht einfach zu dem Eternal und erklärst ihm, wie das Prozedere funktioniert, damit er das selbst durchführt?“ Der Einwand war berechtigt und er kam erwartet, so dass Tokimi direkt darauf antwortete: „Er wird sich wohl kaum an unsere einzige Begegnung erinnern und mir daher mit Misstrauen begegnen. Ich glaube nicht, dass er mir vertrauen und das tun würde, was ich ihm sage.“ Vor allem, wenn sie daran dachte, dass sie ihn damit nur ausnutzen würde. Immerhin plante sie, das Original an einem Ort unterzubringen, wo selbst sie sich nicht ohne Weiteres aufhalten könnte. Aber davon sagte sie Fuu nichts und überraschenderweise fragte er auch nicht weiter. „Mhm, als Eternal tut man wohl gut daran, misstrauisch zu sein. Aber dennoch... der Zauber ist komplex und es kann leicht zu Fehlern kommen. Sag mir, warum ich riskieren sollte, einen Fleck auf meiner makellosen Bilanz erscheinen zu lassen.“ Tokimi unterdrückte ein spöttisches Lachen. Offenbar galt seine Bilanz erst seit er erwachsen war, immerhin hatte sie gehört, dass seine Tricks als Kind oft fehlgeschlagen waren. „Wenn ich dir den Namen des Eternal verrate, wirst du bestimmt um einiges kooperativer.“ Erwartungsvoll ließ er wieder einige Töne der Zither erklingen. „Gyouten no Zetsu.“ Ein scharfer Misston erklang, als die Saite plötzlich riss. Tokimis Blick wanderte von der Zither wieder zu Fuus Gesicht. Erstaunt stellte sie fest, dass sein Lächeln erloschen war. „Hast du davon noch nichts mitbekommen?“ „Nun, ich muss zugeben, dass ich schon eine Weile nichts mehr mit ihnen zu tun hatte. Ich dachte, sie bräuchten meine Hilfe erst einmal nicht mehr. Ich habe mich wohl geirrt.“ „Du hättest ihm ohnehin nicht helfen können.“ Fragend sah er sie an, worauf sie sich zu einer Erklärung berufen fühlte: „Zetsu wurde an einem Ort angegriffen, an dem Mana neutralisiert wird, so dass sein Shinken nicht funktionieren konnte. Auch du hättest nichts unternehmen können.“ Er seufzte leise. „Was ist mit Leana?“ Tokimi neigte den Kopf. „Sie ist am Boden zerstört, aber ich werde sie zu ihm leiten, sobald das hier getan ist. Also?“ Mit einem erneuten Seufzen legte er die Zither beiseite. „Gut, ich werde dir helfen. Es geht wohl nicht anders.“ Er winkte sie mit sich in einen weiteren Raum, der Tokimi bislang nicht aufgefallen war. Womöglich war er gerade erst durch Magie erschienen. Aber darum kümmerte sie sich nun nicht weiter. Stattdessen beobachtete sie konzentriert, wie Fuu ein Fläschchen aus einem Regal zog, mit einem Blick auf das Etikett noch einmal sicherstellte, dass es wirklich das richtige war und dann den Korken entfernte. Er gab die grün leuchtende Flüssigkeit in einen Kessel, der auf einer kleinen Flamme stand. Bei den anderen Zutaten war er wesentlich unaufmerksamer, aber Tokimi dachte sich nichts dabei. Möglicherweise führte er einen derartigen Zauber öfter durch und das, was sie wollte, unterschied sich nur durch diese eine Zutat am Anfang – und an der Formel, die er vor sich hermurmelte. Ehrfurchtsvoll betrachtete Tokimi ihn dabei. Sie war selbst in der Lage, außergewöhnliche Dinge zu tun, doch da sie das seit über tausend Jahren tat, war es für sie schon vollkommen normal. Selbst als es am Ende einen lauten Knall gab und Fuu erschrocken zurückwich, wich Tokimis Ehrfurcht nicht. Erst als sie seine vor Sorge gerunzelte Stirn bemerkte, fiel ihr auf, dass etwas nicht stimmen konnte. „Was ist passiert?“ „Der Zauber ist fehlgeschlagen“, antwortete er. „Ich weiß nicht, warum, ich habe doch alles richtig gemacht...“ Kaum hatte er das ausgesprochen, fiel ihr auch auf, dass sich etwas verändert hatte. Eine kurze Vision zeigte ihr, wie sie an der Seite von Leana gegen drei Schwertkämpfer antrat – vor diesem Zauber war diese Vision nicht existent gewesen, eigentlich wäre sie der Eternal nie begegnet. Noch einmal nahm Fuu das erste Fläschchen in die Hand und sah auf das Etikett. Aber es war Tokimi, der etwas daran auffiel: „He, unter dem Etikett scheint noch eines zu sein.“ Vorsichtig zog er das Papier ab und betrachtete die richtige Beschriftung, ehe er leise seufzte. „Das darf nicht wahr sein.“ „Was ist los?“ „Jemand war hier und hat meine Utensilien manipuliert. Wenngleich ich ratlos bin, wie jemand hier hereingekommen sein soll.“ Da der letzte Satz nur gemurmelt worden war, beschloss Tokimi, ihn zu ignorieren. Außerdem ärgerte sie sich im Moment mehr darüber, dass sie nicht hatte vorhersehen können, dass es schiefgehen würde. In ihren Visionen war nur zu sehen gewesen, dass Fuu zustimmen würde, den Zauber durchzuführen. Wie hatte es also so schiefgehen können? Wer hatte die Zukunft derart beeinflusst? „Hast du nicht vorhergesehen, dass das geschehen würde?“ Tokimi zuckte zusammen und blickte ihn an. „In die Zukunft sehen zu können, ist keine exakte Wissenschaft; man kann nur Möglichkeiten vorhersehen und diese dann beeinflussen.“ Er gab sich mit dieser Erklärung sofort zufrieden, musste dafür aber eine Gegenfrage von Tokimi über sich ergehen lassen: „Wie hast du dabei versagen können?“ „Es ist ein sehr komplizierter Zauber...“, antwortete er ein wenig angegriffen, „da kann schon mal etwas schiefgehen. Aber ich werde es wieder richten, versprochen.“ Tokimi legte lächelnd die Hände vor ihrer Brust zusammen. „Dann werden wir jetzt wohl eine Weile zusammenarbeiten.“ Diese Tatsache freute sie über alle Maße. Normalerweise arbeitete sie stets allein, da war Teamwork zur Abwechslung mal unterhaltsam – besonders wenn es mit Fuu war. Einige der anderen Eternal würden sie mit Sicherheit darum beneiden. „Normalerweise bin ich ja ein Solo-Künstler... aber da es mein Zauber war, der schiefging, werde ich eine Ausnahme machen, Tokimi-san.“ Die Schreinmaid lachte vergnügt. „Gut, dann werden wir erst einmal herausfinden, was genau sich nun verändert hat und dann überlegen wir, was wir tun können.“ Fuu nickte zustimmend. Hätte er in diesem Moment gewusst, was seine Zusammenarbeit mit Tokimi für ihn bedeutete, hätte er mit Sicherheit nicht wieder sanft zu lächeln begonnen. So aber kehrte er arglos mit Tokimi wieder in sein Wohnzimmer zurück, wo sie beide herausfinden wollten, welche Folgen der Fehlschlag hatte und wie sie diese wieder bereinigen könnten. Kapitel 1: Die einsame Rose --------------------------- Ein gleißend helles Licht zerriss die unscheinbare Idylle einer endlos erscheinenden Wiese, auf der kreuz und quer farbenfrohe Blumen verteilt waren als hätte ein Maler beim Versuch, die Szenerie einzufangen, zuviel gekleckst. Aus dem Licht hob sich eine Silhouette ab, die vorsichtig durch das Portal trat und bedächtig einen Fuß auf die Blumenwiese als fürchtete sie, im nächsten Moment von dieser verschlungen zu werden. Langsam wurden ihr schwarzes Haar und die blasse Haut sichtbar, gemeinsam mit der weißen Rüstung und dem Speer, den sie fest und sicher in ihrer Hand trug. Ein Blick umher verriet ihr allerdings, dass sie ihn zumindest vorerst nicht gebrauchen müssten, weswegen sie sich wieder dem Portal zuwandte. „Komm schon, Leana. Das Tor wird sich gleich wieder schließen.“ Ihrer Aufforderung folgend trat eine weitere Person auf die Blumenwiese. Bitterkeit ging von der jungen Frau aus und hielt damit erfolgreich jeden außer ihrer Begleiterin auf Abstand. Ihre braunen Augen blickten sich desinteressiert um, mit einer fahren Handbewegung fuhr sie sich durch das braune Haar. Einst war es akkurat immer auf Ellenbogenhöhe gestutzt worden, doch inzwischen reichte es ihr fast bis an die Hüften, so dass sie es in einem Pferdeschwanz zusammengefasst hatte. Es wäre einfacher gewesen, es wieder zu schneiden, aber dies hätte für sie Kampfbereitschaft signalisiert und inzwischen interessierte sie sich nicht mehr dafür. Das Schwert an ihrer zierlichen Hüfte diente ihr nur noch als Abschreckung für feindliche Gesellen. Das Tor schloss sich wieder, beide mitten im Irgendwo zurücklassend. „Isolde?“ Wortkarg war sie geworden, doch das störte ihre Begleiterin nicht, immerhin wusste diese immer genau, was sie wollte – es war eben ungemein praktisch, ihre Gedanken lesen zu können. So konnte Isolde auch direkt auf die unausgesprochene Frage antworten: „Dieser Zauberer – Fuu, heißt er, glaube ich – hat uns eingeladen, herzukommen und eine seiner Shows anzusehen.“ Zur Demonstration zog sie aus dem Nichts zwei Papierstreifen hervor und wedelte damit vor Leanas Gesicht herum. Sie erwiderte nichts darauf, veränderte nicht einmal ihre Mimik im Mindesten und doch wusste Isolde genau, dass sie etwas fragen wollte und antwortete auch sofort darauf: „Ich dachte, es wäre einmal ganz lustig. Du könntest ruhig ein wenig Abwechslung vertragen. Immerhin sind einige Jahre seit diesem Ereignis vergangen.“ Leanas Gesicht zeigte nach wie vor keine Regung, doch sie wandte sich abrupt demonstrativ ab und lief auf's Geratewohl in irgendeine Richtung davon. Isolde folgte ihr hastig, um sie wieder zu beschwichtigen, doch jedes von ihr gesagte Wort prallte an der Mauer aus Schweigen und Abweisung ab, perlte daran spurlos ab wie Regen, der auf eine Fensterscheibe traf. In solchen Momenten würde sie gern die Arme in die Luft werfen und ihrer Verzweiflung mit einem lauten Schrei Ausdruck verleihen, ihre Begleiterin dann so heftig schütteln, bis sie wieder vernünftig werden würde und sich im Anschluss gleich entschuldigen. Einmal hatte sie das bereits getan – nur viel vernünftiger war Leana dadurch nicht geworden. Natürlich nicht. Das, was sie so sein ließ, ging viel tiefer als physische Reize gehen könnten und viel tiefer als psychische Einwirkungen reichten. Ja, Isolde empfand es nicht als übertrieben, zu behaupten, dass die Seele ihrer Begleiterin selbst verletzt war, unfähig, sich von alleine wieder zu regenerieren. Isoldes Anstrengungen in diese Richtung waren bislang alle im Sande verlaufen, weswegen sie der Einladung Fuus gefolgt war, in der Hoffnung, dass er Leana in irgendeiner Art und Weise aufmuntern könnte. Sie bezweifelte den Erfolg zwar, aber einen Versuch war es immerhin wert, besonders da sie so auch eine neue Welt erforschen könnten. Da sie auf einer Wiese gelandet waren, wusste immerhin keiner von ihnen bislang, wie weit entwickelt diese Welt war, was für Leute sich in dieser tummelten und welche Konflikte auf sie warten würden. Während Isolde bereits begierig darauf war, mehr zu erfahren, als sie endlich ein Dorf erblicken konnte, blieb Leanas Gesicht – und auch ihre Gedanken – völlig leer. Die kleine Ansammlung an Hütten, die sie schließlich am Ufer eines Sees erreichten, war kaum noch als Dorf zu bezeichnen. Am Steg festgebundene Boote trieben auf dem Wasser, andere Barken lagen mit dem Bauch nach oben auf der trockenen Erde, beschädigte und halbfertige Fischernetze waren überall aufgespannt, die Luft roch deutlich nach Fisch – ja, sie waren geradewegs in einem Fischerdorf angekommen. Aber das genügte bereits, um Isolde ungefähr zu sagen, in was für einer Welt sie sich befanden. Technischer Fortschritt hätte sich mit Sicherheit nämlich auch längst diesem kleinen Dorf bemächtigt, in dem im Moment niemand außer ihnen zu sein schien. Jedenfalls nicht auf dem Weg, es bestand aber die Möglichkeit, dass sich die Dorfbewohner in oder hinter den Häusern aufhielten. Zwar nagte etwas in den Tiefen ihres Bewusstseins, dass etwas nicht stimmte, doch sie schob es zumindest vorläufig darauf, dass sie selbst es nur als ungewöhnlich empfand, ein ganzes Dorf scheinbar verlassen vorzufinden. Mit Sicherheit würden gleich sämtliche Bewohner auftauchen und sie freundlich begrüßen. Auf einem unbeobachteten Feuer in der Mitte der Hüttenansammlung kochte ein Kessel vor sich her, aus dessen Inneren der Geruch von Dashi strömte, einer Fischbrühe, die in Japan und anderen Welten, die daran erinnerte, als Grundstein für allerlei Gerichte verwendet wurde. Bei so mancher Person wäre bei diesem Geruch sicherlich das Wasser im Munde zusammengelaufen, Isolde blieb allerdings gefasst. Als Shugo Shinjuu brauchte sie keinerlei Nahrung zum Überleben, weswegen sie auch nie Hunger oder Appetit verspürte. Doch sie hoffte, dass zumindest Leana, die immerhin ihre Meisterin war, auf den Geruch reagieren würde. Tatsächlich schnupperte sie für einen Moment, ihre Mimik veränderte sich kaum merklich, ein hungriger Glanz erschien in ihren Augen. Auf Nachfragen würde sie zwar verneinen – selbst in ihren Gedanken –, doch Isolde hatte bereits genug Zeit mit ihr verbracht, um ihr das ansehen zu können. Isolde blickte sich bereits nach jemandem um, der sie zum Essen einladen könnte – da Leana niemals von allein fragen würde – doch in diesem Moment wurde ihr wieder bewusst, was sie schon die ganze Zeit irritierte: Es war niemand da. Die Netze bewegten sich sacht im Wind, Hühner gackerten irgendwo und die Boote auf dem Wasser gaben ein leises Ächzen von sich, als sie von den Wellen bewegt wurden – doch von anderen Menschen war weit und breit nichts zu sehen. Dabei sagte der Topf auf dem Feuer doch, dass sie nicht allzuweit weg sein könnten. Erst in diesem Moment kam ihr der Gedanke, dass Fuu möglicherweise einen Hintergedanken mit dieser Einladung verfolgt haben könnte. Möglicherweise sollten sie für ihn aufräumen oder so etwas. Isolde fluchte innerlich, dass sie nicht früher auf den Gedanken gekommen war, während Leana immer noch wie hypnotisiert den Kessel anstarrte. Das Shinjuu nutzte die Gelegenheit und tastete mit ihren Gedanken die Umgebung ab, suchte nach Spuren von Leben – und der Energie eines anderen Eien Shinken. Dass sie vorher nicht daran gedacht hatte, ärgerte sie immer noch ein wenig, aber nun war es eindeutig zu spät, um sich darüber zu grämen und zumindest bislang war ja auch noch nichts Schlimmes geschehen. Nicht weit weg vom Dorf wurde Isolde schließlich fündig – doch das, was sie da fand, ließ sie zusammenzucken und Fuus Motivation weiter hinterfragen. Ein Blick zu Leana sagte ihr, dass diese von den Gedanken ihres Shinjuu nicht mitbekam. Sie hatte inzwischen die Kelle ergriffen, die an einem Haken befestigt gewesen war und rührte damit in der Brühe, offensichtlich erpicht darauf, etwas davon zu bekommen. Aber zuvor, das wusste Isolde, würden sie den Dorfbewohnern helfen müssen, auch wenn sie fürchtete, dass Leana im Anschluss keinen Hunger mehr haben würde – zumindest wenn ihr erstes Gefühl über ihr Ziel sie nicht trog. Zögernd sprach sie ihre Meisterin an, die ihr leicht fragend den Blick zuwandte. „Ich denke, wir sollten den Dorfbewohnern helfen.“ Früher hatte sie nie wirklich Überredungskunst anbringen müssen. Als ehemalige Ritterin war es in Leana verwurzelt, Menschen in Not zu helfen und auch diesmal nickte sie nur knapp und hing die Kelle wieder an den für sie bestimmten Ort. Für einen kurzen Moment haderte Isolde noch mit sich. Sollte sie Leana sagen, auf wen sie möglicherweise gleich treffen würde? Nein, besser nicht. Es bestand die Gefahr, dass Leana dann losstürmen und direkt in ihr Verderben rennen würde. Manchmal war sie eben unberechenbar. So aber liefen sie zusammen in die Richtung, aus der Isolde die fremden Schwingungen wahrnahm. Der Weg führte sie in ein kleines Waldgebiet hinein, das offenbar wegen eines Schreins von der umliegenden Rodung verschont geblieben war. Auf der Lichtung vor dem Schrein knieten fünfzehn, zwanzig Leute – Isolde konnte ihre genaue Anzahl nicht erfassen – die Hände auf den Rücken gefesselt, den Blick größtenteils gesenkt. Das Shinjuu zog seine Meisterin hastig ins Unterholz, als sie in Sichtweite der dort Anwesenden kamen. Gefährlich waren dabei aber nicht die Gefesselten, sondern die fünf Männer, die um jene herumstanden. Vier von ihnen trugen einfache, dunkle Rüstungen, der fünfte jedoch war wie ein Samurai gekleidet und trug auch das Daishō mit sich, das aus einem Katana und einem Wakizashi bestand, wie Isolde auf einen Blick sehen konnte – lediglich der markante Helm fehlte auf dem Kopf des Mannes. Seine rote Rüstung hob ihn von den anderen Gestalten im Wald ab, doch zu Isoldes Überraschung war nicht er derjenige, wegen dem sie besorgt gewesen war. Hastig erforschte sie die Anwesenden, aber keiner von ihnen schien die Person zu sein, die sie zuvor hatte wahrnehmen können, seine Aura war wie vom Erdboden verschluckt. Hatte sie sich das möglicherweise nur eingebildet? Vielleicht hatten ihre Sinne ihr nur einen Strich gespielt und ihr, ausgelöst von Leanas Sehnsucht, vorgegaukelt, dass sich diese Person hier befinden würde. Auch gut, schon ein Problem weniger. Eigentlich gäbe es nichts gegen eine Begegnung mit dieser Person einzuwenden, es war für Isolde sogar äußerst erstrebenswert – aber in diesem Fall war seine Aura kalt und voller Hass gewesen. Nein, so dürfte Leana ihm niemals gegenübertreten. Ein lautes Klatschen holte Isolde wieder in die Wirklichkeit zurück. Der durch die Ohrfeige gestürzte Fischer wurde von einem Soldaten unsanft am Hemd gepackt und sofort wieder in eine aufrechte Sitzhaltung gebracht. „Ich frage dich das jetzt noch einmal“, sagte der Samurai mit schnarrender Stimme. „Und dieses Mal wirst du mir eine bessere Antwort geben.“ „A-aber ich habe doch schon gesagt, dass ich nichts weiß“, erwiderte der Fischer. Isolde grummelte innerlich, offenbar war sie so in Gedanken versunken gewesen, dass sie die Frage nicht mitbekommen hatte. Hoffentlich würde er sie wirklich wiederholen, offen gestanden war sie nämlich neugierig, was ein Samurai von einem Fischerdorf wissen wollte, weswegen er alle Einwohner sogar extra in den Wald schleppte. Einer der Soldaten zog ein Messer hervor, zog ruckartig den Kopf einer Frau nach hinten, der dabei ein überraschter Ausruf entfuhr und hielt ihr die Klinge an die Kehle. Der Samurai bleckte die Zähne. „Nun, vielleicht hilft es deinem Gedächtnis auf die Sprünge, wenn wir dein Dorf ein wenig dezimieren.“ Für einen Moment rührte sich niemand, die Dorfbewohner zitterten lediglich ein wenig, sagten aber kein Wort, warfen lediglich aus den Augenwinkeln Blicke zu dem kleinen Schrein hinüber. Isolde sah ebenfalls hinüber und bemerkte erst in diesem Moment, dass er offenbar vor nicht allzulanger Zeit geöffnet worden war. Waren sie etwa deswegen alle hier? Was war denn so Wichtiges in seinem Inneren gewesen? Doch ehe die neugierige Isolde eine Antwort darauf bekommen konnte oder gar erst einmal erfuhr, ob das wirklich der Grund für diese Versammlung war, spürte sie plötzlich eine Bewegung neben sich. Sie musste sich nicht erst umsehen, um zu wissen, was geschehen war. Leana stolzierte geradewegs auf den Samurai zu. Dieser registrierte sie erst gar nicht, den Blick nach wieder auf den Fischer vor sich gerichtet. Doch da alle anderen sie bereits überrascht fixierten, wandte der Samurai sich ihr ebenfalls zu – nur um direkt zurückzutaumeln, als Leanas Faust sein Gesicht traf. „O-sama!“, riefen die Soldaten erschrocken aus. Sofort begaben sich alle, selbst derjenige, der die Frau bedroht hatte, schützend vor den Samurai und zogen ihre Schwerter hervor. Die Fischer raunten nur überrascht und musterten Leana durch die Reihen der Soldaten hindurch. Der Samurai schien sich dieses Verhalten aber nicht wirklich gefallen zu lassen, weswegen er sich sofort an den Gefreiten vorbeizwängte, um wieder vor Leana zu stehen, das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzogen. „Was bildest du dir eigentlich ein, Weib!?“ „Dasselbe könnte ich dich fragen“, erwiderte Leana kühl, ohne auch nur die geringste Spur von Furcht in der Stimme. Der Samurai schnaubte wütend. „Ich führe meine Befehle aus! Du dagegen hast hier nichts verloren!“ Auf seine Worte erntete er einen erneuten Fausthieb von Leana, der ihn zurücktaumeln ließ. Isolde fand es immer wieder amüsant, zu sehen wieviel Kraft in Leanas eher zierlichem Körper steckte und wie undamenhaft sie diese manchmal einsetzte. Allein dafür lohnte es sich schon, ihr Shinjuu zu sein. Mit einem wütenden Schrei riss einer der Soldaten sein Schwert hoch und stürzte sich auf Leana. Sie warf ihm allerdings nur einen müden Blick zu – auch als ein heller Lichtblitz direkt vor ihr seine Klinge in unzählige, winzigkleine Splitter zerspringen ließ, die allesamt wie Schnee zu Boden fielen. Die Fischer raunten erneut überrascht, während die Soldaten japsend zurückwichen. Isolde musste ein Kichern unterdrücken, als sie sich vorstellte, dass die Männer sie wohl gerade als Dämon einstufen wollten, aufgrund dem eben Geschehenen. Dabei war Leana weit davon entfernt, ein Dämon oder gar böse zu sein. Der Samurai sog scharf die Luft, er war deutlich bleicher als noch zuvor. Hektisch deutete er auf Leana. „Gib dich zu erkennen!“, verlangte er scharf. Diesmal kicherte Isolde wirklich, als sie die in den Worten mitschwingende Furcht hören konnte. Diese Leute hatten offensichtlich nicht oft mit Shinkenträgern zu tun. In einer eleganten Bewegung zog Leana ihr Schwert hervor, das halb so groß war wie sie selbst, jedoch mit erstaunlicher Leichtigkeit von ihr geführt wurde. Sie hielt die Waffe vor sich und – Isolde hätte am Liebsten über diese Attitüde gejubelt, so sehr liebte sie es – stellte sich mit betont kühler Stimme vor: „Ich bin der Eternal Shoubi no Leana und mit diesem Schwert hier werde ich dir zeigen, wie ich dein Benehmen finde.“ Kapitel 2: Die Präfektin ------------------------ Leanas Auftritt erzielte einen weitaus geringeren Eindruck als sie wohl selbst gedacht hätte. Die Soldaten warfen sich verwirrte Blicke zu, selbst die Fischer wiederholten das Wort Eternal als hätten sie es noch nie zuvor gehört und versuchten nun angestrengt herauszufinden, worum es sich dabei handeln könnte. Während Isolde durch die fehlende angemessene Reaktion ein wenig enttäuscht war, schien es Leana absolut nichts auszumachen. Weder an ihrer Miene noch an ihrer Körperhaltung hatte sich etwas verändert. Der Samurai allerdings schien mit dem Begriff tatsächlich etwas anfangen zu können. Isolde konnte sehen, wie er seine Stirn runzelte und die Zähne aufeinanderpresste als müsste er erst überlegen, was er nun tun sollte, nachdem er sich diese Sache eingebrockt hatte. Doch schließlich besann er sich darauf, das zu tun, was er am besten konnte. Er ging leicht in die Knie und legte eine Hand auf seinen Schwert ohne selbiges zu ziehen. Isolde kannte diese Haltung, die Zetsu immer als Iaidou bezeichnet hatte – nur um amüsiert zu lachen, sobald man ihn gefragt hatte, was das bedeuten würde. Aber der Gedanke an ihn war nun überflüssig, bei dem Samurai handelte es sich immerhin in keinerlei Form um Zetsu, so viel wusste Isolde bereits. „Nun gut... Leana“, sprach der Samurai. „Dann werde ich dich hiermit zu einem Kampf herausfordern.“ Isolde schmunzelte. So wie sie das sah war der Herausforderer bereits zum Scheitern verurteilt und die Soldaten würden das mit Sicherheit auch gleich anmerken – doch statt Besorgnis breitete sich auf allen Gesichtern Vorfreude aus. Vorsichtshalber überprüfte Isolde die Waffen des Samurais noch einmal, so wie ihn selbst, aber er war eindeutig ein normaler Mensch, ohne irgendein Shinken. Er musste doch aber gesehen haben, was mit dem Schwert des Soldaten geschehen war, warum rechnete er sich also höhere Chancen aus? Leana gab ein kaum sichtbares Nicken von sich als Zeichen, dass sie für einen Kampf bereit war – im selben Moment preschte der Samurai auf sie zu. Isolde war der festen Überzeugung, dass sein Schwert, sobald er es ziehen würde, an Leanas Schutzschild scheitern würde, doch ihre Meisterin schien das anders zu sehen. Da sie aufgrund ihrer Erfahrung mit Zetsus Kampfkunst bereits erahnen konnte, wo der Samurai sie angreifen würde hielt sie das Schwert schützend vor ihre Seite. Und tatsächlich – zu Isoldes großem Erstaunen – schnitt die fremde Klinge durch Leanas Schild wie ein gewöhnliches Messer durch weiche Butter und stieß klirrend mit dem Shinken zusammen. Selbst in diesem Moment zersplitterte die Klinge nicht, stattdessen glühte sie in einem bläulichen Licht, das sofort wieder erlosch, als beide Kämpfende einen Schritt auseinandersprangen. Isolde neigte den Kopf ein wenig. Aura Photonen? Bei einem normalen Schwert? Das ist unüblich. Aber nicht ungewöhnlich, wie sie selbst zugeben musste. Allerdings musste das bedeuten, dass es in dieser Welt wirklich jemanden gab, der Ahnung von Eternal und Eien Shinken hatte – also war es doch ein Trick von Fuu gewesen, auf den sie nur hereingefallen waren. Wenn ich diesen Magier erwische, der kann was erleben! Der Samurai nahm erneut die Iaidou-Haltung ein und preschte wieder vor, doch dieses Mal verfehlte seine Klinge, da Leana elegant zur Seite auswich und noch in derselben Bewegung selbst zum Angriff ansetzte. Isolde spürte einen kurzen Impuls, dann bemerkte sie, wie das Shinken auf eine hell leuchtende Wand aus Aura Photonen traf. „Ist das alles?“, fragte der Samurai gelangweilt. Als Antwort darauf verpasste sie ihm wieder einen Faustschlag. Dieses Mal taumelte er nicht zurück, aber der Ärger in seinem Inneren wuchs, wie Isolde spüren konnte. „Das ist keine angemessene Art zu kämpfen!“, entfuhr es ihm zornig. Leana zuckte mit den Schultern. „Warum sollte mich das kümmern?“ Ihre Gleichgültigkeit fachte die Wut in seinem Inneren an. Mit einem Schrei stürmte er erneut auf sie zu, das Schwert diesmal aber direkt gezogen, als Ausdruck seiner Empörung. Dass er kopflos agierte, zeigte sich nun auch in seinen ungeschliffenen Bewegungen, die es Leana nicht schwermachten, auszuweichen als würde sie gemeinsam mit ihm einen einstudierten Tanz aufführen. Doch die Vorstellung endete schließlich damit, dass Leana ihn über ihr Shinken stolpern ließ, worauf der Samurai äußerst unelegant zu Boden fiel. Geschockt blickten die Soldaten auf ihren gefallenen Hoffnungsträger, die Fischer dagegen betrachteten die Siegerin wie eine Heldin, während Leana ihr Schwert wieder einsteckte. Isolde wäre am Liebsten sofort aus dem Gebüsch gesprungen, um ihr anerkennend auf die Schulter zu klopfen und ihr für ihren kühlen Kopf zu gratulieren. Doch sie beschränkte sich darauf, Leana ihre Gedanken mitzuteilen – und bekam erwartungsgemäß nichts zurück, was Isolde leise seufzen ließ. Mit Hilfe zweier Soldaten richtete der Samurai sich hastig wieder auf. Drohend deutete er auf Leana. „Du hast mich nicht zum letzten Mal gesehen, das schwöre ich dir!“ Ehe sie etwas erwidern konnte, liefen er und seine Soldaten bereits eilig davon. Leana zögerte nicht mehr lange und begann damit, die Fesseln an den Händen der Fischer zu entfernen, die sich sofort in unzählige Danksagungen stürzten. Sie nahm das alles gleichgültig entgegen, widersprach auch nicht, als die Fischer ihr schließlich geradezu aufdrängten, mit ihnen zu kommen und gemeinsam mit ihnen zu essen. Da ihr Hunger und der Gedanke an die Suppe vorhin wohl ausnahmsweise stärker waren als ihr Wunsch, allein zu sein, ließ sie sich von diesen Menschen mitziehen. Da Isolde keinerlei Gefahr von ihnen ausgehen spürte, beschloss sie, erst später zu folgen und sich stattdessen dem Schrein zu widmen. Im Vergleich zu jenen, die sie zuvor gesehen hatte, war dieser äußerst klein, kaum größer als ein Buch. Was konnte derart wichtig und dennoch klein genug sein, um in diesen Schrein gepasst zu haben? Wenn sie wieder ins Dorf zurückkam, sollte sie auch die Fischer darauf ansprechen – oder Leana sie darauf ansprechen lassen. Ein letzter Blick umher, verbunden mit ihrer Fähigkeit, die Anwesenheit anderer zu spüren, versicherte ihr, dass niemand außer ihr im Wald war – und so löste sie sich auf, um ohne Umwege zu Leana zurückzukommen. Wovon bislang weder Leana noch Isolde etwas ahnten, war die Burg Nakahara, die, wie ihr Name schon sagte, inmitten einer riesigen Ebene emporragte und der Stolz der gesamten Präfektur war. Zwar hatten Berater zuvor eindringlich davor gewarnt, eine derartige Festung an einem Ort zu bauen, wo sie in Kriegszeiten von vier Seiten gleichzeitig gestürmt werden konnte, doch im Endeffekt hatte die Präfektin schlussendlich ihren Willen durchgesetzt – immerhin befand man sich nicht in Kriegszeiten und sie fürchtete diese auch nicht, hatte sogar vollmundig verkündet, ihre Burg in einem solchen Fall ganz alleine zu verteidigen. Bislang war eine solche Gelegenheit allerdings noch nicht eingetreten, weswegen ihre Kritiker nicht müde wurden, sich die Mäuler über sie zu zerreißen. Im Gegensatz dazu blieb die Präfektin, die allgemein unter dem – für ihre Untertanen ungewohnten – Namen Eos bekannt war, ihren Gegnern gegenüber immer sachlich. Es hieß, sie wohnte jedem Treffen mit einem einnehmenden Lächeln bei, das nicht einmal dann abriss, wenn jemand sich offen über sie beklagte. Jemand anderes wusste allerdings sehr genau, wie furchteinflößend sie sein konnte, wenn ihr Lächeln doch einmal verschwand und dieser Jemand war gerade wieder einmal auf dem Weg zu ihr. Yori, der engste Berater von Eos und der einzige, der gegen Ende der Entscheidungsphase schließlich ebenfalls für den Bau der Burg gestimmt hatte, war auch dafür zuständig, ihr schlechte Nachrichten zu überbringen, sobald welche hereinkamen. Und jene, die er dieses Mal überbringen sollte, war sogar gleich doppelt schlecht. Als er den Brief gelesen hatte, wäre ihm beinahe vor Schreck das Herz stehengeblieben, die Präfektin würde es bestimmt auch nicht sonderlich gern hören. Aber je mehr Zeit er verstreichen lassen würde desto schlimmer würde ihre Wut werden. Während er sich raschen Schrittes zu ihren Gemächern begab, überlegte er, wie er ihr die Nachricht am besten überbringen sollte. Schlechte Neuigkeiten war sie besonders in der letzten Zeit nicht gewohnt, all ihre Aufträge waren stets zu ihrer vollsten Zufriedenheit ausgeführt worden. Aber vielleicht würde genau das ein Vorteil für ihn sein. Ihm blieb wohl nur die Probe aufs Exempel. Warum musste diese Nachricht auch unbedingt heute kommen? überlegte er innerlich seufzend. Morgen wäre mein freier Tag gewesen... Vor der doppelflügigen Tür, die in ihr Audienzzimmer führte, hielt er inne und klopfte laut vernehmlich dreimal dagegen. Das Geräusch hallte laut im leeren Gang wider, als Antwort darauf erklang ein leises Murmeln, dessen Ursprung er lieber gar nicht zu genau kennen wollte. Die Wesen waren gemeinsam mit der Präfektin eingezogen und würden mit Sicherheit auch Zeit ihrer Anwesenheit bleiben, daran gab es für Yori keinen Zweifel – sehen wollte er sie lieber dennoch nicht. Er atmete erleichtert auf, als er endlich gebeten wurde, einzutreten und öffnete die Tür. Das durch die großzügigen Fenster einfallende Sonnenlicht blendete ihn im ersten Moment, so dass er automatisch die Hand hob, um seine Augen abzuschirmen. Rasch gewöhnte er sich daran und blickte sich um, worauf er alsbald die Präfektin ausfindig machte. Statt an ihrem Schreibtisch zu sitzen, an dem sie sonst allerlei Arbeit für ihr Volk erledigte, war sie an diesem Tag emsig damit beschäftigt, in einer Ecke sitzend ihr Schwert zu polieren. Die Klinge flößte Yori jedes Mal aufs Neue Respekt ein. Nicht wegen dem Griff in Form eines Drachenkopfes, der es aussehen ließ als würde das Schwert direkt aus seinem Maul ragen, sondern wegen der Aura, die diese Waffe umgab. Sie war derart machtvoll und gleichzeitig bösartig, dass es ihm immer wieder grauste, wenn Eos sie hervorholte. Die Präfektin wandte ihm den Rücken zu, wodurch er sehen konnte, dass ihr silbernes Haar nicht ganz so akkurat zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war wie sonst üblich. Offenbar hatte sie das ohne jeden Elan selbst getan. Ihr Kimono dagegen war so adrett und gewissenhaft angelegt wie sonst – offenbar kam es ihr eben doch mehr auf ihre Kleidung und nicht auf ihr Haar an. „Was gibt es?“ Ihre tiefe Stimme, die ihn aus seinen Gedanken riss, ließ ihn zusammenzucken. Hastig ging er auf die Knie, um sich vor ihr zu verneigen. „Verzeiht, dass ich Euch störe, Eos-dono. General Kobayashi sandte eine Nachricht für Euch.“ „Eine Gute, will ich hoffen.“ Ohne ihn anzusehen, polierte sie die Klinge weiter. Er schluckte leicht. „Ich fürchte, das muss ich verneinen.“ Sie hielt inne, wandte sich ihm jedoch immer noch nicht zu. Yori musste seinen Mut zusammentrommeln, um ihr den Inhalt der Nachricht mitzuteilen. Es war schlimm genug, ihr schlechte Nachrichten bringen zu müssen, solange sie das Schwert hielt wurde sie dabei auch noch unberechenbar. Ein Bote musste deswegen eines seiner Ohren lassen – seitdem musste Yori die Aufgabe übernehmen. Ihm gegenüber war sie nie so gewalttätig, aber dennoch fürchtete er sich jedes Mal aufs Neue davor, dass ihre Gönnerhaftigkeit ihm gegenüber einmal endete. „General Kobayashi schreibt, dass der Schrein bei seiner Ankunft bereits aufgebrochen und der Inhalt verschwunden sei. Die Dorfbewohner leugnen aber, etwas damit zu tun haben.“ Eos schnaubte spöttisch. Da er keinerlei Aufwallen von Zorn spüren konnte, noch sie offenbar Anstalten machte, weiterzusprechen, beschloss er, auch die zweite Nachricht schnellstmöglich hinter sich zu bringen: „Er berichtet aber von einer gegnerischen Shinkenträgerin, die sich als Eternal bezeichnet hat.“ Nun vollends interessiert, wandte Eos sich ihrem Berater zu, so dass er ihr ins Gesicht sehen konnte. Wie üblich galt sein Blick zuerst ihrer golden verzierten Augenklappe, die ihr rechtes Auge verdeckte. Bereits als man sie das erste Mal in dieser Gegend gesehen hatte, war die Klappe von ihr getragen worden und da sie nie darüber sprach, wusste niemand, was geschehen war. Man munkelte, dass ein Drache ihr den Augapfel ausgerissen hätte, andere sprachen davon, dass sie lediglich ein blindes Auge damit überdeckte. Was davon nun der Wahrheit entsprach, wusste nicht einmal Yori. Die Iris ihres linken Auges unterstrich ihre Einzigartigkeit – denn sie war golden. Im ganzen Reich gab es niemand sonst, der goldene Augen hatte, weswegen die Präfektin für so manche Person sowohl interessant als auch unheimlich war. Yori war sich selbst noch nicht sicher, was er von ihr halten oder über sie denken sollte, aber solange sie ihn in einer Machtposition hielt, konnte sie ihm nur recht sein. „Eternal, huh?“ Offenbar konnte sie etwas mit diesem Begriff anfangen, im Gegensatz zu allen anderen. Eien Shinken kannte er inzwischen, ruhte doch ein solches im Zentrum der Burg, aber Eternal? Ihre rosigen Lippen verzogen sich ärgerlich. „Hat sie auch ihren Namen genannt?“ Yori nickte hastig und zog hastig den Brief hervor, um ihn vorzulesen. „Sie sagte, ihr Name sei Shoubi no Leana.“ Kaum hatte er das ausgesprochen, zuckten Eos' Mundwinkel amüsiert. „Dann ist wohl eine Ewige Rose in unser Reich gekommen. Aber ich mache mir da keine Sorgen. Auch nicht um die Bestrafung der Fischer.“ „Was habt Ihr denn vor, Herrin?“, fragte Yori mit einem mulmigen Gefühl im Magen. „Oh, ich habe gar nichts vor“, erwiderte sie, während sie sich gut gelaunt wieder ihrem Schwert widmete. Ehe er noch einmal nachhaken konnte, hörte er, wie jemand über die Deckenbalken über ihnen sprang und dann blitzschnell durch eines der Fenster verschwand. Yori konnte nur noch einen schwarzen Schatten, begleitet von einem silbernen Schweif sehen, aber das war genug, um den Plan auch ohne Eos' folgende Worte zu kennen: „Ich lasse den Ninja sich darum kümmern.“ Kapitel 3: Ungutes Wiedersehen ------------------------------ Satt und zufrieden saß Leana derweil im Fischerdorf und lauschte aufmerksam und hauptsächlich schweigend den Geschichten, die ihr erzählt wurden. So hatte sie erfahren, dass sie sich tatsächlich in einer Welt befand, die dem feudalistischen Japan von Nozomus Heimat glich. Genauer hielt sie sich gerade in der Präfektur Taimei auf, die von einer – so sagten die Fischer – wunderschönen, aber wahnsinnigen Frau geführt wurde. So soll sie nicht nur eine strategisch unkluge Burg gebaut haben, sondern auch so gut wie immer am Lächeln sein. In letzter Zeit schickte sie offenbar ihre Generäle aus, um bestimmte Schreine in der Präfektur zu untersuchen und ihnen das zu entnehmen, was sich darin befand. Worum es sich allerdings handelte, wusste niemand so genau. Isoldes Neugier war bereits geweckt, nur wo und wie sollte sie diese stillen? Selbst einen Schrein aufzusuchen und diesen aufzubrechen war wohl eher eine dumme Idee, wenngleich die effektivste Methode, die ihr einfiel. Doch würde irgendjemand anderes ihnen Auskunft erteilen, wenn sie fragen würde? Mit Zetsu wäre das sicherlich ein Kinderspiel geworden. Der Silberhaarige hatte es verstanden, andere Leute um seinen Finger zu wickeln und sie dann nach seiner Pfeife tanzen zu lassen – Leana fehlte dieser Charme leider. Also würde Isolde einen anderen Weg finden müssen. Als die Sonne unterging, endete das kleine Fest, das zu Leanas Ehren gegeben worden war, dafür wurde ihr von mehreren Seiten angeboten, im Dorf zu übernachten, was sie nach Isoldes Drängen schließlich auch annahm. Es konnte nicht schaden, wenn ihre Meisterin sich ausruhte und ihren Körper an den Manastrom dieser Welt anpasste, ehe sie eine richtige Stadt aufsuchten. Und vielleicht würde Isolde in der Nacht auch eine Idee kommen, wie sie mehr über das Innere der Schreine herausfand. Als Shinjuu brauchte sie immerhin keinen Schlaf. Leana dagegen schlief recht schnell ein, nachdem sie es sich in einer der kleinen Hütten in einem Futon bequem gemacht hatte. Ihre gleichmäßigen Atemzüge versicherten Isolde, dass alles in Ordnung war. Mit diesen im Ohr, blickte Isolde aus dem Fenster, von dem aus sie direkt auf den See blicken konnte. Der Halbmond spiegelte sich auf der Wasseroberfläche und vermittelte ein Gefühl von Frieden und Stille. Warum auch immer Fuu sie in diese Welt gerufen hatte, es musste etwas mit dem Inhalt der Schreine zu tun haben, da war sich Isolde sicher. Dafür musste sie nur an den Samurai denken, dessen Schwert durch Leanas Schild gebrochen war und an sein eigenes Schild, das aus Aura Photonen bestanden hatte, was normalerweise nur bei einem Shinkenträger der Fall sein konnte. Also musste es einen Shinkenträger in dieser Welt geben, der in der Lage war, den Einfluss seines Schwerts auch auf andere auszuweiten. Möglicherweise handelte es sich dabei sogar um die Präfektin, von der die Fischer gesprochen hatten. Immerhin war es ihr Samurai-General gewesen, der die Fähigkeiten angewandt hatte. Aber all das blieben Spekulationen ohne jede Grundlage, die diese stützen oder zerstören könnte. Da müsste sie schon selbst mit dieser ominösen Eos sprechen und ob das jemals geschehen würde? Während ihre Gedanken sich derart im Kreis drehten, spürte sie unwillkürlich einen eiskalten Schmerz, der durch ihren Körper zuckte und ihr für einen Moment den Atem raubte. Für einen Moment befürchtete sie, die Balance zu verlieren und umzufallen, doch ihr Körper fing sich sofort wieder. Was war das? Eine deutliche Warnung fuhr durch ihren Körper, schrillte so laut in ihrem Kopf, dass sie sich am Liebsten die Ohren zugehalten hätte. Noch nie zuvor hatte ihr Körper derart auf etwas reagiert, was konnte das nur für eine Quelle sein, von der das ausging? Das Rascheln hinter ihr verriet ihr, dass Leana aufgewacht war. „Isolde...“ Das Shinjuu fuhr herum und blickte in das fragende Gesicht ihrer Meisterin. Spürte sie das auch? 'Shoubi', das griffbereit neben Leana lag, vibrierte bereits in freudiger Erwartung, offenbar näherte sich ihnen ein machtvoller Feind. Isolde konzentrierte sich trotz der Schmerzen und des schrillen Geräuschs in ihrem Inneren auf ihre Umgebung, doch ihr eigener Körper und 'Shoubi' machten es ihr unmöglich, irgendetwas festzustellen. Ein Geräusch auf dem Dach unterbrach ihre Konzentration auch sofort. Sie sah nach oben, verfolgte die Person, die dort lief anhand ihrer Schritte und blickte dann zu Leana, die mit dem Shinken in der Hand langsam aufstand. Ihr Blick ging ebenfalls nach oben, während ihr der Schweiß über das Gesicht lief. Zwar waren ihre Gedanken für Isolde verschlossen, doch das Shinjuu konnte sich denken, dass es einiges an Anstrengung erforderte, das Shinken im Moment zu halten, ohne es direkt im Kampf zu schwingen. Dabei war 'Shoubi' normalerweise ein äußerst sanftes Schwert – was brachte es nur so sehr auf? Bevor Isolde sich weiter mit diesem Thema befassen konnte, fuhr erneut ein scharfer Schmerz durch ihren Körper. Sie fuhr herum und riss in derselben Bewegung ihren Speer hoch. Ihre Waffe zerteilte die ihr entgegenfliegende Tür als ob sie aus Wasser wäre. Dem Schwert, das allerdings direkt danach folgte, entkam sie nur, indem sie sich auflöste und an anderer Stelle wieder erschien. Sie erhaschte einen Blick auf einen in Schwarz gekleideten und vermummten Ninja, der sich nun auf Leana stürzte. Seine Klinge schnitt wie auch zuvor die des Samurai durch ihren Schutzschild und traf genau auf 'Shoubi', das in einem eigenartigen Licht zu leuchten begann, während der Angreifer versuchte, Leana niederzudrücken. Isolde sah verwirrt auf das Shinken, das etwas wie Freude auszustrahlen schien, während Leana stur in die Augen des Ninja starrte. Für einen kurzen Moment öffnete Leana ihrem Shinjuu ihre Gedanken wieder, worauf Isolde von einem Strudel aus Ärger, Wut, Sehnsucht und Überraschung gepackt wurde. Aber inmitten dieses Maelstroms konnte sie ganz deutlich das lächelnde Gesicht Zetsus ausmachen, das sich auf das des fremden Ninja legte. Bedeutet das...? Leana schloss die Verbindung wieder, schlagartig verschwanden all diese Gefühle und ließen Isolde gestrandet am Ufer der Verwirrung zurück. Allerdings ließ sie sich nicht allzuviel Zeit dort, sondern konzentrierte sich sofort auf das Schwert des Ninja. Unüblicherweise trug er kein Kurzschwert oder eine andere typische Waffe, sondern tatsächlich ein Katana, dessen Klinge einen kaum wahrnehmbaren silbernen Glanz verbreitete. Es fühlte sich nicht an wie 'Gyouten' und gleichzeitig doch, als wäre es lediglich ein kleines Stück des großen Ganzen, das verlorengegangen war. Der aufglühende Orichalcum-Name an Leanas Arm lenkte Isoldes Blick wieder auf ihre Meisterin. Sie erinnerte sich wieder an den Eternal Oath, den Leana und Zetsu abgelegt hatten und der sie selbst nach dem Tod immer wieder zusammenführen sollte, doch... Ihr Blick ging zu dem Ninja. Zwar leuchteten die fremdartigen Runen auch an seinem Arm, aber es waren wesentlich weniger als es eigentlich sein sollten als wäre nicht nur seine Klinge sondern auch sein Name und damit er selbst nicht vollständig. Aber war so etwas überhaupt möglich? Isolde hatte noch nie zuvor von einem solchen Fall gehört. Aber vielleicht geschahen selbst in Eternal-Kreisen immer wieder neue Dinge, die man noch nie zuvor gesehen hatte. „Zetsu...“, sagte Leana leise, als ob sie nicht gerade noch im erbitterten Kräfteringen mit ihm stecken würde. Isolde wollte ihr eine Warnung zurufen, ihr sagen, dass das nicht Zetsu war – doch noch im selben Moment sprang der Ninja bereits von selbst zurück. In seinem Blick konnte Isolde Verwirrung lesen, doch das Gefühlsspektrum, das sie ertasten konnte, bot ihr nur gähnende Leere und keinerlei Aussage über das, was in ihm vorging. Kaum trennten sich 'Gyouten' und 'Shoubi' voneinander, erlöschte das Glühen beider Klingen abrupt, fast schon als seien sie enttäuscht. Isolde wollte sich schützend vor Leana stellen, doch sie wagte nicht, den Blickkontakt der beiden zu unterbrechen. Fast schon kam es ihr vor als würde sie sich an der aufgeladenen Luft verbrennen, wenn sie auch nur die Hand ausstrecken würde. Doch ein Geräusch von draußen, wandte Isoldes Aufmerksamkeit auf das Fenster. Offenbar waren einige der Fischer wach geworden und wollten nun wissen, was los war. Als Isolde wieder zu Leana sah, war der Ninja bereits spurlos verschwunden, ihre Meisterin steckte mit einem deutlich verwirrten Gesichtsausdruck ihr Shinken wieder ein. „Das war... Zetsu, oder?“, fragte die Shinkenträgerin leise, anscheinend in der Hoffnung, dass Isolde ihr zustimmen würde. Doch das Shinjuu, das keine Worte fand, um vernünftig zu erklären, wer oder was er war – vor allem weil sie sich da selbst noch nicht sicher war – schwieg, so dass Leana sich selbst ihre Antwort gab. Ihr Blick ging zur Tür, durch die der Ninja hereingekommen war, sehnsuchtsvoll blickte sie in das Stück Himmel, das sie dort hindurch sehen konnte. „Ich bin mir ganz sicher. Das war er...“ Isolde wusste genau, was Leana nun wollte, auch wenn sie es nicht aussprach. „Wir werden ihn suchen“, versprach das Shinjuu. „Und dann werdet ihr wieder zusammensein.“ Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie einen gespaltenen Zetsu wieder vervollständigen sollte. Aber vielleicht würden sie die Antworten unterwegs bekommen – zumindest wünschte das Shinjuu sich das, während Leana bereits in einer seltsamen Traumwelt versunken schien. Vorerst aber war es nun notwendig, die Fischer zu beruhigen und Leana dann wieder zum Schlafen zu bewegen und daran machte Isolde sich auch sofort. In Burg Nakahara fand derweil jemand anderes keinen Schlaf, egal wie weit die Zeit vorrückte. Erwartungsvoll stand Eos am Fenster und starrte in die Nacht, die lediglich vom Mond, den Sternen und einigen Fackeln im Burghof erleuchtet wurde. Auf einem der Wachtürme konnte sie ebenfalls Licht sehen, das mit Sicherheit von einem wachhabenden Soldaten stammte. Vom Hof her hörte sie auch leise Stimmen von anderen Soldaten, die sich während ihrer Patrouille unterhielten. Zu wissen, dass sie von so vielen gewissenhaften Männern geschützt wurde, gab ihr ein wohltuendes Gefühl der Sicherheit, auch wenn sie überzeugt war, sich im Notfall selbst verteidigen zu können. Nicht umsonst pflegte sie ihr kostbares Schwert täglich, das wie üblich in einem Wandschränkchen eingeschlossen war, während sie es nicht brauchte. Eine Bewegung holte sie in die Realität zurück, doch noch ehe sie sich fragen konnte, was das gewesen war, spürte sie die Präsenz des Ninja mit sich im Raum. Sie wandte sich ihm zu und bemerkte verwundert, dass er auf dem Boden kniete, etwas, was er sonst nie tat. Allgemein mangelte es ihm an Respekt – und auch an Worten. Er sprach nämlich so gut wie nie, nicht einmal seinen Namen hatte er ihr verraten, weswegen sie ihm kurzerhand einfach selbst einen gegeben hatte. „Hyperion, was ist los?“ Genau wie ihr Name war das ein sehr ungewöhnlicher für das hiesige Volk, doch sie empfand ihn als äußerst passend für ihn, auch wenn sie nicht wusste, weswegen. Es war einfach... ein Gefühl. Wie erwartet antwortete er nicht, doch anhand seiner demütigen Körperhaltung ahnte sie bereits, was geschehen war. „Du hast die Fischer nicht getötet, stimmt's?“ Er neigte den Kopf ein wenig, was einer Zustimmung gleichzusetzen war. „Hast du wenigstens die ewige Rose gesehen?“, fragte sie weiter, immer noch lächelnd. Dieses Mal gab er ein zustimmendes Geräusch von sich, worauf sich Eos' Miene merklich aufhellte. „Oh, also hatte ich recht und sie kennt diesen... Zetsu?“ Es gab etwas, das Hyperion und Eos verband – und das waren wiederkehrende Träume in denen sie von den anderen Beteiligten stets Zetsu genannt wurden. Eos hatte es sich zur Aufgabe gemacht, herauszufinden, was dahintersteckte und diese Eternal war offenbar der Schlüssel dazu. „Nun gut, vergessen wir die Fischer erst einmal. Die können wir auch später noch bestrafen, wenn ich in der Stimmung dazu bin.“ Ihr fröhlicher Tonfall schien ihre ernsten Worte zu verspotten, doch sie hielt sich auch nicht lange daran auf. „Hyperion, ich möchte, dass du die Ewige Rose ab morgen beobachtest. Tu ihr nichts, lass sie nicht wissen, dass du da bist – beobachte sie einfach nur und melde mir jede ihrer Bewegungen. Zum gegebenen Zeitpunkt werde ich dir dann neue Instruktionen geben. Verstanden?“ Er reagierte zuerst nicht, weswegen sie schon ansetzte, um ihren Befehl zu wiederholen, doch schließlich neigte er doch noch den Kopf, was sie ein wenig verwunderte. Sonst musste er nicht erst über seine Befehle nachdenken. Bedeutete das nun, dass ihm dieser missfiel? Statt ihn danach zu fragen, gab sie ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er sich nun ausruhen gehen könne, was er auch sofort tat. Sie dagegen sah wieder zum Fenster hinaus, wo sich am Horizont bereits der Sonnenaufgang ankündigte. Ewige Rose~ Ich werde hinter deine Geschichte kommen und damit mein eigenes Geheimnis lüften, wart's nur ab. Sie lachte noch einmal leise, dann wandte sie sich ab, um sich einen neuen Kimono anzuziehen und den Tag zu begrüßen. Kapitel 4: Wem man alles beim Essen begegnet -------------------------------------------- Als die Stadt in Sichtweite rückte, atmete Isolde erleichtert auf. Der Weg über die Ebene war nicht anstrengend gewesen, aber sie waren von allen Seiten für Angriffe offen gewesen – und nach dem Ereignis im Fischerdorf, war es gut möglich, dass sie noch einmal angegriffen werden würden. Doch stattdessen schienen sie unbeschadet ihrem ersten Ziel anzukommen. Das Shinjuu warf einen Blick zu seiner Meisterin. Leanas Haar hing nun offen über ihre Schulter, genau wie früher war es wieder auf Länge ihrer Ellbogen gekürzt – das war das erste gewesen, was Leana am Morgen gemacht hatte: Ihr Haar abschneiden. Für Isolde bedeutete dies, dass sie sich auf einen Kampf vorbereitete, auch wenn das Shinjuu diesem lieber aus dem Weg gegangen wäre. Am Allerliebsten hätte sie Fuu einfach zur Rede gestellt, mit Sicherheit wusste er mehr über diese Sache, immerhin war es seine Einladung gewesen, die sie hergeführt hatte. Doch von dem Magier war weit und breit nichts zu sehen oder zu hören. Da er es außerdem verstand, seine Aura vor ihr zu verbergen, machte sie sich gar nicht erst die Mühe, ihn darüber aufzuspüren. Auch auf den letzten Metern in die Stadt hinein, wurden sie nicht mehr angegriffen, was zumindest Isolde erleichterte. Leana dagegen schien sogar ein wenig enttäuscht zu sein. Mit Sicherheit hatte sie gehofft, den Ninja noch einmal zu sehen, nur um sicherzustellen, ob das von letzter Nacht nicht doch nur Einbildung gewesen war. Isolde dagegen war nicht sonderlich wild darauf, ihn noch einmal zu sehen, zumindest nicht, bevor sie nicht mehr über ihn und den unvollständigen Orichalcum-Namen wusste. Immerhin hatte er eindeutig versucht, Leana umzubringen und war geflohen, als dieses Vorhaben nicht von Erfolg gekrönt gewesen war. Sie seufzte innerlich. Es gab so vieles, was sie noch nicht verstand. Wenn Zetsu hier gewesen wäre, hätte sie Leanas Seite verlassen können, um mehr herauszufinden, doch sie wagte es nicht, ihre Meisterin allein zu lassen. Wer wusste schon, was in dieser Welt noch geschehen würde? Während sie durch die Stadt liefen, streifte Leanas desinteressierter Blick die um sie herumlaufenden Menschen, die den Fremden keine Beachtung zollten und auch die offenen Schiebetüren der Restaurants, in denen lachende Männer beisammen saßen. Es war eine Weile her, seit sie in einer wirklich belebten Stadt gewesen waren, aber Isolde hatte ohnehin nicht mit viel Begeisterung von Leana gerechnet. So war sie einfach nicht. Gerade deswegen wünschte sie sich Zetsu wieder herbei. Der Silberhaarige war stets gut gelaunt und recht einfach zu begeistern gewesen – meist hatte man ihm einfach etwas Schokolade geben müssen, um seine Augen leuchten zu lassen. Sie kicherte innerlich bei dem Gedanken, dass er oft wie ein kleines Kind gewirkt hatte und wurde sofort wieder betrübt, als sie sich daran erinnerte, dass er nicht mehr da war. In Gedanken versunken folgte sie Leana weiter, die zielstrebig auf eine Ramen-Bude zusteuerte. Offensichtlich hatte sie Hunger, was ihr Shinjuu nur zu gut verstehen konnte. Seit der Fischsuppe am Abend zuvor hatte sie nichts mehr zu sich genommen, selbst auf das Frühstück hatte sie verzichtet, um zeitig aufzubrechen. Fragte sich nur, wie sie das Essen bezahlen sollten, immerhin besaßen sie keinerlei Geld in dieser Währung. Doch je näher sie der Ramen-Bude kamen desto intensiver wurde ein warnendes Prickeln in Isoldes Inneren. Zwar konnte sie nicht genau sagen, wer da auf sie warten würde, doch mit Sicherheit war davon auszugehen, dass es ein Shinkenträger war... oder zumindest etwas Ähnliches. Das ausgehende Mana flackerte und wand sich unter Isoldes Versuch, es zu identifizieren, so dass sie es bald wieder aufgab und sich dafür auf einen Angriff vorbereitete. Vielleicht war das auch der Grund, warum Leana auf diesen Ort zustrebte? Vielleicht war es sogar Fuu, der sie dort erwartete? Gespannt fegte Isolde die Tücher am Eingang beiseite, um die Bude zu betreten – doch ihr Lächeln gefror augenblicklich auf ihrem Gesicht, als sie die Person hinter dem Tresen erspähte. Das Mädchen, das dort emsig umherwuselte, um dem einzigen Gast mit einem Lächeln seine Bestellung zu reichen, war ihr durchaus wohlbekannt. Dafür reichte ein Blick in ihre rotbraunen Augen oder ein kurzes Streifen ihres fliederfarbenen Haares, das keck unter einem Kopftuch hervorlugte. D-das kann nicht sein... Leana schien ebenso fassungslos, ihre Hand verweilte oberhalb ihrer Schulter, um das Tuch von ihrem Kopf fernzuhalten. Als es den neuen Gästen gewahr wurde, wandte das Mädchen sich ihnen lächelnd zu. „Bitte, kommt herein~ Ihr müsst nicht draußen stehenbleiben.“ Mit einer einladenden Geste deutete sie auf zwei freie Sitzplätze direkt am Tresen. Isolde erwachte zuerst aus ihrer Starre und schob Leana hinüber. Dabei huschte ihr Blick über die anderen Stühle, von denen allerdings nur noch einer besetzt war. Es war ein junger Mann mit dunkelbraunem, fast schwarzem Haar, der mit unberührter Miene sein Ramen aß, das Katana an seiner Hüfte zog sofort den Blick des Shinjuu auf sich. Ob er auch einer der Samurai war? Er trug zwar keine Rüstung, aber im Gegensatz zu den anderen Stadtbewohnern trug er auch keinen Kimono, sondern eine schwarze Uniform, so dass er genau wie Leana und Isolde herausstach. Als er den Blick des Shinjuu auf sich spürte, blickte er auf. Seine Augen verharrten direkt auf Leanas Shinken – und sämtliche Farbe verließ sein Gesicht. Hastig wandte er sich wieder ab und winkte das Mädchen hinter dem Tresen zu sich. Er gab ihr zu verstehen, dass sie sich zu ihm beugen sollte und kaum hatte sie das getan, flüsterte er ihr eilig etwas zu. Da seine Augen dabei immer wieder zu ihnen wanderten, selbst als sie sich bereits gesetzt hatten, wusste Isolde sofort, dass es etwas mit ihnen zu tun hatte. Sie versuchte, an seinen Lippen abzulesen, was er sagte, doch er lehnte sich bereits wieder zurück und ließ das Mädchen wieder ihre Arbeit tun – indem sie sowohl Isolde als auch Leana ein Glas mit Wasser vorsetzte. „Wir haben aber noch gar nichts bestellt“, erwiderte Isolde, die immer noch ein wenig damit haderte, wie sie etwas bezahlen sollten. „Das geht schon in Ordnung“, erwiderte das Mädchen. „Yori-sama übernimmt Eure Rechnung heute.“ Dabei deutete sie zu dem Mann hinüber, der sich wieder seinem Ramen zugewandt hatte und Isoldes misstrauischen Blick ignorierte. „Warum sollte er das tun?“ Das Mädchen lachte leise. „Er ist der Berater von Eos-dono und möchte euch beide als Gäste im Land begrüßen.“ „Woher weiß er, dass wir hier neu sind?“, fragte Isolde, immer noch mit einem extrem misstrauischen Unterton in der Stimme. Doch statt dem Mädchen war es dieses Mal Yori, der antwortete: „Das Shinken der jungen Dame hat es mir verraten. Es gibt in diesem Land keine Shinkenträger, also müsst ihr Reisende sein – und da ich bislang nichts von euch gehört habe, müsst ihr neu hier sein.“ Natürlich konnte Isolde nicht ahnen, dass er bereits von ihnen gehört hatte, doch ihr Misstrauen schwand ohnehin nicht, dafür waren ihre Sinne zu fein und ihre Intelligenz zu ausgeprägt. Dieser Mann verbarg etwas – und da er der Berater dieser Eos war, steckte er mit Sicherheit auch mit ihr unter einer Decke und damit auch mit diesem Samurai, dem sie begegnet waren. Er musste also bereits etwas von Leana gehört haben. Ob er auch über Shinjuu Bescheid wusste? Um sicherzugehen, nahm sie einfach an, dass er das nicht tat und sträubte sich daher auch nicht gegen die randvoll gefüllte Schüssel mit Ramen, die ihr von der Bedienung vorgesetzt wurde. „Danke, Nanashi“, sagte sie gedankenverloren – und merkte gleich darauf, wie das Mädchen stutzte. „Uhm, kennen wir uns vielleicht?“, fragte Nanashi verwirrt. Isolde schüttelte hastig mit dem Kopf. „Nein – du erinnerst mich nur an ein kleines Mädchen, das ich mal kannte.“ Und nicht leiden konnte. Im Prinzip war Nanashi eigentlich ein sehr gutes Shinjuu gewesen, das sich stets um alle Belange ihres Meisters Zetsu gekümmert hatte – aber dabei war sie nach Isoldes Geschmack ein wenig zu sehr auf ihn fixiert gewesen. Zu ihrer Erleichterung war er aber nicht darauf eingegangen. Nun, zumindest nicht mehr seit... „Ah, ich verstehe“, sagte Nanashi lächelnd, wünschte den beiden einen guten Appetit und kümmerte sich dann wieder um ihre Arbeit. Leana konzentrierte sich längst auf ihr Essen und schlang die Nudeln und anschließend die Brühe in einem erstaunlichen Tempo hinunter. Isolde konnte über diesen Versuch des Frustessens nur staunen – oder war es möglicherweise ein Fluchtversuch? Kaum war ihre Schüssel leer, sprang Leana auf und verließ die Bude wieder. Isolde folgte ihr nicht, immerhin konnte sie anhand ihrer Verbindung spüren, dass sie nicht sonderlich weit ging. Vermutlich brauchte sie nur einmal etwas Zeit für sich, nachdem sie so unvermittelt auf Nanashi getroffen war. „Ich hoffe, es hat ihr geschmeckt“, sagte die Bedienung besorgt, während sie Leana hinterhersah. „Oh, bestimmt“, beruhigte Isolde sie sofort. „Sie ist derzeit nur sehr durch den Wind, wir hatten eine anstrengende Reise.“ Sie biss sich auf die Zunge, da sie einen Moment befürchtete, dass Nanashi fragen würde, woher sie kommen würden, doch stattdessen nickte das Mädchen nur lächelnd und konzentrierte sich wieder auf die Arbeit. Auch Yori schien keinerlei Interesse an dem Ursprung ihrer Reise zu haben, was Isoldes Verdacht, dass er ganz genau wusste, wer sie waren, nur bestätigte. Immerhin sollte doch gerade er, als Berater der Präfektin, Interesse daran haben, woher Landesbesucher kamen, besonders wenn sie ein Shinken trugen. Wieder einmal wünschte sie sich Fuu herbei, der mit Sicherheit mehr über diese Welt und die Menschen, die in ihr lebten, wussten. Er hätte ihr so einige Fragen beantworten können, die sie derzeit beschäftigten. Aber sie wusste natürlich immer noch nicht, ob er bereits in dieser Welt war – und solange Yori in der Nähe war, würde sie auch nicht nach dem Magier fragen. Schließlich schob sie, ebenfalls fertig mit Essen, die leere Schüssel von sich und erhob sich von ihrem Stuhl. Mit einer knappen Verbeugung bedankte sie sich bei Yori für die Mahlzeit, doch er winkte nur hastig ab. „Das ist schon in Ordnung. Ich wünsche euch beiden eine schöne Zeit in diesem Land.“ Nach einem neuerlichen Dank verließ sie die Bude, um sich auf die Suche nach Leana zu machen. Yori sah ihr mit gerunzelter Stirn hinterher. Er war sich absolut sicher, dass die Frau mit dem Shinken die von Kobayashi erwähnte Kämpferin war – aber warum lebte sie noch? Er war doch Zeuge davon geworden, wie Hyperion ausgezogen war, um sie und die Fischer zu töten. Hatte der Ninja etwa versagt? Wenn ja, würde Eos' Laune bei seiner Rückkehr mit Sicherheit alles andere als gut sein. Vielleicht sollte er besser gar nicht erst wieder bei der Arbeit erscheinen. Was für ein lächerlicher Gedanke. Dafür mochte er seine Tätigkeit viel zu sehr, ungeachtet aller unangenehmen Dinge, die er dafür mitmachen musste. Aber vielleicht sollte er seinen möglicherweise letzten freien Tag erst einmal auskosten. Er wandte sich wieder der Bedienung zu. „Nanashi, noch eine Schüssel, bitte. Und mach sie bitte so voll wie möglich – ich fürchte, ich werde ab morgen nicht mehr so bald zum Essen kommen.“ Verwundert machte sie sich daran, seine Bestellung auszuführen, während er innerlich seufzte. Wäre ich doch nur Ramenbuden-Besitzer geworden... Kapitel 5: Auf dem Sklavenmarkt ------------------------------- Während Isolde noch ihre eigene Portion Ramen verspeiste, lief Leana ziellos durch die Straßen der Stadt, emsig bemüht, alles um sie herum zu ignorieren. So sehr sie auch Welten liebte, die an Japan, egal welcher Epoche, erinnerten, so sehr verletzten sie diese auch im Moment. All diese Menschen in Kimonos, die Samurai und die große Nanashi erinnerten sie schmerzhaft an Katsus Welt. Jene, in der sie und Zetsu erstmals... Hastig schob sie den Gedanken beiseite, als er ihr drohte, die Luft abzuschneiden. Sie wollte nicht mehr an ihn denken oder an ihn erinnert werden, es vergrößerte nur den Schmerz in ihrer Brust, wo einst ihr Herz gesessen haben musste. Inzwischen fühlte es sich wie ein kalter Stein an – und das empfand sie als gut so. Ohne Zetsu schien ihr alles so sinnlos. Die Ewigkeit, die Kämpfe, das Reisen... ohne Zetsus leuchtende Augen, sein Lachen und seine begeisterten Erklärungen bei Dingen, die sie nicht verstand, war alles leer und freudlos. Er hatte sie oft gefragt, ob sie es bereuen würde, für ihn ein Eternal geworden zu sein und ihre Vergangenheit weggeworfen zu haben. Früher war es von ihr stets verneint worden – doch inzwischen bereute sie es tatsächlich. Ihre Heimat war bei ihm gewesen und nun existierte sie nicht mehr. Es gab keinen Ort mehr, zu dem sie gehen könnte, keine Person, die sich an sie erinnerte. Es sei denn... Der Ninja der letzten Nacht fiel ihr wieder ein. Zwar war ihr ebenfalls aufgefallen, dass sein Orichalcum-Name nicht vollständig gewesen war, genausowenig wie sein Schwert, aber er war eindeutig ein Splitter von Zetsu gewesen. Und wenn es einen Splitter in dieser Welt gab, konnten die anderen auch nicht weit sein, davon war sie überzeugt. Oh, wie gern hätte sie diesen Ninja noch einmal getroffen, einfach um die nagende Sehnsucht in ihrem Inneren zu stillen, die sie wie Flammen zu verzehren schien, bis nichts mehr von ihr übrig war. Im Einklang mit diesem intensiven Gedanken, glühte 'Shoubi' für einen kurzen Moment auf als würde es eine Nachricht aussenden. Leana konnte die Stimme des Shinken nicht hören, da Isolde nicht bei ihr war, aber sie hoffte, dass zumindest ihr Schwert verstand, was sie empfand. Eine plötzliche, laute Stimme, riss sie aus ihren Gedanken. Fragend ließ sie den Blick schweifen und bemerkte schließlich, dass sie auf einer Art Markt gelandet war – nur dass auf diesem offenbar Menschen verkauft wurden. Auf mehreren, trotz des Sonnenlichts von Fackeln erleuchteten, Bühnen wurden gefesselte und oftmals nur in Lumpen gekleidete Menschen präsentiert, die Haut verdreckt und geschunden. Aufgrund der dunklen Hautfarben konnte Leana auf den ersten Blick erkennen, dass es sich hierbei samt und sonders um Menschen handeln musste, die aus einer anderen Gegend kamen als dieser Präfektur, in der selbst die Fischerinnen über eine helle Porzellanhaut verfügten. Grimmige Männer, ängstliche Frauen und sogar weinende Kinder wurden lautstark angepriesen, von ihrer Qualität geschwärmt und versichert, dass sie jeden Befehl ihres neuen Herrn – oder ihrer neuen Dame – ausführen würden. Angewidert runzelte sie ihre Stirn, ihre erste Gefühlsregung an diesem Tag. Am Liebsten hätte sie sich übergeben oder hätte diesen Ort auf direktem Weg wieder verlassen, doch die Menschenmenge drückte sie unbarmherzig weiter, immer tiefer in das Herz des Marktes, der mit Leben handelte und der sie immer weiter abstieß. Doch bei einer Bühne in der Mitte blieb auch sie neugierig stehen. Ein streng aussehender Mann mit gerunzelter Stirn hielt eine Kette fest in seinen Händen – und diese führte geradewegs zu einem Halsband, das um den Nacken eines jungen Mädchens geschlungen war. Mit großen, traurigen Augen blickte sie in die Zuschauermenge, das Grün ihrer Iris schien dabei viel dunkler zu sein als eigentlich üblich. Leanas Blick glitt über das gepflegte braune Haar – und erst bei genauerem Hinsehen entdeckte sie, dass das Mädchen auch über Hundeohren verfügte, die zu seinem Haar passten und betrübt auf seinem Kopf lagen, so dass sie kaum noch auszumachen waren. Ein prüfender Blick offenbarte der Shinkenträgerin dann tatsächlich einen buschigen Hundeschweif, der unter dem viel zu großen schwarzen Kimono hervorlugte, den das Mädchen trug. Was genau es war, konnte Leana nicht sagen, vermutlich war es das Gesamtbild der Kleinen, das sie sofort ansprach, aber ihr Beschützerinstinkt meldete sich lautstark und verlangte danach, sie zu retten. Sie versuchte zwar, diesen Instinkt zu ignorieren, doch als sie weitergehen wollte, ohne etwas zu tun, spürte sie einen scharfen Schmerz in ihrem Kopf, ausgelöst von ihrem Shinken, das offenbar der Meinung war, dass ein Ritter sich nicht einfach abwenden durfte. Leider musste Leana dem Schwert recht geben. Als Ritterin war es ihre Aufgabe, den Schwachen zu helfen und sie zu beschützen. Und wer konnte im Moment mehr Hilfe brauchen als dieses junge Mädchen, das unglücklich in die Menge sah? Fragt sich nur noch, was ich tun soll... Sie blickte über die anderen Menschen, die alle äußerst interessiert an dem Mädchen schienen, hörte, wie Frauen bereits ihr Geld zählten, um ihren Kindern mit diesem Haustier eine Freude zu machen und selbst ein Zirkusdirektor schien Interesse an ihr zu haben – zumindest erweckte seine bunte Kleidung und die viel zu große Feder auf seinem Hut den Eindruck, dass es sich bei ihm um den Mitarbeiter eines Zirkus handelte. Was immer sie also tun wollte, sie müsste es schnell tun, das wurde ihr in diesem Moment klar. Die Frage war nur, was sie tun sollte. Einfach die Bühne stürmen und das Mädchen schnappen, wäre mit Sicherheit effektiv – aber eben keine sonderlich gute Idee. Da Zetsu nicht mehr da war, musste sie sich selbst davon abhalten und stattdessen weiter überlegen. Erneut spürte sie, wie 'Shoubi' einen Impuls aussendete – und im selben Moment schien ihr der Zufall zur Hilfe zu kommen. Etwas flog mit Wucht gegen eines der zahlreichen Fässer, die auf den Bühnen standen und ganz offenbar Lampenöl enthielten, das sich sogleich zähflüssig über die hölzernen Bretter ergoss. Der Mann, der neben dem kleinen Mädchen stand, runzelte wütend seine Stirn und rief seinen Untergebenen einen Befehl zu, vermutlich, damit diese das Öl wieder wegwischten, ehe etwas geschah. Doch noch bevor einer von ihnen reagieren konnte, landete ein brennender Pfeil mitten im ausgelaufenen Öl, das sich rasend schnell entzündete. Während die Menschen bereits panisch umherzulaufen begannen und erschrockene Schreie von sich gaben, blickte Leana verdutzt auf das Feuer. Es war genau zur richtigen Zeit gekommen als ob jemand gewusst hätte, dass sie Hilfe brauchte und ihr eine Hand gereicht hatte. Doch als sie sich umsah, konnte sie niemanden entdecken, der das getan haben könnte. Innerlich bedankte sie sich dennoch bei dieser Person, dann kletterte sie ohne weitere Umschweife auf die Bühne hinauf, die zur Hälfte bereits in Flammen stand, obwohl die Aussteller bereits emsig dabei waren, das Feuer mittels Decken zu ersticken, statt es mit Wasser noch weiter anzufachen. Immerhin waren sie nicht dumm, das würde Leana ein wenig Zeit verschaffen. Das Mädchen blickte ängstlich auf die zuckenden Flammen, die ihr immer wieder zu nahe zu kommen drohten. Ausweichen oder gar wegrennen konnte sie allerdings nicht, da der Mann ihre Kette zuvor an einem Balken befestigt hatte. Die Flammen leckten an dem Eisen und erhitzten es derart, dass allein der Versuch, es anzufassen, in Verbrennungen enden würde. Leana hatte glücklicherweise aber auch gar nicht vor, diese Ketten auch nur mit dem Fingernagel zu berühren. Stattdessen zog sie 'Shoubi' hervor und zerteilte das Metall als ob es aus Butter wäre. Das Mädchen blickte Leana erstaunt an als könne sie es noch nicht begreifen, doch langsam nahm die Freude die Oberhand in ihrem Inneren – und das zeigte sich nicht nur auf ihrem Gesicht, das sich langsam aufhellte, sondern auch an ihren braunen Ohren, die sich ebenfalls schleichend aufrichteten. Allerdings ging das für Leana viel zu träge, weswegen sie gar nicht erst darauf hinwies, dass es nun angemessen wäre, zu fliehen, sondern das Mädchen wortlos auf ihre Arme nahm und davontrug. Zu Leanas Glück waren die Aussteller des Mädchens immer noch damit beschäftigt, das Feuer zu löschen, während alle anderen gerade ihre kostbare Ware in Sicherheit brachten. Mit sicherem, raschen Schritt bahnte Leana sich ihren Weg durch die panische Menge, den Blick stur nach vorne gerichtet und ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob ihre Tat eben wirklich gut gewesen war. Der wedelnde Schwanz des Mädchens verriet ihr auch so, dass sie genau richtig gehandelt hatte. Erst zwei Straßen von dem Sklavenmarkt entfernt hielt Leana wieder inne. Die anderen Menschen beachteten sie nicht, sondern gingen neugierig in Richtung des Marktes, von dem dunkler Qualm aufstieg. Leana schüttelte über dieses Verhalten nur verständnislos den Kopf – die, die auf dem Markt waren, wollten von dort weg und alle anderen wollten dorthin, um herauszufinden, was los war. Wie lächerlich. In einer Seitengasse setzte sie das Mädchen wieder ab, das sie mit großen Augen dankbar anstrahlte und immer wieder mit dem Schweif wedelte. „Alles okay?“, fragte Leana. Da das Mädchen offenbar nicht verstand, was es gefragt worden war, versuchte Leana es mit einer anderen Formulierung: „Bist du in Ordnung?“ Sie nickte sofort strahlend, worauf Leana erleichtert ausatmete. „Gut. Dann geh jetzt nach Hause, ja?“ Ohne auf eine weitere Antwort zu warten, wandte Leana sich ab, um sich wieder mit Isolde zu treffen und darüber zu sprechen, wohin die Reise nun gehen sollte. Doch ohne sich umzusehen, spürte sie, wie jemand ihr folgte. Als sie herumfuhr, entdeckte sie das kleine Mädchen, das sie erwartungsvoll lächelnd ansah. „Ich habe dir doch gesagt, dass du nach Hause gehen sollst“, seufzte Leana. Doch da das Mädchen immer noch nur lächelte, kniete sie sich hin, um auf Augenhöhe mit ihr zu sein. „Gut, mal anders... wie heißt du?“ Immerhin bestand die Möglichkeit, dass dieses Mädchen sie einfach nur nicht verstand und glaubte, sie müsste ihr nun folgen, auch wenn Leana das nicht hoffen wollte. Es reichte doch, wenn Isolde in ihrer Nähe war, ein kleines Mädchen würde sie da nur stören – auch wenn sie Kinder in gewisser Weise mochte. Aber zumindest, dass keine Sprachbarriere vorhanden war, wurde Leana klar, als das Mädchen lächelnd antwortete: „Ylva! Wie heißt du?“ „Leana“, antwortete sie fast schon automatisch. „Danke für deine Hilfe, Leana~“ Die Shinkenträgerin nickte zufrieden. „Gut, du verstehst mich also. Warum gehst du also nicht nach Hause? Bestimmt macht man sich schon Sorgen um dich.“ Leana hoffte, das Thema damit abschließen zu können und endlich weiter zu kommen – doch Ylvas Blick trübte sich sofort. „Ich würde ja gern... aber das geht nicht.“ Verlegen nuschelnd blickte sie auf ihre Füße, mit denen sie auf dem Boden scharrte. „Und warum nicht?“, fragte Leana genervt seufzend. Warum konnte nicht einfach mal etwas so funktionieren, wie es sollte? Warum musste sich ihr immer eine neue Hürde in den Weg stellen? „Ich bin eine Inugami“, erklärte das Mädchen sofort stolz. „Wir leben auf den Inseln westlich des Festlandes, von dort bin ich mit einem Schiff heimlich hergekommen.“ Doch urplötzlich schwand ihre Begeisterung, ihr Gesicht wirkte bedrückt. „Aber kaum war ich an Land, wurde ich von bösen Menschen entführt und hierher gebracht... ich weiß nicht mal, wo ich bin.“ Ihre großen Augen füllten sich mit Tränen, mit bebender Hand griff sie nach Leanas Arm – deren Widerstand bröckelnd in sich zusammenfiel. Wie sollte sie dieses Mädchen – das immer noch auf Hilfe angewiesen war – einfach nur hier stehenlassen? Nein, das konnte sie einfach nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren. Sie würde Ylva einfach mit sich nehmen und sie wieder zu dem Hafen bringen, an dem sie angekommen war. Von dort aus würde sie mit einem Schiff wieder nach Hause fahren können und Leana hätte ihrer Pflicht als Ritterin genüge getan. Beruhigend strich Leana dem Mädchen über den Kopf. „Keine Sorge, ich werde dir helfen, wieder nach Hause zu kommen.“ Sofort strahlte Ylva wieder – die Stimmungsschwankungen des Mädchens überraschten die Shinkenträgerin langsam nicht mehr, sondern ließen sie die Stirn runzeln – und umarmte ihren Gegenüber. „Danke, Leana!“ Lautlos seufzend erwiderte die Shinkenträgerin die Umarmung und hoffte dabei, dass Inugami ihre Dankbarkeit nicht möglicherweise mit ewiger Treue ausdrückten. So süß Ylva auch schien, aber die Aussicht, sie möglicherweise nie wieder loszuwerden, verstimmte Leana und ließ es sie bereits ein wenig bereuen, das Mädchen gerettet zu haben. Immerhin roch das nach einer recht unruhigen Zeit mit einem viel zu gut gelaunten halben Hund. Aber andererseits... sie stellte sich vor, wie zufrieden und stolz Zetsu sie anlächeln und ihr zunicken würde, falls er ebenfalls hier wäre und das ließ sie ihre Meinung direkt wieder überdenken. Immerhin... habe ich das Gefühl, etwas Gutes zu tun... Kapitel 6: Banditen ------------------- Zu Leanas Unglück war Isolde geradezu begeistert von Ylva – und diese auch von dem Shinjuu. Allerdings war es nicht sonderlich unangenehm mit dem kleinen Mädchen zu reisen, zumindest wesentlich weniger als Leana befürchtet hätte. Sie beklagte sich nicht, stellte keine nervigen und aufdringlichen Fragen und war alles in allem einfach nur da, ohne dass man sie großartig bemerkte. Auch nicht, als sie ihre Reise wieder fortsetzten und die Stadt verließen. Die Straße auf der sie liefen, war lediglich ein besserer Feldweg, auf dem unzählige Huf- und Fußabdrücke zu sehen waren, die sich in den Jahren so tief in die Erde gebohrt hatten, dass sie nicht mehr wegzugehen schien, genausowenig wie die gleichmäßig verlaufenden tiefen Rillen, die parallel zueinander verliefen und verrieten, dass hier oft Wagen entlangfuhren. Leana konnte allerdings nicht anders als sich dabei an die weiterentwickelten Welten und die Straßenbahnen zu erinnern. Zwar hoben sich Schienen vom Boden ab, statt sich hineinzudrücken, doch musste sie aufgrund der Linearität unweigerlich diesen Vergleich ziehen. Mit ihren Augen folgte sie den Spuren, bis sie diese aus dem Blick verlor und fragte sich, wohin sie wohl führen mögen. Und das brachte sie gleich auf ein recht ähnliches Thema: „Isolde, wohin gehen wir eigentlich?“ Die Fischer hatten ihrem Shinjuu vor dem Aufbruch gesagt, wohin sie gehen sollten, wenn sie etwas über diesen Ninja wissen wollten, Leana war zu beschäftigt damit gewesen, sich das Haar zu schneiden – außerdem war sie der festen Überzeugung, dass es besser war, Isolde solche Dinge zu sagen, da das Shinjuu sich das eher merken und auch den richtigen Weg finden würde. Das Shinjuu schmunzelte leicht, ein wenig spöttisch gar, aber Leana kümmerte sich nicht weiter darum, da Isolde bereits antwortete: „Zu einem Ninja-Clan, die Hi-Ninja, um genau zu sein. Dazu müssen wir das Dorf Himura aufsuchen, dort kann man uns vielleicht etwas über deinen Angreifer erzählen. Es dürfte sich hinter diesem Berg befinden.“ Mit diesen Worten deutete sie auf einen Gebirgszug, viele Meter von ihnen entfernt, aber stetig näherkommend. „Müssen wir etwa klettern?“, fragte Leana wenig begeistert. Zwar trug Isolde keinerlei Ausrüstung dafür mit sich, doch konnte man sich bei diesem Shinjuu nie sonderlich sicher sein. Oft überraschte sie einen erst im letzten Moment, wenn es schon zu spät war, sie zu einem anderen Plan zu überreden. Doch Isolde beruhigte sie bereits, ehe sie sich aufregen konnte. „Keine Sorge, müssen wir nicht. Ein Pfad führt über den Berg und zu diesem Dorf.“ Leana atmete leicht auf, Schweigen kehrte wieder in die Gruppe ein. Ylva nutzte die Gelegenheit, um das Wort zu ergreifen: „Dann gibt es die Hi-Ninja wirklich?“ Offenbar hatte sie die Frage schon nach der ersten Erwähnung stellen wollen, sich aber erst getraut, als Stille eingetreten war, um die beiden Älteren nicht zu unterbrechen. Isolde wandte sich der Kleinen lächelnd zu. „Ich gehe davon aus. Immerhin wurde mir das gesagt. Kennst du sie denn?“ Es war die perfekte Gelegenheit, mehr über diese Ninja zu erfahren, bislang hatte sie nämlich keinerlei großartigen Informationen über sie einholen können. Ylva nickte begeistert, ihr Schwanz wedelte im Einklang. „Sie sind auch ein Grund, warum ich auf's Festland gekommen bin. Sie sollen echt toll sein!“ Ihre Augen leuchteten voller Vorfreude, aber Isolde hatte so das Gefühl, dass sie aus dem leicht naiven Mädchen nicht sonderlich viel mehr herauskriegen würde, weswegen sie eine andere Frage stellte: „Warum bist du überhaupt hergekommen?“ Sofort wurde Ylva wieder ernst. „Da, wo ich lebe, gibt es nur Inugami wie mich. Echte Menschen kannte ich bislang nur aus Geschichten – ich wollte sie aber mal sehen, darum hab ich mich auf dieses Schiff geschlichen.“ „Gab es auf dem denn keine Menschen?“ Ylva schüttelte den Kopf. „Das Schiff gehört einem anderen Inugami, er handelt aber mit Menschen... also, er verkauft ihnen Dinge, nicht die Menschen selber~“ Mit Grausen erinnerte sie sich wieder an den Sklavenmarkt zurück, ihre Stimmung schlug aber sofort wieder um. „Ich wollte neben normalen Menschen auch Hi-Ninja sehen. Sie sollen viel stärker, schneller und schlauer sein als andere Menschen.“ Leana versuchte, ihr karges Wissen über Ninja zusammenzukratzen, um herauszufinden, ob das ein allgemeiner Zustand bei diesen war, scheiterte allerdings daran. Der Gedanke an Ninja brachte sie wieder auf den Angreifer der letzten Nacht, der ein Teil von Zetsu sein musste. Erneut erwachte die Sehnsucht in ihr und auch das schlechte Gewissen, doch sie verdrängte beides hastig, ehe Isolde etwas davon merken würde. Das Shinjuu warf ihr bereits wieder besorgte Blicke zu, die Leana nur gleichgültig erwiderte. Schweigend liefen sie weiter, immer noch ohne zu bemerken, dass ihnen jemand wie ein Schatten folgte. Das kühle Metall des Schwertes ruhte auf Eos' Stirn, während die Präfektin den Stimmen lauschte, die sie durch ihre Verbindung zu Hyperion und dessen Klinge auffangen konnte. Sie vertraute dem Ninja, keine Frage, aber gleichzeitig wusste sie auch, dass Kontrolle um einiges besser als bloßes Vertrauen war. Kontrolle ließ einen immerhin stets die Oberhand über eine Situation behalten und auch wenn sie nicht wusste, warum ihr das so wichtig war, weigerte sie sich, die Zügel aus der Hand zu legen. In diesem eben belauschte Gespräch hatte sich ihr eine neue Möglichkeit gegeben, zu bestimmen, was geschehen sollte. Ohne das Schwert von ihrer Stirn zu lösen, konzentrierte sie sich auf einen neuen Auftrag für Hyperion. Er sollte die Seite der Ewigen Rose erst einmal verlassen, eigentlich eher für sie vorgehen, um ein nettes Geschenk für sie in Himura vorzubereiten. Wie der Zufall es so wollte traf sich dieser Plan mit einem ihrer anderen, war ihr der Hi-Clan doch schon lange ein Dorn im Auge gewesen. Obwohl deren Dorf offiziell noch in ihrer Präfektur lag, erledigten diese Ninja zahllose Aufträge für ihre Feinde, tötete kostbare Mitglieder ihres Militärs und stahl ihr unbezahlbare Güter aus ihren Lagerhäusern. Dafür wäre schon lange eine Strafe vonnöten gewesen, doch bislang waren stets wichtigere Dinge dazwischengekommen. Nun da Hyperion sich in der Nähe des Dorfes befand und es außerdem das nächste Ziel der Rose war, war dieser Clan schlagartig mehrere Plätze auf der Dringlichkeits-Skala nach oben gesprungen. Diese Gelegenheit würde sie sich nicht wieder entgehen lassen. Ihr Schwert 'Hiashi' glühte für einen kurzen Moment auf, als es ihren Willen an Hyperion übermittelt hatte, dann ließ sie es sinken. Ihre Arme zitterten, als sie die Klinge wieder an den für sie bestimmten Platz zurücklegte. Erschöpft sank sie zu Boden, wo sie, den Kopf auf den Teppich gelegt, verharrte. Sie schloss ihr Auge, um sich auszuruhen, nur ein wenig, nur bis zum Abendessen... Noch ehe sie diesen Gedanken beenden konnte, war sie bereits tief und fest eingeschlafen. Angenehmerweise war der Bergpfad, der sie nach Himura bringen sollte, nicht sonderlich steil. Eine leichte Steigung, die kaum in den Beinen zu spüren war, verbunden mit einem erdigen Untergrund, viel mehr konnte man sich bei einer solchen Strecke doch nicht wünschen, oder? Ylva schwieg und lief vergnügt neben ihnen her, nichts deutete darauf hin, dass es ihr zu anstrengend wurde, was Leana darin bestärkte, dass es keine furchtbar schlechte Idee gewesen war, das Mädchen mit sich reisen zu lassen. Dennoch verlief die Reise immer noch schweigend. Für Leana gab es ohnehin keinen Grund zu reden, Isolde schien sich auf etwas anderes zu konzentrieren und Ylva war ganz offensichtlich damit beschäftigt, die Bergpflanzen zu bewundern. Plötzlich hielt Isolde inne und brachte die anderen beiden dazu, das Gleiche zu tun. Vor ihnen gabelte sich der Weg. Ein Pfad führte weiter geradeaus und den Berg wieder hinunter, ein weiterer führte nach oben. Leana glaubte, dass Isolde nur stehenblieb, um sich zu vergewissern, welcher Weg der richtige war, doch kaum hielten sie inne, konnte sie auch die drohende Gefahr spüren. Schützend stellten Isolde und Leana sich so hin, dass Ylva zwischen ihnen stand. Das Mädchen blickte sich verwirrt um. Im nächsten Moment war das Trio von zehn grimmig aussehenden Männern umstellt. Die Krummsäbel in ihren Händen blitzten im Sonnenlicht und sagten den Frauen, dass sie nicht nur nach dem Weg fragen wollten. Einer der Männer schmunzelte. „Was haben wir denn da? Drei Frauen, die allein durch die Berge wandern – und nicht mal den Wegzoll bezahlen wollen.“ Das schloss er wohl daraus, dass sowohl Leana als auch Isolde nach ihren Waffen gegriffen hatten. „Fein, dieses Spiel können wir spielen“, sagte der Mann, der offenbar als Anführer der Gruppe fungierte. „Aber beklagt euch nicht, wenn ihr am Ende sterbt.“ Damit stürzten sich bereits zwei der Männer auf sie, doch beide wurden von Leana und Isolde zurückgeworfen, ohne die Angreifer zu verletzen. Selbst die nachfolgenden vier Banditen lagen nach wenigen Bruchteilen von Sekunden bereits besiegt in den Sträuchern am Rand des Weges. Die Blicke der verbliebenen Banditen fixierten sich auf Leanas Shinken, ihre Gesichter wurden augenblicklich bleich. Isolde runzelte die Stirn. Wissen die etwa, was ein Shinken ist? Der Anführer fuhr herum und lief eilig davon, während die anderen beiden sich so hinstellten, dass keiner ihm einfach folgen könnte, auch wenn weder Isolde noch Leana den Drang dazu hatten. „Wir haben überlegt, euch nichts zu tun“, schnarrte einer der Verbliebenden. „Aber bei Shinkenträgern sind wir nicht so kulant.“ „Interessiert mich nicht“, erwiderte Leana kühl. „Genausowenig wie ihr. Wir wollen nur über diesen Berg, das ist alles.“ „Lass uns gehen“, sagte Isolde. Da die beiden Banditen in der Richtung standen, die sie nicht gehen mussten, stimmte Leana zu, steckte das Shinken wieder ein und wandte sich zum Gehen. Die Männer bewegten sich kein Stück, verfolgten ihre Bewegungen nur mit den Augen und blickten ihnen hinterher, während der Pfad der drei Reisenden nach unten verlief. „Das war seltsam“, urteilte Ylva. „Warum ist der eine Mann weggerannt? Und wo ist der Schinken, von dem der andere geredet hat?“ Isolde lachte leise. „Die waren einfach mit uns überfordert – und der Schinken... das erkläre ich dir später, wenn wir eine Rast machen.“ Das Mädchen nickte verstehend und lief wortlos weiter. Leana dagegen konnte sich nicht derart leicht beruhigen. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zu dem weggelaufenen Anführer. Ihr schien es nicht so gewesen, dass er Angst gehabt hätte, eher schien er einen Plan zu haben, den er durchführen wollte. Fragte sich nur, was für ein Plan. War etwa ein anderer Shinkenträger ein Mitglied seiner Bande? Oder besaß er jemanden, der genau wie der Samurai zuvor mit Aura Photonen umgehen konnte? Noch während sie in Gedanken versunken war, hörte sie plötzlich Schritte hinter sich. Im ersten Moment glaubte sie, dass das nur Teil ihrer Einbildung wäre, da sie sich so sehr mit dem geflohenen Anführer auseinandersetzte, als Isolde ihr eine Warnung zurief. Automatisch fuhr Leana herum und griff nach ihrem Shinken – allerdings viel zu spät, wie sie feststellte. Ein heißer, brennender Schmerz breitete sich von ihrer Brust auf den Rest ihres Körpers aus, setzte sich besonders auf ihrem Orichalcum-Namen fest und schien diesen wie Säure wegzuätzen. Sie konnte einen gellenden Schrei hören, der wie durch Watte bei ihr ankam, so dass sie im ersten Moment nicht einmal bemerkte, dass es sie war, die da schrie. Ihr fiebriger Blick fixierte sich erst auf den Banditenanführer, der sie siegessicher angrinste, dann erst entdeckte sie das, was er in seiner Hand hielt und auch in ihrer Brust steckte. Es war ein Zweig, der hell im Einklang mit ihren Schmerzen glühte und offenbar ihre Energie absorbierte, denn je schwächer sie sich zu fühlen begann desto größer und grüner wurden die Blätter. Einen solchen Zweig, viel kleiner aber, hatte sie schon einmal gesehen... irgendwo... Doch ehe sie sich daran erinnern konnte, wo das gewesen sein könnte oder wie man diesen Zweig nannte, gaben ihre Beine unter ihr nach. Langsam stürzte sie zu Boden, immer mehr dunkle Schleier fielen vor ihre Augen, die Schmerzen ließen langsam nach, ein dumpfes Pochen blieb zurück. Doch als die die Ohnmacht sie schließlich mit eiskalten Klauen umfing, verschwand auch das Pochen. Das Letzte, was sie sah, ehe sie endgültig das Bewusstsein verlor, war das lächelnde Gesicht von Zetsu, das langsam verblasste... dann war nichts mehr. Kapitel 7: Verlorene Liebe -------------------------- Es war dieser Tag... der, an dem alles endete. Er starb und mit ihm meine Vergangenheit und meine Zukunft und das nur, weil ich nicht schnell genug gewesen war, weil ich mich ablenken ließ. Als ich Anführerin der Rebellen geworden war, auch um Zetsu zu retten, war mir schnell klar geworden, warum bislang noch nichts im Land geschehen war. Gabriel war in seinen Aufgaben nicht hartnäckig genug, ließ zu, dass alle anderen ihre Arbeit schleifen ließen und seine Frau Leila bemutterte die anderen Mitglieder oftmals eher und ließ ihnen so manches durchgehen. Unter meiner Herrschaft straffte ich das Regiment rigoros und dennoch schien eine gewisse Art von Wärme durch, die zeigte, dass nichts hiervon böse gemeint war und ich keinesfalls mit Cinaed auf eine Stufe zu stellen war. Ich war keine Tyrannin, ich war lediglich eine verantwortungsvolle Führungsperson, die wusste, worauf es ankam. Mir kam es aber vor allem darauf an, Zetsu zu retten und dafür musste die Moral der Gruppe steigen, was ich auch mit leichter Hand schaffte. So wurden sämtliche meiner Anweisungen Folge geleistet, bis zu dem ersehnten Tag, an dem die Hinrichtung stattfinden und mein Plan greifen sollte. Hätte ich doch nur gewusst, was geschehen würde, ich hätte... Nun, immer der Reihe nach, ich darf mich nicht wieder in meiner Erinnerung selbst verwirren. Egal, wie oft ich mich erinnere, wie oft ich davon träume, immer wieder sehe ich, was ich falsch gemacht habe. Und doch kann ich nicht aufhören... Der Himmel war stahlgrau, als wir losritten. Für manchen hätte das ein schlechtes Omen dargestellt, mich erinnerte die Farbe nur an Zetsu. Seine Kleidung war genau in demselben Ton gefärbt. Doch während wir auf die Hauptstadt zuritten, blieb mir kaum Zeit dafür, in Sehnsucht zu schwelgen. Stattdessen hielt mich die Nostalgie fest in ihrem Griff und erinnerte mich mit dem Ritt auf dem Rücken eines Pferdes und meiner neuen Uniform an mein altes Leben, damals als ich noch Ritterin in der Rosenwelt gewesen war. Als ich es gewesen war, die Zetsu verlassen hatte, um ein Leben ohne ihn aufzunehmen – bis er gekommen war und ich mein altes Leben hinter mir ließ, um ein Eternal zu werden und immer an seiner Seite zu sein. Bereue ich diesen Schritt? Nein, das habe ich niemals. Nicht einmal jetzt, da ich ihn so sehr vermisse und auch nicht damals, als ich tatsächlich im Glauben war, dass er mich betrogen hätte. Er erfüllt mein Denken, mein Sein und ich weiß ganz genau, dass ich ohne ihn niemals auch nur ansatzweise so glücklich geworden wäre, wie ich es war, wenn er mich in seinen Armen hielt. Deswegen musste ich ihn retten, egal, was er getan hatte. Ich musste ihn retten, um ihm zu sagen, dass ich ihm vergab, weil ich zuvor nicht dazu gekommen war. Während des Ritts erteilte ich die letzte Aufgabe dem Mädchen, mit dem Zetsu mich betrogen haben sollte – als ich sie das erste Mal gesehen hatte, war mir bereits klar gewesen, dass da etwas nicht stimmen konnte. Egal, wie betrunken er gewesen wäre, ich war mir absolut sicher, dass Zetsu niemals mit einem Mädchen schlafen würde. Niemals. Aber das musste Zeit haben, bis alles vorbei war, solange würde ich einen ruhigen Kopf bewahren müssen. Cinaed war mit Sicherheit darauf vorbereitet, dass ich kommen würde, um diese Hinrichtung zu vereiteln, doch rechnete er bestimmt nicht mit meiner Überraschung. Letztendlich waren mir die Taktiken aus meiner Ausbildung doch nicht umsonst gelehrt worden. Ich war mir geradezu sicher, dass alles gutgehen und ich am Ende dieser Aktion wieder mit Zetsu davonreiten könnte – welch fatalem Irrtum ich da aufgesessen war. Zwar wusste jeder, was er zu tun hatte, so dass wir, kaum waren wir angekommen, den Plan in die Tat umsetzen konnten, doch kaum waren alle Mitglieder auseinander gelaufen, schwand meine Sicherheit und machte einer besorgniserregenden Unruhe Platz. Ich beschloss, mich nicht zu sehr darin einwickeln zu lassen, schob es auf die Tatsache, dass Shinken in dieser Stadt nicht benutzbar waren und zog mein Schwert, das ich von den Rebellen bekommen hatte, ehe ich mich auf in Richtung Schloss machte. Die Stadt war fast menschenleer, sicherlich wollte keiner das Spektakel auf dem Innenhof verpassen. Als ich daran dachte, bemerkte ich innerlich den seidenen Faden, an dem Zetsus Leben hing. Würde irgendetwas fehlschlagen, würde mein Plan nicht aufgehen, wäre sein Leben vorbei – und er würde mit Bedauern sterben, da war ich mir sicher. Seine Stimme bei seinem Geständnis hatte leicht gezittert, das tat sie sonst nie. Er war sonst immer selbstbewusst, komplett von sich überzeugt und brachte andere dazu, ebenso zu denken. Doch den Moment dieser Beichte... es war das erste Mal, dass Gyouten no Zetsu etwas wahrhaftig bereute und ich werde diesen Augenblick wohl nie vergessen, auch wenn ich inzwischen weiß, dass es wirklich nie passiert war. Das Mädchen hatte Zetsu hereingelegt – aber das hatte sie mir erst im Nachhinein, nach seinem Tod gestanden. Ich darf die Erinnerungen nicht wieder durcheinanderbringen... Während ich in Richtung Schloss lief und um Zetsus Leben bangte, schlug mein Herz bis zum Hals. Ich durfte nicht daran denken, dass etwas schiefgehen könnte, ich sagte mir damals, dass ich daran glauben müsste, dass alles gut ausgehen würde und ich beschwor ihn, auf mich zu warten, alles hinauszuzögern, falls es in seiner Macht stand. Vor dem Tor, das zum Schlosshof führte, blieb ich wieder stehen, um mich umzusehen. Es war ausgemacht worden, dass eine Gruppe mir hier eine Leiter verstecken sollte – ich musste sie nur schnell genug finden. Während ich an der Mauer entlanglief, überkam mich wieder diese ungute Vorahnung. Ich war nur durch diese Schicht aus Steinen von Zetsu getrennt und doch schien er mir plötzlich unerreichbar fern als ob etwas mit aller Macht an mir zu ziehen versuchte, um mich von dieser Mauer wegzubringen. Meine Brust schien sich zu verengen, drückte meine Lungen zusammen und ließ mich kaum noch zu Atem kommen. Nein!, versuchte ich, mich wieder in die Gegenwart zu holen. Zetsu! Der Gedanke an sein Lächeln, seine Stimme und selbst an sein Shinken gaben mir aber das Gefühl, als würden die Ketten in meinem Inneren gesprengt – doch warum glaubte ich in diesem Moment, zu sehen, wie er sich vor meinem inneren Auge in Funken auflöste? Oder ist das lediglich wieder eine durcheinandergebrachte Erinnerung? Argh, ich kann nicht einmal mehr meinen Träumen trauen. Ich fand die Leiter schließlich und kletterte erleichtert hinauf. Nun, da ich soweit gekommen war, sollte mich nichts mehr aufhalten – zumindest dachte ich so in diesem Moment. Wie ich erwartet hatte, war fast die gesamte Stadt auf diesem Hof versammelt, unzählige Menschen standen zwischen mir und der kleinen Bühne auf der Cinaed und mehrere Ritter standen – und zwischen ihnen, oh, er stach so sehr heraus, stand Zetsu. Den Rücken durchgestreckt, den Kopf trotz einiger Verletzungen stolz erhoben, der Blick voll von Spott und Häme. In diesem Moment hätte ich alles dafür gegeben, dass mein Plan aufgehen würde, nur damit ihm kein Schaden widerfuhr. „Eternal erwartet in dieser Welt den Tod“, sprach Cinaed. „Warst du dir dessen bewusst, als du dein Verbrechen zugegeben hast?“ „Aber sicher~“ Ich war wohl die einzig Anwesende, die das kaum merkliche Schwanken seiner Stimme wahrnahm. Er war nicht bereit zu sterben, auch wenn er in diesem Augenblick vorgab, es zu sein und ich wollte ihn nicht sterben lassen – aber ich war dazu gezwungen, zu warten, bis die Rebellen anfangen würden, den Plan in die Tat umzusetzen. Mit einem flauen Gefühl im Magen, hoffte ich, dass ich alle vollkommen richtig von dem Plan unterrichtet hatte und dass es bei jedem angekommen war – und dass keiner einfach beschloss, den Plan zu verwerfen, nur weil er nicht verstand, warum ich unbedingt Zetsu retten wollte. Nein, so durfte ich nicht denken, ich musste an sie alle glauben und hoffen, dass es gutgehen würde, etwas anderes blieb mir nicht übrig. „Dann werde ich das Urteil vollstrecken“, erklärte Cinaed. Ich ärgerte mich ein wenig über diesen Wichtigtuer, auch wenn ich mir bereits gedacht hatte, dass er sich selbst als Henker aufspielen würde. Ich war mir sicher, dass ihm das alles unbändiges Vergnügen bereitete – ich wollte nicht wissen, wie viele falsche Personen er bereits als Eternal beschuldigt hatte, nur um in den Genuss einer Hinrichtung zu kommen. „Hast du noch irgendwelche letzten Worte?“ Zetsus Lächeln wurde ein wenig breiter – und ich wusste einfach, dass er nun noch etwas absolut Bescheuertes sagen würde, was seine Coolness unterstreichen und ihm selbst versichern sollte, dass alles in Ordnung war. Ich behielt recht: „Ich hoffe, dass eines Tages ein paar nette Law-Eternal vorbeikommen und dir das Genick brechen.“ Selbst nach dem Faustschlag des Ritters neben ihm, brach Zetsus Lächeln nicht ab. Ich schüttelte mit dem Kopf. Solch ein Verhalten war absolut typisch für ihn – aber ich musste zugeben, dass er außerordentlich toll aussah, wie er geradezu mutig seinem Tod entgegenblickte. Aber um zu verhindern, dass dies wirklich geschah, musste ich weiter. Geduckt lief ich oberhalb der Mauer entlang, um hinter die Bühne zu kommen, damit Cinaed und Colin, der ebenfalls dort war, mich nicht sehen würden, wenn ich zuschlug. Dort verharrte ich und wartete auf den Auftritt meiner Verbündeten, meinen Blick nach wie vor auf die Bühne gerichtet als würde ich ein Theaterstück beobachten. Zetsu wurde auf die Knie niedergedrückt, sein Oberkörper ein wenig nach vorne gezwungen und der Pferdeschwanz unsanft zur Seite gefegt, um seinen Nacken freizulegen. Während Cinaed sich eine Axt reichen ließ, blickte Zetsu auf die Strähnen seines Haares, das über seine Schulter fiel – zumindest glaubte ich, dass er das tun würde. Von meiner Position aus konnte ich ihn nur von hinten sehen, was mir nicht erlaubte, in sein Gesicht zu blicken. Mein Herz schlug mir wieder bis zum Hals, das ungute Gefühl erfüllte mich erneut. Ich wusste einfach, dass etwas schiefgehen würde und eine seltsame Eingebung verriet mir auch, dass es genau in diesem Moment geschah. Für einen Augenblick glaubte ich, ein leises Kichern und das Geräusch eines Tambourins zu hören, doch ich schob es auf meinen aufgeregten Herzschlag und meine Einbildungskraft, die mir einen Streich spielte. Viel wichtiger war auch, was ich nicht hörte: Eine Explosion. Cinaed hob die Axt über Zetsus Nacken, ließ sie dort geradezu bedrohlich schweben, so dass sich mein Griff um mein Schwert festigte. Zetsu durfte hier nicht sterben! Lautlos begann ich zu murmeln, beschwor die Rebellen, dass sie endlich anfangen würden, fluchte innerlich, dass die Aufgabe doch nicht so schwer gewesen war und ärgerte mich gleichzeitig darüber, dass Zetsu keinerlei Anstalten machte, sich zu wehren. Warum hatte er sich bereits damit abgefunden!? Im Nachhinein fragte ich mich oft, ob ich nicht vielleicht einen Fehler gemacht hatte, indem ich nicht dazwischengegangen war, aber im Endeffekt wusste ich natürlich, dass es sinnlos gewesen wäre. Zetsu hätte nicht überlebt, dafür wäre ich auch gestorben – obwohl das vielleicht besser gewesen wäre, immerhin wäre ich dann nicht zurückgeblieben. Entschlossen zog Cinaed die Axt hinunter – und im selben Moment, in dem die Schneide auf Zetsus Nacken traf, erklang ein lauter Knall aus der Richtung der Stadt. Ein erschrockener, ungläubiger Schrei entfuhr mir, als Zetsus Körper nach vorn kippte – doch es schien niemanden zu kümmern, genausowenig wie der aufziehende Qualm, der verriet, dass es in der Stadt zu brennen begonnen hatte. Schweigend, fast schon ergriffen, starrten wir alle – die Dorfbewohner, Cinaed, Colin, die Ritter und ich – auf Zetsus Körper, der sich schnell, viel zu schnell in dunkle, violette Funken aufzulösen begann. Mein Kopf war wie leergefegt, mein Herz schien zu schlagen aufgehört zu haben. Das durfte nicht sein, das konnte einfach nicht sein! Was war mit der Ewigkeit, die wir uns versprochen hatten? Der Eternal Oath!? Etwas griff nach meinem Inneren, kalt und gleichzeitig so heiß, dass ich das Gefühl hatte, verglühen zu müssen, wenn ich es nicht bald wieder abschütteln könnte, während die Erkenntnis, dass Zetsu wirklich und wahrhaftig tot war, langsam ihren Weg in mein Bewusstsein fand und sich dort festsetzte. Mein Orichalcum-Name begann zu brennen als würde mein Arm in Flammen stehen, doch alles, was ich sehen konnte, war Cinaed und alles, was ich spürte, war unbändiger Hass auf diesen Mann, der mir da gerade Zetsu genommen hatte. Ein roter Schleier legte sich vor meine Augen und was dann geschah... daran erinnere ich mich nicht mehr. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich bereits wieder im Hauptquartier der Rebellen, die meinen Fragen nach den genauen Ereignissen geflissentlich aus dem Weg gingen. Ich wusste nur, dass ein Mädchen mit rosa Haar die Explosionen verzögert hatte und dass Cinaed und Colin tot waren, genau wie Zetsu. Doch warum und weswegen, darüber schwiegen sich alle aus – obwohl es zumindest für mich vollkommen klar war. Ich musste etwas damit zu tun haben, etwas in meinem Inneren musste den Schlosshof verwüstet haben. Doch seltsamerweise kümmerte mich das nicht mehr. Ich fühlte mich nur noch leer als wäre ein Teil von mir mit Zetsu gestorben, für meine Verhältnisse war ich nur noch eine leblose Hülle, der es nicht vergönnt worden war, ebenfalls zu sterben, die verdammt dazu war, jede Nacht immer und immer wieder dieselbe Erinnerung zu durchleben, den selben Schmerz und den Zorn zu spüren. Dementsprechend wird es aber langsam Zeit, aufzuwachen... und mir bleibt nur zu hoffen, dass all das nur ein furchtbarer Albtraum war, auch wenn ich jetzt schon weiß, dass meine Hoffnung mich wieder enttäuschen wird. Kapitel 8: Unter Räubern ------------------------ Noch bevor sie ihre Augen wieder öffnete, spürte sie Schmerzen in ihrem Rücken, die offenbar von ihrer gekrümmten Körperhaltung herrührten. Sie versuchte, sich zu strecken, stieß dabei ihr Knie aber gegen etwas, worauf auch dieses zu schmerzen begann. Sie fluchte leise und öffnete schließlich ihre Augen. Es dauerte einen Moment, ehe ihr bewusst wurde, dass sie sich in einem Käfig befand. Um herauszufinden, wie sie dort hineingekommen war, rief sie sich die letzten Ereignisse vor ihrem Traum ins Gedächtnis. Diese Banditen... und der Zweig in meiner Brust... ah, das war ein Mistelzweig! Aber was hat er gemacht? Isolde? ... Isolde! Ruckartig fuhr Leana hoch und schlug sich schmerzhaft den Kopf und die Schulter an dem hölzernen Deckel des Käfigs, so dass sie leise stöhnend wieder zu Boden sank. „Alles in Ordnung, Leana?“, erklang eine leise Stimme. Fragend wandte sie ihren Blick zur Seite und entdeckte dort einen weiteren Käfig, in dem Ylva eingesperrt war, allerdings schien das kleine Mädchen wesentlich weniger Probleme mit der Größe ihres Gefängnisses zu haben. Freudig wedelte sie mit dem Schwanz, als sie sichergestellt hatte, dass Leana endlich wach war. „Wo sind wir?“, fragte Leana leise. Ihr trockener Hals verhinderte, dass sie lauter sprechen konnte, aber mit ihren Hundeohren würde Ylva sie bestimmt dennoch verstehen. Das Mädchen blickte sich um. „Die Räuber haben uns mitgenommen – also, dich und mich, Isolde war ganz plötzlich weg, puff~“ Ratlos neigte sie den Kopf. „Ich weiß aber nicht, wie das passieren konnte oder wo sie hin ist...“ Statt etwas zu sagen, schloss Leana wieder ihre Augen und legte ihre Hände auf ihre Brust. Sie versuchte, Kontakt mit Isolde aufzunehmen, um herauszufinden, wo das Shinjuu sich befand, doch alles, was sie fand, war tiefe Dunkelheit und eisige Kälte. Auch auf ihre Rufe erntete sie keinerlei Antwort, weswegen sie anschließend versuchte, ihr Shinken zu manifestieren – doch auch das Schwert gehorchte ihr nicht. Mit einem Seufzen öffnete sie die Augen wieder, wich Ylvas fragendem Blick aber aus und sah sich stattdessen weiter um, sofern sie ihren Kopf wenden konnte. Der Käfig, in dem sie sich befand, wurde offenbar nach oben hin geöffnet, doch sowohl das Holz, als auch das Schloss wirkten massiv genug, um nicht einfach nachzugeben. Ylva schien ihre Gedanken nachzuvollziehen. „Ich hab die ganze Zeit versucht, hier wieder rauszukommen, aber das ist nicht so einfach.“ „Das denke ich mir.“ Glücklicherweise war es ein Teil ihrer Ausbildung gewesen, einfache Schlösser zu knacken und dieses hier wirkte nicht sonderlich kompliziert. Sie griff in ihr Haar, um dort die erforderliche Haarnadel hervorzuziehen, doch stellte sie pikiert fest, dass der gesuchte Gegenstand nicht da war. Ihre Finger strichen durch all ihre Strähnen, doch die Haarnadel war nicht mehr aufzufinden. Argh! Ich muss sie irgendwann einmal herausgenommen und vergessen haben, sie wieder zu befestigen... vielleicht war das damals, als ich für Tiaris gehalten wurde... Aber das bringt jetzt auch nichts. Also mussten sie anders hier herauskommen. Sie ließ weiter ihren Blick schweifen, verrenkte den Kopf, um auch hinter sich zu blicken, auch wenn sie nicht genau wusste, was sie dort zu entdecken erwartete. Ihr Arm protestierte schmerzend, als sie ihn durch die Gitterstäbe hindurch streckte, so weit wie es ihr möglich war, um dieses Werkzeug zu ergreifen. Unwillkürlich dachte sie dabei wieder an Zetsu, der sich oft darüber beklagt hatte, dass sie viel zu dünn wäre und sie mehr essen sollte. Welch Ironie, dass es nun gerade diese Unterernährung war, die ihr half, ihren Arm aus ihrem Gefängnis zu strecken. Ihre Fingerspitzen erreichten die Gartenkralle schließlich und mit ein wenig Geschick und Glück schaffte sie es tatsächlich, das Werkzeug zu sich zu ziehen. „Was hast du jetzt damit vor?“, fragte Ylva neugierig. „Wenn ich das wüsste“, kam die murmelnde Antwort. Leana betrachtete die dreizinkige Gartenkralle von allen Seiten und fragte sich, ob sie damit wirklich ein Schloss knacken könnte. „Wo sind eigentlich alle?“, fragte Leana, um davon abzulenken, dass sie noch nicht genau wusste, was sie nun tun sollte. Die Ruhe, die in der Hütte herrschte, wurde ihr langsam regelrecht unheimlich – wobei ihr das hier doch eher wie ein Schuppen und nicht wie eine richtige Hütte anmutete. Der Raum, in dem sie sich befanden, war zu klein und mit allerlei Dingen vollgestellt, in einer Ecke lag eine alte Matratze. Leanas Magen drehte sich um, bei dem Gedanken, was die Räuber mit dieser Unterlage vorhaben könnten – besonders wenn sie die Flecken auf der Decke bedachte, die in ihrem Blickfeld lag. „Ich weiß nicht... seit wir hergebracht wurden, war niemand mehr hier.“ Zumindest schienen die Räuber also ein wenig Anstand zu besitzen, das beruhigte Leana, aber noch mehr Zeit wollte sie hier nicht unbedingt verbringen. Sie zog ihren Arm wieder durch die Gitterstäbe zu sich herein, um ihn an einer anderen Stelle erneut hindurchzustrecken, so dass sie das Schloss erreichen konnte. Vielleicht habe ich Glück und das Schloss ist dermaßen primitiv, dass es unter meiner Behandlung nachgibt. Mit dieser Hoffnung holte sie so weit wie möglich aus und schlug auf das Schloss. Diese Prozedur wiederholte sie mehrmals, bis das Metall knirschend nachgab und der Deckel automatisch aufsprang. Leana begann, mit schmerzenden Gliedern aus dem Käfig zu klettern, um sich dann erst einmal zu strecken. Ihr ganzer Körper schien zu knacken und zu knirschen, aber immerhin fühlte sie sich nun um einiges besser als zuvor. Auf dieselbe Methode öffnete sie auch Ylvas Käfig und half dem kleinen Mädchen heraus. „Dankeschön“, sagte sie lächelnd und mit wild wedelndem Schwanz. Leana sagte nichts dazu, sondern wandte sich ab und blickte sich weiter um. Durch die Fenster konnte sie sehen, dass es bereits dunkel war, lediglich die Lampen im Inneren des Schuppens spendeten ein wenig Licht – offenbar waren es solche, die sich mit Sonnenlicht aufluden und es dann wieder abgaben, sobald es dunkel wurde. Zetsu hätte mit Sicherheit gewusst, wie man sie nannte, aber Leana fiel das Wort partout nicht ein, weswegen sie sich nicht weiter darum kümmerte. Stattdessen sah sie sich weiter um, nach etwas, das sie als Waffe benutzen konnte, immerhin konnte sie ihr Shinken nicht rufen, aber sie wusste auch nicht, wo sie war, also würde sie die Räuber nach dem Weg fragen müssen – ganz zu schweigen davon, dass niemand damit davonkam, sie in einen solchen Käfig zu sperren. Tatsächlich entdeckte sie in einer Ecke hinter einem alten Schrank ein mindestens ebenso altes Schwert, das zwar bereits stumpf war, aber für ihre Zwecke noch vollkommen ausreichte. Sie hatte nicht vor, die Banditen zu töten, sie wollte ihnen nur eine Lektion erteilen. „Ylva, kannst du eigentlich kämpfen?“ Das Hundemädchen richtete die Ohren auf. „Ich habe gerade kein Schwert, aber ich kann auch mit dieser Kette kämpfen.“ Bei diesen Worten demonstrierte sie die Kette, die an ihrem Halsband befestigt war. Leana war bislang davon ausgegangen, dass beides nur von dem Sklavenhändler angebracht worden war, um das Mädchen festzubinden, doch sie hatte sich schon geweigert, beides von Isolde abnehmen zu lassen. Offensichtlich war das also mehr als nur das Zeichen von Sklaventum. „Das reicht auch vollkommen“, sagte Leana zufrieden. Mit entschlossenen Schritten verließ sie gemeinsam mit dem Mädchen den Schuppen. Draußen erblickte sie sofort die richtige Hütte. Licht fiel aus den Fenstern, laute Stimmen und Musik zeugten davon, dass im Inneren gefeiert wurde. Wut stieg in Leana auf, als sie wieder daran dachte, was diese Männer ihr angetan hatten, dass sie ihr sogar Isolde genommen hatten. Ohne zu zögern warf sie die Tür der Hütte auf und betrat diese. Augenblicklich hielten alle Räuber inne und sahen Leana fragend an. Ylva versteckte sich hinter der jungen Frau und schielte ein wenig ängstlich hervor. „Wie kamen die denn da raus?“, schnarrte einer der Räuber. „Ist doch egal“, erwiderte ein anderer. „Schnappt sie euch lieber!“ Sofort stürzten die Männer sich auf die beiden. Leana blieb absolut unbeeindruckt und hob das Schwert ein wenig. Ylva konnte den raschen Bewegungen der jungen Frau kaum folgen, aber am Ende lagen alle Räuber zusammengekrümmt und stöhnend auf dem Boden. Wütend verpasste Leana einem von ihnen noch einen Tritt, ehe sie sich dem Anführer zuwandte, der vollkommen ruhig dasaß und sie nur amüsiert beobachtete. „Eine Rose mit Stacheln, hm?“ „Hör auf, mich Rose zu nennen“, knurrte Leana. Langsam lief sie auf ihn zu, worauf er sich von seinem Stuhl erhob und um den Tisch herum kam. „Nicht schlecht, dass du meine Schergen derart außer Gefecht gesetzt hast, selbst ohne Shinken.“ Sie schnaubte. „Man sollte mich eben nicht unterschätzen.“ Vor ihr blieb der Anführer wieder stehen. Der von ihm ausgehende Geruch von Alkohol erreichte Leana und versuchte, sie einzuwickeln und sie betrunken zu machen, doch sie ignorierte das für den Moment. „Denkst du, du kannst es auch mit mir aufnehmen, Weib?“ Er achtete offensichtlich nicht auf Ylva, sonst hätte er bemerkt, dass das Mädchen sich hinter den Anführer stellte, ihre Kette an einem stabil aussehenden Pfosten befestigte und sich dann so hinstellte, dass die Metallglieder gespannt waren. All das tat sie ohne dass der Anführer etwas davon mitbekam, da er sich vollkommen auf Leana konzentrierte. „Ja, das denke ich tatsächlich“, erwiderte die Shinkenträgerin. Er lachte laut – und Leana nutzte die Gelegenheit, um ihm den Schwertknauf in den Magen zu rammen, worauf er rückwärts stolperte und geradewegs über Ylvas Kette stolperte. Mit einem lauten Knall stürzte er zu Boden und landete geradewegs auf dem Rücken, wo er leise keuchend liegenblieb. Leana kniete sich neben ihn und drückte ihm den Schwertknauf schmerzhaft auf das Brustbein, um sicherzustellen, dass er liegenblieb, während Ylva ihre Kette wieder vom Pfosten losmachte. „So, jetzt will ich mal etwas wissen, dann bin ich schon wieder weg“, forderte Leana schließlich. „W-was?“, fragte der Anführer keuchend, offenbar war seine Gegenwehr wirklich vollständig erschöpft, was nicht zuletzt vom Alkohol herrührte. „Als ihr uns angegriffen habt, waren wir auf dem Weg ins Dorf Himura – wie kommen wir von hier aus dorthin?“ In abgehackten Sätzen erklärte er Leana den Weg dorthin, sie nickte immer wieder, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte, bis er schließlich fertig war. „Gut, dann nur noch eine Sache: Was hast du eigentlich mit mir gemacht? Warum kann ich mein Shinken nicht mehr benutzen?“ „I-ich kann das nicht genau erklären... aber... aber...“ Sie löste den Druck auf sein Brustbein ein wenig, damit ihm das Atmen leichter fiel, dann fuhr er fort: „Ein Heiliger Mistelzweig kann die Verbindung zum Götterschwert unterbrechen, wurde uns beigebracht.“ „Wie mache ich das wieder rückgängig?“ „D-die Hi-Ninja wissen es, sie werden es dir sagen.“ Leana gab Ylva zu verstehen, dass sie hinausgehen sollte und kaum war das Mädchen dort angekommen, stand sie selbst auf. „In Zukunft solltet ihr vorsichtig sein, wen ihr angreift und entführt, verstanden?“ Der Anführer nickte hastig, dann drehte Leana sich um und folgte Ylva, die bereits ungeduldig wartete. „Willst du wirklich bei Nacht losziehen?“ „Möchtest du lieber hier bleiben?“ erwiderte die Shinkenträgerin. Hastig schüttelte das Mädchen mit dem Kopf und gab ihr zu verstehen, dass sie vorlaufen sollte, was sich Leana nicht zweimal sagen ließ. Trotz der Dunkelheit schien die Shinkenträgerin keinerlei Probleme zu haben, dem Weg zu folgen, der ihr von dem Banditenanführer beschrieben worden war. Das lag mitunter aber wohl auch daran, dass sie ein seltsames Gefühl in ihrer Brust verspürte, je weiter sie lief. Als ob ein Haken in ihrem Inneren befestigt wäre, der sie nun stetig und unablässig in eine bestimmte Richtung zog, ohne dass sie wusste, wie das Ziel aussah. Es schienen für Leana nur wenige Minuten vergangen zu sein, als sie schließlich Feuerschein zwischen den Bäumen erkennen konnten. Ylva seufzte sehnsuchtsvoll. „Es riecht als ob sie gerade gekocht hätten – ob sie auch für uns etwas haben?“ Leana stutzte und hob selbst die Nase in die Luft, um festzustellen, ob das stimmte und was es wohl gab – doch der Geruch ließ sie wieder blass werden. „Ich glaube nicht, dass du das essen willst, was da gekocht wurde...“ „Warum? Was ist es denn?“ „Das ist der Geruch von verbranntem Menschenfleisch.“ Ylva zuckte zusammen und sah Leana erschrocken an. Die ließ allerdings keine Zeit mehr verstreichen und rannte los, geradewegs auf das Dorf zu, das immer noch in Flammen stand. Kapitel 9: Vernichtet --------------------- Die größten Feuer schienen bereits erloschen, als sie endlich im Dorf ankamen. Das lag allerdings auch daran, dass es inzwischen kaum noch etwas gab, was brennen konnte. Sämtliche Häuser waren bereits auf die Steinmauern herabgebrannt. Es war schwer zu sagen, wie lange das Feuer gewütet hatte, aber es musste lange Zeit gewesen sein, ohne dass jemand etwas dagegen unternommen hatte. Normalerweise wäre Leana darüber erstaunt gewesen, aber in diesem Fall wunderte es sie nicht: Sämtliche Einwohner des Dorfes schienen tot, ihre Leichen bis zur Unkenntlichkeit verbrannt zu sein. Zwar wusste sie nicht, was zuerst geschehen war – der Tod der Ninja oder das Feuer – aber im Grunde änderte es nichts an dem Ausgang der Ereignisse. Es muss eine ganze Armee gewesen sein... immerhin sind es angeblich Elite-Ninja gewesen. Ylva schluckte schwer, als sie die Leichen sah und hielt sich dichter an Leana. Die Shinkenträgerin bewegte sich zwischen den Häusern entlang und betrachtete betrübt die Waffen, die auf dem Boden lagen. Die Schwerter, Shuriken und Kunai lagen verstreut umher, sichtlich benutzt, aber wirkungslos an dem Feind abgeprallt – zumindest erklärte Leana sich so, dass die Waffen zum größten Teil zersplittert waren. „Was ist hier nur passiert?“, fragte Ylva leise. „Wenn ich das wüsste...“ Eigentlich wollte Leana das gar nicht wissen, aber sie konnte das dem kleinen Mädchen unmöglich sagen, immerhin musste eine von ihnen doch erwachsen und stark sein – und im Moment war sie die einzige, die diese Rolle erfüllen konnte. Plötzlich blieb Ylva stehen und ging in die Knie. Leana fuhr zu ihr herum. „Was ist los?“ Der Körper des kleinen Mädchens zitterte heftig, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Besorgt kniete Leana sich vor sie, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Angst spiegelte sich darin wider, so dass die Shinkenträgerin nicht anders konnte als ihr vorsichtig den Kopf zu tätscheln. „Keine Sorge, alles wird wieder gut, versprochen.“ Was machte dieses Mädchen nur so nervös? Der Geruch konnte es nicht sein, immerhin hatte sie diesen zuvor als etwas zu essen identifiziert. Doch als Leanas Blick wieder weiterwanderte und sie erneut die Leichen entdeckte, wurde ihr bewusst, was das Mädchen so verstörte. Wäre sie diesen Anblick nicht in gewisser Weise gewohnt, hätte sie wohl genauso reagiert. „E-es geht gleich wieder“, versicherte Ylva leise. „Gleich... wirklich.“ „Schon gut. Warte hier am besten einen Moment, ich sehe mich weiter um.“ Es brachte immerhin keinen von ihnen etwas, wenn sie sich weiter quälen würde, nur um sich in einem anscheinend vollkommen leeren Dorf umzusehen. Das Mädchen deutete ein Nicken an, dann stand Leana auf, um ihre Worte in die Tat umzusetzen. Vorsichtig, um nicht aus Versehen auf eine der verstreuten Leichen zu treten, lief sie weiter, um die Mitte des Dorfes zu erreichen, in der Hoffnung, dass sie dort einen Hinweis auf die Ereignisse finden würde. Während sie einen Fuß vor den anderen setzte, dachte sie wieder an die Worte des Banditenanführers zurück. „D-die Hi-Ninja wissen es, sie werden es dir sagen.“ Aber wenn sie sich so umsah, lebte offenbar keiner mehr von ihnen, wie also sollte sie den Effekt des Heiligen Mistelzweigs nur negieren? Mit gerunzelter Stirn suchte sie in den Ruinen nach einem Hinweis auf das Wissen, das sie brauchte, wenn sie ihr Shinken wieder nutzen wollte. Ohne Zetsu gab es zwar keinen Grund dazu – aber auch Isolde war immerhin damit verbunden und dieser seltsame Ninja aus der Nacht zuvor... Gerade in diesem Moment brauchte sie ihr Shinken mehr als alles andere, weswegen ihr Blick weiter suchend durch die Ruinen schweifte. Doch das, was sie dann fand, überraschte sie doch ein wenig, obwohl sie nicht geglaubt hatte, dass das möglich sein könnte. An einem relativ unbeschädigten Holzpfahl lehnte ein Mensch – zumindest schien das auf den ersten Blick, doch seine schlaffe Körperhaltung verriet ihr alsbald, dass er eher hing als zu lehnen. Argwöhnisch ging Leana näher und entdeckte bald, dass es ein Mann war, der dort hing, ein Schwert, das offenbar mit großer Gewalt durch seine Brust gestoßen worden war, hielt ihn aufrecht am Holzpfahl. Als sie vor ihm stand neigte sie den Kopf. Sein schwarzes Haar war mit einer dunklen Flüssigkeit verklebt, die Blut sein musste, ansonsten – und wenn man von der durch das Schwert verursachten Wunde absah – wirkte er vollkommen unverletzt. Zwar war sie sich sicher, dieses fein geschnittene Gesicht noch nie zuvor gesehen zu haben und doch kam dieser Mann ihr erstaunlich bekannt vor. Fast schon war sie traurig darüber, dass er tot war – doch eine plötzliche Bewegung ließ sie zusammenzucken. Irritiert blickte sie noch einmal genauer auf die Hände des Mannes, dann wich sie zurück, als die Finger sich tatsächlich noch einmal bewegten. Ist das... ein Muskelreflex? Ihre Kenntnis über Leichen war eher beschränkt, wie sie zugeben musste, es war also durchaus möglich, dass sie sich nach dem Tod tatsächlich noch ein wenig bewegten. Aber vielleicht... sollte ich lieber auf Nummer sicher gehen... Wenn er noch lebte, war es möglicherweise besser, ihn von dort runterzuholen, mit Sicherheit waren die Schmerzen in dieser Position auch alles andere als angenehm. Als ob es so etwas wie angenehme Schmerzen geben würde... Eilig verwarf sie den Gedanken, der ohnehin nur dazu dienen sollte, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Also ergriff sie den Schwertgriff, atmete tief durch – und zog die Klinge mit einem heftigen Ruck aus dem Körper des Mannes. Zwar hatte sie erwartet, dass Blut spritzen würde – aber nicht, dass der Körper direkt auf sie fallen und unter sich begraben würde. Ein überraschter Schrei entfuhr ihr, als sie auf den Rücken fiel, hastig versuchte sie, ihn wieder von sich runterzubekommen, was ihr erst gelang, als Ylva dazukam und ihn mit aller Kraft zur Seite zog. Leblos blieb er liegen, während Leana sich hastig aufrecht hinsetzte als fürchtete sie, dass er sich gleich noch einmal auf sie stürzen würde. Zu ihrer Überraschung befand sich auf ihrer Kleidung allerdings kein Blut, obwohl er eben noch auf ihr gelegen hatte. Als sie zu ihm hinübersah, stellte sie fest, dass sich die Wunde in der Brust wieder geschlossen hatte. W-wie kann das sein? Wäre da nicht das Schwert in ihrer Hand gewesen, wäre sie der Überzeugung erlegen, dass das eben nur eine nervöse Überreaktion von ihr gewesen war und es nicht stattgefunden hatte. „Alles okay?“, fragte Ylva besorgt. Offenbar war sie bereits erholt genug, sich wieder fortzubewegen und sich tatsächlich Sorgen zu machen, was Leana erleichterte. Sie nickte. „Ja, ich habe mich nur erschrocken.“ Beruhigt über diese Antwort kniete das Mädchen sich neben den Mann, um diesen neugierig zu begutachten. Ihre Augen leuchteten geradezu, was Leana doch verwunderte, wenn sie an das vorige Verhalten des Mädchens dachte. „Was ist so besonders an ihm?“ Ylva deutete auf die Stelle, wo die Verletzung zuvor gewesen war und nun makellose Haut zu sehen war. Das ausgefranste und an den Rändern blutverschmierte Loch in seiner Kleidung war der einzige Beweis dafür, dass da eben noch eine Waffe seinen Körper durchbohrt hatte. Da Leana zeigte, dass sie immer noch nicht verstand, holte Ylva zu einer Erklärung aus: „In den Geschichten, die Papa mir erzählt hat, heißt es, dass Hi-Ninja ihre Körper heilen können. Er kann es offenbar auch.“ Begeistert wedelte sie mit ihrem Schwanz und sah Leana erwartungsvoll an. Doch der Schlafmangel und der langsam einsetzende Hunger sorgten dafür, dass die Worte nur langsam in das Gehirn der Shinkenträgerin sickerten. „Dann wird er bald wieder aufwachen?“ Ylva nickte zustimmend, mit unverminderter Begeisterung. „Genau!“ Leana konnte die Euphorie nicht im Mindesten teilen. Würde er aufwachen, war die Feststellung, dass er nun allein war, nur noch einen Steinwurf entfernt – und er wäre mit Sicherheit nicht begeistert davon. Sie zumindest wäre das nicht. Andererseits würde das bedeuten, sie könnte ihn fragen, wie man diesen Fluch des Heiligen Mistelzweigs wieder loswerden würde. Also zumindest für sie war das eine gute Sache. „Sonst lebt keiner mehr...“ Ylvas Begeisterung schwand augenblicklich, ihre Augen wurden feucht, als sie fortfuhr. „Ich kann außer uns niemanden spüren oder hören.“ Leana tätschelte ihren Kopf, um sie ein wenig zu trösten. Worte fand sie allerdings keine, um diese Geste zu unterstützen. Doch das Mädchen schien das auch gar nicht zu benötigen, sie lächelte sofort wieder und wedelte mit dem Schwanz. Sie sah nicht nur einem Hund ähnlich, ihr Verhaltensmuster erinnerte auch an einen. Zum Glück für Leana, die somit leichtes Spiel hatte, sie abzulenken. „Was machen wir jetzt?“, fragte Ylva plötzlich leise. Leana warf einen Blick umher. Sie konnte keinerlei fremde Energie oder feindliche Aura spüren – zwar waren ihre Fähigkeiten ohne ihr Shinken extrem eingeschränkt, aber durch den langen Zeitraum, in dem sie dessen Einfluss ausgesetzt gewesen war, befand sich noch eine Spur dieser Fertigkeit in ihrem Inneren und das reichte durchaus, um festzustellen, dass sie nicht in Gefahr waren. „Wir sollten uns vielleicht ausruhen. Wir brauchen ein wenig Ruhe, um nach dem Sonnenaufgang etwas zu essen zu suchen.“ Das Mädchen nickte zustimmend. Gemeinsam hoben sie den Mann hoch und verließen mit ihm das Dorf wieder. Ylva blieb dabei noch einen kurzen Moment zurück, um einige unbeschädigte und überraschend saubere Decken aus den Trümmern eines Hauses zu befördern, damit sie nicht auf dem Boden schlafen müssten – immerhin war es Isolde, die sich sonst um das Reisegepäck kümmerte. Außerhalb des Dorfes legte Ylva sich schließlich hin und rollte sich geradezu zusammen, was Leana darin bestätigte, dass ihre Verhaltensmuster dem eines Hundes entsprachen. Sie konnte nicht anders als darüber zu schmunzeln und legte sich ebenfalls hin. Ehe sie einschlief, warf sie noch einmal einen Blick auf den jungen Mann, der inzwischen tatsächlich wieder zu atmen begonnen hatte. Sie hatte noch nie von jemandem gehört, der nach einem solchen Stoß durch die Brust tatsächlich noch leben konnte. Die Hi-Ninja mussten wahrlich ganz herausragende Krieger gewesen sein, es war nicht weiter verwunderlich, dass jemand ihre Auslöschung gewünscht hatte. Wenn ich nur wüsste, woher ich ihn kenne... Doch schließlich verwarf sie den Gedanken und schloss die Augen, um ebenfalls zu schlafen. Immer noch erschöpft richtete Eos sich wieder auf. Schweigend kniete Hyperion neben ihr, ergeben darauf wartend, dass sie ihm eine Anweisung geben würde. Sie gähnte herzhaft. „Wie ist der Auftrag gelaufen?“ Wie üblich antwortete er nicht, aber das brauchte es auch nicht, sie verstand ihn natürlich auch so. „Sehr gut gemacht, mein Bester. Die Hi-Ninja sollten uns nun keine Probleme mehr bereiten.“ Damit konnte sie sich nun vollends auf die Ewige Rose konzentrieren. „Oh ja, da ich gerade daran denke... was ist denn mit der Rose? Weißt du etwas von ihr?“ Zur Antwort schüttelte er den Kopf und sie musste zugeben, dass selbst sie keinerlei Energie der Eternal mehr spüren konnte. Als ob sie einfach vom Erdboden verschwunden wäre. „Gut, wir müssen wohl umplanen... Geh dorthin, wo die Rose zuletzt spürbar gewesen war und versuche, ihre Spur wieder aufzunehmen. Ich bin sicher, dass sie noch in dieser Welt ist.“ Sie musste einfach hier sein, sie konnte unmöglich einfach wieder gegangen sein, nachdem sie endlich in diese Welt gekommen war, nachdem Eos' Sehnen sich endlich erfüllt hatte. Hyperion nickte und stand wieder auf, um den Auftrag in die Tat umzusetzen. Eos sah ihm wieder hinterher, während er wortlos erneut in die Nacht verschwand – auch wenn das offenbar nicht ganz richtig war, immerhin konnte sie bereits die Sonne wieder aufgehen sehen. Sie lächelte zufrieden über den Anbruch eines neuen Tages und ging dann an ihren Schrank, um sich neue Kleidung herauszusuchen und einen weiteren Arbeitstag zu beginnen. Kapitel 10: Der Letzte seiner Art --------------------------------- Leanas Nackenhaare stellten sich auf, als sie das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. An Schlaf war nicht mehr zu denken, wer immer das war, er befand sich direkt in ihrer Nähe und er war möglicherweise gefährlich – zumindest kannte sie die fremde Aura nicht. Mit geschlossenen Augen und so vorsichtig wie möglich, tastete sie nach dem Schwert, das sie bei den Räubern mitgenommen hatte. Würde diese Person bemerken, dass sie nach einer Waffe griff, würde er möglicherweise nicht weiter zögern, ihr etwas anzutun. Sie bekam den Griff zu fassen und öffnete die Augen, um zu sehen, wo sich der Kopf der anderen Person befand. Noch bevor sie erfasst hatte, um wen es sich dabei handelte, schlug sie ihm mit aller Macht den Knauf des Schwertes gegen die Stirn. Mit einem lauten Schmerzensschrei fiel der Mann zurück und hielt sich dann leise jammernd den Kopf. Leana richtete sich auf, um sich erst einmal umzusehen, da der Mann keinerlei Gefahr darzustellen schien. Als sie die Ruinen des Dorfes erspähte, kehrten die Erinnerungen an die letzte Nacht zurück. Ihr Blick zur Seite sagte ihr, dass Ylva im Moment nicht da war, aber als sie ein wenig weiter sah, entdeckte sie das Mädchen neben einem Baum, den sie offenbar gerade zu erklettern versuchte, um wohl an die Äpfel an den Ästen zu kommen. Kaum hatte Leana das sichergestellt blickte sie wieder zu dem immer noch leise jammernden Mann, den sie als den Toten der letzten Nacht wiedererkannte. So lebhaft wie er sich aber nun aufführte, konnte sie das fast nicht glauben. Sein Gejammer ließ sie leise seufzen. „Du bist selbst schuld – man schleicht sich nicht so an jemanden heran.“ Ihre Worte waren noch nicht ganz verhallt, da verstummte er und wandte sich ihr zu. Seine roten Augen musterten sie nach wie vor interessiert, Leana dagegen konnte nicht anders als den Blick ein wenig abzuwenden. Etwas an seinen Augen kam ihr merkwürdig vor und das war nicht nur die rubinrote Farbe, sondern auch... sie konnte es nicht erklären, es war als ob sie den Blick aus seinen Augen kennen müsste, obwohl sie diese noch nie zuvor gesehen hatte. „Du hast geschlafen“, erwiderte er. „Ich wollte dich nicht aufwecken.“ Gespielt schmollend sagte er nichts weiter und rieb sich dafür über die Stelle, an der sie ihn erwischt hatte, wofür er sich sofort eine Zurechtweisung von ihr einhandelte: „Stell dich nicht so an. Das kann nicht so sehr wehgetan haben.“ Er brummelte etwas Unverständliches, lächelte dann aber ein wenig, worauf Leanas Herz ein wenig schneller zu schlagen begann, ohne dass sie es sich erklären konnte. „Kannst du mir dann deinen Namen verraten, wenn du mich schon beinahe ohnmächtig geschlagen hast?“ Statt ihn erneut darauf hinzuweisen, dass es nicht so sehr geschmerzt haben konnte, stellte sie sich tatsächlich vor, worauf sich eine Hand auf sein Herz legte. „Leana, das freut mich~ Mein Name ist Ayumu – und wie es aussieht, bin ich der Letzte der Hi-Ninja.“ „Warst du denn schon im Dorf?“ Erneut sah sie zu den traurigen Überresten des Dorfes, die nun im hellen Sonnenlicht dalagen, die Feuer waren komplett erloschen und kaum etwas ließ darauf schließen, dass die Auslöschung erst einen Tag her war. Ayumu nickte, das Gesicht ein wenig getrübt, aber immer noch lächelnd. „Ja, war ich. Kein sonderlich schöner Anblick, das kann ich dir sagen.“ „Müsste dich das nicht mehr stören?“ Dass er das so locker nahm, irritierte sie ein wenig, besonders als er dann leise lachte. „Nicht wirklich. He, wir waren Ninja, wir waren darauf vorbereitet, zu sterben.“ Das war sie als Ritterin auch, aber dennoch hatte sie ein erhebliches Problem damit, Leute sterben zu sehen, wenn sie diese kannte und möglicherweise mochte. Er dagegen lächelte immer noch als würde es nur kurze Zeit dauern, bis er alle wiedersehen würde oder als wären alle anderen ihm egal gewesen. „Mochtest du die anderen nicht?“, fragte sie weiter. Statt eines Lächelns war plötzlich eine gerunzelte Stirn zu sehen. „Was interessiert dich das alles eigentlich?“ Noch während sie nach Worten suchte, um ihm zu erklären, was sie daran so seltsam fand, schmunzelte er plötzlich. „Mhm~ Vielleicht hast du ja Interesse an mir und versuchst dich so an mich heranzutasten?“ Sie zollte dieser Vermutung nicht einmal einer Antwort und rollte nur mit den Augen. Während sie weiterhin darüber nachdachte, was sie sagen sollte, fiel ihr auf, dass ihr auch in diesem Bereich Zetsu fehlte. Er war wesentlich geübter darin, zwanglos mit anderen zu plaudern und ihnen dabei möglicherweise wichtige Informationen zu entlocken. Isolde konnte es genauso, aber das Shinjuu war im Moment auch nicht da, also blieb ihr nichts anderes übrig als selbst die Stirn zu runzeln. Das sorgte dafür, dass Ayumu wieder sanft lächelte. „Ach komm, eine gerunzelte Stirn steht dir nicht. Lächle lieber.“ „Nein danke“, erwiderte sie kurzangebunden. „He, bevor Ylva wiederkommt, weißt du zufällig etwas über den Heiligen Mistelzweig?“ „Warum darf die Kleine das nicht wissen?“ Sie wischte seinen Einwand mit einer Handbewegung beiseite. Ylva hatte offensichtlich keine Ahnung von Shinken und Orichalcum-Namen und Leana war nicht daran interessiert, ihr das in irgendeiner Art und Weise zu erklären, das wollte sie lieber Isolde überlassen, sobald diese wieder da wäre. Ayumu verschränkte die Arme vor der Brust und legte einen Finger an seine Lippen. „Ich habe davon schon mal etwas gehört, ja~ Ich muss aber darüber nachdenken...“ Damit verfiel er tatsächlich in nachdenkliches Schweigen. Leana unterbrach ihn dabei wohlweislich nicht, da sie sich bereits denken konnte, dass er dann direkt wieder zu reden anfangen und möglicherweise nicht mehr aufhören würde. Seine ganze bisherige Attitüde sagte ihr bereits, dass er viel zu gern plauderte. Ehe er mit Nachdenken fertig war, kehrte Ylva wieder zurück, drei Äpfel im Gepäck, damit sie jedem einen solchen reichen konnte. Ayumu unterbrach seine Gedanken und bedankte sich herzlich lächelnd bei ihr. „Ich habe gerade Hunger bekommen, das kommt wie gerufen.“ Während Ylva sich lächelnd setzte, um selbst zu essen, fiel Leana auf, dass die Atmosphäre verriet, dass die beiden sich offenbar schon ein wenig kannten. Sie konnte nicht anders als sich zu fragen, wie lange sie geschlafen hatte und wie spät es wohl war. Glücklicherweise bot Ylva ihr auch direkt die Antwort: „Für ein Frühstück ist es zu spät, aber für das Mittagessen kommt es gerade rechtzeitig~ Meint ihr nicht?“ „Ja, genau~“, stimmte Ayumu zu. Leana schwieg und aß ihren Apfel weiter, während sie dem Hundemädchen das Plaudern überließ. „Ayu-chan, du bist ein Hi-Ninja gewesen, stimmts?“ Ayu-chan? Wie gut kennen die beiden sich schon? Er lachte leise. „Ich bin immer noch einer, der Allerletzte, ich bin ab sofort also etwas Besonderes.“ Immerhin konnte er also etwas Gutes in seiner Situation sehen, das nötigte Leana einiges an Respekt ab – andere wären nach den Ereignissen des gestrigen Tages mit Sicherheit zerbrochen, ihm dagegen schien das alles wirklich Vergnügen zu bereiten. Ylvas Augen leuchteten wieder, wie immer, wenn es um diesen Clan zu gehen schien. „Und du bist wirklich von den Toten wieder auferstanden, das war so cool!“ Dass sie dieses Wort kannte, verwunderte Leana noch weiter, allerdings sagte sie immer noch nichts, auch nicht als Ayumu nicht nachhakte, sondern nur lachte als ob er das Wort ebenfalls verstehen würde. „Ja, das war nicht schlecht, nicht wahr?“ „Wie funktioniert das eigentlich?“, fragte Leana nun interessiert. Er lächelte sofort begeistert, als er von ihr angesprochen wurde. „Genau erklären kann ich es natürlich auch nicht, ich habe nicht sonderlich viel Ahnung davon. Aber wir Hi-Ninja können das alle – der einzige Nachteil ist, dass wir dann nicht sonderlich alt werden. Wir verkürzen unsere Lebenszeit immer dementsprechend.“ Dass er immer noch von wir sprach, beunruhigte Leana ein wenig. Möglicherweise hatte er einfach noch nicht wirklich registriert, dass alle außer ihm tot waren. „Heißt das jetzt, dass du bald sterben wirst?“, fragte Ylva erschrocken. Die Frage kam nicht sonderlich unerwartet, fand Leana, immerhin war er in der Nacht zuvor schon tot gewesen und bei so viel Energie, die er für seine Regeneration hatte aufbringen müssen, musste er doch nun rascher zum Ende seines Lebens kommen. Er zuckte allerdings nur desinteressiert mit seinen Schultern als ob ihn das gar nicht weiter kümmern würde. „Und wenn schon, irgendwann sterben wir alle einmal.“ Plötzlich schmunzelte er und wandte sich Leana zu. „Aber es wäre toll, in deinen Armen zu sterben.“ Ihr Gesicht verfinsterte sich unwillkürlich. „So ein Schwachsinn.“ Sie konnte nicht verstehen, was daran so toll sein sollte oder was er meinte, daran zu finden. Immerhin führte auch dieses Szenario darauf hinaus, dass er am Ende nicht mehr unter den Lebenden weilte. „Du siehst das wohl anders, hm?“ Sie nickte nicht einmal, sondern konzentrierte sich wieder auf ihren Apfel, der nach wenigen wütenden Bissen von ihr bereits wieder weg war. „Jedenfalls kann ich dir sagen, wo du hinmusst, um diesen Fluch da wieder loszukriegen.“ Wieder aufmerksam wandte Leana sich ihm zu. Sie sagte nichts, aber ihr auffordernder Blick brachte ihn dazu, fortzufahren: „Nicht weit von hier gibt es eine Höhle, dort drinnen gibt es das Gegenmittel für deinen Fluch.“ „Kannst du uns dort hinbringen?“ Sein Lächeln wurde ein wenig breiter. „Dich würde ich sogar bis ans Ende der Welt bringen.“ „Halt den Ball mal ein bisschen flacher“, erwiderte sie. Diese Redewendung hatte sie nicht nur auf Monobe, sondern auch in der Welt gehört, in der sie mit Zetsu versucht hatte, ein vollkommen normales Leben zu führen. Der Silberhaarige hatte ihr damals die Bedeutung davon erklärt, aber dies war das erste Mal, dass sie es selbst sagen konnte. „Ich habe kein Interesse an einem Gigolo wie dir.“ Getroffen verzog er sein Gesicht. „Ich würde mich eher als Charmeur und nicht als Gigolo sehen.“ Ylva blickte zwischen beiden hin und her, ihr Gesicht sagte eindeutig, dass sie keinerlei Ahnung hatte, wovon die beiden eigentlich sprachen und sie die Worte nicht verstand. „Was auch immer“, bemerkte Leana. „Bring mich einfach zu dieser Höhle, ich will den Fluch loswerden.“ „Aber natürlich, meine Liebe~ Wir können los, sobald du bereit bist.“ Sollte sie ihn darauf hinweisen, dass sie es nicht sonderlich mochte, von ihm so angesprochen zu werden? Nein, sie entschied sich dagegen. So wie sie ihn und sein Lächeln einschätzte, würde ihn das entweder nicht sonderlich kümmern oder er würde sich einfach irgendeine andere Anrede einfallen lassen, die ihr noch weniger gefiel. Und wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, schlug ihr Herz ein wenig schneller, wenn er sie so nannte. Etwas an ihm erinnerte sie so sehr an Zetsu, dass es einerseits schmerzte, andererseits sich aber auch wahnsinnig gut anfühlte, egal wie sehr sie sich dagegen zu wehren versuchte. War es etwa möglich, dass er ebenfalls ein Splitter war? Oder war er ihm nur zufällig so ähnlich? Sie müsste es herausfinden, sobald ihr Orichalcum-Name wieder aktiv war, aber bis dahin würde sie ihn auf Distanz halten – und danach auch. Nie sollte jemand anderes als Zetsu ihr zu nahe kommen, egal ob körperlich oder emotional. Aber davor fiel ihr noch etwas anderes ein: „Wer hat eigentlich dein Dorf angegriffen?“ Augenblicklich wurde er überraschend ernst, seine Augen verengten sich wütend. „Es war ein Ninja, aber keiner aus unserem Dorf. Es war dieser Idiot, der von Eos geschickt wurde – Hyperion.“ Kapitel 11: Im Heiligtum ------------------------ Ein ersticktes Gurgeln war das Letzte, was der Räuber von sich gab, ehe er zu Boden stürzte. Er zuckte noch einen kurzen Moment, während sich das Blut unter ihm ausbreitete, dann lag er still da. Blieben nur noch der Ninja und der Räuberhauptmann, der sich bereits gegen die Wand presste. Die ängstlich geweiteten Augen musterten den Shinobi, der mit langsamen Schritten auf ihn zuging und dabei das Kurzschwert wieder einsteckte, das er parallel zu seinem Katana trug. Das Schweigen des Ninja machten diesen noch unheimlicher, was den Hauptmann versuchen ließ, zur Seite hin auszuweichen, den Rücken stets an die Wand gedrückt. Die im Raum verstreuten Waffen und die leblosen Körper verrieten, dass es sinnlos war, gegen diesen übermenschlichen Gegner zu kämpfen. Ein Blick in seine kalten, blauen Augen unterstrich diesen Eindruck. Keinerlei Mitgefühl, kein Zögern oder gar Reue war darin zu erkennen. „K-komm schon, Kumpel“, bat der Hauptmann. „Du arbeitest doch für Eos, oder? Wir haben ihr doch nie was getan. Ich hab sogar immer meine Steuern gezahlt!“ Ungeachtet dieser Worte blieb der Ninja schließlich vor ihm stehen und packte ihn am Hals, um ihn einige Meter über den Boden zu heben. Der Hauptmann keuchte und versuchte, sich zu befreien, doch Hyperions Griff verstärkte sich daraufhin nur noch einmal, bis die Gegenwehr des Mannes erstarb. Noch immer sagte der Ninja kein Wort, dafür blickte er den Räuber eindringlich ein als würde er versuchen, durch dessen Augen direkt in sein Gehirn zu blicken, um dort die Antwort zu finden, die er suchte – und offenbar tat er es auch, denn im nächsten Moment ließ er den Räuber wieder zu Boden fallen. Keuchend blieb der Hauptmann dort liegen, griff sich selbst an den schmerzenden Hals und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Hyperion dagegen wandte sich um. Mit großen Schritten setzte er über die auf dem Boden verteilten Leichen hinweg, um zum Ausgang zu kommen. Doch direkt an der Tür richtete der Räuberhauptmann sich noch einmal auf, bis er endlich wieder aufrecht kniete. „Moment mal...“ Tatsächlich blieb Hyperion noch einmal stehen, wandte sich ihm aber nicht zu. „D-du arbeitest für Eos... hat sie dir das hier aufgetragen?“ Es erfolgte keine Antwort, weswegen der Fragende sich selbst eine gab und weiterfragte. „Aber warum? Wir haben immer darauf geachtet, dass wir nicht Eos' Bürger angreifen, wir haben Steuern gezahlt und Reis gespendet... warum...?“ Nur langsam wandte Hyperion sich zu dem Mann um, dabei zog er ein Kunai hervor. Doch der Räuber achtete nicht auf die gezogene Waffe, sondern nur auf die Augen des Ninja, die sich plötzlich kaum merklich veränderten, für einen Sekundenbruchteil erschienen tatsächlich Emotionen und Leben darin. „... Shoubi...“ Der Räuber wusste nicht, in welch seltenen Genuss er damit kam, Hyperions Stimme zu hören – allerdings war es auch das Letzte, was er mitbekam. Das Kunai des Ninja traf den Mann direkt in der Brust und ließ ihn wieder vornüberfallen. Wieder verschwanden sämtliche Gefühle aus seinen Augen, er wandte sich wieder der Tür zu und verließ die Hütte. Abgesehen von den Leichen und den Kunai keinerlei Spuren hinterlassend, die auf ihn hindeuteten. Auch wenn natürlich niemanden der Tod dieser Männer kümmern würde – und ihm ging es ohnehin nur noch darum, auf dem schnellsten Weg zu Leana zu kommen. Leana war noch nie von Höhlen begeistert gewesen. Sie waren dunkel und feucht und von irgendwo erklangen immer seltsame Geräusche, die sie sich nicht erklären konnte. Ayumu allerdings schien sich nicht darum zu kümmern, stattdessen lief er summend neben ihr her, was Ylva sehr zu freuen schien. Egal wie Leana ihn betrachtete, er wirkte einfach ganz und gar nicht wie ein Ninja, zumindest nicht wie ein konventioneller. Dafür war er viel zu gut gelaunt, zu kommunikativ, zu... fröhlich. Er erinnerte sie fast schon schmerzhaft an Zetsu mit seinem gesamten Verhalten – ihm fehlte lediglich der düstere Unterton seiner Vergangenheit. „Warst du eigentlich schon oft hier?“, fragte sie, um sein Summen zu unterbrechen. Seine ständige musikalische Untermalung nagte an ihren Nerven und erweckte in ihr den Wunsch, den Lautstärkeregler nach ganz unten zu drehen – dummerweise besaß Ayumu keinen solchen. „Noch nie“, antwortete er fröhlicher als er es für Leanas Geschmack eigentlich hätte sein dürfen. Augenblicklich blieb sie stehen. „Dann kennst du den Weg gar nicht?“ Ylva und er hielten ebenfalls inne und wandten sich ihr zu. Dabei lächelte Ayumu ununterbrochen. „Aber bislang gab es ja noch keine Abzweigung, also brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.“ Am Liebsten hätte Leana ihm irgendetwas über den Kopf gezogen, aber das einzige, was sie im Moment fand, war ein Stein und das erschien ihr dann doch zu gefährlich für ihn. Daher verzichtete sie darauf und lief schweigend weiter. Die anderen beiden folgten ihr fröhlich weiter und erweckten in ihr den Eindruck, dass außer ihr niemand etwas hiervon ernst nahm – eine Situation, die ihr nur zu gut bekannt vorkam und finstere Erinnerungen in ihr weckte. Die Worte, dass dies kein Kindergartenausflug wäre lagen ihr bereits auf der Zunge, doch sie wusste, dass es aussichtslos war, es laut zu sagen, weswegen sie weiterhin schwieg. Erst als sie tatsächlich an einer Abzweigung ankamen, brach Leana ihr Schweigen wieder: „Und, Ayumu, wie geht es jetzt weiter?“ Spöttisch wandte sie sich ihm zu und stellte mit einem äußerst befriedigten Gefühl fest, dass er unentschlossen hin und her blickte. Beide Gänge verloren sich nach wenigen Metern in Dunkelheit, es war gut möglich, dass sie in Sackgassen endeten oder in weitere Abzweigungen mündeten. Leana war sich selbst nicht sicher, in welcher Richtung sie die besseren Chancen haben würden, sie wusste ja nicht einmal, was sie eigentlich genau suchten. Das Wort Gegenmittel konnte immerhin weit gefasst werden. Ein Geräusch, ähnlich dem eines Glöckchens, erklang in einem der Gänge. Leana gab allerdings nicht viel darauf und tat es als Einbildung ab, doch Ylvas Ohren zuckten plötzlich. „Wir sind nicht die einzigen hier.“ Ayumu stemmte die Hände in die Hüften. „Was meinst du damit? Das kann gar nicht sein.“ „Und warum nicht?“, hakte Leana nach. Sie war sich sicher, dass Zetsu oder Isolde noch einen Witz dahinter gesetzt hätten, doch sie beließ es bei der bloßen Frage und stellte überrascht fest, dass Ayumus Miene plötzlich äußerst ernst wurde. „Ihr habt es nicht mitbekommen, weil ihr gemeinsam mit mir hereingekommen seid, aber normalerweise verhindert ein Bannzauber am Eingang, dass jemand anderes als ein Hi-Ninja hereinkommt.“ Leana erinnerte sich noch gut daran, dass er penibel darauf geachtet hatte, dass sie gemeinsam mit ihm hineingingen und nicht vor oder nach ihm. „Also kann sonst niemand hier sein.“ „Du vergisst aber eine Kleinigkeit“, erwiderte Leana und lenkte damit die Aufmerksamkeit ihrer beiden Begleiter auf sich. „Kann es nicht sein, dass außer dir noch einer aus deinem Dorf überlebt hat und hierhergekommen ist? Vielleicht glaubte er ja, der Angreifer würde ebenfalls herkommen?“ Ayumu runzelte seine Stirn, als er über diese Idee nachdachte und nickte schließlich. „Das ist tatsächlich möglich. Dann sollten wir uns beeilen, um ihn einzuholen – in solchen Höhlen weiß man immerhin nie, was passiert, nicht?“ Leana und Ylva nickten. Das Trio setzte sich eilig in Bewegung in die Richtung, aus der das Geräusch erklungen war. Die Shinkenträgerin überlegte derweil, ob es wirklich möglich sein könnte, dass ein Ninja außer Ayumu überlebt haben könnte und ob es irgendetwas gab, was man hier schützen müsste. Aber vielleicht wollte der vermeintlich Überlebende sich hier auch verstecken. Wenn es wirklich nur den Hi-Ninja möglich war, hier hereinzukommen, wäre das immerhin eine logische Konsequenz. Bei jeder neuen Abzweigung hielten sie inne und ließen Ylva lauschen, ehe sie weiterliefen – bis sie schließlich in einem Raum mit einem Abgrund herauskamen und dort erneut stehenblieben. Das Hundemädchen setzte sich an den Rand des Abgrunds und blickte neugierig hinunter. „Wir müssen da nach unten, da ist irgendjemand.“ „Ist es ein Mensch?“, fragte Leana. Sie erntete einen fragenden Blick von Ylva, erwiderte diesen aber nicht, sondern sah stur in den Abgrund hinab. Allerdings antwortete das Mädchen nicht. „Was soll es denn sonst sein?“, fragte Ayumu schließlich, da sonst niemand etwas sagte. „Bislang sind wir auch keinem wilden Tier begegnet. Die kommen hier nicht herein.“ Leana wandte sich vom Abgrund ab, blickte aber keinen ihrer Begleiter an, sondern lief am Rand der Schlucht entlang, um einen Weg nach unten zu finden. „Vielleicht kommen sie nicht durch den Eingang herein... aber es gibt mit Sicherheit noch andere Möglichkeiten, hereinzukommen.“ „Glaubst du das wirklich?“ Ayumu schienen diese Worte gar nicht zu gefallen, zumindest glaubte sie, das aus seiner Stimme herauszuhören, sie wollte aber auch gar nicht den Blick vom Abgrund abwenden, um an seinem Gesicht abzulesen, ob es wirklich so war. Sie konnte ihn in gewisser Weise verstehen, immerhin stellte sie mit ihren Worten seine Erziehung und seine Überzeugung in Frage. Allerdings schien er auch nicht diskutieren zu wollen, sondern schwieg. Schließlich fand Leana eine Treppe, die den Abgrund hinabführte und winkte ihre Begleiter zu sich. Während Ylva ihrem Ruf bereitwillig folgte, trottete Ayumu nur widerwillig hinterher. Es versetzte Leana einen Stich ins Herz, als sie sein Verhalten bemerkte. Selbst das erinnerte sie an Zetsu, es fehlte nur noch, dass er seine Hände in seinen Hosentaschen vergrub – allerdings hatte er im Gegensatz zu Zetsu anscheinend keine. Hintereinander gingen sie die Treppe hinunter, die erstaunlich steil in die Tiefe führte, die grob behauenen Stufen waren überraschend rutschig und Leana fürchtete mehr als einmal, dass Ylva stolpern und hinunterfallen würde. Doch das Mädchen fing sich immer sofort wieder als ob sie einen Schutzengel hätte, der ihr stets half, ihre Balance zurückzugewinnen. Auf dem Grund angekommen blickten sie schließlich alle gemeinsam in dieselbe Richtung. Inmitten der Dunkelheit gab es lediglich einen Durchgang, der von einem merkwürdigen blauen Licht erhellt wurde. Ayumus Gesicht hellte sich ebenfalls sofort wieder auf. „Wir sind da.“ „Ich dachte, du warst hier noch nie“, erwiderte Leana. Der Ninja schmunzelte darauf. „Aber blaues Licht ist immer das Zeichen dafür, dass man sein Ziel erreicht hat, wusstest du das nicht?“ Sie verzichtete wohlweislich auf eine Erwiderung und lief stattdessen weiter, gefolgt von Ylva und Ayumu, der wieder zu summen begann in freudiger Erwartung, dass seine Aussage als richtig geprüft werden würde. Leana rechnete mit einigem, was sie am Ende dieser Höhle erwarten würde. Dem anderen Ninja, der sich mit ihnen in der Höhle befinden sollte, irgendeinem Monster, das sie in die Irre geführt hatte oder lediglich einer Ansammlung von phosphorhaltigem Gestein. Aber niemals hätte sie eine Quelle wie diese erwartet. Das glasklare Wasser mit der makellosen Oberfläche erlaubte ihr einen Blick bis auf den Grund, lediglich eine bestimmte Stelle lag im Dunkeln, doch Leana kümmerte sich nicht weiter darum. Ihre Aufmerksamkeit galt bereits der Wand auf der anderen Seite der Quelle. Ein darin eingelassenes Juwel glühte in einem erstaunlich intensiven blauen Schein. „Wow... was ist das?“ Stolz flammte in Ayumus Augen auf, als er sich auf die Brust klopfte. „Das ist das Geheimnis, weswegen niemand diese Höhle betreten kann – egal, was du sagst. Und es gibt dieser Quelle die Fähigkeit, den Fluch von dir zu nehmen.“ „Das will ich doch hoffen...“ Wieder sah sie ins Wasser hinein. Einzelne Plattformen schienen wie Stufen in das Becken hineinzuführen und luden geradezu ein, sich auf ihnen niederzulassen und das wohltuende Nass zu genießen. „Was muss sie jetzt tun?“, fragte Ylva neugierig. Leana hoffte, dass es etwas Leichtes war, damit sie Isolde endlich wiederbekommen würde. Die Zeit ohne Zetsu war schlimm genug, aber ihr fehlendes Shinjuu war der letzte Stoß, den es brauchte, um sie noch verbitterter werden zu lassen – dummerweise hatte sie aufgrund ihrer beiden Begleiter nicht sonderlich viel Zeit, um wirklich verbittert zu sein. „Sie muss darin baden~“ Sie glaubte, sich verhört zu haben, doch obwohl er grinste, wirkte er vollkommen überzeugt von sich selbst und total ernst. „Das ist echt so, das wurde uns beigebracht, als wir Kinder waren.“ „Okay, dann werde ich das machen.“ Nach ihrer Zustimmung wartete Leana darauf, dass die anderen beiden sie alleinlassen würden, damit sie sich ausziehen und ins Wasser gehen konnte, doch keiner von ihnen rührte sich. „Wollt ihr ewig da stehenbleiben?“ „N-natürlich nicht“, sprang Ylva sofort darauf an und ergriff Ayumus Hand, um ihn trotz seines Protests mit sich zu ziehen. Leana wartete einen Moment, bis sie seine Stimme nicht mehr hören konnte, dann entledigte sie sich ihrer Kleidung, legte diese fein säuberlich beiseite und band umsichtig ihr Haar hoch. Schließlich durchbrach sie die bis dahin unberührte Wasseroberfläche. Sie hatte erwartet, dass die Flüssigkeit sich kalt anfühlen würde, doch sie war erstaunlich warm, so angenehm, dass sie sich mit Freude hinsetzte, um dem ihren ganzen Körper auszusetzen. Das blaue Leuchten des Juwels beruhigte Leana und ließ sie ihre Augen schließen, um den Moment der vollkommenen Stille zu genießen – und da fiel ihr auch auf, dass etwas ganz Bedeutendes fehlte, was sie erst in die Tiefen dieses Labyrinths geführt hatte: Woher kam eigentlich das Geräusch des Glöckchens vorhin? Hätte nur sie es gehört, wäre es von ihr als Einbildung abgetan worden, doch die anderen hatten es auch gehört und Ylva war sogar davon überzeugt gewesen, dass sich hier unten noch ein Mensch außer ihnen befinden würde. Mit Sicherheit hatte sie sich das nicht eingebildet. Sofort spannte Leanas Körper sich wieder an, sämtliche Entspannung war verflogen. Sie hielt den Atem an, als sie nach verdächtigen Geräuschen lauschte – und fuhr sofort herum, als tatsächlich etwas hinter ihr erklang, bereit, jedem Monster in die Augen zu sehen, das sich hier befinden könnte. Doch als sie erkannte, wer es war, blinzelte sie verwirrt. „Was tust du hier?“ Kapitel 12: Der Leviathan ------------------------- Ayumu antwortete nicht sofort. Sein Blick schien immer noch fest auf Leanas Körper gerichtet zu sein und davon nicht so bald wieder abzukommen. Erst als Leana sich wieder ins Wasser setzte, so dass er keinen ungehinderten Blick mehr auf sie hatte, fing er sich, so dass sie die Gelegenheit gekommen sah, ihre Frage zu wiederholen: „Was tust du hier?“ Er zögerte mit der Antwort und das, was er sagte, konnte von ihr einwandfrei als Lüge erkannt werden: „Ich dachte mir, ich stelle sicher, dass es dir gut geht.“ „Ja, klar. Du bist zum Spannen gekommen, oder?“ Gespielt gekränkt legte er eine Hand auf sein Herz. „Aber nein. Wie kommst du denn darauf? Ich bin regelrecht empört, dass du mir so etwas zutraust!“ Leana verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich ein wenig zurück. Sie sagte nichts, aber ihr Blick genügte, dass er unter diesem zusammenbrach. „Okay, okay, ich wollte spannen. Und? Willst du mich jetzt schlagen?“ Sie rollte mit den Augen. „Du solltest deine Zeit sinnvoller einsetzen. Bei mir gibt es immerhin nichts zu sehen.“ „Das sehe ich anders“, erwiderte er mit einem koketten Lächeln. Unter normalen Umständen hätte sie nicht einmal mit den Augen gerollt, sondern ihn fortan einfach ignoriert, aber in diesem Fall erinnerten sie seine Worte wieder einmal an Zetsu und das konnte sie langsam nicht mehr ertragen. Am Liebsten hätte sie diese Welt nur noch verlassen – aber ohne ihr Shinken war das nicht möglich. Schmunzelnd dachte sie daran, dass Zetsu sie in einem solchen Moment des Zweifels wohl gefragt hätte, ob sie wirklich einfach so gehen und allen anderen den Rücken zuwenden könnte und wie so oft wäre ihre Antwort gewesen, dass es ihr nicht möglich war. Fuu hatte sie in diese Welt gelotst, was bedeutete, dass etwas nicht stimmte und jemand ihre Hilfe benötigte und in einem solchen Fall konnte sie sich nicht einfach abwenden. Sie verfluchte ihre Ausbildung zur Ritterin, die dafür verantwortlich war, alle anderen vor sich selbst zu stellen. „Wie auch immer“, bemerkte sie, als ihr auffiel, dass er sie immer noch ansah und dabei versuchte, einen besseren Blick auf sie zu erhaschen. „Du kannst jetzt ruhig wieder gehen.“ Doch statt zu gehen, verschränkte er die Arme vor der Brust, plötzlich ungewohnt ernst. „Ich hatte eigentlich noch einen Grund, herzukommen. Mir macht etwas Sorgen, aber ich wollte das nicht vor der Kleinen erwähnen.“ „Ja? Was denn?“ „Wir haben vorhin dieses Glöckchen gehört, das heißt, außer uns muss noch jemand hier sein.“ Sie war beeindruckt von dieser Einsicht. Offenbar war seine vorige Überzeugung lediglich vorgespielt gewesen, warum auch immer er so etwas tun sollte. „Aber wir haben niemanden gesehen“, fuhr er fort. „Also muss... noch jemand hier irgendwo sein.“ Dabei sah er sich aufmerksam um, doch entdeckte er ebenfalls nur Dunkelheit, so wie sie schon zuvor. „Auch wenn ich nicht weiß, wie jemand hier hereingekommen sein könnte. Wie gesagt, man muss zu unserem Clan gehören, um den Schutz am Eingang zu umgehen. Aber ich weiß nicht, ob das auch für eventuelle andere Zugänge gilt, darüber wurde nie gesprochen.“ Die Angespanntheit von vorhin kehrte wieder zurück. Leana überkam das Gefühl, von allen Seiten beobachtet und bedroht zu werden – und im Moment fühlte sie sich dem noch dazu hilflos ausgeliefert, es gab nichts, was sie einem Feind entgegensetzen konnte und sie hasste es, schutzlos zu sein. „Mach dir keine Sorgen, ich beschütze dich.“ Sein großmütiges Lächeln schaffte es nicht im Mindesten, sie zu beruhigen. Stattdessen ließ es sie diesmal wirklich mit den Augen rollen. „Ja, mit Sicher-“ Eine plötzliche Bewegung unter Wasser, ließ sie verstummen. „Was war das?“ Offenbar hatte Ayumu das ebenfalls mitbekommen. Er trat einen Schritt näher, um besser nach unten sehen können, doch die Bewegung schien von dem dunklen Fleck zu kommen, der ihr bereits zuvor auf dem Grund aufgefallen war. Zwei Lichter blitzten auf – und im nächsten Moment schoss etwas aus dem Wasser. Beiden entfuhr ein überraschter Ausruf, es dauerte einen kurzen Augenblick, bis sie erkennen konnten, was es war. Zumindest Ayumu erkannte es, Leana dagegen blinzelte nur verwirrt, über dieses schuppige Schlangenwesen mit einem Fühler auf dem Kopf, dessen Ende offensichtlich ein Glöckchen war, welches das Geräusch verursachte, das sie zuvor gehört hatten. „Ein Leviathan“, murmelte Ayumu erstaunt „Was macht der hier?“ Für ein solches Fabelwesen empfand sie diese Schlange als zu klein, auch wenn sie durchaus riesig war für ein gewöhnliches Exemplar. Aber es war gut möglich, dass das Wesen in dieser Welt eben nicht als derart riesig bekannt war oder aber... „Ist er noch jung?“, hakte Leana nach. „Gut möglich. Normalerweise dürfte es hier auch keinen geben, die sind eigentlich nur im Ozean ansässig. Das muss wohl ein... kleiner Verwandter oder so sein.“ Einer, der Leana äußerst aggressiv vorkam. Das nervöse Schlängeln des Wesens ließ sie ebenfalls unruhig werden, besonders da sie noch direkt daneben im Wasser saß. „Beweg dich nicht“, sagte Ayumu. „Ich glaube, es ist blind und hat deine Anwesenheit bislang noch nicht wirklich registriert.“ Seine dafür umso mehr, so wie es sich auf ihn konzentrierte. „Wenn ich ihn weit genug weglocke, kannst du zurück zu Ylva.“ Leana wollte widersprechen, beließ es dann aber beim reinen Willen und nickte knapp, um ihm zu zeigen, dass sie verstanden hatte. Kaum war ihre Bestätigung gekommen, zog Ayumu ein beschriftetes Stück Papier aus seiner Tasche. Er hielt sich dieses vor sein Gesicht und murmelte etwas, was sie nicht verstehen konnte. Den Leviathan interessierte das offenbar aber nicht weiter. Er stieß einen furchterregenden Schrei aus, ehe er sich auf Ayumu stürzte. Der Ninja beendete den Spruch offenbar gerade rechtzeitig, das Stück Papier verbrannte augenblicklich, dafür erschien ein Schild vor ihm, an dem der Leviathan abprallte. Leana huschte derweil an Ayumu vorbei, um nicht nur zu ihren Sachen zu kommen, sondern mit diesen weiter zu Ylva zu fliehen. Es überraschte sie ohnehin, dass die Inugami den Lärm noch nicht mitbekommen hatte und ihnen zur Hilfe geeilt war. Mit ihren Sachen auf dem Arm, lief Leana hastig weiter, ein kurzer Blick über ihre Schulter verriet ihr, dass der Shinobi inzwischen sein Katana gezogen hatte, um mit dem Leviathan zu kämpfen. Das Glöckchen am Fühle des Wesens gab immer wieder einen hohen Klang von sich, bevor das Wesen mit einem erneuten Schrei gegen die Wand oder auf den Boden krachte. Da der Leviathan über keine Füße verfügte, glaubte Ayumu wohl, an Land bessere Karten im Kampf zu haben. Leana hoffte, dass er damit recht behielt. Doch bevor sie den Durchgang hinter sich bringen konnte, um zu Ylvas Aufenthaltsort zu kommen, blieb sie stehen, da ihr spontan eine Idee kam. So groß der Gang auch war, um einen Menschen bequem hindurchgehen zu lassen, war er nicht im Mindesten für den Leviathan geeignet. Hastig zog sie sich ihre Sachen an, dann huschte sie wieder zu Ayumu zurück. „Was willst du?“, fragte der Shinobi. Er hob das Katana, um einen neuerlichen Angriff abzuwehren. Der Leviathan reagierte mit einem wütenden Brüllen und bewegte sich ein weiteres Stück aufs Land. „Ich habe eine Idee, wie du das Monster beseitigen kannst.“ „Oh ja?“ „Wir müssen den Leviathan nur zu diesem Durchgang locken.“ Verstehend nickte er ihr zu. „Gut, ich kann mir denken, was du vorhast. Lauf voraus.“ Hastig fuhr sie herum und rannte wieder in Richtung des Durchgangs. Wenige Sekunden später hörte sie, wie Ayumu ihr folgte und dabei mit weiteren Angriffen den Leviathan dazu brachte, ihnen ebenfalls hinterher zu eilen. Obwohl er keine Beine besaß, bewegte er sich überraschend schnell an Land, wie Leana feststellte und der Atem, den den das Wesen ausstieß, war auch nicht sonderlich angenehm und erstaunlich heiß, so dass er ihr die Haarspitzen versengte. Obwohl sie das Laufen noch aus der Ritterzeit gewohnt war, kam es ihr plötzlich vor als ob sie sich die letzten Jahre zu sehr auf ihr Shinken verlassen hatte, jegliche Kraft verließ ihre Beine, sie strauchelte – doch bevor sie fallen konnte, spürte sie, wie Ayumu nach ihrem Arm griff und sie mit sich zog. „Komm schon, nicht aufgeben!“ Natürlich, sie durfte nicht aufgeben, nicht bei diesem Gegner und auch nicht in dieser Welt. Auch wenn sie glaubte, ihre Beine würden jeden Moment einfach auseinanderbrechen, gab sie sich Mühe, weiterzulaufen – und erreichte kurz darauf tatsächlich mit Ayumu den Durchgang. Hinter sich hörte sie, wie der Leviathan ihn ebenfalls erreichte und sich mit einem Krachen einen Weg hineinbahnte. Die engen Wände behinderten sein Fortkommen, doch kaum waren sie aus dem Durchgang draußen, gaben Leanas Beine unter ihr nach und sie stürzte zu Boden. Da Ayumu sie nicht losließ, riss sie ihn unbeabsichtigt mit sich. „Au!“, beschwerte er sich, rappelte sich aber sofort wieder auf. Leana dagegen wandte nur den Kopf und sah gerade noch wie der Leviathan sein Haupt ebenfalls aus dem Gang streckte – und dann einfach steckenblieb. Ayumu grinste triumphierend. „Sieht so aus als ob es das Ende dieser Jagd wäre.“ Für Leana sah das ganz und gar nicht danach aus. Zwar schien der Leviathan nicht mehr freizukommen, egal wie sehr er sich wand und dabei versuchte, vorwärts oder rückwärts zu kriechen, aber das Wesen wirkte als ob es noch etwas in petto hatte – und das demonstrierte es auch sofort, indem es das Maul öffnete. Mana begann sich zwischen den enormen Kiefern zu sammeln und manifestierte sich alsbald in einer hell leuchtenden Kugel. „Das ist nicht gut“, bemerkte Ayumu, der diesen Energieball wie gebannt ansah. Leana versuchte, aufzustehen, aber ihre Beine gaben sofort wieder unter ihr nach. Fluchend fiel sie auf ihre Knie zurück, sich fragend, warum sie heute so schwach war und was sie nun tun sollte. Der Shinobi neben ihr rührte sich immer noch kein Stück, von Ylva war weit und breit nichts zu sehen, aber keiner der beiden durfte hier unten sterben. „Ayumu!“ Ihr Zuruf erweckte ihn aus seinem Starren, er blickte auf sie hinunter – und da schien ihm erst wirklich bewusst zu werden, dass sie sich in Gefahr befanden. Blass geworden, kniete er sich neben sie, um sie hochzuheben. „Lass das!“, fauchte sie ihn an. „Geh und such Ylva!“ Mit ihr auf dem Arm würde er die steile Treppe nach oben sicher nicht schaffen, aber mit der kleinen Inugami könnte es gehen – wenn wer sie rechtzeitig finden würde. Allerdings schüttelte er entschieden mit dem Kopf. „Ich habe mich schon entschieden, ich rette dich. Die Kleine ist bestimmt schon in Sicherheit.“ „Dann rette dich selbst, Idiot!“, fauchte sie weiter. „Was aus mir wird, ist egal!“ Er ließ sich allerdings nicht davon abbringen, mit ihr auf dem Arm zur Treppe zu laufen, nicht einmal, als sie ihm ins Gesicht schlug, damit er sie endlich fallenließ und alleine floh. Sie fühlte sich zurückversetzt in frühere Zeiten... Zetsu hätte mit Sicherheit genauso eisern alles ertragen, was sie ihm antat, selbst ihr „Ich hasse dich“ änderte nichts an der Situation. Erst als er bereits mehrere Stufen hinter sich gebracht und damit seinen Willen demonstriert hatte, hörte sie mit ihrem Protest auf. Dafür schnürte sich ihre Kehle zusammen, das Gefühl, in Tränen ausbrechen zu müssen überkam sie – nur dass sie das nicht mehr konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte. Sie warf einen Blick über Ayumus Schulter. Dem Leviathan war ihr Fluchtversuch nicht verborgen geblieben. Offenbar hatte er seinen Körper nun so angewinkelt, dass der aus der Manasammlung resultierende Energiestrahl sie auf jeden Fall treffen würde. Selbst ohne die Hilfe ihres Orichalcum-Namens konnte sie spüren, wie machtvoll der Angriff werden würde. „Wir schaffen es nicht“, murmelte sie leise. Vor ihrem geistigen Auge sah sie wieder Zetsu vor sich, der sie sanft anlächelte, ein selbstsicheres Lächeln, das ihr damals ebenfalls immer viel Kraft gegeben hatte. Wenn er nur da wäre... Eine plötzliche Bewegung riss sie aus ihren Gedanken, wischte das geistige Bild von Zetsu fort und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Ninja, der sich von der oberen Plattform gerade in die Tiefe stürzte. Ayumu blieb schwer atmend stehen, als er das ebenfalls bemerkte. „Wer ist das?“ „Vielleicht einer von deinem Clan?“, vermutete Leana, doch er schüttelte direkt mit dem Kopf. „Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Sie überlegte, ihn darauf hinzuweisen, dass er gesagt hatte, dass nur Hi-Ninja diese Höhle betreten konnten, verwarf den Gedanken aber wieder und beobachtete stattdessen neugierig den Unbekannten als ob keiner von ihnen in Gefahr schweben würde. Noch im Flug zog der Shinobi eine Waffe – und kaum war er direkt neben dem Kopf des Leviathan gelandet, verpuffte die Energiekugel wieder. Das Wesen bewegte sich kein Stück. Erst als der Shinobi sein Katana wieder einsteckte, trennte sich der Kopf vom Rumpf. Das Glöckchen läutete noch einmal und verstummte dann scheinbar für immer. „Wow~“, entfuhr es Ayumu. „Hast du das gesehen? Er hat nur einen einzigen Schlag gebraucht.“ „Wir sollten... uns bei ihm bedanken.“ Obwohl die Bedrohung nun verschwunden war, fühlte Leana immer noch diese Enge in ihrer Brust, sie waren noch nicht vollkommen in Sicherheit, etwas stand ihnen noch bevor. Der fremde Shinobi war bei der diffusen Beleuchtung der Höhle nur schwer zu erkennen, allerdings schaffte er es, rasch wieder nach oben zu klettern, ohne auch nur einmal das Wort an sie zu richten. „Dann mal weiter~“, entschied Ayumu und setzte die Treppenbesteigung fort. Doch mit jedem seiner Schritte schwand Leanas Neugierde und machte einer Erkenntnis Platz, die die gleichzeitig bedrückte und freute. Im Gegensatz zu Ayumu wusste sie instinktiv genau, wer da oben auf sie wartete – und sie wusste, dass es kein gutes Zusammentreffen werden würde. Kapitel 13: Begegnungen ----------------------- Sie hoffte, sich zu irren. Sie hoffte, dass dort nicht Hyperion stand, der nur auf sie gewartet hatte, dass dort ein ihr fremder Ninja stand, der nur zufälligerweise in der Gegend gewesen war und auch nur wegen einer Laune des Schicksals langes silbernes Haar besaß. Einen kurzen Moment glaubte sie, hoffen zu dürfen, denn Ayumus Lächeln schwand nicht, als er den anderen Shinobi entdeckte. Doch dann, gerade als sie erleichtert aufatmen wollte, sanken seine Mundwinkel unsagbar langsam nach unten und er wurde augenblicklich ernst. Fast noch mehr als zu zuvor bei der Begegnung mit dem Leviathan. Leana wusste, dass nichts Gutes zu erwarten war. Zumindest war er umsichtig genug, sie auf dem Boden abzusetzen, ehe er auf den anderen Shinobi zuging. „Was suchst du hier, Hyperion?“ Seine grollende Stimme erinnerte absolut nicht an den sonst so sanftmütigen Ayumu. Zu Leanas Überraschung antwortete Hyperion sogar, wenn auch nur mit einem einzigen Wort: „Shoubi...“ Sie zuckte zusammen und blickte auf das Schwert hinunter, das im Moment keinerlei Anzeichen dafür zeigte, ein Shinken zu sein. Aber was sie mehr als dieses Wort überrascht hatte, war seine Stimme gewesen. Es war eindeutig die von Zetsu, daran gab es absolut keinen Zweifel. Selbst nach all diesen Jahren war ihr diese Stimme so vertraut als wäre sie nie verstummt. Ayumu schien das nicht zu verstehen und neigte nur überrascht den Kopf, so dass Leana eine Frage dazwischenwarf: „Warum suchst du danach?“ Er antwortete nicht, aber als er ihr den Kopf zuwandte, spürte sie ein heftiges Ziehen in ihrem Körper, gefolgt von einem beißenden Brennen an ihrem Arm, wo der Orichalcum-Name saß. Es hielt nur einen kurzen Augenblick an, vermutlich weil er der Name immer noch inaktiv war, aber es genügte, um ihr den Schmerz nahezubringen, den Hyperion mit Sicherheit auch durchlitt – zumindest glaubte sie das, da der Shinobi plötzlich keuchte, sich an den Kopf griff und zurückwich als wäre er von einem Angriff getroffen worden. Dieser kurze Eindruck war derart intensiv, dass sie am Liebsten aufgestanden und zu ihm hinübergelaufen wäre, um ihn tröstend in die Arme zu schließen. Aber sie rührte sich kein Stück. „Ist das schräg“, brummte Ayumu, ehe er wieder die Stimme hob: „Glaub ja nicht, dass du mir was vormachen kannst! Ich lasse dich nicht so einfach laufen, nachdem du meinen gesamten Clan ausgelöscht hast!“ „Er macht dir nichts vor!“, erwiderte Leana fast schon wütend, auch wenn sie nicht sagen konnte, woher dieser Zorn rührte. Ayumu sah zu ihr hinüber, sein Blick eine Mischung aus Unverständnis und der Frage, ob sie eigentlich noch wüsste, was sie da sagte. Genervt davon wandte sie sich ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Er tat es ihr nach und drehte sich wieder zu Hyperion, der sich von seinen Schmerzen erholt zu haben schien und zum Kämpfen bereit stand. „Du bist also bereit zu sterben“, schlussfolgerte Ayumu. „Gut für dich.“ Er zog sein Katana und stürmte auf seinen Feind zu. Hyperion reagierte sofort, doch statt auszuweichen, zog er seine eigene Klinge, um die seines Angreifers abzuwehren. Die wenigen Funken, die von dem Metall sprühten, verglühten noch ehe sie den Boden erreichten. Beide sprangen auseinander, nur um direkt danach wieder aufeinander zuzustürmen. Mehrmals hintereinander erklang das erneute Aufprallen der Schwerter, öfter als Leana es aufgrund der Schnelligkeit sehen konnte, für ihre Augen gab es wesentlich weniger Aufeinandertreffen. Aber sie glaubte, jeden einzelnen Schlag spüren zu können, wie sich eine Messerklinge mit jedem Schlag tiefer in ihren Arm mit dem Orichalcum-Namen grub und sie war froh, dass dieser im Moment nicht aktiv war. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie schmerzhaft das dann wäre, denn etwas tief in ihr sagte ihr, dass es keineswegs auf diesem Level bleiben würde. Doch als sie sich an diesen Schmerz, das ewige Bohren und Nagen, endlich einigermaßen gewöhnt hatte und die Abstände, in denen er sich verschlimmerte, einschätzen konnte, fiel ihr etwas auf, wofür sie sich am Liebsten selbst geohrfeigt hätte, weil es bislang so weit außerhalb ihrer Aufmerksamkeit gewesen war: Ylva war auch hier oben nirgends zu sehen. Beide Ninja waren immer noch auf den Kampf miteinander konzentriert und sie glaubte, die Entschlossenheit beider in ihrem Kopf spüren zu können. Keiner achtete auf sie, so dass sie sich vorsichtig aufrichten konnte. Ihre Beine fühlten sich endlich wieder wie Teile ihres Körpers an, die ihr sogar gehorchten, so dass sie keinerlei Probleme damit hatte. Zwar spürte sie ein unangenehmes Prickeln in den Unterschenkeln, so als ob sie eingeschlafen wären und nun erst wieder wachwerden müssten, doch die Sorge um Ylva trieb sie voran. Sie stolperte ein wenig bei ihren ersten Schritten, fing sich allerdings sofort wieder und lief weiter. Sie wich Ayumu aus, der einen Moment nicht auf sie geachtet hatte und deswegen in seinem ungestümen Kampfwahn beinahe über sie gestolpert wäre. Seine Aufmerksamkeit blieb dennoch weiter Hyperion zugewandt, keiner von beiden schien davon Notiz zu nehmen, dass sie sich von ihnen entfernte. Mit jedem Schritt, den sie von ihnen wegtat, ließen die Schmerzen nach, auch wenn sie hören konnte, dass der Kampf noch weitertobte. Als sie in einen Gang trat, der von der Klippe wegführte, war der Schmerz nur noch ein leichtes Ziepen, das sich in unregelmäßigen Abständen bemerkbar machte, gefolgt von einem Ziehen, das ihr zu sagen schien, dass sie zurückkommen sollte, statt die beiden aus den Augen zu lassen. Ihr fiel bald auf, dass dieser Gang anders war als jener, durch den sie hergekommen waren, nicht zuletzt weil er wesentlich mehr Abzweigungen besaß – jener davor konnte Null sein Eigen nennen, dieser schaffe es schon nach wenigen Metern auf vier – auch das Gefühl war ein anderes. Es roch weniger feucht und modrig und es war wärmer, Leana vermutete, dass dieser Gang zu einem anderen Ausweg führte, zumindest wenn man de richtigen Abzweigungen nahm. Irgendwie musste Hyperion ja hereingekommen sein. Sie nahm aufs Geratewohl irgendeinen Weg, der ihr richtig erschien, ohne daran zu denken, dass sie sich möglicherweise verlaufen könnte, sie war sich vollkommen sicher, zu wissen, dass das nicht geschehen würde. Schließlich trat sie in einen Raum, in dem es keinen weiteren Gang gab – aber das war auch nicht nötig, denn sie hatte gefunden, was sie gesucht hatte. Ylva kniete auf dem Boden und unterhielt sich lachend mit etwas, was Leana auf den ersten Blick nicht sehen konnte, doch ein plötzlicher Impuls in ihren Gedanken verriet ihr bereits, wen sie dort sehen würde, auch wenn sie nicht glaubte, dass das sein konnte. „Ylva.“ Die Inugami wedelte mit dem Schwanz, als sie ihren Namen hörte und fuhr dann herum. „Leana!“ Als sie den Körper zur Seite wandte, konnte Leana erkennen, dass ihr Impuls im Recht gewesen war. Vor Ylva saß ein kleines Wesen, kaum größer als eine Puppe. Das fliederfarbene Haar hätte Leana sofort wiedererkannt, selbst wenn sie eine wesentlich größere Version dieser Person nicht erst vor Kurzem gesehen hätte. „Nanashi.“ Sie freute sich nicht, dieses Shinjuu wiederzusehen. Das hatte sie schon in der Ramenbude nicht getan, aber dennoch war da das Gefühl, dass sie ihren Namen sagen musste, um die Begegnung Realität werden zu lassen. Auch wenn sie nicht im Mindesten verstand, wie es sein konnte, dass sie in dieser Welt zweimal existierte. Doch das Shinjuu schien sie nicht wiederzuerkennen. „Uhm... wer warst du nochmal?“ Leana runzelte die Stirn. „Wir haben uns erst vor Kurzem getroffen, erinnerst du dich nicht?“ Nanashi schüttelte mit dem Kopf, sie schien es ehrlich zu mein, denn in ihren großen Augen – oh, wie hatte Leana diese unschuldigen Augen, die Zetsu immerzu eingewickelt hatten, zu hassen gelernt – sah sie keinen Funken des Wiedererkennens, sie blieben naiv und ratlos. Leana konnte das aber nur recht sein, immerhin würde sie Nanashi damit möglicherweise endlich loswerden, zumindest für eine Weile... tief im Inneren hoffte sie immer noch, Zetsu irgendwie wiederzubekommen, wenn sie sich mit Hyperion auseinandersetzte. Aber auf sein Shinjuu konnte sie gut verzichten. Ylva stand auf, worauf auch Nanashi sich in die Luft erhob. „Woher kennt ihr euch?“ Leana zog es vor, nicht darauf zu antworten. „Lass uns zu Ayumu zurückgehen. Ich mache mir langsam Sorgen.“ Zwar spürte sie in ihrem Arm, dass der Kampf mit unveränderter Intensität anhielt, doch wollte sie wissen, ob es den beiden gutging. Ja, insgeheim sorgte sie sich um beide. Um Ayumu weil er ihr sympathisch war und um Hyperion, weil sie überzeugt war, dass es sich bei ihm um Zetsu handelte – zumindest um einen Teil von ihm. „Kann Nanashi mit uns kommen?“ Leana hätte gern abgelehnt, aber sie wollte sich weder auf Erklärungen noch auf Diskussionen einlassen, weswegen sie einfach nur nickte. „Von mir aus.“ Deutlich distanziert wandte sie sich ab und ging wieder davon. Sie fand die richtigen Abzweigungen, ohne bei auch nur einer von ihnen lange überlegen zu müssen, denn auf die Art hätte sie wohl nie zurückgefunden, wie sie sich selbst eingestehen musste. Das Ziehen wurde mit jedem Schritt schwächer als ob es sich freuen würde, dass sie zurückkam, dafür wurde der Schmerz wieder intensiver. „Ylva, wieso bist du eigentlich hier, statt weiter vorne?“, fragte Leana, um sich von dem neu zu gewöhnenden Schmerz wieder abzulenken. „Oh, dieser silberhaarige Ninja ist gekommen und meinte, es wäre dort zu gefährlich und ich soll mich ein wenig zurückziehen. Also habe ich das getan.“ „Er hat mit dir gesprochen?“ Hyperion schien ihr nicht sonderlich kommunikativ zu sein, selbst zu ihr hatte er bislang nur ein Wort gesagt, weswegen es sie doch ein wenig verwunderte. Doch Ylva schüttelte sofort den Kopf. „Nein. Aber wir Inugami sind sehr empathisch, wir spüren, was andere uns sagen wollen.“ Ihre Ohren zuckten, als sie das mit stolzgeschwellter Brust sagte. Leana nickte verstehend und beließ es dabei. Sie bemerkte, dass Nanashi ihnen tatsächlich folgte und in einigem Abstand hinter ihnen herschwebte. Schließlich, als der Schmerz schon wieder übermenschlich zu werden drohte, erreichten sie die Klippe, wo der Kampf nach wie vor tobte. Inzwischen nutzten beide neben ihren Katana auch die Shuriken, die sie auf den jeweils anderen schleuderten. Allerdings waren sie immer schnell genug, um auszuweichen. Der Boden und die Wände waren bereits mit all den Sternen gespickt, auch der Platz an dem Leana zuvor gesessen hatte. Gut, dass ich weggegangen bin. Das hätte böse enden können. Der Kampf wurde überraschend unterbrochen, als Ylva mehrere Schritte vortrat. „He! Hört doch auf damit! Was tut ihr denn!?“ Beide hielten augenblicklich in ihren Bewegungen inne und blickten zu der Inugami hinüber. Der Schmerz schwand augenblicklich und auch das seltsame Rumoren in Leanas Kopf verschwand. Der Kampfeswille von beiden schwand, als sie das Mädchen erkannten. Ayumu senkte sogar den Blick, als würde er sich dafür schämen, dass das Temperament mit ihm durchgegangen war. Hyperion dagegen hielt lediglich einen kurzen Augenblick inne – und verschwand. Er löste sich nicht einfach auf, sondern huschte in den Gang hinein, aus dem Leana eben gekommen war, aber derart schnell, dass sie ihm nicht mit den Augen folgen konnte. Was sie allerdings sehr wohl bemerkte, war der fliederfarbene Schatten, als gemeinsam mit ihm auch Nanashi verschwand. Ayumu schnaubte. „Hättest du mich nicht unterbrochen, Ylva, hätte ich ihn fertiggemacht. Ich war so dicht dran.“ Mit Zeigefinger und Daumen zeigte er nicht einmal einen Zentimeter Abstand an, wofür er einen skeptischen Blick von Leana erntete, unter dem er nervös zu lachen begann. „Na gut, das war übertrieben. Aber es lief doch ganz gut, oder? Immerhin habe ich ziemlich lange überlebt.“ „Jedenfalls besser als die Sache mit dem Gegenmittel für meinen Fluch“, stimmte Leana zu. „Dir bleibt wohl nur abwarten“, erwiderte Ayumu, „wenn das nicht funktioniert hat. Irgendwann lässt der Fluch des Mistelzweigs schon nach.“ „Du machst mir Mut...“ „Und so lange bleiben wir zusammen.“ Seine Augen funkelten triumphierten. „Du und ich, durch das Schicksal vereint, auf immer und- he, wo gehst du hin!?“ Noch während des Beginns seines Vortrags, der mit Sicherheit noch kitschiger geworden wäre, war sie bereits in den Gang zurückgekehrt. „Lass uns endlich hier raus. Ich kann diese Höhle nicht mehr sehen.“ Er seufzte ergeben und schloss sich ihr gemeinsam mit der treuherzigen Ylva an – nicht ohne dabei anzumerken, dass er hoffte, sie würden nicht für immer und ewig in diesem Labyrinth herumirren. Kapitel 14: Eos' nächster Plan ------------------------------ Mit großer Irritation betrachtete Eos das Mitbringsel Hyperions, das er statt der Rose nach der Rückkehr präsentiert hatte. Erst hatte die Präfektin ihn dafür tadeln wollen, doch dann war die Betrachtung dieses Wesens doch wichtiger gewesen. Schon auf den zweiten Blick konnte sie erkennen, dass es ein sehr wichtiger Fund war und es daher vollkommen richtig von ihm gewesen war, es mitzubringen. Die großen, rotbraunen Augen musterten Eos ebenso fasziniert, aber mit einer Naivität, welche die Präfektin gleichzeitig einnehmend und abscheulich fand. Sie wollte das puppengroße Wesen nehmen und es an sich drücken wie einen alten Freund und gleichzeitig wollte sie es wie eine grässliche und vorlaute Kröte gegen die Wand werfen. Diese widersprüchlichen Gefühle verschreckten sogar Eos selbst, weswegen sie hastig zurückwich und sich eine Hand auf ihr Herz legte als könne sie dieses damit beruhigen. „Wie ist dein Name?“ „Nanashi“, antwortete das Wesen gleichgültig. Der Name sprach etwas in Eos' Inneren an, brachte Saiten zum Schwingen, deren Ton sie allerdings nicht hören konnte. Sie wusste nicht, wer dieses Wesen war, obwohl sie es eigentlich müsste. „Namenlos?“, hakte Eos nach und übersetzte den Namen dabei unbewusst. „Wer ist so herzlos, ein Geschöpf wie dich so zu benennen?“ Lächelnd, als wäre sie sich der Herzlosigkeit nicht bewusst oder als wäre ihr diese vollkommen gleichgültig, zuckte Nanashi mit den Schultern. Eos wandte sich derweil an Hyperion, da deutlich war, dass dieses Wesen ihr keine Antworten würde geben können. Der Shinobi kniete versteckt im Schatten, so dass die durch das Fenster einfallenden Sonnenstrahlen ihn nicht trafen. „Verrate mir, wo du sie gefunden hast“, verlangte Eos. „Ich weiß, warum du sie hergebracht hast, aber nicht, wo du auf sie aufmerksam wurdest.“ Erst schien es als würde er wie üblich mit Schweigen antworten – doch plötzlich konnte sie tatsächlich hören, wie er etwas sagte: „Die Höhle der Leviathan-Quelle...“ Geradezu schockiert konnte Eos nichts anderes tun als ihn anzustarren. Sie konnte es noch nicht so recht glauben, dass sie gerade zum ersten Mal seine Stimme gehört hatte. Normalerweise redete er nie auch nur ein einziges Wort, nicht einmal mit ihr und nun das! Sie fand nur eine einzige Erklärung für diese Veränderung: „Der Einfluss der Rose auf dich, scheint eine Veränderung in dir zu bewirken. Ich weiß nicht, ob mich das freuen soll.“ Immerhin bestand die Gefahr, dass es bedeutete, dass ihr wertvollster Verbündeter sich gegen sie wenden könnte – aber andererseits war das auch ein gutes Zeichen, immerhin hieß es, dass sie mit ihrer Ahnung im Recht war und diese Leana tatsächlich etwas mit ihrer beider Vergangenheit zu tun hatte. Umso stärker brannte in Eos das Feuer, diese Eternal in ihre Hände zu bekommen. Wenn eine kurze Begegnung mit ihr einen solchen Einfluss auf Hyperion verübte, was würde dann erst geschehen, wenn Eos ihr gegenüberstand? Das Klopfen an der Tür unterbrach ihre Vorstellungen, doch sie war nicht enttäuscht, als Yori, ihrer Aufforderung folgend, eintrat. Er verbeugte sich tief. „Eos-dono...“ „Du kommst wie gerufen, mein lieber Yori.“ Bei Gelegenheit würde sie ihn fragen müssen, wie er den Augenblick seines Auftritts so wunderbar abpassen konnte, doch vorerst war etwas anderes wichtig. „Schick General Kobayashi in den Roten Wald. Dort wird in den nächsten Tagen die Eternal durchkommen, die ihn bei seinem letzten Einsatz bloßgestellt hat. Er soll sie abfangen und zu mir bringen.“ Yori verbeugte sich noch einmal, um zu zeigen, dass er verstanden hatte. Als er sich wieder aufrichtete, fiel sein Blick auf die auf dem Tisch sitzende Nanashi. Er wurde augenblicklich blass, verabschiedete sich hastig von Eos und verließ den Raum wieder. Die Präfektin sah ihm nachdenklich hinterher, nachdem er bereits die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Der gute Yori sah aus als hätte er einen Geist gesehen.“ Sie betrachtete erneut Nanashi, die sie unschuldig anlächelte. War er etwa wegen ihr so blass geworden? Erkannte er das kleine Wesen vielleicht wieder? Das sollte sie ihn auch gleich fragen, wenn sie ihn auf seine Auftritte ansprach, aber erneut fiel ihr zuerst etwas wesentlich Wichtigeres ein, so dass sie sich an Hyperion wandte: „Um sicherzugehen, dass Leana auch wirklich den Roten Wald aufsuchen wird, wirst du wieder zu ihr gehen und sie dort hinlotsen, verstanden?“ Zu ihrer Überraschung neigte er den Kopf, stand auf und war bereits im nächsten Moment verschwunden. Leana musste wirklich einen guten Einfluss auf ihn ausüben, so kam es Eos zumindest vor, hatte sie doch für einen kurzen Moment sogar zu spüren geglaubt, dass er sich sogar darauf freute, sie bald wiederzusehen. Das war ein Grund, warum sie Kobayashi schickte, damit er ihr Leana brachte. Sie wusste nicht, wie Hyperion auf einen solchen Auftrag reagieren würde und die Gefahr, dass er sie verriet, war ihr in diesem Fall zu groß, so dass sie es lieber jemandem überließ, der noch eine Rechnung mit Leana offen hatte. Kobayashi würde mit Sicherheit alles daran setzen, sie in seine Hände zu bekommen. Sie musste also nur noch warten. Mit einem zuckersüßen Lächeln wandte sie sich wieder an Nanashi. „Und diese Wartezeit werde ich mit dir überbrücken.“ Es grauste Yori immer noch, selbst als er sich bereits weit entfernt von Eos' Arbeitszimmer befand und das garstige Kichern im Gang davor längst verhallt war. Die Puppe auf dem Tisch war mit Sicherheit keine gewöhnliche gewesen. Das Gesicht, das Haar, ja sogar fast die Kleidung, alles sah ganz genauso aus wie bei der Bedienung in der Ramenbude. Diese Bedienung, das wusste er als Stammgast genau, war kurz vor der Eternal aufgetaucht, hinter der Eos so ehrgeizig her war. Es konnte kein Zufall sein, an so etwas glaubte Yori ohnehin nur selten und bei dieser geradezu frappierenden Ähnlichkeit hätte er das auch nicht glauben können, wenn er gewollt hätte. Einmal mehr keimte in ihm der Verdacht, dass Eos elementar anders war als normale Menschen. Nicht nur aufgrund ihres Verhaltens. Hinter ihr verbarg sich ein Geheimnis, das möglicherweise noch äußerst gefährlich für die gesamte Präfektur werden könnte. Er verlangsamte seine Schritte auch nicht, als er sich bereits auf der anderen Seite des Palastes befand. Im Gegenteil. Er stürmte so schnell die Treppe hinunter, dass er beinahe auf einer der letzten Stufen abrutschte und hinunterfiel. Im letzten Moment fand er sein Gleichgewicht wieder, so dass er seinen Weg ohne Probleme bis zu den Übunsgräumen der Soldaten, die an die Ställe angrenzten, fortsetzen konnte. Erst als er Kobayashi erblickte, wurde er langsamer und hielt schließlich ganz an. Die ungewohnte Anstrengung sorgte allerdings dafür, dass er erst einmal wieder zu Atem kommen musste, was seine brennenden Lungen ihm ein wenig schwer machten. Kobayashi beachtete ihn derweil nicht. Sein Blick war stur auf das Training seiner Männer gerichtet – zumindest glaubte Yori, dass sie trainierten, denn obwohl sie alle mit ihren Schwertern dastanden, bewegte sich keiner von ihnen. „Was wird das?“, fragte Yori verwirrt und hielt sich im nächsten Moment die Hand vor den Mund. Ihm war nicht aufgefallen, dass seine Lungen sich bereits wieder genug erholt hatten, dass er wieder laut sprechen konnte, weswegen ihm die Worte herausgerutscht waren. Kobayashi schnaubte nur und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das fördert die Disziplin. Sie stehen so lange wie möglich mit ihren Schwertern da, die für sie immer schwerer werden. Wer zuerst aufgibt, übernimmt eine Woche den Dienst einer Küchenmagd.“ Selbst Yori empfand das nicht als sonderlich angenehm. Als er noch einmal hinüberblickte, bemerkte er die angespannten Züge auf den Gesichtern der Männer. Jeder von ihnen schien entschlossen, nicht zu verlieren. Er stellte sich vor, dass das Glück und die Freude jedes Einzelnen sehr groß war, wenn schließlich einer von ihnen nachgab. Sein eigenes Katana erschien ihm immerhin in diesem Moment nach dem Dauerlauf schon extrem schwer und es war lediglich an seinem Gürtel befestigt. „Was führt dich hier herunter?“, fragte Kobayashi, immer noch ohne ihn anzusehen. Einen kurzen Moment starrte Yori blicklos ins Leere, als ihm bewusst wurde, dass er selbst es vergessen hatte – nur um sich gleich danach wieder daran zu erinnern. „Eos-dono hat einen Auftrag für Euch, General Kobayashi.“ Noch einmal schnaubte er, Yori glaubte fast, weiße Rauchwolken aus seinen Nasenlöchern kommen zu sehen, so wie in diesen Bildergeschichten, die er als Kind gelesen hatte. „Was ist es dieses Mal?“ Er erklärte Kobayashi, dass er im Roten Wald eine Rebellin gefangennehmen sollte, aber begeistert wirkte der General nicht. Deswegen spielte Yori seinen letzten Trumpf aus: „Es handelt sich um die Eternal, der du beim Schrein begegnet bist.“ Ruckartig wandte Kobayashi ihm seinen Kopf zu. Er blickte Yori an als wartete er darauf, dass dieser lachend abwinken und ihm dann den echten Auftrag sagen würde, doch er blieb standhaft. Schließlich schien der General von diesem Auftrag überzeugt und nickte. „Verstanden.“ Er wandte sich seinen Männern zu, den Arm bereits erhoben. „Männer, wir rücken aus!“ Yori bemerkte sofort, wie sie alle erleichtert ihre Waffen sinken ließen, enthusiastisch zustimmten und dann losstürmten, um sich für den Einsatz fertigzumachen. Obwohl sie auf den ersten Blick alle heillos durcheinanderzulaufen schienen, war bei genauerem Hinsehen erkennbar, dass in dem Chaos eine Ordnung vorhanden war. Jeder Soldat wusste genau, wie der kürzeste Weg zu seiner Ausrüstung war und auch, was er im Anschluss zu tun hatte. Innerhalb weniger Minuten, in denen Yori die Ereignisse nur staunend betrachten konnte, war die gesamte Truppe einsatzbereit, selbst das Pferd des Generals war gesattelt und schnaubte erwartungsvoll. „Da bleibt dir die Spucke weg, was, Jungspund?“ Das stolze Schmunzeln war so deutlich in seiner Stimme zu hören, dass Yori erst gar nicht zu ihm hinübersehen musste, um sich von diesem Gesichtsausdruck zu überzeugen. „Das war großartig“, stimmte der Berater zu. „Solch eine Organisation habe ich noch nie gesehen.“ Selbst unter den Hausangestellten von Eos gab es so etwas nicht. Yori hatte einmal beobachtet, wie zwei Dienerinnen der Präfektin ein Bad vorbereiten wollten und dabei entweder immer wieder miteinander zusammenstießen oder Dinge doppelt erledigten, was höchst ineffizient war. Es hatte Stunden gedauert, bis das Bad endlich fertig gewesen war und dementsprechend wütend war Eos dann auch gewesen. Wenn Yori sich richtig erinnerte, waren die beiden Mädchen umgehend entlassen worden. Eine von beiden, so viel wusste er durch Zufall, arbeitete inzwischen in einem äußerst zwielichtigen Bereich der Präfektur, den er lieber mied, sofern es ihm möglich war. „Disziplin ist wichtig“, brummte Kobayashi. „Dementsprechend wurden meine Leute gedrillt, bis jeder genau wusste, was er zu tun hat und jeder Handgriff saß.“ In diesem Moment begriff Yori, dass Eos wirklich recht hatte: Solange sie eine solche Armee besaß, würde ihr mit Sicherheit nie ein Feind ernsthaft schaden können. Der General verabschiedete sich mit einem Handzeichen von dem Berater und ging zu seinem Pferd hinüber. Kaum war er aufgestiegen, brüllte er undeutlich einen Befehl, der von den Soldaten mit einem ebenso undeutlichen Ruf erwidert wurde – und schon setzte sich die gesamte Truppe in Bewegung. Innerhalb weniger Minuten war der gesamte Stall vollkommen leer mit Ausnahme von Yori und einigen Pferden, die noch in ihren Boxen standen und leise schnaubten und mit den Hufen auf dem Boden scharrten als würden sie am Liebsten ebenfalls ausrücken. Yori dagegen fuhr herum, als er sich von dieser Atmosphäre endlich gelöst hatte, um zu Eos zurückzukehren und ihr zu berichten, dass ihr Auftrag ausgeführt werden würde. Auch wenn es ihm bereits davor graute, wieder in den Gang zurückzukehren, der zu ihrem Arbeitszimmer führte. Sie wusste es wohl nicht und er würde sich hüten, es ihr je zu erzählen, aber dank dieses Ganges wusste er genau, wann sie ihn brauchte – wann immer sie dabei war, einen Plan zu schmieden und mit dem Gedanken spielte, ihn zu sich zu rufen, ertönte in dem Gang ein heiseres Kichern aus unzähligen Kehlen, so kalt und grausam als ob es direkt aus der Unterwelt stammen würde. Jedes Mal fürchtete er wieder, dass dies sein letzter Besuch bei Eos sein würde, dass sie ihn diesen Wesen auslieferte und er war sich absolut sicher, dass es eines Tages auch soweit sein würde. Möglicherweise sogar noch an diesem. Aber wie üblich war er darauf vorbereitet, als er schließlich die Schultern straffte und die Treppe wieder nach oben ging. Yori fürchtete den Tod nicht – aber der Tod, der dort in diesem Gang hauste, würde lernen, sich vor ihm zu fürchten, wenn es erst einmal soweit war. Kapitel 15: Emotionen --------------------- Das Reisen mit einem Zauberer hatte sie sich immer wesentlich spannender vorgestellt. Voller Farben und Magie und mit ein klein wenig Witz – besonders wenn Fuu dieser Zauberer war. Aber seit einiger Zeit schien er eher deprimiert und auch ein wenig wütend, was die Reise mit ihm zu einer eher lästigen Sache machte. Da sie die vorherrschende Spannung aber nicht länger aushielt, beschloss sie, ihn darauf anzusprechen: „Fuu, es macht keinen Sinn, noch weiter wütend deswegen zu sein.“ Die Art, wie er ihr langsam den Kopf zuwandte, die Stirn gerunzelt und die Augen verengt, sagten ihr allerdings, dass es für ihn sehr wohl noch Sinn machte. In diesem Moment war nicht sonderlich viel von dem sonst so charmanten Zauberer zu bemerken, er war sogar ein wenig... furchteinflößend, musste Tokimi zugeben. „Sie haben das bestimmt nicht böse gemeint“, fuhr sie dennoch fort. Er zog seine Augenbrauen zusammen, ganz offensichtlich war er mit diesem Gesprächsthema und der Stellung, die sie dabei bezog, nicht zufrieden. „Nicht böse gemeint?“, zischte er. „Sie haben sogar über mich gelacht!“ Ihr schien als ob Fuu extrem empfindlich darauf reagierte, wenn man über ihn lachte und sie konnte sich gut vorstellen, dass dies mit seiner Kindheit zusammenhing, als er noch kein großartiger Magier gewesen war. „Sie haben eben andere Vorstellungen von Magiern, das ist nicht direkt auf dich bezogen.“ Fuu schnaubte wütend. „Andere Vorstellungen! Die kennen bestimmt nur jene, die mit Spiegeln und doppelten Böden arbeiten! Keiner von diesen Barbaren hat Sinn für echte Magie!“ Das Thema nahm ihn ganz offensichtlich sehr mit und schaffte es sogar, sein ansonsten angenehm ruhiges Gemüt in Aufruhr zu bringen. Tokimi machte sich innerlich eine Notiz, Fuu niemals im Bezug auf seine Magier-Karriere zu verärgern. „Aber es ist doch wirklich ungewöhnlich, dass du keine Assistentin hast, findest du nicht?“ Als Chaos-Eternal reiste Tokimi natürlich sehr viel und egal was für einem Magier sie in all den Jahren begegnet war, sie alle hatten eines gemeinsam: Eine gutaussehende Assistentin in einem grellen Kleid, das mit einem bezaubernden, wenngleich unechtem, Lächeln, sämtliche Aktionen des Magiers begleitete. „Nein, finde ich nicht!“, erwiderte Fuu ungehalten. „Nur falsche Magier benutzen Assistentinnen, um die Zuschauer von dem Moment abzulenken, indem sie ihre Tricks einsetzen! Ich habe so etwas nicht nötig, meine Magie ist echt!“ Als ob er das beweisen wollte, deutete er dabei mit der Hand auf einen Baum, dessen Blätter sich sofort in einen ungesunden Blauton verfärbten. Ein wenig beeindruckt, hob Tokimi eine Augenbraue. Sie war immer noch nicht dahinter gekommen, mit welcher Methode Fuus Zauber funktionierten. Er besaß kein Shinken und setzte anscheinend auch keinerlei Mana ein, um das zu tun, was er wollte. Sie empfand es als sehr mysteriös und daher auch aufregend. „Ist dir so etwas wie heute denn das erste Mal passiert?“ Er biss sich auf die Unterlippe. „Nicht direkt. Also, so sehr ausgelacht wurde ich noch nie. Aber ab und an erntete ich schon seltsame Blicke, wenn es darum ging.“ „Und da kam dir nie der Gedanke, dir einmal eine Assistentin zuzulegen?“, fragte sie neugierig. Nicht, dass sie Interesse daran hätte, aber es interessierte sie, was der Magier noch alles tun würde. Er schloss die Augen und runzelte die Stirn. „Der Gedanke kam mir, das gebe ich zu. Aber ich habe ihn bislang nicht umgesetzt. Im Moment halte ich mich noch an ein Versprechen.“ „Was für ein Versprechen?“ Er schwieg und machte auch keinerlei Anstalten, darauf antworten zu wollen. Tokimi blieb augenblicklich stehen, worauf Fuu es ihr gleichtat und sie fragend ansah. „Was hast du jetzt vor?“ Sie lächelte nur vielsagend und schloss die Augen. In Gedanken konzentrierte sie sich völlig auf den Magier ihr gegenüber und versuchte, ein Bild für seine Zukunft zu bekommen. Die meisten ihrer Visionen bekam sie einfach, sie wurde von den Bildern überfallen, manchmal in den absolut unpassendsten Momenten. Doch manchmal konnte sie eine mögliche Zukunft auch sehen, wenn sie sich fest genug konzentrierte. Aus Erfahrung konnte sie inzwischen sagen, dass jenes Bild dann immer der Zukunft entsprach, die sich die beteiligte Person am meisten wünschte und die auch nicht unbedingt eintrat – aber im Moment ging es ihr ja darum, dass sie einfach nur herausfand, was für ein Versprechen er meinte und da sie nicht in die Vergangenheit sehen konnte, blieb ihr nur diese Möglichkeit. Schon bald kristallisierte sich ein Bild heraus und Tokimi konnte eine junge, elegant angezogene Frau erkennen. Das lange, rosafarbene Haar wurde von ihr mit einer Handbewegung beiseite gewischt, als es drohte, ihren Blick zu verschleiern. Doch gleichzeitig mit dieser unwirschen Geste, zerbrach das Bild ganz plötzlich als hätte Fuu gemerkt, was seine Reisebegleiterin tat und es sofort unterbunden. Sein verärgerter Blick unterstrich diesen Eindruck noch einmal. Tokimi kannte diese Frau nicht, aber sie konnte spüren, dass Fuu viel an ihr lag, möglicherweise sogar mehr als er selbst wusste – und selbst sie musste sagen, dass diese Frau hübsch, wenngleich auch unterkühlt, war. „Wer ist sie?“, fragte die Eternal neugierig. Fuu wandte sich demonstrativ ab. „Ich möchte nicht über sie reden. Das geht dich nichts an.“ Ein wenig fühlte Tokimi sich von seiner Abweisung beleidigt – aber das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, überwog. Immerhin war sie mit Sicherheit eine der wenigen, die eine andere Seite als den charmanten Fuu kennenlernte. Sie wollte gerade noch etwas sagen, als sie plötzlich Geräusche hörte. Fuu wandte ebenfalls den Kopf in die Richtung und entdeckte genau wie sie eine kleine Einheit von Soldaten, die von einem General auf einem Pferd angeführt wurde. Die Einheit bewegte sich erstaunlich schnell und zog an ihnen vorbei, ohne ihnen Beachtung zu schenken, es schien als hätten sie ein Ziel vor sich. Sie sahen der Einheit noch lange hinterher, bis Fuu das Schweigen brach: „Wer waren die?“ Ein scharfer Schmerz zuckte durch Tokimis Kopf, als sie von einer Vision überfallen wurde. Sie sah – in überraschend klaren und deutlichen Bildern – wie die Einheit von eben die von ihnen Gesuchte überfiel und schwer verletzt verschleppte. Tokimi griff sich an den Kopf, worauf die Vision zerbröckelte und wieder verschwand. „Wir müssen uns beeilen.“ Mit diesen Worten lief sie bereits hastig weiter, ohne Fuu eine Erklärung zu geben. Glücklicherweise bestand er aber auch nicht darauf, sondern folgte ihr einfach. Ihr blieb nur noch zu hoffen, dass sie nicht zu spät kommen würden. Seit sie aus der Höhle draußen waren – so schien es Leana – unterhielten sich Ayumu und Ylva in einer Tour, auch wenn das kaum möglich war, immerhin hatten sie zwischendurch auch geschlafen, immerhin war es dunkel gewesen, als sie die Höhle verlassen hatten. Beide plapperten über alles mögliche und unmögliche, was Leana nicht nur langweilte, sondern auch nervte. Sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, was diese beiden, die sich erst seit zwei Tagen kannten, so viel zu besprechen hatten. Allerdings wagte sie auch nicht, sich einzumischen, damit die beiden endlich still waren. Sie wusste genau, dass Ayumu dann wieder sie zureden würde, bis sie mit den Nerven ganz am Ende war. Also ließ sie die beiden reden... und reden... und reden... In einem solchen Moment fehlte ihr Isolde oder Zetsu, auch wenn die beiden ebenfalls nur reden würden. Manchmal fragte sie sich, warum ihr Shinjuu so eine Plaudertasche war und warum sie sich gerade in so jemand Geselligen wie Zetsu verliebt hatte. Aber dann dachte sie sich, dass es ohnehin egal war. Im Moment war keiner von beiden da und sie war mit diesen beiden Begleitern gestraft, was sie nicht länger aushielt. „Kann nicht einer von euch mal die Klappe halten?“, seufzte sie genervt. „Nur fünf Minuten?“ Sofort verstummten beide und sie sah sich schon am Ziel ihrer Wünsche, als Ayumus Stimme erklang: „Du bist immer so gereizt. Wir sollten heiraten und viele höflich-gereizte Kinder bekommen.“ Er blinzelte ihr amüsiert zu und am Liebsten hätte sie ihm direkt einen Schlag verpasst – aber im Moment fühlte sie sich nicht sonderlich danach. „Halt einfach die Klappe, okay?“ „Und dann werden wir heiraten?“ Schlecht gelaunt blickte sie ihn an, in ihren Augen die deutliche Warnung, dass sie nicht mehr lange Geduld mit ihm haben würde. Er verstand glücklicherweise und zuckte lachend zurück. „Schon gut, tut mir Leid, kein Grund, mich gleich verprügeln zu wollen.“ Ylva blickte zwischen beiden hin und her, aber sie sparte sich die Frage, wie er darauf kam, dass sie ihn verprügeln wollte. Die neu entstandene Stille, nach der sich Leana gesehnt hatte, drückte plötzlich auf ihren Ohren und verlangte von ihr, dass sie etwas tat, um diesen Zustand zu beenden, was sie auch direkt befolgte: „Wo sind wir hier eigentlich?“ Ayumu warf nur einen kurzen Blick umher, dann deutete er entschlossen in eine Richtung. „Da drüben ist der Rote Wald und jenseits davon befindet sich ein kleines Dorf, wo wir erstmal unterkommen können und dann besprechen wir, wie es weitergeht.“ Leana sah zu ihm hinüber, überlegte, ihm zu sagen, dass sie kein Interesse daran hatte, weiter mit ihm zu reisen – doch ein plötzliches Aufwallen von Schmerz in ihrem Arm, unterbrach sie dabei und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder direkt nach vorne. Sie glaubte fast, ihr Herz müsste stehenbleiben, als sie ihn entdeckte. Er stand da, direkt vor ihr, genau wie sie ihn in Erinnerung hatte. Die graue Kleidung, das Schwert an seiner Hüfte, das lange silberne Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war und die eisblauen Augen... „Zetsu...“ Der rationale Teil ihres Verstandes sagte ihr, dass es nicht möglich war, dass dort nicht der verstorbene Eternal stand, aber der emotionale Teil, der an diesem Tag ungewohnt stark war, schob die Rationalität beiseite, bis sie verstummte und sich schmollend in eine Ecke zurückzog. „Zetsu!“ Leana wollte auf ihn zugehen, doch er lächelte nur vielsagend, fuhr herum und lief eilig davon. Da sie ihm im ersten Moment nicht folgte – zu groß war die Verwirrung, warum er vor ihr weglief – blieb er wieder stehen und wandte sich ihr zu, als ob er ihr zu verstehen geben wollte, dass sie mit ihm kommen sollte. Sie konnte hören, dass sowohl Ayumu als auch Ylva etwas sagten, aber der Sinn dieser Worte verstand sie nicht im Mindesten. Es war als würde alles nur durch Watte zu ihr vordringen, aber im Moment ohnehin an Bedeutung verlieren, da sie Zetsu direkt vor sich sah. Und so zögerte sie nicht länger und setzte sich in Bewegung, um ihm zu folgen. Ayumu rief ihr etwas hinterher, es war eine Warnung, sie sollte anhalten, so viel konnte sie bereits aus seinem Tonfall hören, doch dachte sie nicht im Mindesten daran. Wenn sie Zetsu erreichen könnte, wenn sie nur seine Hand berühren könnte, dann würde alles gut werden und sie könnten wieder zusammen reisen, sie würde sogar sein nerviges Shinjuu in die Arme schließen. Sonst war sie nicht sonderlich emotional, sie war ein Mensch, der sich eher auf Verstand und Pflichtgefühl berief – aber Zetsu übte eine Magie auf sie aus, der sie sich einfach nicht entziehen konnte und das auch nicht im Mindesten wollte. Ohne, dass sie es bemerkte, führte er sie in den Wald hinein, der seinem Namen voll und ganz gerecht wurde. Die Farbe der Baumstämme war ein gedämpfter, rotbrauner Ton, während die Blätter aussahen als wären sie in Blut getränkt worden. Selbst das einfallende Sonnenlicht schien plötzlich hellrot zu sein, aber Leana bemerkte all dies erst, als sie auf einer Lichtung stehenblieb. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie wieder zu Atem zu kommen versuchte. Sie war bereits so lange im Besitz eines Shinken, dass sie manchmal vergaß, wie anstrengend ein solcher Lauf sein konnte, wenn man keinerlei Energie aus dieser Waffe ziehen konnte. Zetsu fuhr zu ihr herum, er lächelte und ihr kamen bei diesem Anblick fast die Tränen, sie wallten bereits auf und erzeugten einen Kloß in ihrem Hals, der es ihr unmöglich machte, seinen Namen auszusprechen. Stattdessen streckte sie die Hand aus, um auf ihn zuzugehen und ihn zu berühren – blieb aber schon nach einem Schritt wieder wie vom Donner gerührt stehen. Es fiel ihr erst in diesem Augenblick auf, nachdem die körperliche Anstrengung ihr Gehirn wieder zur Arbeit angetrieben hatte, etwas an ihm war nicht richtig, sie konnte es in seinen Augen sehen, seinem Gesicht, sie sah es an jeder seiner Bewegungen. „Du bist nicht Zetsu...“ Jetzt erst erkannte sie auch, dass es nur Hyperion war, der da vor ihr stand und aus Gründen, die sie nicht einmal erahnen konnte, nur wie Zetsu verkleidet war. Auch wenn das bedeutete, dass er etwas über ihn wissen musste, war es doch nur eine Falle gewesen und sie war sich nicht im Klaren darüber, ob er ein Feind oder ein Freund war. Einmal hatte er sie angegriffen, einmal hatte er ihr das Leben gerettet und im Moment stand er einfach nur vor ihr, blickte sie kalt an – und tat gar nichts. Langsam lief sie rückwärts, damit er sie nicht hinterrücks angreifen konnte, während sie wieder zu fliehen versuchte. Doch sie kam nicht weit. Schon nach wenigen Schritten spürte sie die Spitze eines Schwerts, die damit drohte, ihren Rücken zu durchstechen und hörte gleich darauf eine schnarrende Stimme: „Wir haben noch eine Rechnung zu begleichen, Shoubi no Leana!“ Kapitel 16: In der Falle ------------------------ Leana stand bewegungslos da, den Blick nach wie vor auf Hyperion gerichtet. In ihrem Rücken spürte sie immer noch die Spitze von Kobayashis Schwert. Er war ein Samurai, sie wusste, er würde sie nicht von hinten erstechen und doch rührte sie sich nicht, denn jede Bewegung würde unweigerlich zu einem Kampf führen, in dem sie möglicherweise unterlegen wäre, so ganz ohne Shinken. Es war ihre eigene Schuld, ihre Dummheit, die sie in diese Situation gebracht hatte und nun musste sie darüber nachdenken, wie sie sich am besten wieder daraus befreite. Vor ihr stand Hyperion, der sie angreifen könnte, hinter ihr stand Kobayashi, der sie auf jeden Fall angreifen würde und an den Seiten, wie sie aus den Augenwinkeln sehen konnte, postierten sich bereits die Soldaten des Generals, um ihr jeden Fluchtweg abzuschneiden. Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie sich losreißen und zu fliehen versuchen könnte. Sie brauchte ein Schwert und das schnell. Nein, sie hatte ein Schwert, das sie von den Banditen mitgenommen hatte, aber es war stumpf. Könnte sie damit wirklich gegen einen Samurai-General kämpfen, der Aura Photonen nutzte? Mit Sicherheit würde er ihr Schwert zerteilen wie einen morschen Ast und dasselbe dann mit ihrem Körper wiederholen. Während sie noch dastand und überlegte, konnte sie wieder seine Stimme hören: „Denkst du etwa, du wirst unsichtbar für mich, nur weil du dich nicht mehr bewegst?“ Offensichtlich verstand er ihre Bemühungen, einen Ausweg zu finden, vollkommen falsch und sah darin eher einen Versuch, sich der Situation durch Verdrängung zu entziehen. Sie fand es bedauerlich, dass das nicht funktionieren könnte. „Etwas an dir ist anders als das letzte Mal“, fuhr er fort. „Wo ist dein Shinken?“ „Weg“, antwortete sie kurzangebunden. „Dann wird das hier ja fast zu einfach.“ Er lachte spöttisch auf und unterbrach sich damit selbst. „Du wirst brav mit uns kommen. Es gibt da jemanden, der dich unbedingt sehen will.“ „Kein Interesse“, erwiderte sie kühl und sehr zum Missfallen des Generals. Mit einem leisen Knurren stieß er die Spitze seines Schwertes ein wenig vor, immer noch nicht weit genug, um sie zu verletzen, aber doch um sie die Schärfe deutlich spüren zu lassen. „Ich warne dich, treib es nicht zu weit, Weib. Ohne deine Kräfte bist du nur ein Mensch, so wie viele andere meiner bisherigen Gegner auch – und die habe ich alle besiegt.“ Gleichgültig hob sie die Schultern. Sie glaubte nicht daran, dass er sie töten würde, immerhin hatte er sich bereits selbst verraten, als er ihr sagte, dass jemand sie treffen wollte. Mit Sicherheit würde er nicht das Risiko eingehen, diese Person zu verärgern, indem er mit einer Leiche auftauchte. Plötzlich wandte Hyperion den Blick ein wenig zur Seite. Er zog sein Schwert hervor, das im einfallenden Licht ebenfalls rot zu glühen schien. „Was soll das werden?“, brummte Kobayashi. „Ist das einer deiner Freunde, Weib?“ Also kannte er diese Person nicht, vielleicht war ihm Hyperion auch noch nie ohne seine Maske begegnet, vielleicht wusste er nicht einmal von der Existenz dieses Ninja. „Als ob ich Freunde hätte“, erwiderte Leana und rollte dabei mit den Augen. Fast im selben Moment, in dem sie das gesagt hatte, schrien die Soldaten rechts von ihr plötzlich auf und stürzten überrascht zu Boden. Ein Schatten huschte über sie hinweg, direkt auf Hyperion zu, der allerdings vollkommen unbeeindruckt blieb und nur das Schwert hob. Ein anderes prallte in der nächsten Sekunde mit einem lauten Klirren auf seines, Funken sprühten für einen kurzen Moment – und dann war es Leana möglich, Ayumu zu erkennen, der Hyperion grimmig anstarrte. Sein Gegenüber erwiderte den Blick vollkommen gefühllos und bewegte sich nicht. Ayumu musste sich erst ruckartig zurückbewegen, damit ihre Klingen wieder auseinanderfuhren. Leana beobachtete diesen Moment genauso verdutzt wie Kobayashi und richtete ihren Blick dann auf Ylva, die um ein einiges langsamer hinterherkam und erst einmal tief durchzuatmen versuchte, als sie endlich ebenfalls auf der Lichtung stand. „Eine Inugami?“, brummte Kobayashi. „Das trifft sich gut, die werden wir auch gleich als Geschenk mitnehmen.“ „Nur über meine Leiche“, knurrte Leana. Wieder einmal sprang ihr Beschützerinstinkt an, wenn es um Ylva ging und der Gedanke, dass das Mädchen möglicherweise in einem Käfig den Rest ihres Lebens fristen würde, ließ Zorn in ihr aufwallen – und das war genug, um sie eine unüberlegte Entscheidung treffen zu lassen. Sie sprang einen Schritt vor, zog das stumpfe Schwert und wirbelte herum. Zu ihrer Überraschung zerbrach ihre Waffe nicht, als sie auf seine traf, sie konnte auch keinerlei Aura-Photonen daran feststellen. War es möglich, dass sie nur aktiviert wurden, wenn er gegen einen Shinkenträger kämpfte? Kobayashi schnaubte missbilligend. „Dein Shinken ist wirklich weg.“ Offenbar hatte er lediglich eine Finte erwartet, wie es aussah und war geradezu enttäuscht darüber, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Sie erwiderte nichts darauf, ihre Gedanken überschlugen sich bereits. Wenn er keine Aura-Photonen einsetzen konnte, würde sie diesen Kampf doch gewinnen können – oder ihn zumindest solange führen, bis sie eine Möglichkeit fand, zu fliehen. Hinter sich hörte sie bereits, wie Klingen wiederholt aufeinanderprallten, mit Sicherheit waren Ayumu und Hyperion wieder in einen Kampf verwickelt. Sie widerstand der Versuchung, hinzusehen. Nicht zuletzt, weil sie nun im direkten Duell mit Kobayashi stand und ein Wegsehen ein Moment der Schwäche gewesen wäre, sondern auch weil sie nicht sicher war, wie ihr Körper reagieren würde, wenn sie Hyperion kämpfen sah. Möglicherweise würde sie ihn unbewusst wieder für Zetsu halten und das wollte sie vermeiden. Außerdem war ihr Kampf mit Kobayashi nun wichtiger. Sie wich hastig zurück, als er zu einem eigenen Angriff ansetzte und hielt ihr Schwert schützend vor sich. Ihre Überraschung wuchs, als die Klinge auch dieses Mal nicht zerbrach. Da es so stumpf und offensichtlich länger nicht gepflegt worden war, hätte sie nicht gedacht, dass der Stahl der Wucht eines Katanas standhalten würde. Aber das war für sie nur umso geschickter, als sie begann, den General mit Angriffen einzudecken, die er allesamt abzuwehren verstand. Sie empfand diesen Kampf als ein wenig... umständlich. Zetsu hatte einmal gesagt, ihr Kampfstil wäre eher von europäischer Natur und dass er sich von dem asiatischen unterscheiden würde, nicht zuletzt, weil man andere Waffen verwendete. Die europäischen Schwerter waren auf beiden Seiten geschärft, asiatische Klingen dagegen nur auf einer, während die andere Seite stumpf war. Das allein zwang einem schon einen anderen Kampfstil auf, wenn man dann noch die Länge, Beschaffenheit und das Gewicht dazunahm, wurde einem selbst beim Nachdenken darüber schnell deutlich, dass man dann einfach anders kämpfen musste. Zwar hatte sie in der Vergangenheit gegen Zetsu gekämpft und auch gegen andere Personen mit asiatischen Waffen – aber immer mit ihrem Shinken und auch wenn sie es nicht gern zugab, war es doch so, dass die Götterschwerter selbst wussten, wie man am besten kämpfte und lediglich jemanden brauchten, der sie führte, den Rest übernahmen sie selbst. Aber als ehemalige Ritterin war es ihr glücklicherweise dennoch möglich, sich zumindest erfolgreich zu verteidigen. Nur den Sieg, den sah sie nicht, denn auch wenn sie schneller war als Kobayashi, so war er um einiges stärker und ihre Kraft, die sie aufbringen musste, um seine Angriffe abzuwehren, ging langsam zur Neige. Aber etwas in ihr sagte, dass sie nur aushalten musste. Nicht mehr lange, dann würde Hilfe kommen, nicht mehr lange... Sie dachte sich, wie verrückt dieser Gedanke war. Es gab niemanden, der ihr zur Hilfe eilen könnte, Zetsu war nicht da, Isolde war nicht da, es gab in dieser Welt niemanden, den sie kannte, außer Ayumu und Ylva. Der Ninja war allerdings vollauf mit seinem Kampf gegen Hyperion beschäftigt und die Inugami beobachtete das alles nur mit großen Augen. Es gab niemanden... Mit diesem Gedanken wich auch das letzte bisschen Kraft aus ihrem Körper, verzweifelt sank sie auf die Knie. Es kam selten vor, aber ihr Kampfgeist war in diesem Moment der Hoffnungslosigkeit erloschen und sie rechnete nicht damit, dass er bald wiederkam. Zufrieden grinsend steckte Kobayashi sein Schwert wieder ein und ging auf sie zu, um sie zu fesseln und dann mit sich zu nehmen – doch nach nur zwei Schritten hielt er abrupt wieder inne. Ein leises, fast unmerkliches Geräusch erfüllte die Luft, aber es war allgegenwärtig und die Lautstärke wuchs stetig an, so dass sogar Ayumu und Hyperion wieder innehielten und sich verwirrt umsahen. Leana hob den Blick, den sie bislang auf den Boden gerichtet hatte. Die Quelle des Geräusches konnte sie nicht ausfindig machen, aber dafür fiel ihr auf, dass sich etwas an den Bäumen veränderte. Es war kaum merklich, aber wenn man lange genug hinsah, konnte man sehen, dass Farbe von den Blättern zu tropfen schien als würden sie schmelzen. Erst langsam und träge, aber kaum hatte sich der erste dicke Tropfen gelöst und war zu Boden gefallen, ging es immer schneller, bis es aussah als würde Blut von den Bäumen regnen. Die Soldaten bemerkten das offensichtlich auch, zuerst kamen nur einige erschrockene Ausrufe, aber schon bald gerieten sie alle in Panik und schrien durcheinander, während sie sich nach der Ursache dafür umzusehen begannen. Die entdeckten sie zwar nicht – aber dafür fielen ihre Blicke auf eine Schreinmaid, die plötzlich mitten auf dem Weg auftauchte, der von der Lichtung wegführte. Ein in ihrem langen braunen Haar befestigtes Glöckchen klingelte leise in einem Windhauch, der nur sie erfasste. Ihr Gesicht war allerdings nicht zu erkennen, da sie einen Fächer vor dieses hielt, lediglich ihre Augen waren zu sehen, aber sie hielt diese geschlossen und schien die Ruhe selbst zu sein. Leana spürte eine Woge von Macht von dieser Person ausgehen, kraftvoll und doch sanft und ein wenig... traurig, einsam. Sie war sich ganz sicher: Diese Person war eine Eternal. Kobayashi dagegen schien sich nicht sicher zu sein. „Wer bist du?“ „Ich bin Tokimi Kurahashi, eine Eternal der Chaos-Fraktion, das Orakel der Zeit.“ Der Name weckte in Leana eine Erinnerung. Sharivar hatte Eternal erforscht, ihre Daten gesammelt und ausgewertet. Eien no Aselia; Seikensha Yuuto; Tokimi, das Orakel der Zeit. Die drei standen miteinander im Zusammenhang, sie kannten sich, arbeiteten zusammen... aber warum war sie hier? Ihr Fächer schnappte mit einem leisen Geräusch zusammen und enthüllte ein grimmiges Lächeln. „Als Orakel der Zeit ist es meine Pflicht, jenen zu helfen, die in Not sind.“ Aus den Augenwinkeln bemerkte Leana, wie Hyperion zwischen den Bäumen verschwand, aber Ayumus Blick war so sehr auf Tokimi gerichtet, dass ihm das nicht auffiel. Die Aufmerksamkeit aller anderen galt ebenfalls der Eternal, die nun ein Schwert hervorzog. Es war bräunlich als ob es aus Bronze gefertigt wäre und wirkte... alt, nicht sonderlich gefährlich. Aber die Energie, die davon ausging, raubte Leana für einen kurzen Moment den Atem, bis ihr Körper sich wieder daran gewöhnt hatte. Ein Shinken von Rang 3... es ist gefährlich, auch wenn es nicht so aussieht. Kobayashi wandte sich der neu aufgetauchten Gegnerin zu, eine kaum merkliche Veränderung ging mit seinem Schwert vor, die Aura-Photonen waren wieder aktiviert. Siegessicher stürzte er sich direkt auf sie – und lag im nächsten Moment bereits auf dem Boden. Leana musste mehrmals blinzeln, aber tatsächlich: Tokimi war dem Angriff mit geschlossenen Augen ausgewichen und hatte dann Kobayashis Schwung gegen ihn selbst ausgenutzt, um ihn mit dem stumpfen Ende ihres Shinken zu Fall zu bringen. „Es ist dir unmöglich, mich auch nur zu berühren“, sagte Tokimi in einem selbstsicheren Tonfall, ohne den bitteren Beigeschmack von Arroganz. „Ich sehe jede Bewegung, die du machen wirst und kann ihr rechtzeitig ausweichen oder dich direkt töten.“ Mit einem Knurren richtete Kobayashi sich wieder auf, aber noch bevor er etwas tun konnte, sprach Tokimi weiter, während sie ihm immer noch den Rücken zugewandt hielt. „Du willst mich von hinten angreifen? Das ist sehr unehrenhaft für einen Samurai. Du willst Wakizashi und Katana benutzen? Bemüh dich erst gar nicht. Oh und deine versteckten Rauchbomben im Gürtel werden dir auch nicht weiterhelfen.“ Sein Knurren wurde ein wenig lauter, aber tatsächlich machte er keine Anstalten dazu, sie weiter anzugreifen, sondern wartete ab. „Ich gebe dir und deinen Männern die Gelegenheit, zu fliehen. Ich werde euch nicht verfolgen, ich verlange nur, dass ihr euch umgehend von diesem Wald entfernt.“ Kobayashi schien angestrengt nachzudenken, seine Männer warfen ihm fragende Blicke zu, abwartend, manche von ihnen waren bereits sichtlich nervös und schienen auf der Stelle fliehen zu wollen. Zwei seltsame Feindinnen in zwei aufeinanderfolgenden Missionen waren zu viel für ihre Nerven, keiner von ihnen verstand, was überhaupt vor sich ging. Er bemerkte das wohl ebenfalls, denn schließlich steckte er das Katana widerwillig ein. „Verstanden. Aber wir haben uns nicht das letzte Mal gesehen, darauf kannst du dich verlassen.“ „Das bezweifle ich“, merkte Tokimi an. Doch der General ignorierte ihre Worte und gab seinen Männern zu verstehen, dass sie abzogen – und innerhalb kürzester Zeit war die Lichtung tatsächlich frei von Soldaten. Ayumu und Ylva stellten sich direkt neben Leana, während sie immer noch Tokimi betrachteten, die sich ihnen nun mit einem echten Lächeln zuwand. Doch ehe sie etwas sagen konnte, erklang ein Klatschen hinter ihnen. „Sehr gut gemacht, Tokimi-san, wundervoll.“ Leana und ihre Begleiter drehten sich um, damit sie den Neuankömmling in Augenschein nehmen konnten, auch wenn zumindest die Eternal das nicht gebraucht hätte. Sie wusste bereits, wer er war, als sie nur seine Stimme hörte. Immerhin war er der Grund, weswegen sie überhaupt in diese Welt gekommen war, er war Schuld daran, dass sie Isolde für den Moment verloren hatte und mit Sicherheit – sie war sich tief im Inneren mehr als nur sicher, dass er etwas damit zu tun hatte – war er auch dafür verantwortlich, dass Zetsus Seele gespalten war: Auf einem Stein saß, wie immer mit einem leichten Lächeln bewaffnet, der Magier Fuu. Kapitel 17: Rede und Antwort ---------------------------- „Das ist deine Schuld, nicht wahr!? Verrat mir endlich, was das soll!“ Fuu lächelte ein wenig unsicher, während er die Hände hob. „Nur zu gern, Leana, aber... könntest du mich vorher loslassen?“ Nur widerwillig entfernte sie die Hände von seinem Kragen, den sie gepackt hatte, kaum dass ihr Gehirn registriert hatte, dass er ebenfalls da war. Mit aller Ruhe richtete er erst einmal seine Kleidung, nachdem sie ihn losgelassen hatte, was Leanas Ungeduld anfachte. Doch noch ehe sie ihn anfauchen konnte, sich zu beeilen, hörte sie Tokimis neben sich: „Bitte beruhige dich, Leana-san. Es ist nicht Fuus Schuld.“ Sie wandte sich der Maid zu, die im Gegensatz zu Fuu nicht lächelte. Ihr Gesicht war ernst und in gewisser Weise auch eisern und entschlossen, weswegen Leana es vorzog, sich an sie zu wenden. „Wessen Schuld ist es dann?“ Leise seufzend legte Tokimi eine Hand auf ihr Herz. „Ich befürchte, es ist meine.“ „Aber nicht ganz“, schaltete Fuu sich sofort dazwischen, da er sich offenbar berufen fühlte, sie in Schutz zu nehmen. „Vorrangig ist es die Schuld einiger manipulativer Gestalten, deren Identität mir leider unbekannt ist.“ Leana hob entnervt die Hände, die leicht zu zittern begonnen hatten. „Verschont mich damit und sagt mir endlich, was passiert ist. Was geht hier vor?“ Tokimi und Fuu warfen sich einen kurzen Blick zu, schließlich nickte der Magier, worauf die Schreinmaid zu einer Erklärung ansetzte: „Ich habe Fuu gebeten, einen speziellen Zauber durchzuführen, der das hier zum Ergebnis hat.“ Sie deutete zu Ayumu hinüber, der gemeinsam mit Ylva Feuerholz sammelte. Offenbar war keiner von beiden daran interessiert, was die beiden zu sagen haben könnten und dachten bereits lieber ans Essen, denn nebenbei diskutierten sie darüber, ob Fisch, Fleisch oder doch eher Pilze besser wären. „Mir wäre es recht, du würdest von vorne anfangen“, bemerkte Leana. „Ich verstehe es nämlich immer noch nicht.“ Tokimi nickte und legte die Finger vor ihrer Brust aneinander, ihr Gesichtsausdruck blieb vollkommen ernst, sie lächelte nicht einmal. „Ich gestehe, dass ich den Tod von Gyouten no Zetsu zum Vorteil der Chaos-Eternal ausnutzen wollte.“ Sie machte eine Pause, um Leanas Reaktion abzuwarten, doch deren Miene war wie versteinert, in ihren Augen war nur die stumme Aufforderung zum Fortfahren zu lesen, weswegen Tokimi sich hastig beeilte, dem nachzukommen: „Es gibt einen bestimmten Gegenstand – ein Stück des Ursprungsshinken – das sich in einer Welt befindet, die kein Eternal auf normalem Wege betreten kann. Das Tor wurde durch einen mächtigen Zauber versiegelt, ich schätze, der aktuelle Besitzer dieses speziellen Shinken möchte damit verhindern, dass es ihm entrissen wird.“ Leana verstand immer noch nicht, was das mit Zetsu zu tun haben sollte. Er würde mit Sicherheit auch keinen Einfall haben, der dieses Tor öffnen könnte. „Ich hole besser noch ein wenig mehr aus“, fuhr Tokimi fort. „Es ist einem Eternal möglich, seine Macht zu spalten.“ An dieser Stelle wurde Leana hellhörig. „Was bedeutet das?“ Tokimi war sichtlich zufrieden, endlich die volle Aufmerksamkeit ihrer Gesprächspartnerin zu haben, sie lächelte wieder ein wenig. „Trägt ein Eternal sein Shinken stets mit sich, ist das eine große Gefahrenquelle, denn mit der Vernichtung des Schwerts stirbt auch der Eternal. Deswegen ist es besser, das Shinken an einem sicheren Ort aufzubewahren und sich nur den Bruchteil seiner Macht auszuleihen und daraus eine exakte Kopie des Originals zu formen. Aber es hat noch einen weiteren Vorteil...“ Erneut legte Tokimi eine Pause ein, während Leana darüber nachdachte, ob sie zuvor bereits von einer solchen Methode gehört hatte. Aber nichts davon kam ihr in den Sinn. Es war wirklich das erste Mal, dass sie hörte, dass es Eternal gab, die so etwas taten. „Was ist der zweite Vorteil?“, fragte Leana, doch es war nicht Tokimi, sondern Fuu, der darauf antwortete: „Solange ein Eternal die Kopie bei sich hat, wenn er im Kampf fällt, stirbt er nicht – sein Körper wird lediglich zum Original transportiert.“ „Damit kann ein Eternal sich das ewige Leben sichern“, bestätigte Tokimi. Leana versuchte, sich das vorzustellen, aber so ganz gelang es ihr nicht. „Das heißt, wenn ich 'Shoubi' hier lassen und nur einen Teil seiner Macht mit mir nehmen würde, könnte mein Körper wieder hierher zurückkehren, wenn irgendjemand es schafft, mich zu töten?“ Ihre beiden Gegenüber nickten zustimmend. „Ich müsste nicht erst wiedergeboren werden?“ Erneut zustimmendes Nicken. „Warum tun das dann nicht alle Eternal?“ Sie war sich sicher, dass Sharivar davon nichts gewusst hatte, sonst wäre er nun nicht tot. Genauso wie all die anderen Eternal, denen sie auf ihrer Reise begegnet war. Wusste Renka etwas davon? Beliar? Doch noch während sie darüber nachdachte, lieferte Tokimi ihr die Antwort: „Ich glaube, es ist eine Sache, die nur den Chaos- und Law-Fraktionen bekannt ist und auch dort nicht allen. Außerdem ist auch das Zurücklassen des Originals mit Gefahr verbunden. Jemand könnte es finden, wenn das Versteck oder der Schutz auf diesem nicht stark genug ist und was dann mit dem Shinken geschieht, könnte schwerwiegende Auswirkungen auf den Träger haben.“ „Aber selbst wenn der Zauber stark genug ist“, fuhr Fuu fort, „kann es geschehen, dass der Träger auf einen Feind trifft, den er mit seiner mitgeführten Kopie nicht besiegen kann und er während des Kampfes die Kopie verliert – was zum unwiderruflichen Tod des Eternal führt.“ Leana runzelte die Stirn. Als Zetsu starb, hatte er sich in einem Gebiet befunden, wo das Beschwören eines Shinken nicht möglich gewesen war, höchstwahrscheinlich hätte dieser Trick für ihn also zumindest damals nicht funktioniert, aber... „Was hat das nun mit Zetsu zu tun?“ Eigentlich interessierte sie diese ganze Theorie gar nicht weiter, sie wollte endlich wissen, wie es dazu hatte kommen können, dass seine Seele nun offenbar in Bruchstücke zerfallen war und jeder Teil in dieser Welt als Individuum umherlief. „Ich wollte, dass Fuu einen Zauber anwendet, der 'Gyouten' spaltet, noch bevor dessen Träger wiedergeboren wird“, erklärte Tokimi und kehrte damit zum Ursprungsthema zurück. „Das Original wollte ich dann mit Fuus Hilfe in der fraglichen Welt unterbringen.“ Der Magier, der bislang sanft lächelnd immerzu genickt hatte, horchte plötzlich auf und blickte Tokimi überrascht an. „Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen.“ „Das wollte ich dir sagen, wenn der Zauber erfolgreich gewesen wäre.“ Tokimi erwiderte seinen Blick mit einem entschuldigenden Lächeln, das seine gerunzelte Stirn aber nicht wegwischen konnte. „Was hättest du getan, wenn ich abgelehnt hätte, diese Gefahr auf mich zu nehmen?“, fragte er. „Ich habe mich auf eine Vision verlassen, die mir die Möglichkeit zeigte, dass du es von selbst anbieten würdest.“ Sehr angetan wirkte Fuu von dieser Möglichkeit aber nicht. „Warum hätte ich so etwas tun sollen?“ Darauf fiel ihr wohl keine andere Antwort als ein kurzes Schulterzucken ein. „Und was hätte dann geschehen sollen?“, fragte Leana. Tokimi wandte sich wieder ihr zu, ihr Lächeln schwand erneut. „Zetsu wäre in dieser Welt wiedergeboren worden und hätte für mich den dort befindlichen Teil des Ursprungsshinken beschafft.“ „Was macht dich so sicher?“ Als sie wieder damit antwortete, dass sie es in einer Vision als mögliche Zukunft gesehen hatte, schluckte Leana schwer, beherrschte sich aber noch. „Was ist geschehen, dass der Zauber fehlschlug?“ „Ich habe einen falschen Trank benutzt“, erklärte Fuu. „Jemand muss in meiner Abwesenheit das Etikett überklebt haben.“ Leana versuchte weiterhin, sich zu beherrschen, was ihr nur schwerlich gelang, ihr ganzer Körper zitterte bereits. „Und du hast es nicht bemerkt?“ „Erst als es zu spät war“, gab er reumütig zu und senkte den Blick ein wenig. Damit endete ihre Selbstbeherrschung. Wütend verpasste sie ihm einen Faustschlag ins Gesicht, der ihn zurücktaumeln ließ. Er hob den Blick, um sie ungläubig anzusehen, doch ihre Aufmerksamkeit war bereits auf Tokimi gerichtet, der sie ebenfalls einen Schlag verpassen wollte, aber diese sah das offenbar kommen und wich direkt zurück. „Wir sind wirklich untröstlich, dass das geschehen ist, Leana.“ „Das hilft mir nicht!“, fauchte sie zur Erwiderung. „Ihr habt leichtfertig mit Zetsus Seele gespielt und weil ich wegen euch in diese verdammte Welt gekommen bin, habe ich Isolde verloren!“ Und je länger der Zustand anhielt, desto mehr schwand Leanas Hoffnung, dass die Wirkung des Mistelzweigs irgendwann nachließ oder dass es ein Gegenmittel gab. Sie versuchte sogar schon, sich mit dem Gedanken abzufinden, dass sie Isolde nie wiedersehen würde – genausowenig wie Zetsu, auch wenn es ein bitterer Gedanke war, der ihre Brust schmerzen ließ und ihr die Luft zum Atmen nehmen wollte. Erst auf ihren kleinen Ausbruch hin, hielten Ayumu und Ylva bei ihrer Tätigkeit inne und blickten ebenfalls wieder zu ihnen herüber, kamen aber nicht näher. „Deswegen sind wir hier“, erwiderte Tokimi hastig, um Leana zu besänftigen. „Wir wollen mithelfen, die Splitter seiner Seele wieder zusammenzusetzen.“ „Damit er dir dann dieses verdammte Shinken besorgt?!“ Tatsächlich verdüsterte sich Tokimis Gesicht für einen Moment, ehe sie verlegen zu lachen begann. „Nun, ich habe tatsächlich daran gedacht, dass ich ihn dann einfach persönlich um diesen Gefallen bitte und wir das alles dann anders angehen.“ „Warum ausgerechnet Zetsu?“ Tränen brannten in Leanas Augen und ließen ihre Stimme ein wenig kratzig klingen, aber sie weinte nicht, es war auch keine Trauer, die sie empfand, es war eher Wut, grenzenlose Wut auf diese ihr eigentlich vollkommen unbekannte Person, deren Laune sie es offenbar verdankte, alles verloren zu haben. „Er erschien mir wie der perfekte Kandidat. Er ist ein neutraler Eternal, also würde sein Shinken nicht sofort die Law-Eternal mit einem ähnlichen Plan anlocken und er war gerade erst verstorben und noch nicht wiedergeboren. Außerdem war ich einmal mit ihm in Kontakt gekommen, bevor er ein Eternal geworden war – wenn auch nur kurz.“ Leana wollte sich gar nicht vorstellen, was das für ein Kontakt gewesen sein könnte und stellte daher auch keine weiteren Fragen dazu. Grollend wandte sie sich wieder an Fuu. „Und warum hast du da mitgemacht?“ Er blickte ein wenig gedankenverloren ins Leere, vermutlich hatte er darüber gar nicht wirklich nachgedacht. „Ich hielt ihren Plan für gut, immerhin gehört sie zu den Guten... und... das war es eigentlich schon...“ Leana wollte ihm einen weiteren Schlag dafür verpassen, doch Tokimi ging hastig dazwischen. „Bitte, Leana, sei nachsichtig mit ihm, er hatte nichts Böses in Gedanken.“ Ihre Wut konzentrierte sich wieder auf die Schreinmaid. „Du aber schon!“ Tokimis Mimik flackerte kein bisschen, nicht einmal als sie entschlossen nickte. „Ich nehme an, so könnte man es von deiner Perspektive aus nennen. Aber wir werden das schon alles regeln, mach dir keine Sorgen.“ „Und wie?“, fragte Leana grollend. „Wollt ihr die einzelnen Individuen umbringen, um das Original wieder zusammenzusetzen?“ Es widerstrebte ihr ein wenig, so über Zetsu und dessen Splitter zu sprechen, nicht zuletzt weil einer von ihnen nicht weit entfernt stand. Bislang war sie nur davon ausgegangen, dass Ayumu ebenfalls einer sein könnte, aber Tokimi hatte es mit ihrer Handbewegung zu ihm bestätigt. „Das wäre eine Möglichkeit“, antwortete Tokimi bedächtig. „Aber ich bevorzuge eine, die wesentlich friedlicher ist.“ Mit diesen Worten zog sie einen Fächer hervor, den sie auffaltete und auf eine Reaktion wartete. Leana musterte den weißen, vollkommen schmucklosen Stoff und fragte sich, was nun von ihr erwartet wurde, weswegen sie einen fragenden Blick zu Fuu warf. Der Magier hielt sich immer noch die schmerzende Wange, während er den Fächer musterte, sich aber offenbar auch keinen Reim darauf machen konnte. „Möchtest du uns nicht verraten, was das ist, Tokimi-san?“ Offenbar war es genau das, was sie erwartet hatte, denn sie lächelte zufrieden. „Das ist der Fächer der Zeitumkehrung. Ich kann damit die Zeit anderer nach Belieben zurückdrehen. Ich wollte ihn benutzen, um die Zeit dieser Welt so lange zurückzudrehen, bis noch keiner von ihnen geboren war – und dann die einzelnen Splitter wieder zusammenführen.“ Während Tokimi recht zufrieden mit ihrem Plan schien, war jemand anderes das ganz und gar nicht: „Und wir wären nicht einmal gefragt worden?“ Leana zuckte zusammen, als sie Ayumus Stimme direkt neben sich hörte. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass er und Ylva näher gekommen waren, um dem Gespräch zu lauschen. Tokimi wandte sich ihm zu. „Ich dachte, es wäre auch in deinem Interesse, wieder ein Teil des Originals zu sein.“ Doch zu ihrer offensichtlichen Überraschung schüttelte er mit dem Kopf. „Ich bin mit meinem Leben recht glücklich – ich weiß ehrlich gesagt nicht einmal, von welchem Original du überhaupt sprichst.“ Einen Moment lang herrschte angespanntes Schweigen auf der Lichtung. Tokimi und Ayumu starrten sich gegenseitig an, beide entschlossen, nicht als erstes die Augen abzuwenden, während die anderen drei ihnen nur dabei zusehen konnten. Wenn Leana ehrlich war, behagte ihr der Plan ebenfalls nicht. Sie vermisste Zetsu und wollte ihn zurückhaben – aber es erschien ihr gleichzeitig falsch, zu diesem Zweck in der Geschichte dieser Welt herumzupfuschen, nur damit Tokimi es sich einfach machen konnte. Dabei hätte sie als Eternal, der in die Zukunft sehen kann, doch selbst in einem Kampf gegen die einzelnen Splitter einen überragenden Vorteil und könnte jede Schlacht mit einem Angriff für sich entscheiden. Warum gab sie ihnen also nicht einmal die Illusion einer Chance? Schließlich war es Fuu, der das Schweigen wieder brach: „Ich denke, wir sollten uns erst einmal ausruhen. Morgen sieht die Welt vielleicht wieder ganz anders aus und wir können in Ruhe darüber sprechen, wie es weitergehen soll. Was sagt ihr dazu?“ Tokimi wandte sich ihm zu und nickte. „Eine gute Idee, das werden wir machen.“ Leana widersprach nicht, auch wenn sie das gern getan hätte. Aber für den Moment fühlte sie sich nach all diesen Informationen nur noch müde, eine Nacht darüber zu schlafen wäre mit Sicherheit auch von Isolde befürwortet worden. So machte sich die Gruppe daran, ein Lagerfeuer zu entfachen, um sich gegen die einfallende Dunkelheit zu wappnen, ohne dabei zu ahnen, dass sie gerade von mehr als nur dem Ninja Hyperion beobachtet wurden. Kapitel 18: Kleine Diebe ------------------------ Leana schaffte es in dieser Nacht nicht, einzuschlafen. Nach allem, was am Tag geschehen war und was sie erfahren hatte, wollten ihre Gedanken partout nicht zur Ruhe kommen, hielten sie wach und machten sie derart unruhig, dass sie den Versuch schließlich aufgab und aufstand, um noch etwas umherzulaufen. Rasch ließ sie die Lichtung mit den Schlafenden und den noch glühenden Kohlen hinter sich und tauchte geradezu ins Unterholz ein. In der Nacht wirkte das Rot der Bäume noch dunkler und bedrohlicher als am Tag, so als wäre wirklich Blut auf sie getropft und wäre nun dabei zu trocknen, weil niemand sich die Mühe machte, es wegzuwischen. Das einfallende fahle Mondlicht half auch nicht, um etwas von der Szenerie harmloser erscheinen zu lassen. Aber immerhin spürte sie keinerlei Bedrohung. Außer ihnen schien sich niemand in diesem Wald aufzuhalten, jedenfalls niemand mit feindlichen Absichten. Aber sie war sich sicher, dass Hyperion noch in der Nähe war und sie beobachtete, auch wenn sie nicht wusste, weswegen. Wenn er sie auf Geheiß einer Person, möglicherweise sogar dieser Eos selbst, beobachtete, warum war das dann so? Was wollte diese Person von ihr? Sicher, am Einfachsten wäre es gewesen, selbst zu ihr zu gehen und sie zu fragen, aber ohne Shinken empfand Leana das als zu unsicher, solange sie nicht mehr über diese andere Person wusste. Auf einer anderen Lichtung angekommen, setzte sie sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm. Den Kopf in den Nacken gelegt, blickte sie in die Äste des Baumes. Blätter und vereinzelt durchfallendes Mondlicht war zu sehen, aber das war genug für sie, mehr wollte sie auch gar nicht sehen, sie wollte nur weiter ihren Gedanken nachhängen. Zetsu, ihr Zetsu, war zersplittert, sie wusste nicht, in wie viele Teile, sie hatte nicht danach gefragt, weil es unerheblich war. Die Splitter waren nun eigenständige Menschen,, handelnde Individuen, die man nicht einfach wieder aus ihrem Leben reißen konnte, nicht einmal, wenn es dafür war, Zetsu wieder zusammenzusetzen. Sie wollte nicht einmal daran denken, dass Ayumu oder Hyperion oder möglicherweise noch ein anderer Splitter, für diesen Zweck sterben müsste. Und auch Tokimis schonende Methode behagte ihr nicht im Mindesten. Sie konnte nicht anders als Wut auf die Chaos-Eternal zu verspüren, dafür, dass sie sich anscheinend nicht sonderlich viel aus Menschenleben machte, dass sie diese manipulierte, wie es ihr passte. War das die Vorstellung der Eternal der guten Seite, wie man Welten beschützte? Leana war im Moment mehr als nur erleichtert, dass weder sie noch Zetsu sich je darüber Gedanken gemacht hatten, ob sie sich dieser Fraktion anschließen sollten. Wie er dazu gestanden hatte, wusste sie nicht genau, aber sie war nie daran interessiert gewesen, ihr war nur danach gewesen, die Ewigkeit mit ihm zu verbringen. Und da er es ebenfalls nie zur Sprache gebracht hatte, war es ihm wohl genauso mit ihr ergangen. Und nun war sie allein, nur von seinen Splittern umgeben. Was sollte sie nur tun?“ „Alles okay?“ Sie wandte den Blick von der Baumkrone ab und blickte zu Ayumu hinüber, der neben ihr stand. Er hatte sich gegen den Baum direkt neben ihren gelehnt, die Arme vor dem Körper verschränkt, er sah sie nicht einmal an, sondern blickte selbst nach oben. „Was willst du?“, erwiderte sie unfreundlich, statt auf seine Frage zu antworten. Er ließ sich davon allerdings nicht beirren. „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“ „Das wäre nicht nötig gewesen. Ich wollte nur ein wenig allein sein.“ Sonderlich überzeugt schien er davon nicht. Er neigte den Kopf ein wenig. „Du bist aber traurig – und meine Erfahrung zeigt mir, dass man jemanden, der traurig ist, nicht einfach sich selbst überlassen sollte.“ „Spar dir das.“ Sie schüttelte entschieden mit dem Kopf. „Ich bin nicht wie andere Menschen.“ „Vielleicht, aber es kann trotzdem nicht schaden, wenn jemand bei einem ist.“ Sie widerstand dem Drang, ihn fortzuschicken, sondern beschloss, ihn einfach zu ignorieren, aber das gefiel ihm offenbar nicht sonderlich, denn er meldete sich sofort wieder zu Wort: „Was du heute erfahren hast, muss echt schlimm für dich sein.“ „Für dich denn nicht?“ Immerhin hatte er gleichzeitig gelernt, dass er eigentlich nur Teil eines Ganzen und nicht vollständig war. Leana konnte sich nicht vorstellen, dass man das einfach so wegsteckte. Doch er zuckte mit den Schultern. „Ich denke, im Grunde habe ich es immer irgendwie geahnt.“ „Was meinst du damit?“ Er schwieg für einen Moment, begann aber sacht zu lächeln. „Schon als ich jung war, hatte ich immer diese seltsamen Träume, von anderen Welten, einer wunderschönen, silbernen Klinge... und einer jungen Frau, die von Rosen umgeben war. Und ich wusste immer, dass es mehr als nur Träume sind.“ Leana erwiderte nichts darauf, auch wenn sie wusste, was diese Träume zu bedeuten hatten, auch wenn dies nun der allerletzte Beweis für sie war, dass er wirklich einer der Splitter war und es sich bei ihrem Treffen nicht nur um einen reinen Zufall handelte. Er machte sich anscheinend nichts daraus, dass sie nichts sagte, dafür griff er an die Schwertscheide, die an seinem Gürtel befestigt war. „Und dieses Schwert hier, 'Hakumei', ist auch ein Indiz dafür. Es erschien wenige Tage nach meiner Geburt neben mir.“ Leana blickte auf das Schwert. Bislang hatte sie diesem keine weitere Beachtung geschenkt, aber sie fand es doch ungewöhnlich, dass er ein Katana mit sich trug. Sie hatte immer geglaubt, jene wären zu lang und zu schwer für einen Ninja und würden diesen nur aufhalten, aber er blickte fast schon liebevoll darauf hinunter – so ähnlich wie Zetsu manchmal 'Gyouten' betrachtet hatte. „Warum hast du es so genannt?“, fragte sie leise. Sie wusste, dass dieses Wort Dämmerung oder Zwielicht bedeutete, aber sie verstand nicht, warum dieses Schwert so hieß. Wenn er und das Schwert Splitter von Zetsu und 'Gyouten' waren, warum trug es dann einen Namen, der das genaue Gegenstück bedeutete? Allerdings... Wenn sie so darüber nachdachte, war auch Ayumus Aussehen das genaue Gegenteil von Zetsu. Sie verstand nicht, was das alles bedeuten sollte und einmal mehr wünschte sie sich wieder Zetsu an ihre Seite. Nicht unbedingt, weil er es verstanden und ihr hätte erklären können, sondern weil allein seine bloße Anwesenheit sie beruhigte, um sie wegen so vieler ungeklärter Fragen nicht wahnsinnig werden zu lassen. Er schüttelte mit dem Kopf. „Ich habe es nicht so genannt. Es sagte mir, dass es so heißt.“ Das sprach eindeutig dafür, dass es ein Shinken – oder zumindest ein Teil davon – war. Warum machte sie diese inneren Feststellungen noch? Sie brauchte doch keine Beweise mehr dafür, dass sie beide Splitter waren. „Ich verstehe.“ Da sie schwieg, fühlte er sich wieder berufen, etwas zu sagen: „Was wirst du jetzt tun?“ Sie war sich ziemlich sicher, dass er erwartete, dass sie darüber nachdachte, wie sie Zetsu wieder zusammensetzen könnte – aber alles, worum sich ihre Gedanken drehten, war die Tatsache, dass sie ihn möglicherweise nie wiedersehen würde. „Ich weiß es nicht“, murmelte sie leise. „Ich weiß es einfach nicht.“ Sie zog die Beine an, schlang die Arme darum und vergrub ihr Gesicht an ihre Knien. Zu ihrem Glück schwieg Ayumu daraufhin und spendete ihr damit einen stillen Trost, den sie in diesem Moment gut gebrauchen konnte. Keiner aus der Gruppe ahnte auch nur im Mindesten, dass sich, gar nicht weit von ihnen, wieder Unheil zusammenbraute – und ausnahmsweise hatte es nicht mit Eos oder Hyperion zu tun. Stattdessen waren zwei Mädchen im Wald unterwegs, die besonders durch ihr langes rosa Haar auffielen. Aber abgesehen davon hatten beide noch je eine ganz außergewöhnliche Sache, die sie einzigartig machte. Die eine erinnerte von ihrer kleinen Größe her an eine zum Leben erwachte Puppe – und die andere reimte gerne, wenngleich auch ziemlich grottig. „Heute Nacht, da wird gewacht, denn dann ist Schicht im Schacht“, gab sie im fröhlichen Singsang von sich, worauf das kleine Mädchen, das einer Puppe gleichkam, das Gesicht verzog. „Marly, lass das endlich oder lern zumindest reimen.“ Seit Jahren schon war sie diesen schlechten Reimen ausgeliefert und nicht zum ersten Mal stellte sie diese Anforderung an Marly, aber stets wurde das ignoriert, was sie sehr frustrierend fand. Plötzlich blieb Marly stehen und hob belehrend den Zeigefinger. „Heute werden wir suchen die Sue, dann sind wir Fuu bald los im Nu.“ Das kleine Mädchen, das Mey hieß, neigte den Kopf ein wenig. „Wer ist denn jetzt Sue?“ Marly seufzte schwer und setzte ihren Weg fort, worauf Mey ihr wieder folgte, nicht zuletzt weil sie neugierig war, was sie vorhatte – und ob es wirklich funktionieren würde, um den Magier, der ihr schon immer ein Dorn im Auge gewesen war, los zu werden. Bislang hatte er es immer geschafft, sich aus allem herauszuwinden, er war mit mehr Glück als Verstand gesegnet, wie Mey fand. Aber in seinem speziellen Fall war das wohl auch recht einfach, immerhin war er nicht gerade der Schlauste. Als die Lichtung, auf der Tokimi, Ylva und Fuu schliefen, in Sicht kam, blieb Marly wieder stehen. Neugierig lugte sie durch die Äste eines Busches, um nicht gesehen zu werden, falls einer der Schlafenden zufällig wach werden sollte. Mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck, deutete Marly auf den Fächer in Tokimis Händen. „Das ist unser Trumpf, um loszuwerden den Schlumpf!“ Mey blickte skeptisch auf das papierne Werkzeug, das aussah wie jeder andere Fächer, den sie bislang in ihrem Leben gesehen hatte. Gut, die Eternal hielt ihn selbst im Schlaf fest, aber möglicherweise auch einfach nur, weil er ein Andenken war, das bedeutete nicht, dass er über irgendwelche Kräfte verfügte. Aber wenn Marly davon überzeugt war... Da sie kleiner und ein wenig geschickter war als Marly, betrat Mey die Lichtung und näherte sich vorsichtig Tokimi. Die Eternal schlief friedlich und völlig arglos, das Gesicht absolut entspannt, sie lächelte sogar ein wenig als ob sie etwas Schönes träumen würde. Aber Mey machte sich keine weiteren Gedanken mehr darum, sondern griff nach dem Fächer. Es war überraschend einfach, ihn aus Tokimis Händen zu lösen und ihn sich selbst an die Brust zu pressen, ehe sie sich leise auf den Rückweg machte. Die Eternal schien den Verlust nicht einmal zu bemerken, sondern murmelte nur leise etwas, in dem lediglich das Wort Onigiri deutlich zu verstehen war. Wieder bei Marly angekommen, hob Mey triumphierend den Fächer hoch. „Ich hab ihn!“ Ihr Gegenüber schien ihr gerade Beifall klatschen zu wollen, als plötzlich eine Stimme neben ihnen erklang: „Was macht ihr da?“ Beide zuckten zusammen und wandten der fragenden Person den Blick zu, nur um sofort gleichzeitig ihre Gesichter zu verziehen. „Ieh, Fuu!“ Er lächelte leicht und beachtete die Ablehnung der beiden wie üblich nicht. „Wie schön, euch zu sehen. Aber es ist dennoch nicht richtig von euch, Tokimi-sans Fächer zu stehlen. Ihr solltet ihn ihr lieber zurückgeben, bevor sie aufwacht, das ist immerhin kein Spielzeug.“ Marly schnaubte wütend und riss Mey den Fächer aus der Hand. Sie faltete ihn auf und richtete ihn dann auf Fuu. „Jetzt geht’s dir an den Kragen, denn du liegst mir schwer im Magen!“ Nun doch ein wenig über den Ungehorsam verärgert, griff der Magier nach dem Fächer, um ihn wieder an sich zu nehmen – als plötzlich ein helles Licht alle drei blendete und Mey einen erschrockenen Schrei ausstieß. Leana stand sofort auf, als sie den Schrei hörte. „Was war das?“ „Es kam von unserem Lager.“ Ayumu wartete erst gar nicht auf Leanas mögliche Erwiderung, sondern lief sofort los, um zu den anderen zurückzukehren. Die Eternal folgte ihm. In Gedanken ging sie alle möglichen Dinge durch, die sich ereignet haben könnten. Hyperion könnte angegriffen haben, Kobayashi war noch einmal zurückgekehrt oder wilde Tiere könnten leichte Beute gewittert haben. All diese Gedanken ließen ihr Herz schwer werden, nicht wegen Fuu oder Tokimi, sondern wegen Ylva, das Mädchen war noch viel zu jung zum Sterben. Doch auf der Lichtung angekommen, atmete sie erleichtert auf, als sie feststellte, dass sie von keinem Massaker erwartet wurde. Ylva gähnte gerade herzhaft und rieb sich den Schlaf aus den Augen, ehe sie leise murmelnd fragte, ob sie wirklich schon aufstehen müsste; Tokimi hatte sich selbst eben erst aufgesetzt wie es aussah und tastete hektisch auf dem Waldboden nach etwas, zumindest schien sie aber nicht verletzt zu sein. Eine Person fehlte allerdings. Wo ist dieser verdammte Magier? Sie war ein wenig verärgert über seine Abwesenheit, da sie glaubte, er wolle sich wieder nur aus der Affäre stehlen, nachdem er festgestellt hatte, dass die ganze Sache doch ein wenig komplizierter war als anfangs gedacht. Doch ehe sie sich lange mit diesem Gedanken beschäftigen konnte, hörte sie, wie Ayumu ihren Namen rief. „Leana, komm, das musst du dir ansehen!“ Sie fragte sich, was denn so wichtig sein könnte und begab sich ein wenig unwillig zu ihm hinüber. Er stand einige Schritte von der Lichtung entfernt im Unterholz und blickte auf etwas hinab, was sie im ersten Moment und in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, so dass sie sich hinkniete, um es besser zu sehen. Ein Strahl Mondlicht fiel durch das Geäst der Bäume direkt auf den Boden vor ihr. Als ihr endlich bewusst wurde, was sie da betrachtete, sog sie überrascht die Luft ein. „Was zum...?“ Kapitel 19: Kinderspiel? ------------------------ Direkt vor ihr, auf dem Boden, lag ein kleiner blonder Junge, dessen Kleidung viel zu groß für den schmächtigen Körper war, der Zylinder, der einst auf seinem Kopf gethront hatte, war nun tief in die Stirn des Kindes gerutscht, so dass dieses nichts mehr sehen konnte. Leana glaubte, irgendwo tief in ihrem Inneren, diesen Jungen schon einmal gesehen zu haben, besonders als er die Krempe seines Zylinders mit beiden Händen ergriff, um die Kopfbedeckung nach oben zu schieben und seine beiden Gegenüber dann fragend aus großen grünen Augen anzusehen. „Leana, Ayumu... warum seid ihr so groß?“ Auch seine Stimme war nun um einiges höher als zuvor und klang nicht mehr so gekünstelt erhaben, wie er sonst zu sprechen pflegte. Der Ninja lachte trotz der ernsten Situation leise. „Die Frage ist eher, warum du so klein bist.“ Der Junge blinzelte irritiert und sah dann an sich herab. Als er den Blick wieder hob, waren seine Augen von Panik erfüllt. „W-WAS IST DAS!? WARUM BIN ICH WIEDER KLEIN!?“ Im nächsten Moment weinte er bereits so herzerweichend, dass Leana nicht anders konnte: Sie kniete sich hin und schloss ihn vorsichtig in die Arme, um ihn zu trösten. Tatsächlich beruhigte Fuu sich sofort wieder, wenn wohl auch eher, weil er von dieser Reaktion ein wenig überrascht war. Ayumu wollte das gerade kommentieren, als er von einer weiteren Bewegung abgelenkt wurde. Er hob das Wesen auf und stellte fest, dass es sich dabei um ein kleines Mädchen handelte, das eher wie eine Puppe aussah. Sie schien zu schlafen oder ohnmächtig zu sein, weswegen Ayumu sich an Fuu wandte. „Kennst du die?“ Der kleine Magier nickte, worauf sein Zylinder wieder nach vorne rutschte und er ihn mit einem genervten Laut wieder zurückschieben musste. „Das ist Mey.“ Leana warf ebenfalls einen Blick zu diesem Mädchen, sie hatte das Gefühl, die Kleine schon einmal gesehen zu haben, aber ihr fiel partout nicht ein, wo das gewesen sein könnte, deswegen verwarf sie die Überlegung wieder. „Was tut sie hier?“ „Sie und Marly haben Tokimi-san etwas gestohlen und...“ Fuu hielt mitten im Satz inne und versuchte, loszulaufen, um zu Tokimi zu kommen, die auf der Lichtung noch immer auf der Suche nach etwas zu sein schien. Dafür hatte sie inzwischen Ylva eingespannt, aber die Inugami kehrte immer nur zum Ausgangspunkt zurück. Fuu machte einige Schritte und stolperte dann über seine viel zu große Kleidung, worauf Leana wieder nicht anders konnte und den kleinen Magier auf die Arme nahm, um ihn zu Tokimi hinüberzubringen. Das Orakel der Zeit hielt sofort inne, als Leana den Magier vor ihr abstellte. „Fuu-sama?“ Tokimis Stimme verriet, dass sie ihren Augen nicht traute, aber egal wie oft sie blinzelte, das Bild änderte sich einfach nicht. Er griff nach ihrer Hand und zog sie damit ein wenig zu sich herunter, damit er den Kopf nicht zu sehr in den Nacken legen musste. „Tokimi-san! Da waren diese zwei Mädchen, die deinen Fächer gestohlen haben! Dann gab es einen hellen Lichtblitz und... warum siehst du mich so an?“ In Tokimis Augen war ein geradezu begeisterter Glanz zu sehen und schon im nächsten Moment zog sie einen runden Keks aus ihrer Tasche und reichte diesen Fuu. „Möchtest du ein Senbei?“ Fuu öffnete bereits den Mund, um das Angebot abzuschlagen, entschied sich dann aber offenbar dagegen und nahm dankend den Keks an sich, den er sofort zu essen begann. Leana seufzte leise. „Tokimi, was ist geschehen?“ Das Orakel stand auf und erwiderte Leanas Blick ernst. „Jemand muss meinen Fächer gestohlen haben und Fuu wollte ihn zurückholen. Dabei müssen die Energieströme von Fuu und dem Fächer aufeinandergeprallt sein und die Zeitumkehrung war nur bei Fuu effektiv.“ „Und was sollen wir jetzt tun?“, fragte Leana. „Wir können ihn doch nicht so lassen.“ Tokimi lächelte freundlich. „Können wir nicht?“ Fuu pumpte empört Luft in seine Backen. „Nein, können wir nicht!“ Das Orakel lachte, während Leana ein leises Seufzen entfuhr. „Können wir mal ernst bleiben?“ „Natürlich, Verzeihung.“ Tokimi räusperte sich. „So einen Fall hatte ich auch noch nie, deswegen bin ich ein wenig ratlos, wie ich gestehen muss.“ Ayumu, der das kleine Mädchen am Kragen gepackt hatte und mit sich trug, gesellte sich ebenfalls zu ihnen. „Kannst du nicht einfach deinen Zukunftsblick benutzen, um herauszufinden, was du tun wirst?“ Er begleitete seine Worte mit einigen wirren Bewegungen seiner freien Hand, das kleine Mädchen wurde dennoch ein wenig hin und her geschwenkt, wachte allerdings nicht auf. Tokimi blickte ihn mit gerunzelter Stirn an, ihre Missbilligung war überdeutlich zu spüren, aber er kümmerte sich nicht darum, so dass sie verbal antworten musste: „In die Zukunft sehen zu können, ist keine exakte Wissenschaft. Ich kann mir auch nicht aussuchen, was ich sehe und was nicht.“ „Also sind wir trotz dieser ach-so-tollen-Eternal auf uns allein gestellt“, schloss er gelangweilt. Es war mehr als nur deutlich, dass er nicht sonderlich viel von ihr hielt, aber Leana musste sich nicht erst fragen, weswegen. Hätte ihr jemand indirekt mitgeteilt, dass er nur da war, um ihre Existenz auszulöschen, weil sie ohnehin nur ein Versehen war, wäre sie ebenfalls nicht sonderlich erbaut. Tokimi schnaubte wütend und setzte gerade zu einer Erwiderung an, wurde allerdings von Leana daran gehindert: „Statt uns zu streiten sollten wir uns lieber darauf konzentrieren, herauszufinden, was wir denn tun können. Auch wenn es mir persönlich egal sein kann, wenn Fuu ewig klein bleibt.“ „Er würde doch nicht für ewig klein bleiben“, sagte Tokimi. „Er würde wie ein normaler Mensch wachsen und in ein paar Jahren ist er dann wieder erwachsen.“ „Das ist mir zu lange!“, kommentierte Fuu schrill. „Ich will nicht mehr klein sein! Das war ich lange genug!“ Tränen sammelten sich in seinen Augen, doch bevor er losweinen konnte, kam auch Ylva dazu und nahm ihn ohne zu fragen in die Arme. Dabei murmelte sie leise etwas, das Leana nicht verstehen konnte, aber offenbar ausreichte, um den kleinen Magier zu trösten. Er schluchzte nur trocken, ohne wirklich zu weinen zu beginnen. Kinder verstanden sich untereinander wohl einfach immer noch am Besten, wie Leana zufrieden feststellte. Das schien Tokimi genug zu rühren, dass sie etwas anderes sagen konnte: „Wenn ihr mir bis morgen Zeit gebt, werde ich mir etwas einfallen lassen. Ich muss nur einige Dinge überlegen, vielleicht kommt mir auch noch eine Vision.“ Sie legte eine Hand auf ihr Herz und lächelte zuversichtlich, was Ayumu die Schultern zucken ließ. „Fein, eine Chance geb ich dir noch.“ Leana zuckte lediglich mit den Schultern. Abgesehen von diesem Plan gab es ohnehin keinen anderen, also könnten sie genausogut einfach abwarten und hoffen, dass die Deus-Ex-Machina-Fähigkeit der Eternal ansprang und das Problem für sie aus dem Weg räumte. Tokimi lächelte erleichtert und neigte im nächsten Moment aber fragend den Kopf. „Aber wo ist denn nun der Fächer?“ In einer anderen Welt war Marly gerade dabei, ihren Fund genauer unter die Lupe zu nehmen. Zwar hatte sie Mey durch diese Aktion verloren, aber dafür war sie nun im Besitz dieses Fächers – und wenn sie Glück hatte, war der Magier bereits Geschichte... oder Zukunft, wenn man bedachte, dass dieser Fächer die Zeit zurück- statt vordrehte. Vergnügt sang sie Reime vor sich her, in denen sie ihren Sieg feierte – jedenfalls bis sie bemerkte, dass sie nicht mehr allein im Raum war. Außer ihr war plötzlich noch eine Frau mit langem rosa Haar erschienen, die blauen Augen ruhten auf dem Fächer, während ihre ruhige Mimik nicht verriet, was sie gerade dachte. „Was ist das?“ „Ein Fächer für Schwächer, du Schwester“, antwortete Marly mit anhaltender Fröhlichkeit und gewohnt schlechten Reimen. Es war selten, sie so fröhlich zu sehen, da die meisten ihrer Pläne dazu neigten, nach hinten loszugehen oder erst gar nicht in irgendeiner Art und Weise zu funktionieren. „Das ergibt keinen Sinn“, erwiderte sie. Marly schob schmollend die Unterlippe vor. „Du bist immer so überkorrekt, Lilly-Konfekt.“ So lange kannten sie sich nun und ihr war noch immer kein Reim auf Lilly eingefallen, weswegen sie zu diesem Wortspiel greifen musste. Es war zum Verzweifeln. Lilly seufzte genervt. „Jetzt erzähl mir endlich, wo du diesen Fächer herhast.“ Sie spürte, dass es kein gewöhnlicher Fächer war, eine eigentümliche Magie ging von ihm aus, die verriet, dass Marly ihn nicht einfach irgendwo gekauft hatte. So wie Lilly sie kannte, würde sie ihn eher gestohlen haben – und das auch nur, um Fuu zu schaden. Alles, was Marly in irgendeiner Art und Weise ausheckte, diente nur dazu, dem Magier Steine in den Weg zu legen oder noch besser: Sie ihm an die Füße zu binden, um ihn danach im Fluss zu ertränken. Lilly kannte das bereits zur Genüge und war auch entsprechend genervt davon. Zwar widerstrebte es ihr, ihren ausgeklügelten Plan mit Lilly zu teilen, aber irgendwem musste sie mit stolzgeschwellter Brust verraten, was in der letzten Nacht geschehen war. Also tat sie genau das, mit einem breiten Grinsen im Gesicht und Reimen, die immer schlechter wurden. Lilly fragte sich einen Augenblick, ob Marlys Reime möglicherweise besser wurden, wenn sie schlecht gelaunt war, allerdings wusste sie auch, dass es nicht so war. „Du hast ihn also gestohlen“, schlussfolgerte Lilly aus der Erzählung. Marly nickte bestätigend – und im nächsten Augenblick stieß sie ein empörtes Kreischen aus, als Lilly ihr ohne großen Aufwand den Fächer abnahm. „Ich werde ihn zu seinem Besitzer zurückbringen. Nein, bemüh' dich nicht, ich finde schon heraus, wo genau sich diese Eternal befindet.“ Sie ignorierte Marlys wütendes Fluchen und auch das verzweifelte Flehen, während sie davonging, um das Haus zu verlassen und dann ein Tor zu öffnen, das sie dorthin bringen würde, wo sich die Besitzerin des Fächers befand. Marly folgte ihr nicht, sie schien bereits zu wissen, dass sie diesen Kampf verloren hatte und plante schon den nächsten Streich. Während sie lief, fragte Lilly sich, was wohl mit Fuu geschehen war, da Marly davon nicht hatte berichten können, offenbar war sie verschwunden, um ihm keine weitere Gelegenheit zum Eingreifen zu geben, aber sie zweifelte wohl nicht daran, dass ihr endlich ein schmerzender Streich gegen ihn gelungen war. Sie konnte nur hoffen, dass es dem Magier gut ging. Er wirkte zwar immer so unangreifbar und überlegen, aber sie war sich sicher, dass vieles davon nur zu seiner Show gehörte, die er für die Bühne brauchte und er in Wahrheit eben doch nicht unfehlbar war – denn es gab keine unfehlbaren Personen. Als sie im Freien stand, hob sie den Fächer, der von einem hellen Glühen umhüllt wurde. Sie bekam den Eindruck als wollte er ebenfalls zu seiner Besitzerin zurück und ließ sich deswegen direkt auf ihre Magie ein, um einen Spirit Corridor zu öffnen, der sie direkt zum letzten bekannten Aufenthaltsort seines Besitzers bringen würde. Die wild zuckenden Farben im Inneren des Korridors waren ihr vertraut, da sie ihn oft gebrauchte, um zwischen den Welten umherzureisen. Egal ob mit oder ohne Shinken, dieser Korridor war der einzige Weg, der sich einem bot, deswegen lernten Magier bereits früh, ihn zu ihren Zwecken zu gebrauchen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging Lilly hindurch. Kapitel 20: Am Ende der Weisheit -------------------------------- Als Leana am nächsten Morgen erwachte, war ihr sofort klar, dass Tokimi noch keine Idee bekommen hatte, was sie tun sollte. Das Orakel war noch vor allen anderen aufgewacht, vermutlich in der Hoffnung, noch einen Gedankenblitz zu bekommen, aber an ihrem düsteren Gesichtsausdruck war zu erkennen, dass genau das nicht geschehen war. Allerdings musste Leana zugeben, dass sie an Tokimis Stelle auch nicht wüsste, was sie tun sollte, besonders wenn so etwas wirklich noch nie geschehen war. Aber das half ihnen bei ihrem Problem nicht. Der kleine Fuu schlief noch immer, direkt neben Ylva deren buschigen Schwanz er als Kuschelkissen zu benutzen schien. Er lächelte selig im Schlaf und Leana konnte bei diesem Anblick nicht anders als ebenfalls zu lächeln – was ihr aber sofort verging, als der ebenfalls erwachte Ayumu darauf aufmerksam wurde. „Na sieh mal einer an“, bemerkte er spöttisch. „Du scheinst Kinder wohl gern zu haben. Deswegen reist du mit Sicherheit auch mit Ylva, was?“ Sie runzelte die Stirn, als sie versuchte, ihn gleichgültig anzublicken. „So ein Unsinn. Ich mag keine Kinder, sie sind lästig.“ Während sie sprach, versuchte sie ihrer Stimme einen festen und gleichzeitig unbeteiligten Klang zu geben, so dass es nicht wirkte als würde sie es nur sagen, weil es ihr unangenehm war – denn das war es. Sie versuchte stets, sich als unnahbar und kühl zu geben und meist war sie das ja auch, da musste sie sich gar nicht großartig verstellen. Aber bei Kindern konnte sie einfach nicht anders. Sie waren so unschuldig, so beschützenswert, sie musste sie einfach mögen. Das würde sie allerdings nie freiwillig zugeben, selbst gegenüber Zetsu hatte sie immer versucht, es abzustreiten. Ayumus Schmunzeln verriet deutlich, dass er ihr das nicht glaubte, doch zumindest nicht, weil sie sich selbst verraten hatte, sondern: „Aber alle Frauen mögen doch Kinder. Sieh dir doch nur mal Tokimi an, dieses Orakel scheint auch ganz verrückt nach ihm zu sein.“ Tatsächlich saß sie zwar abseits von den anderen, aber ihr Blick ging immer wieder zu Fuu und jedes Mal huschte dabei ein flüchtiges Lächeln über ihr Gesicht. Mey dagegen, die säuberlich verschnürt von dem Ast eines Baumes herabhing, wurde von niemandem beachtet. Außer von Leana, die irritiert hinübersah, nachdem sie das entdeckt hatte. „Hast du das getan?“ Das Thema war ihr eine willkommene Abwechslung zu dem, was sie eben besprochen hatten und zu ihrem Glück ging Ayumu direkt darauf ein. Er nickte amüsiert. „Ja. Es wäre zu umständlich gewesen, wenn einer von uns deswegen hätte immer wach sein müssen. Ich glaube nicht, dass sie sich einfach so aus all diesen meisterhaften Knoten befreien kann.“ Sie konnte sein Schmunzeln nicht teilen, musste aber zugeben, dass es sich dabei um keine schlechte Lösung handelte. Zu ihrem Glück wurde er aber gleich wieder ernst... nun, so ernst wie er eben werden konnte, aber er blickte tatsächlich mit gerunzelter Stirn auf Fuu. „Was machen wir jetzt mit ihm? Tokimi ist ja offensichtlich nichts eingefallen, aber er wird kaum so bleiben wollen.“ „Ich weiß es nicht. Ich bin eine Eternal, aber ich verfüge nicht über solche Kräfte wie sie.“ Ihr war nicht einmal wirklich bewusst gewesen, dass es Eternal gab, die einen solchen Einfluss auf etwas oder jemanden ausüben konnten. Sie hatte das Gefühl, fast schon von Glück reden zu können, dass ihr Eternal-Dasein nicht mit einer solchen Last verbunden war. Obwohl, wenn ich in die Zukunft sehen könnte, dann wäre Zetsu... Sie unterbrach sich in ihren eigenen Gedanken und blickte wieder zu Fuu, der sich inzwischen zu regen begann und offenbar dabei war, aufzuwachen. Simultan dazu erwachte auch Ylva, die den jungen Magier erst einmal in den Arm nahm, was er sich gefallen ließ. Genau genommen schien es ihm sogar zu gefallen, wenn er umarmt wurde. Nach dieser Umarmung wandte Fuu sich an Tokimi, die sich bemühte, zu lächeln. „Tokimi-san, bitte sag mir, dass dir in der Nacht eine Idee gekommen ist!“ Sie neigte den Kopf ein wenig. „Fuu-sama, wäre es möglich, dass Ihr Feuerholz suchen geht? Wenn Ihr wiederkommt, werde ich Euch meine Lösung präsentieren.“ Nicht sonderlich überzeugt setzte er sich in Bewegung und verschwand rasch aus dem Blickfeld der kleinen Gruppe. Ayumu warf Tokimi einen überheblichen Blick zu. „Und dabei hast du nicht den Hauch einer Idee, was?“ „Oww, ich hasse deine unverblümte Art, das ist so unhöflich, selbst für einen Ninja!“ Er lachte über diese Erwiderung nur spöttisch. „Das ist zu komisch.“ Leana seufzte leise. „Lasst es gut sein. Wenn ihr euch dauernd streitet, nervt das total.“ Zu ihrer Verwunderung hörten beide sogar auf sie und beendeten diese Streitereien. Sie atmete erleichtert auf und stellte dann eine Frage: „Also, was sollen wir jetzt tun?“ Tokimi neigte den Kopf und runzelte dabei die Stirn, sie wusste es offenbar nicht, aber dennoch erlöste Leana sie nicht aus der Situation, sondern wartete geduldig ab, wobei sie Ayumus amüsiertes Schmunzeln ignorierte. „Ich weiß es nicht“, gab sie schließlich zu. „Wie gesagt, so etwas ist noch nie passiert und deswegen ist mir bislang auch keine Idee gekommen...“ Der Ninja wollte gerade wieder einen hämischen Kommentar abgeben, aber Leana nahm ihm direkt den Wind aus den Segeln, indem sie zu ihm sah und ihn ansprach: „Hast du denn eine Idee?“ Sein Lächeln erlosch sofort. „N-natürlich nicht, woher denn?“ „Dann spiel dich auch nicht so auf.“ Schmollend schob er die Unterlippe vor und wandte sich von ihnen ab, dafür schaltete Ylva sich ein: „Ich finde, wir sollten ihn so lassen, so ist er viel süßer.“ Tokimi lächelte sie an. „Ja, vielleicht, aber vorher war er ein viel besserer Zauberer... ich glaube, davon ist jetzt nicht mehr sonderlich viel übrig geblieben.“ Wenn es nach Leana ginge, wäre das kein großes Problem, seine Zauberei hatte ihr selten etwas Gutes gebracht, aber es war wohl besser, wenn sie ihm half, wieder er selbst zu werden. „Dann ist es jetzt angebracht, dass wir uns hinsetzen und darüber nachdenken, ja?“ Das taten sie dann auch – und zwar schweigend. Der kleine Fuu war derweil damit beschäftigt, Feuerholz einzusammeln, wenngleich auch nicht mit sonderlich viel Enthusiasmus. Immerhin war ihm nach wenigen Metern aufgefallen, dass seine Kleidung zu groß war und ihn ständig stolpern ließ und hatte daher seine verbliebenen magischen Kräfte genutzt, um seine Kleidung seiner Größe anzupassen. Aber das änderte nichts daran, dass das Sammeln frustrierend war. Nicht nur, dass er mit seinen kurzen Beinen nur kleine Schritte zustandebrachte, in seine kurzen Arme passte auch nicht sonderlich viel von dem Holz, so dass es immer wieder herausfiel und er es neu aufsammeln musste. Jedenfalls so lange, bis er schließlich entnervt aufgab, einfach alles auf einen Haufen warf und sich dann auf den Boden setzte, um zu schmollen. Als Kind durfte er so etwas, von diesen erwartete man immerhin nicht viel anderes, also sollte er diese Gelegenheit nutzen. Aber er konnte dennoch nicht leugnen, dass er lieber wieder erwachsen wäre – auch wenn ihm die Aufmerksamkeit, die er von Ylva und Tokimi bekam, doch sehr gefiel. Wenn Marly nur nicht diesen Fächer geklaut hätte... Er zuckte erschrocken zusammen, als er plötzlich ein Rascheln im Unterholz hören konnte und sah sich furchtsam um. Die Sonne war bereits aufgegangen und beleuchtete die roten Blätter, so dass eine unheimliche Atmosphäre entstand, die normalerweise nur durch einen Scheinwerfer erreicht wurde und die er selten auf der Bühne nutzte. Er gab es nicht gern zu, aber er ließ sich tatsächlich von einem solch roten Licht beeindrucken und aus der Fassung bringen und das wollte er nicht auf der Bühne demonstrieren. Ängstlich schien er geradezu in sich zusammenzuschrumpfen, er zog seinen Hut tiefer in die Stirn, um nicht sehen zu müssen, was ihn gleich angreifen würde – aber schon im nächsten Moment spürte er eine vertraute Aura, die absolut gar nicht aggressiv war. Neugierig schob er den Hut wieder nach oben und entdeckte zuerst ein Paar Beine in einem schwarzen Rock, so dass er den Blick nach oben wandern ließ und dann langes rosa Haar entdeckte, so dass er wusste, wer es war. „Lilly!“, rief er freudig aus. Sie ging in die Hocke und musterte ihn verwundert. „Woher kennst du meinen Namen?“ Für einen ganz flüchtigen Augenblick war ihm tatsächlich entfallen, dass er klein war, weswegen er zuerst mit einem verwirrten „Huh?“ antworten wollte, aber dann erreichte ihn die Erkenntnis und er seufzte tief. „Ich bin es, Lilly. Fuu!“ Sie konnte es offenbar kaum glauben, aber immerhin sah er sie zum ersten Mal so erstaunt wie an diesem Tag. Normalerweise war sie immer beherrscht, fast schon unterkühlt, so dass er sich eine ganze Weile gefragt hatte, ob sie überhaupt so etwas wie Emotionen besaß. Aber das Erstaunen hielt nicht lange an, dafür nahm aber ein Ausdruck den Platz ein, den er nicht kannte. Ihre Gesichtszüge wurden weich, geradezu zärtlich, ein leichter Schimmer von Rosa legte sich auf ihre Wangen. Ihre Lippen formten Worte, die er nicht hören konnte, aber anhand der Bewegungen wusste er, dass sie Süß sagte. Doch bevor er darauf reagieren konnte, hatte sie ihn bereits in ihre Arme geschlossen und drückte ihn an sich. Sie war angenehm warm, wie er fand und sie duftete gut, auch wenn er nicht wusste, wonach eigentlich, aber das kümmerte ihn auch nicht weiter. Außerdem war sie... weich, geradezu angenehm. Unwillkürlich schmiegte er sich an sie und ließ es auch zu, dass sie ihm über den Rücken strich und dabei leise zu summen begann. Das war wirklich ein angenehmer Nebeneffekt des Kind seins, wie er fand. Aber auch das hielt nicht lange an, denn plötzlich ließ sie ihn los, so schnell als hätte sie sich an ihm verbrannt. Der Schimmer auf ihrem Gesicht war inzwischen fast schon tiefrot geworden, als sie eine Entschuldigung murmelte. „Irgh, was ist nur los?“, fragte er verdrossen. „Warum reagieren Frauen bei Kindern so?“ Nicht, dass es ihn störte, aber er wunderte sich doch ein wenig darüber. Schon früher waren das vermehrt die Reaktionen der Frauen gewesen, die ihm begegnet waren. Sie antwortete ihm nicht darauf und kam stattdessen mit einer Gegenfrage: „Was ist mit dir passiert?“ Er erzählte ihr von Tokimis Fächer und Marly, die er beim Diebstahl davon erwischt hatte. Dabei lauschte sie ihm interessiert, aber obwohl sie nichts sagte und offenbar auch versuchte, ihre Mimik wieder unter Kontrolle zu bringen, bemerkte er doch ab und an, dass ihre Lippen wieder das Wort Süß bildeten. Offenbar war sie auch von seiner Stimme entzückt, was er noch weniger verstand. Frauen waren eben selbst für den Meistermagier Fuu noch immer ein Mysterium. „Kannst du mir vielleicht helfen?“, fragte er schließlich. „Spontan wüsste ich nichts, da bräuchte ich ein wenig Bedenkzeit.“ Enttäuscht senkte er den Blick und bemerkte dann, dass Lilly etwas hinter ihrem Rücken hervorholte. „Aber solange ich darüber nachdenke, kannst du mich zu der Besitzerin dieses Fächers bringen?“ Tatsächlich erkannte er den Fächer als jenen von Tokimi wieder, daher nickte er sofort. „Natürlich. Aber du müsstest mir erst mit dem Feuerholz helfen.“ Er deutete auf den Stapel, den er aus Frust hingeworfen hatte. Lilly nickte und gab ihm den Fächer, damit sie sich dem Feuerholz widmen konnte. „Du hilfst mir damit wirklich“, sagte er, als sie sich gemeinsam in Bewegung setzten. Sie neigte nur ein wenig den Kopf, als ob ihr das bereits bewusst wäre. Schon bald darauf kamen sie an dem Lager der Eternal an, wo sie alle in Schweigen vertieft waren und keiner den anderen zu beachten schien. Fuu seufzte leise, als er das bemerkte, hatte er doch gehofft, dass sie seine Abwesenheit nutzten, um sich über mögliche Strategien zu seiner Rettung zu beraten. Er hob den Blick, um Lilly anzusehen und deutete dabei mit der Hand zu den anderen hinüber. „Das sind derzeit meine Gefährten.“ Er wollte gerade ansetzen, um sie vorzustellen, als Lilly bereits wissend nickte und ihn unterbrach: „Ich weiß. Das sind Shoubi no Leana, Tokimi Kurahashi, die Inugami Ylva und Ayumu, ein Splitter von Gyouten no Zetsu.“ Kapitel 21: Des Rätsels Lösung ------------------------------ Tokimi schlug erfreut die Hände zusammen, nachdem sie Lillys Worte vernommen hatte. „Gar nicht schlecht“, sagte die Eternal anerkennend. „Du scheinst viel über uns zu wissen.“ Doch Lilly kümmerte sich nicht weiter um dieses Lob. Sie legte das Holz neben das Feuer und ließ sich dann von Fuu den Fächer reichen, den sie an Tokimi weitergab. „Ich nehme an, dass es deiner ist.“ Entzückt und erleichtert nahm sie den Fächer wieder an sich. „Vielen Dank, Lilly.“ „Du kennst meinen Namen?“ Es war für Lilly nicht erstaunlich, dass sie selbst die Namen aller kannte, immerhin war sie derart empathisch veranlagt, dass sie solche Informationen kinderleicht bekommen konnte. Aber dass jemand anderes ihren Namen noch vor ihrer Vorstellung kannte, war neu für sie. Tokimi schmunzelte amüsiert. „Ich habe deinen Namen in einer meiner Visionen gesehen.“ „Ich verstehe.“ Auf diese Lösung war sie bislang nicht gekommen, dabei war es nur logisch, denn auch sie wusste, dass man Tokimi als Orakel der Zeit nannte und sie damit eine der wenigen Eternal war, die in der Lage war, in die Zukunft zu sehen. Zwar nicht so, wie sie wollte – soweit Lilly wusste, gab es in den Reihen der Law-Eternal einzelne Personen, die deswegen bereits über die ach-so-tolle Tokimi lachten – aber immerhin war es ihr möglich. „Es ist schön, dass du uns nun unterstützen kommst“, fuhr Tokimi fort, doch Lilly schüttelte rasch mit dem Kopf und erwiderte: „Ich bin nicht hier, um euch zu helfen, ich wollte nur den Fächer zurückbringen... und Fuu helfen.“ Das Gesicht des kleinen Magiers erhellte sich schlagartig wieder, als sie das sagte, weswegen er sich auch direkt neben sie setzte, als sie auf einem der Baumstämme Platz nahm. Ayumu lehnte sich ein wenig zurück. „Das sind ja schöne Worte, aber wie willst du ihm helfen?“ So manch andere Person hätte diese Aussage als Provokationsversuch betrachtet, aber Lilly wusste, dass keiner solcher dahintersteckte, sondern der Ninja wirklich an ihrem Plan interessiert war. „Ich bin mir noch nicht sicher“, antwortete sie. „Ich war noch nie mit einer solchen Situation konfrontiert.“ Er wollte gerade ansetzen, ihr zu sagen, dass sie dann wohl genauso weit wäre wie die anderen, aber da fuhr sie bereits fort und schnitt ihm damit das Wort ab: „Aber ich habe schon einen Verdacht und wüsste dafür auch das passende Gegenmittel.“ Die überraschten Blicke der anderen verwunderten sie nicht, denn dass die anderen absolut ratlos waren – selbst Tokimi – war unzweifelhaft klar gewesen, als sie die Lichtung betreten hatten. Fuu sah sie geradezu bewundernd an. Als Erwachsener war es ihm stets möglich, seine Emotionen unter Kontrolle zu behalten und nichts außer einem sanften Lächeln auf seinem Gesicht zu tragen, es sei denn, etwas wirft ihn wirklich sehr aus der Bahn – aber als Kind trug er seine Gefühle vollkommen offen in seiner Mimik, was Lilly irgendwie... süß fand. Fast schon bedauernswert, dass sie ihn wieder in seinen erwachsenen Zustand zurückversetzen sollte. „Was wäre denn das passende Gegenmittel?“, fragte Ayumu mit ehrlichem Interesse. „Die Wurzel eines Novabaumes, ich glaube nicht, dass-“ „Den kenne ich!“, ließ Ylva plötzlich verlauten, was nun ihr die verwirrten Blicke einbrachte, selbst den von Lilly. Sie war nicht davon ausgegangen, dass es in dieser Welt Novabäume geben würde und hatte deswegen vorschlagen wollen, Fuu mit sich zu nehmen, ihm das Gegenmittel zu verabreichen und ihn dann wieder zu den anderen zurückzubringen. Aber so entfiel dieser Umweg, sofern Ylva die Wahrheit sagte. „Bist du dir sicher?“, fragte Leana das Mädchen skeptisch. Ylvas Ohren zuckten ein wenig, aber sie wedelte mit dem Schwanz und nickte zustimmend. „Ich bin zwar nicht sicher, ob es derselbe Baum ist, aber es gib auch hier eine Art, die sich so nennt.“ Die anderen versanken für den Moment wieder in nachdenkliches Schweigen, jeder von ihnen dachte sich, dass es doch ein sehr großer Zufall wäre, wenn das stimmen sollte – nur Ayumu nicht, denn dieser kam zu einer Erkenntnis, die er sogleich mit den anderen teilen musste: „Ich finde das nicht sonderlich seltsam. In dieser Welt gibt es ein Mittel für alles, da ist es nicht weiter verwunderlich, dass es auch ein Mittel gegen alles gibt.“ Leana warf nun ihm einen skeptischen Blick zu. „Bist du sicher? Das Mittel gegen den Mistelzweig hat immerhin auch nicht funktioniert.“ „Das liegt wohl eher an mir.“ Er schnitt ihr eine Grimasse. „Ich war noch nie gut darin, mir solche Dinge zu merken, vermutlich habe ich das irgendwie verwechselt.“ „Wir wurden wegen einer Verwechslung von einem Leviathan angegriffen?“, fragte sie grollend. „Ja, lustig, was?“ Er lachte amüsiert, jedenfalls bis Leana ihm einen schwachen Schlag versetzte, der ihn, weil er ihn unvorbereitet traf, rücklings vom Baumstamm fallen ließ. Mit einem dumpfen Geräusch kam er auf dem Boden auf, aber sein leises „Aua“ blieb von jedem ignoriert. Stattdessen wandten sich alle wieder Ylva zu, die gerade zum Erklären ansetzte: „Novabäume wachsen in Sümpfen, weil sie so viel Wasser benötigen. Also sollte es sie auch hier geben, wenn wir einen Sumpf finden.“ „Das stimmt mit den Bäumen überein, die ich meine“, bestätigte Lilly. „Möglicherweise gibt es also tatsächlich welche in dieser Welt.“ Fuus Augen leuchteten bereits vor Vorfreude, als er daran dachte, dass er bald wieder erwachsen sein könnte. Ayumu kletterte derweil wieder auf den Baumstamm zurück, ohne dafür aufzustehen. Er blickte in Tokimis Richtung und dieses Mal waren seine Worte als Provokation zu verstehen: „Kann unser Orakel hier nicht einfach in die Zukunft sehen, ob wir das überhaupt schaffen?“ Die Eternal zog verärgert die Brauen zusammen, aber noch ehe sie etwas erwidern konnte, ging Lilly mit ihrer gewohnt ruhigen Stimme dazwischen: „Ich finde, es ist kein guter Zeitpunkt, um zu streiten. Solange ihr Verbündete seid, ist es wichtig, dass ihr auch zusammenhaltet.“ Ayumu und Tokimi wandten sich demonstrativ voneinander ab und sagten nichts mehr, weswegen Fuu und Ylva die Streitschlichterin bewundernd anblickten. Leana fiel aber noch ein anderes Thema ein: „Wo sind denn die nächsten Sümpfe, damit wir einen von diesen Bäumen finden?“ Eigentlich konnte es ihr egal sein, wenn Fuu ewig klein bleiben würde – aber da er diese ganze Sache angestellt hatte, war er, ihrer Meinung nach, ihre beste Chance, alles auch wieder ins Lot zu bringen. Selbst wenn sie dafür von Eos, Hyperion oder der Rückholung Isoldes erst einmal abkommen musste, so erschien es ihr wie der beste Weg, zuerst dieses Gegenmittel für ihn zu finden. Sobald er wieder erwachsen war, würde er mit hoher Wahrscheinlichkeit auch einen Weg finden, ihr zu helfen – zumindest hoffte Leana das. Das konnte Ylva nicht sagen, dafür sprang Ayumu wieder ein: „In Geografie bin ich perfekt, daher kenne ich die Antwort darauf.“ Tokimi rollte mit den Augen, aber er bemerkte es nicht oder ging nicht darauf ein, stattdessen deutete er in irgendeine Richtung. „Im Westen gibt es einen Sumpf mit ziemlich vielen Bäumen. Ich habe dort einmal einen Auftrag gehabt, ich sollte eine Leiche finden und deren Gepäck an mich nehmen, um es weiter zu transportieren. Jetzt seht mich nicht so an, ich habe weder die Leiche noch das Gepäck gefunden.“ Da Ylva bereits die Stirn runzelte, um sich zu fragen, warum er die Leiche wohl nicht gefunden hatte, setzte er sofort eine Antwort nach: „Wenn du einmal im Sumpf versunken bist, dann findet dich dort niemand mehr.“ Aber Ylvas Gedanken zerstreute er damit offensichtlich nicht, stattdessen wirkte sie plötzlich sogar ängstlich. Keiner von ihnen war sicher, worüber sie gerade nachdachte, aber es schien, dass sie etwas anderes hinter der vermissten Leiche vermutete als diese Erklärung. Da sie allerdings nicht weiter darauf einging, sprang Fuu von seinem Platz auf. „Wir sollten sofort aufbrechen! Je schneller ich wieder groß bin, desto besser!“ „Aber so bist du viel süßer“, erwiderte Tokimi lachend, wofür sie einen ärgerlichen Blick von dem kleinen Magier erntete – aber selbst damit wirkte er einfach niedlich. Verdrossen sah er zwischen den Frauen und Ylva hin und her, dann richtete er seine Augen auf Ayumu, der sich als einziger nicht von der Niedlichkeit beeinflussen ließ. „Du stimmst mir doch zu, oder?“ Der Ninja nickte. „Ja, das tue ich. Schon allein weil du mir in deiner derzeitigen Form die ganze Aufmerksamkeit von Leana stiehlst.“ Er erntete einen erneuten Schlag von der Eternal, der ihn wieder vom Stamm beförderte, dieses Mal gab es kein „Aua“, sondern ein ersticktes Lachen, er war wohl darauf vorbereitet gewesen. „Er wird es nie lernen“, kommentierte Tokimi seufzend. „Dafür muss ich nicht einmal seine Zukunft kennen.“ „Das kann ich mir gut vorstellen“, bemerkte Leana und erhob sich ebenfalls. „Wir sollten lieber aufbrechen, damit Fuu bald wieder groß ist.“ Auf ihre Worte hin, richteten auch die anderen sich auf, einigten sich darauf, dass sie Ayumu folgen sollten, da er den Weg kannte – zumindest behauptete er das – und liefen dann los, um den Sumpf schnellstmöglich zu erreichen. Kobayashi kam inzwischen mit seiner Truppe grollend wieder in Burg Nakahara an. Diese ungeplanten neuen Feinde, die plötzlich dazwischen gekommen waren und offenbar bereits seine zukünftigen Aktionen hatte voraussehen können, weswegen der Sieg unmöglich gewesen war. Außerdem war Leana offenbar sogar ohne jedes Shinken eine passable Kämpferin, womit er nicht gerechnet hatte, so dass es ihm nicht möglich gewesen war, sie rechtzeitig festzunehmen. Zu seinem großen Ärger stand Yori bereits in den Ställen, so als ob er die ganze Zeit nur auf sie gewartet hatte, seine Augen huschten über alle Anwesenden, bis er feststellte, dass die Zielperson nicht dabei war. „Wo ist Shoubi no Leana?“ Der General schnaubte wütend und trat dann gegen einen leeren Eimer, der mit einem lauten Geräusch bis ans andere Ende des Stalls schlitterte. „Sieht es so aus als wäre sie bei uns!? Es ist uns nicht gelungen, sie festzunehmen!“ „Und warum nicht?“, hakte Yori ruhig nach, was Kobayashis Zorn nur noch weiter anfachte. Am Liebsten hätte er den Berater gepackt und ihn einfach hochkant aus dem Stall befördert, aber er wusste, dass Eos das nicht sonderlich gut auffassen würde, deswegen beherrschte er sich und erzählte stattdessen lieber, was geschehen war. Yori hörte ihm geduldig zu und nickte schließlich verstehend. „Gut, ich werde Eos-dono davon berichten, dann wird sie wenigstens nicht wütend sein.“ Kobayashi und auch keiner der anderen aus dem Palast verstand, warum Eos bei ihm nicht derart aggressiv reagierte und wie er es immer schaffte, sie zu beruhigen. Es existierten bereits die wildesten Gerüchte, aber Yori ignorierte sie allesamt und tat weder etwas, um sie zu bestärken, noch sie zu entkräftigen. Aber trotz seiner enttäuschenden Reaktion war jeder von ihnen froh und erleichtert, dass sie dank Yori um ihre Bestrafungen herumkamen. „Wer war diese andere Frau?“, brummte Kobayashi, auch wenn er nicht glaubte, dass der Berater die Antwort kennen würde. Tatsächlich konnte Yori nur mit den Schultern zucken. Er wusste zwar durch Kobayashis Erzählung, wie ihr Name war und dass sie eine Eternal war, aber viel mehr war ihm auch nicht bekannt, er verstand nicht einmal so recht, was es mit der Bezeichnung Chaos-Fraktion auf sich hatte. Schließlich verabschiedete er sich von Kobayashi, riet diesem, sich erst einmal ordentlich auszuruhen und ging dann wieder davon, um Eos Bericht zu erstatten. Der General sah ihm mit gerunzelter Stirn hinterher, dann wandte er sich selbst wieder ab, um sich den Pferden und seinen Männern zu widmen, die allesamt enttäuscht von dem Misserfolg und teilweise auch verletzt waren. Er wusste nur eines: Wenn er Leana und dieser Tokimi noch einmal über den Weg laufen würde, wäre das ihre allerletzte Begegnung! Kapitel 22: Tödlicher Sumpf --------------------------- Die Reise dauerte zwei Tage, aber schließlich standen sie doch auf dem Steg, der in den Sumpf hineinführte. Die Bäume wirkten größer als alle anderen in den Wäldern, die sie bereits gesehen hatten, allein die aus der Erde herauswachsenden Wurzeln überragten Leana, so dass sie sich auf die Zehenspitzen stellen und den Arm hochstrecken musste, um diese auch nur mit den Fingerspitzen berühren zu können. Die Umgebung an sich ließ einen daher glauben, sich an einem geradezu heiligen Ort zu befinden, an dem man besser nicht zu laut sprach, wenn man keine Gottheiten gegen sich aufbringen wollte. Erst beim Betrachten des Wassers wurde man sich wieder bewusst, dass man sich keineswegs in göttlichen Gefilden befand. Das stehende Wasser des Sumpfes war braun und stank an manchen Stellen derart abscheulich, dass dieser stechende Geruch durch das ganze Gebiet zog und man ihn selbst fernab dieser fauligen Orte riechen konnte. Fuu, der offenbar empfindlich war, was olfaktorische Einflüsse anging, verzog angewidert das Gesicht und drängte sich dichter an Lilly, die sich nicht daran zu stören schien. Auch das Wetter schien sich gegen sie verschworen zu haben, der Himmel war mit gelblichen Wolken bedeckt, die nicht nach Regen, sondern eher nach einem Sandsturm aussahen. Das dadurch trübe Sonnenlicht färbte auch den Sumpf gelb und erweckte keinerlei positive Gefühle. „Und wie finden wir jetzt den Novabaum?“, fragte Leana, die auch nicht unbedingt mehr Zeit als dringend notwendig an diesem Ort verbringen wollte. Zu Fuus großem Entsetzen, hob Ylva die Nase in die Luft, um zu schnuppern, dann deutete sie den Steg hinunter. „Ich glaube, dieser Holzweg führt uns direkt zu ihm.“ Wortlos lief Leana bereits los, um diesem zu folgen, in der Hoffnung, dass sie das alles schnell hinter sich bringen könnte. Wie sie erwartet hatte, folgte ihr Ayumu direkt und schloss bald wieder zu ihr auf, um neben ihr zu laufen. Ihr schien, dass die Gruppe von ehrfürchtigem Schweigen ergriffen worden war, denn keiner von ihnen sagte etwas, während sie den Steg entlangliefen. Selbst das puppenartige Mädchen, deren Name Mey war, schwieg. Sie war im Laufe des ersten Tages erwacht, konnte aber wegen Fuus und Lillys Fesseln nichts unternehmen – und schwieg daher aus Trotz, so schien es Leana. Aber sie hielt es für umso besser, immerhin konnte die Kleine so auch niemandem auf die Nerven gehen und dass sie das tun würde, sollte sie sprechen, konnte man ihr geradezu an der Nasenspitze ansehen. Auf dem Wasser tanzten goldene Funken, die an Mana erinnerten, aber für Leana fühlte es sich nicht danach an. Es mussten eher Irrlichter sein, jene, die Reisende in den Sumpf lockten, damit sie darin ertranken. Glücklicherweise wollte keiner aus ihrer Gruppe diesen Lichtern folgen, Leana konnte sich gar nicht vorstellen, wie schwer es werden würde, sie vor dem Ertrinken zu retten. Außer ihnen schien sich niemand im Sumpf zu befinden, was wohl nicht zuletzt an den Gerüchten lag, die sich um diesen Ort rankten – außerdem hatte Leana in der näheren Umgebung keine Ortschaft mehr gesehen. Sehr dicht besiedelt war dieses Land also nicht. Aber das war für sie nur umso besser, denn je weniger Fremde sich in ihre Angelegenheiten einmischen konnten, umso schneller würden sie fertig werden, so hoffte sie jedenfalls. Der Steg, von wem auch immer er errichtet worden war, führte sie tatsächlich quer durch den ganzen Sumpf. Als er endete, fanden sie sich vor einem riesigen Baum wieder. Die gesamte Gruppe musste den Kopf in den Nacken legen, um daran hinaufsehen zu können. Allein der Stamm war bereits gigantisch, selbst die kleine Gruppe, die vor ihm stand, hätte nicht gereicht, um eine menschliche Kette um ihn herum zu bilden. Die Äste wuchsen in einer schwindelerregenden Höhe, für die man Flügel gebraucht hätte, um sie erreichen zu können. Aber das für Leana erstaunliche war ohnehin, dass sich eine riesige Öffnung im unteren Bereich des Stammes befand, so dass man hineinsehen konnte. Aber außer einem dornigen Gestrüpp war in der Dunkelheit nichts zu entdecken. Doch egal wo Leana hinsah, nirgends entdeckte sie die üblichen hochstehenden Wurzeln der anderen Bäume, was sie wieder einmal darin bestätigte, dass Unternehmungen, die im Zusammenhang mit ihr standen immer schwerer waren als sie sein müssten. „Wie kommen wir jetzt an eine Wurzel?“, fragte sie. Lilly deutete direkt auf das dornige Gestrüpp. „Die Wurzeln von Novabäumen sehen ganz anders aus als die normaler Bäume – und vor allem sind sie dornig. Wir benötigen glücklicherweise nur ein kleines Stück davon.“ Allerdings machte keiner irgendwelche Anstalten, in das Wasser hinabzusteigen, um an die Wurzel zu kommen. Leana konnte es niemandem verübeln, ihr wurde schon allein beim Gedanken hinabsteigen zu müssen, ganz anders. Der Geruch war immerhin nicht sonderlich besser geworden, nur weil sie sich daran gewöhnt hatten. Leana kniete sich hin, um zumindest eine Hand in das kühle Wasser tauchen zu können. „Wie tief ist es hier wohl?“ Schwimmen wäre kein Problem, das konnte sie, aber sonderlich begeistert war sie von dieser Aussicht nicht. „Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden“, meinte Ayumu und im nächsten Moment befand er sich bereits im Wasser, das ihm bis an die Ellenbogen reichte, er lächelte sie an. „Man kann hier recht gut stehen. Kommst du auch rein?“ Die Ablehnung lag ihr bereits auf der Zunge, aber sie konnte nicht einfach die anderen alles machen lassen. Wenn Fuu ein Kind blieb, würde sie Zetsu möglicherweise nie wiedersehen, sie musste also selbst aktiv werden und bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, befand sie sich ebenfalls im Wasser. Innerhalb kürzester Zeit saugte sich ihre Kleidung voll davon, so dass nur noch ihre Schultern trocken waren, ihr ganzer Körper war nach wenigen Sekunden bereits derart kühl, dass sie ein wenig zitterte, während sie sich durch das stehende Wasser bewegte. Unwillkürlich dachte sie wieder daran, dass in diesem Sumpf möglicherweise zahlreiche Leichen versunken waren und zuckte zusammen, als ihr Fuß gegen etwas stieß. Ihr Herz schlug augenblicklich schneller, doch sie beruhigte sich rasch wieder, als sie bei dem vorausgegangen Ayumu ankam. Er stand bereits im Halbdunkel des Baumstammes und blickte auf das dornige Gestrüpp, das wie eine Schlange verschlungen vor ihnen lag. „Wir sollten einen Teil davon abschneiden“, sagte er und zog dabei ein Messer hervor, das sie bislang nicht an ihm hatte sehen können. „Aber töten wir den Baum nicht dadurch?“ Anders als bei anderen Bäumen sah es nicht so aus als ob es mehrere Wurzeln gab, es schien nur diese eine zu geben und Leana wollte ungern schuld am Tod eines so riesigen und ehrfurchtserweckenden Baumes sein, mit Sicherheit würde diese Welt das nicht gutheißen. Genau genommen kam es ihr ohnehin vor, als ob sie gerade beobachtet werden würde und wenn sie eines in dieser Welt gelernt hatte, dann, dass es besser war, auf ein Gefühl zu hören und dementsprechend zu agieren oder zu reagieren. Ayumu dagegen schien kein solches Gefühl zu verspüren, er trat noch näher an die Wurzel und berührte sie – und zuckte im nächsten Moment zurück. „Was ist los?“, fragte Leana, die gerade aus ihren Gedanken gerissen wurde. Er antwortete erst nicht, weswegen sie glaubte, dass er sie nicht gehört hatte, doch ehe sie die Frage wiederholen konnte, wandte er ihr den Blick zu. Sein blasses Gesicht und die geweiteten Augen, ließen jedes Wort in ihrem Hals stecken bleiben. „Sie hat sich bewegt!“ Leana blinzelte verwirrt, sie glaubte, sich verhört zu haben. „Was?“ Er gestikulierte zum dornigen Gestrüpp hinüber und wirkte dabei weiterhin erschrocken. „Es hat sich bewegt, als ich es berührt habe!“ Das zu glauben fiel ihr allerdings schwer, deswegen schüttelte sie leicht den Kopf. „Du spinnst doch.“ „Bestimmt nicht!“, erwiderte er verärgert und um es ihr zu demonstrieren, trat er wieder vor und berührte das Gestrüpp noch einmal. Im ersten Moment geschah nichts, genau wie sie erwartet hatte, aber als sie gerade einen trockenen Kommentar dazu von sich geben wollte, konnte sie es ebenfalls sehen. Eine kaum merkliche Bewegung fuhr wellenartig durch das dornige Geflecht, als ob ihm eine ganz eigene Lebensform innewohnen würde. Als Ayumu die Wurzel wieder losließ, bewegte sich diese zwar nicht mehr, aber das eben Beobachtete verschwand damit nicht einfach aus Leanas Gedächtnis und plötzlich konnte sie dieses Gestrüpp nicht mehr einfach nur als solches ansehen, es war zu mehr geworden, zu dem Schatten im Schrank, in dem sich ein Monster verbarg und dem man sich lieber nicht näherte, solange es dunkel war. „Ist es lebendig?“, fragte sie flüsternd. Ayumu betrachtete die Wurzel mit gerunzelter Stirn, hinter der es eindeutig arbeitete. Selbst ohne ihn zu fragen, wusste Leana, dass er darüber nachdachte, ob er etwas über diese Wurzel wusste und wenn ja, was genau es war. Aber sie sah auch, dass er zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis kam und wusste es noch ehe er ein genervtes Seufzen ausstoßen konnte. „Ich hätte doch besser aufpassen sollen“, brummte er. Ihr lag bereits auf der Zunge, dass Zetsu es mit Sicherheit noch wüsste, aber sie sprach es nicht aus, weil es ohnehin zu nichts geführt hätte. Stattdessen beschloss sie, einfach alles auf eine Karte zu setzen. Kurzerhand nahm sie Ayumu das Messer ab und trat auf die Wurzel zu. Sie ignorierte die Bewegungen, die durch das Gestrüpp gingen, als sie Hand daran legte. Ohne an den möglichen Frevel zu denken, den sie da unter Umständen gerade beging, hob sie das Messer und stach damit in die Wurzel. Ein unmenschlich hohes Kreischen setzte in diesem Moment ein, es schallte durch den gesamten Sumpf und gab Leana für einen Augenblick das Gefühl, gelähmt zu sein, während dieser Ton durch ihren gesamten Körper vibrierte. Als das Kreischen wieder abebbte, war es ihr als würde sie alles nur wie aus weiter Ferne hören, sie wandte den Kopf und sah einen erschrockenen Ayumu, der irgendetwas rief, das sich entfernt nach Sei vorsichtig anhörte, dabei gestikulierte er auf die Wurzel vor ihr. Wie im Halbschlaf folgte sie seinen Bewegungen und erkannte – mild erschrocken – dass sich ein Ende der Ranke endlich zeigte, allerdings nur, um sich um ihren Körper zu schlingen. Die Dornen drangen durch ihre Kleidung und stachen schmerzhaft in ihr Fleisch, ein Brennen begleitete diese Stiche, aber ihr blieb keine Gelegenheit, sich darüber Gedanken zu machen. Einen kurzer Ruck riss ihr den Boden unter den Füßen weg, sie wurde unter Wasser gezogen, ihre Lungen füllten sich mit Flüssigkeit, als sie einen erschrockenen Schrei ausstoßen wollte und begannen kurz darauf zu brennen, als sie nach Sauerstoff verlangten. Das Wasser wurde vor ihren Augen langsam klarer und gab ihr den Blick auf die Wurzel frei – was sie innehalten ließ bei dem Versuch, sich gegen die Ranken zu wehren. Zwischen den dornigen Wurzeln war Gesicht und Oberkörper einer Frau zu erkennen. Die Augen wirkten blind, ohne jegliche Iris oder Pupille, das Haar aus Flachs flatterte in der durcheinandergewirbelten Strömung als wären sie einem starken Windstoß ausgesetzt. Leana starrte das Wesen fassungslos an, als es seinen Mund öffnete und ein weiteres Kreischen ausstieß, das selbst unter Wasser derart klar und laut erklang, dass Leana davon überzeugt war, dass ihr Trommelfell jeden Moment platzen würde. Sie öffnete den Mund, um den unerträglich gewordenen Druck in ihrem Kopf auszugleichen und nach Luft zu schnappen, doch wieder strömte nur Wasser in ihre brennenden Lungen. Die Ranken um ihren Körper verstärkten den Griff noch einmal, die Schmerzen wurden derart intensiv, dass sich ihr Blickfeld rot färbte und sie, ohne es zu wollen, noch einmal nach Luft schnappte. Das Wasser verbreitete einen unangenehm metallischen Geschmack in ihrem Mund. Ein dunkler Schleier legte sich über ihre Augen und während er kam, gingen ihre Schmerzen und ließen nur ein dumpfes Gefühl von Hilflosigkeit zurück, das ihr die Kontrolle über ihren unnütz gewordenen Körper nahm. Wieder sah sie Zetsu vor sich, wie er sich von ihr abwandte und davonging, während sie nicht in der Lage war, nach ihm zu rufen oder ihm gar zu folgen, um ihn davon abzuhalten zu verschwinden. Erst als sie ihn nicht mehr sehen konnte, wurde alles schwarz und sie fühlte nichts mehr. Kapitel 23: Nur geträumt ------------------------ Irgendwann, sie wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war, erwachte Leana wieder. Noch bevor sie die Augen öffnete, nahm sie einen durchdringenden Geruch wahr, der sie das Gesicht verziehen ließ. Es war der schwere Duft von Rosen, der ihr absolut zuwider war, weil er sie ihr ganzes Leben hindurch begleitet und untrennbar mit ihr verbunden war, allein schon durch ihr Shinken und ihren Eternal-Namen. Shoubi no Leana; Leana der Rose, beheimatet in der Rosenwelt und ehemalige Kommandantin der Rosenritter. Manchmal, besonders wenn sie krank war, hatte sie selbst in anderen Welten, selbst in der Monobe Akademie, geglaubt, dass sie den Duft von – nicht anwesenden – Rosen wahrnehmen konnte. Um einen solchen Fall musste es sich auch dieses Mal handeln, davon war sie jedenfalls überzeugt, während sie sich auf die Seite drehte, um noch ein wenig zu schlafen – und dabei irritiert innezuhalten, als sie feststellte, dass sie nicht auf dem harten Boden oder in Leinenbettwäsche lag, sondern Matratze, Kissen und Decke tatsächlich mit Baumwollbezügen versehen waren, die ihren eigenen Geruch verströmten, was dafür sprach, dass sie jede Nacht in diesem Bett schlief und das wiederum passte so gar nicht zu ihren Erinnerungen, die langsam wieder einsetzten. Also öffnete sie die Augen, um herauszufinden, wie das alles zusammenpassen konnte. Allerdings vergaß sie vor lauter Überraschung fast das Atmen, als sie entdeckte, dass sie sich in ihrem Zimmer in der Rosenwelt befand. Schnell war sie aus dem Bett und drehte sich einmal im Kreis, nur um erneut festzustellen, dass sie offenbar wirklich in der Rosenwelt war, auch wenn diese Erkenntnis nur langsam in ihr Bewusstsein tropfte und dabei mit dem Wissen rang, dass das eigentlich unmöglich sein müsste. Sie entdeckte 'Shoubi', das auf einem Podest ruhte und wollte danach greifen, in der Hoffnung, dass Isolde ihr verraten könnte, was geschehen war, aber ihre Hand blieb wenige Zentimeter über dem Griff schweben, als Leanas Augen etwas auf der Klinge entdeckten, das dort eigentlich gar nicht hingehörte. Ihr Herz schien ein ganzes Stück zu sinken, denn sie erinnerte sich noch gut daran, wie dieses Etwas dort hingekommen war und was es damals für sie bedeutet hatte. Der Riss, der entstanden war, als sie den kraftlosen Zetsu in der toten Welt beschützt hatte und der verantwortlich gewesen war, ihr Shinken nutzlos zu machen. Damals war sie vor die Wahl gestellt worden, nach Hause zurückzukehren oder ein Eternal zu werden, um das Shinken zu reparieren und bei Zetsu zu bleiben. Ihr Wunsch, bei ihm sein zu können, hatte sie dazu bewogen, ihre Heimat für immer hinter sich zu lassen und ein Eternal zu werden. Und doch war der Riss immer noch da, die Macht des Shinken nicht existent – und sie war in der Rosenwelt. Aber es machte einfach keinen Sinn, nichts von alledem passte zusammen. Sie müsste jemanden fragen, der mehr wusste als sie, jemanden wie- „Faris!“ In aller Eile entledigte sie sich des weißen Nachthemds, das sie zum Schlafen getragen hatte und nahm sich wahllos eine ihrer Uniformen aus dem Schrank. Der viel zu schwere Stoff zog ihre Schultern nach unten und kratzte unangenehm auf ihrer Haut, aber für den Moment kümmerte sie sich nicht weiter darum, es war lediglich ein zweckdienliches Mittel, damit sie das Haus verlassen und Faris aufsuchen konnte. Ihre Füße trugen sie direkt zum Gebäude, in dem die Ritter sich am Morgen zur Besprechung trafen, fast so als wäre sie nie fortgewesen, ihr Körper erinnerte sich besser an den Weg als ihr Gedächtnis. Dabei besaß sie keinerlei Blick für die prachtvollen Rosen, die überall blühten als würde es sie keinerlei Anstrengung kosten, stets den blutroten Blütenkopf oben zu halten und Leana dabei höhnisch anzugrinsen. Sie stürzte ins Gebäude, stolperte fast, weil die Tür leichter nachgab als sie angenommen hatte und blickte sich dann hektisch atmend um. Faris zuckte erschrocken zusammen, als die Tür mit einem derart lauten Knall geöffnet wurde und wandte sich dann ihr zu, er lächelte ein wenig, also erinnerte er sich immerhin an sie, das war schon einmal ein Vorteil, wie sie fand. „Was ist denn los, Leana?“, fragte er mit einem Anflug von Spott in der Stimme. „Stimmt etwas nicht, dass du so hereinstürmen musst?“ Sie ging auf ihn zu und ergriff ihn an den Schultern, was ihm einen verwirrten Gesichtsausdruck abrang. „Warum bin ich hier!?“, fragte sie atemlos. „Wo ist Zetsu!?“ Sie konnte deutlich sehen, wie die Verwirrung in seinem Inneren wuchs, während er leicht den Kopf schüttelte und dabei ganz offensichtlich zeigte, dass er absolut keine Ahnung hatte, wovon sie eigentlich sprach. „Wer?“ Es war nur ein Wort, eine kurze Frage, die ihr ohnehin schon angeschlagenes Herz in unzählige Scherben zu zerschlagen schien, die sich allesamt auf ihrer Seele verteilten, wo sie alsbald ihr Glitzern verloren und zu stumpfen, dunklen Fragmenten wurden. Während ihr Herz seine Arbeit somit aufzugeben schien, arbeitete ihr Gehirn auf Hochtouren und brachte ihr sofort die Erklärung für diesen Umstand: Eternal wurden vergessen, sobald sie eine Welt verließen, das war ihr Fluch, den sie auf sich nahmen, um ewig leben zu können und die Macht zu erhalten, ihre Wünsche zu erfüllen. Zetsu war nicht vergessen worden, als er die Rosenwelt verlassen und sie zurückgelassen hatte, aber kaum dass sie ein Eternal geworden war, waren die Erinnerungen an sie beide aus dem Gedächtnis der Bewohner verschwunden und nun, da ihr Shinken beschädigt war, fand sie eine ähnliche Situation vor. Das war es, was sie zu dem Schluss führte, dass die Erinnerungen an Zetsu an 'Shoubi' gebunden sein mussten, auch wenn sie sich im Moment nicht erklären konnte, wie das sein konnte. Sie hatte noch nie zuvor von einem derartigen Fall gehört. „Alles in Ordnung?“, fragte Faris besorgt, als ihr Schweigen länger anhielt. „Ich habe Kopfschmerzen.“ Sie ließ ihn los und griff sich stattdessen an die Stirn, hinter der es tatsächlich zu schmerzen begonnen hatte. „Was ist geschehen?“ Er griff ihre gedankenverlorene Aussage auf, um ihr zu helfen: „Du bist gestern wieder heimgekehrt, offenbar hat irgendetwas dein Shinken beschädigt, als du der Brigade in der Manawelt geholfen hast... dann bist du ins Bett und jetzt wirkst du leicht... durcheinander.“ Also war sie heimgekehrt, statt ein Eternal zu werden. Aber waren dann all die Erlebnisse, die sie als Eternal durchlebt hatte, nur ein Traum gewesen? Sie konnte sich noch gut an die Schmerzen erinnern, die Tränen und auch die Freude, die sie in all der Zeit mit Zetsu erlebt hatte... Die Schmerzen! Ihr Blick fiel auf ihr Handgelenk, das durch einen Unfall, den sie während ihrer gemeinsamen Zeit erlitten hatte, in Mitleidenschaft gezogen worden war – doch sie konnte keinerlei Einschränkungen feststellen, das Gefühl war vorhanden, sie spürte sogar den Schmerz, als sie die geballte Faust gegen die Wand donnerte, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen. Faris keuchte erschrocken über diesen plötzlichen Ausbruch. „Leana! Was ist denn los!?“ Sie war fast schon versucht, es ihm zu sagen, die Gelegenheit zu nutzen sich ihm an die Brust zu werfen und einfach nur hemmungslos zu weinen wie niemals zuvor. Aber sie tat es nicht, nichts von dem, was eigentlich vernünftig gewesen wäre. Stattdessen schluckte sie all ihre Gefühle hinunter, gemeinsam mit den Tränen und verbarg beides in einer finsteren Kammer, die sie sorgsam mit einem schweren Schloss versah, damit sie nicht einfach wieder hervorbrechen würden. Das war etwas, was sie gut konnte – und was ihr nun helfen sollte. „Gar nichts ist los“, antwortete sie gefasst und derart kühl, dass ihr beinahe selbst ein Schauer über den Rücken lief. „Wir sollten uns besser an die Arbeit machen, denkst du nicht auch?“ Er war immer noch sichtlich verwirrt, aber sie konnte auch die Erleichterung bemerken, als er feststellte, dass sie nun wieder zu einem Thema kam, das er verstand und mit dem er durchaus umgehen konnte. Fast schon freudig eilte er an den Tisch, an dem sie ihre Einsatzbesprechungen vollführten und sie folgte ihm, mit Schritten, die nicht verrieten, dass sie gerade innerlich zerbrochen war und sich doch so unendlich schwer anfühlten. Es dauerte nicht lange, bis Leana wieder ganz in ihrem alten Leben angekommen war, auch wenn die Umstellung, alles aus eigener Kraft zu schaffen und nicht auf das Shinken vertrauen zu können, zu Beginn recht hart gewesen war. Es war fast ein halbes Jahr vergangen und der Schnee fiel in kunstvollen Flecken sacht auf die Rosen herab, die der Kälte erstaunlicherweise trotzten und nach wie vor ihre roten Köpfe in die Luft reckten als freuten sie sich über den Winterhimmel. Ihre Erinnerungen an ihre Zeit mit Zetsu, ja sogar an seinen Tod und ihrer anschließenden Trauer waren immer diffuser geworden, immer undeutlicher, die Gefühle weniger greifbar, wie bei einem Traum, an den man sich nach den Aufwachen vielleicht noch erinnern konnte, der aber alsbald wie Sand zerrann und höchstens unbedeutende kleine Körner in der Erinnerung zurückließ. Mit Schrecken wachte sie eines Tages, an dem der Himmel grauer als sonst schien, auf und stellte fest, dass sie selbst die Erinnerung an Zetsus Stimme verlor, an sein Lachen und der unterschwellige Ton von Trauer, wann immer er über seine Vergangenheit sprach. Sie fragte sich, wie lange genau sein Haar gewesen war, hatte es wirklich die Farbe von Silber? Waren seine Augen überhaupt blau? Stück für Stück brach ein Teil von ihm und verschwand aus ihrem Gedächtnis, bis nur noch die Wärme seiner Hand zurückblieb und das Gefühl seiner Lippen auf ihrer Haut. In einem Versuch, sich diese Erinnerungen zu erhalten, hielt sie so verzweifelt wie möglich an ihnen fest, mit der stets vorherrschenden Furcht, eines Tages auch davon nichts mehr zu wissen. In diesen Tagen der wachsenden Verzweiflung, sah sie den Jungen zum allerersten Mal. Er tauchte nicht in ihren Erinnerungen auf, in keiner einzigen, aber sie wusste sofort, dass er etwas mit Zetsu zu tun haben musste – auch wenn sie sich nicht sicher sein konnte, ob sie sich wirklich ähnlich sahen. Er mochte höchstens zehn Jahre alt sein, hatte silbernes Haar und blaue Augen. Er stand zwischen den Rosen und hob sich geradezu unangenehm von dem Rot um ihn herum ab, doch genau deswegen fiel auch ihr Blick sofort auf ihn, als sie gerade aus dem Fenster sah. Wer er war oder was er da tat, konnte sie nicht erkennen, obwohl sie ihn auf die Entfernung zu mustern versuchte. Was auch immer er an diesem Ort, dem königlichen Rosengarten, verloren hatte, er schien mit reiner Selbstverständlichkeit einfach nur dazustehen. Ihre Beobachtungen wurden unterbrochen, als einer der Ritter sie plötzlich ansprach. Sie wandte ihm den Blick zu und vergaß dabei für einen kurzen Moment den Jungen. Als der Ritter schließlich wieder davonging, kam ihr auch der Junge wieder in den Sinn, doch als sie erneut zum Fenster hinaussah, war er spurlos verschwunden. Somit verwarf sie die Gedanken an ihn endgültig wieder und widmete sich ihren Aufgaben. Der Frühling kam und schmolz den Schnee und immer noch schienen die Rosen sich nicht im Mindesten um die Natur und ihren Wandel zu kümmern. Die eingesetzte Wärme erlaubte es wieder, dass Leana mit dem jungen Prinzen Alvis im Garten spazieren konnte. Selbst ohne ihr Shinken war er immer noch geradezu begeistert von ihr, hing an ihren Lippen, wenn sie erzählte und wollte am Liebsten den ganzen Tag mit ihr verbringen. Leana tat alles, was er wollte, auch wenn das bedeutete, dass sie kaum Freizeit oder Schlaf bekam, aber immerhin hinderte sie das auch daran, über denjenigen nachzudenken, den sie vergessen hatte. Was von ihm geblieben war, brannte in ihrer Brust, wann immer ihre Gedanken auf ihn kamen, aber sie wusste weder wie er aussah, wie seine Stimme klang oder gar seinen Namen. Alles war fort, hatte nur dieses Brennen zurückgelassen, das sie daran erinnerte, einst geliebt zu haben und glücklich gewesen zu sein. Emotionen, die nur noch in ihrem Gedächtnis existierten. Bei einem dieser Spaziergänge entdeckte sie den Jungen wieder. Erneut stand er einfach nur inmitten der Beete und betrachtete die Rosen, so als würde er sie zum allerersten Mal sehen. Im ersten Moment glaubte sie, sich seine Anwesenheit nur einzubilden, doch plötzlich schnaubte Alvis und ging auf den Jungen zu. „He! Was hast du hier im königlichen Rosengarten verloren!?“ Seiner Stimme hörte man deutlich an, dass er es gewohnt war, dass die Leute ihm gehorchten und ihm auch ohne seine Aufforderung Auskunft erteilten. Der Junge war aber offenbar kein Untertan, denn er nahm den Blick von den Rosen, um Alvis verwirrt anzusehen. Er wusste anscheinend nicht, was der Prinz von ihm wollte oder gar warum er ihn gerade so anging. Leana sprang sofort ein und kam ebenfalls näher. „Wer bist du? Und was tust du hier?“ Als der Junge sie ansah, schienen seine Augen geradewegs aufzuleuchten, so als würde er sie erkennen und sich freuen, sie endlich wiederzusehen, obwohl sie nach wie vor sicher war, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. Er legte eine Hand auf sein Herz. „Du weißt, wer ich bin.“ Sie deutete ein Kopfschütteln an, sagte aber nichts, sondern wartete darauf, dass er fortfuhr, was er auch sofort tat: „Ich bin hier, um mit dir zu sprechen. Es ist Zeit für eine Entscheidung.“ In diesem Moment schien die Welt um sie herum zu ergrauen und lediglich sie und diesen Jungen in einem Lichtkegel zurückzulassen. Alvis wurde eingehüllt von einer undurchdringlichen Dunkelheit, die Geräusche des täglichen Lebens wurden erst dumpf und verhallten dann ganz. „Was für eine Entscheidung?“, fragte sie und auch wenn ihre Stimme von einem Widerhall begleitet war, als befände sie sich in einem leeren Saal, hörte sie ihre eigenen Worte mehr als nur deutlich. „Die Entscheidung darüber, was du als nächstes tun willst“, antwortete der Junge und seltsamerweise gab es bei seiner Stimme keinerlei Echo. Dafür glaubte sie aber, unterschwellig die eines anderen zu hören und jene Stimme griff in ihre Brust hinein, um die Scherben ihres Herzens zusammenzusuchen, in einem zaghaften Versuch, es wieder zu kitten. „Du hast die Wahl, in diesem Traum zu verharren, für immer und ewig den Alltag in deiner Heimat zu durchleben, ohne jede Erinnerung an mich. Ohne jedes Glück.“ Er verzog schmerzhaft das Gesicht als würde ihm die Aussicht, dass sie auf ewig unglücklich sein würde, tatsächlich das Herz zerreißen. „Oder du entscheidest dich, aufzuwachen. Die Realität mag, besonders in diesem Moment, schmerzhaft sein. Du hast die Person verloren, die dein Herz berührte, für die du all das hier aufgabst und nun ist auch noch deine engste Vertraute vorübergehend verlorengegangen.“ Er hielt inne und sie erinnerte sich an Isolde, an die Zeiten, in denen sie schier an ihrem Shinjuu verzweifelt war, aber auch an all jene Momente, in denen sie ihr beigestanden, in denen sie Leana nach Kräften unterstützt und sogar getröstet hatte. Ohne Isolde wäre ihr Leben in dem Moment, in dem er gestorben und sich in zahllose Funken aufgelöst hatte, vorbei gewesen. Aber ihr Shinjuu hatte ihr die Kraft gegeben, weiterzugehen. Der Gedanke an sie und dass sie nicht mehr da war, ließ ihr beinahe die Tränen in die Augen steigen, doch sie schafften es nicht, sich aus der sorgsam verschlossenen Kammer zu befreien. „Aber wenn du den Schmerz überstehst, ihn überwindest und dein Herz daran setzt, dann wird diese dunkle Zeit der Trauer enden und du wirst dein Glück zurückbekommen.“ Er sprach so zuversichtlich, seine Augen leuchteten regelrecht dabei, dass sie nicht eine Sekunde lang hinterfragte, ob es wirklich die Wahrheit sein könnte und falls ja, woher er sie denn wissen sollte. „Allerdings habe ich keinerlei Zweifel, dass du irgendwann und irgendwie auch in diesem Traum glücklich werden könntest. Immerhin hast du auch hier die Ewigkeit für dich.“ Dabei kümmerte es sie nicht, ob sie hier auch glücklich werden könnte. Das Brennen in ihrer Brust, das sich verstärkte, während die Stimme ihr Herz weiter zusammensetzte und dabei äußerst erfolgreich war, verriet ihr eindringlich, dass es nur einen Ort gab, an dem sie glücklich werden könnte – und das war eindeutig die Realität, so schmerzhaft es auch sein würde, wenn die Erinnerungen erst einmal wieder vollständig wären. Im selben Moment, in dem ihr das bewusst wurde, brach das Schloss, das die Kammer zugesperrt hatte und mit den Tränen, der Verzweiflung und dem unbändigen Schmerz, der erneut ihr Herz auseinanderzureißen drohte, kehrten auch die Erinnerungen zurück und drangen mit aller Macht auf sie ein, zwangen sie dazu, schluchzend in die Knie zu gehen und dabei blind vor Tränen die Arme nach jemandem auszustrecken, der freundlich genug wäre, sie tröstend an sich zu drücken. Zu ihrem Glück übernahm der kleine Junge diese Aufgabe und während sie hemmungslos schluchzte, spürte sie, wie er sich mit zunehmender Erinnerung zu verändern begann. Stück für Stück wurde in ihrem Inneren das Bild eines Eternals wieder aufgebaut, dessen langes silbernes Haar in der Sonne glitzerte, dessen blaue Augen vor Schalk geradezu sprühten, der mit seinem einnehmenden Lächeln sofort die Herzen aller gewann. Sie erinnerte sich wieder an seinen Geruch und auch an seine Stimme, sein Lachen – und zuguterletzt, mit dem letzten Bruchstück, das ihr Herz wieder vollständig werden ließ, auch an seinen Namen. „Zetsu!“, rief sie mit heiserer Stimme aus, als bräuchten sie diesen Beweis, dieses Aussprechen, damit sie wieder sicher sein konnte, dass es auch wirklich funktioniert hatte und sie nicht nur glaubte, sich wieder zu erinnern. Durch den Schleier von Tränen hindurch, erkannte sie schließlich, dass der Junge sich zu einem Abbild ihrer Erinnerung gewandelt hatte, zu der Person, die sie so sehr vermisste, seit er von ihr gegangen war. Er lächelte sie an und dieses Lächeln hatte etwas Tröstliches an sich, während seine Augen traurig blickten, so als bedauere er es selbst, nicht bei ihr sein und mehr für sie tun zu können. „Zetsu...“ „Alles wird wieder gut“, versprach er ihr sanft. „Und ich halte, was ich verspreche, das weißt du doch.“ Im selben Moment, in dem er das sagte, erschien ein sanftes blaues Glühen auf seinem Arm, die seltsamen Lettern bildeten seinen Orichalcum-Namen, jener, der ihn stets reinkarnieren lassen würde. Ein rotes Leuchten brachte sie dazu, auf ihren eigenen Arm zu blicken, wo ebenfalls ihr eigener Orichalcum-Name erschienen war. Die Lettern lösten sich von ihrem Arm, so wie die seinen und verbanden sich mit dem jeweils anderen, die Farben gingen ineinander über und nahmen einen violetten Ton an – und das war für sie ein eindeutiges Zeichen, dass sie zusammengehörten, selbst über den Tod hinaus. Er beugte sich mit geschlossenen Augen vor und legte seine Lippen auf ihre, worauf sie ebenfalls die Augen schloss, um diesen Moment, diesen ersten Kuss seit einer gefühlten Ewigkeit, zu genießen und sich dabei einzureden, dass all die schlimmen Erinnerungen nur zu einem Traum gehörten. Zu ihrem Leidwesen hielt der Moment nicht lange an, denn schon nach wenigen Sekunden schwand ihr Bewusstsein und auch Zetsu und beide ließen sie allein mit ihrer Sehnsucht und dem Wunsch nach einer Besserung ihrer Situation in der Dunkelheit zurück. Kapitel 24: Wieder unter den Lebenden ------------------------------------- Als sie dieses Mal erwachte, wusste sie sofort, dass sie sich wieder dort befand, wo sie zum ersten Mal bewusstlos geworden war. Der Geruch der Rosen war fort, aber statt des Gestanks des Sumpfes, nahm sie einen angenehmen Duft von Zimt wahr. Sie öffnete die Augen und erblickte über sich eine helle, freundliche Holzdecke, die ihr nicht im Mindesten bekannt vorkam. Ein Rascheln folgte als Reaktion auf ihre geöffnete Augen und im nächsten Moment spürte sie, wie jemand neben das Bett trat. Sie wandte den Kopf, um die Person zu betrachten und war nicht sonderlich überrascht, dass es sich dabei um Ayumu und Ylva handelte. Das Mädchen wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, die Ohren stellten sich auf. „Leana, du bist wieder wach~!“ Sie nickte schwach zur Antwort, Worte zu formen fiel ihr unsäglich schwer, sie fühlte sich als würde ein schweres Gewicht auf ihrer Brust liegen und gleichzeitig ihre Stimmbänder lähmen. „Du solltest dich nicht zu sehr anstrengen“, mahnte Ayumu mit überraschend ernster Stimme. „Lilly hat zwar deinen Körper von dem Gift reinigen und die Verletzungen heilen können, aber du bist trotzdem geschwächt.“ Diese Aussage gefiel ihr nicht im Mindesten. Schwach zu sein passte einfach nicht zu ihr. Also biss sie die Zähne zusammen, als ein scharfer Schmerz durch ihren Körper fuhr, während sie sich aufzurichten versuchte. Es kostete sie einiges an Mühe und Beherrschung, aber schließlich saß sie tatsächlich aufrecht im Bett, was ihr einen bewundernden Blick von Ylva und einen anerkennenden Pfiff von Ayumu einbrachte. Um zu verbergen, wie viel Anstrengung sie diese Bewegung gekostet hatte, blickte sie sich im Zimmer um. Das Fenster stand offen, so dass sich die weißen Gardinen in einem angenehmen Windhauch bauschten, die goldene Farbe des Lichts verriet, dass die Sonne gerade unterzugehen begann und sich bald rot färben würde – oder dass der Tag gerade erst angebrochen war. Ein runder Tisch mit mehreren Stühlen darum herum, der aus demselben Holz gefertigt schien wie die Decke, wartete mitten im Raum darauf, dass sich jemand setzte, um die gelben Blumen zu bestaunen, die er stolz in einer pastellfarbenen Vase auf sich trug. Der Schrank an der entfernten Zimmerwand stand offen und zeigte, dass er vollkommen leer war. Ihr fragender Blick genügte, um Ayumu wissen zu lassen, was sie beschäftigte und er darauf antworten konnte: „Wir haben dich aus dem Wasser gerettet und dich wiederbelebt. Danach haben wir dich so schnell wie möglich in ein Gasthaus gebracht, damit du dich erholen kannst.“ Seine Augen schimmerten seltsam freudig, als er von ihrer Wiederbelebung sprach. Unwillkürlich ruckte ihre Hand nach oben und berührte ihre Lippen, denen das Gefühl eines Kusses anhaftete. Zuerst hatte sie geglaubt, es wäre noch eine verblassende Erinnerung ihres Traumes, aber nun hatte sie hiermit eine ganz neue Erklärung und die wollte ihr nicht gefallen. Die Kraft der Empörung ließ sie endlich die Ketten um ihre Stimmbänder sprengen: „Was hast du getan!?“ Er lächelte entschuldigend und gleichzeitig versuchte er unschuldig auszusehen. „Ich habe dich nur wiederbelebt, sonst nichts. Hätte ich dich lieber sterben lassen sollen?“ „Hätte das nicht jemand anderes machen können?“, fauchte sie. Ayumu blickte auf Ylva hinab, die bereits wieder die Ohren sinken ließ und das Schwanzwedeln eingestellt hatte. „Das ging nicht“, erklärte sie bedrückt. „Ich weiß nicht, wie das geht, Lilly war damit beschäftigt, das Gift zu neutralisieren und Tokimi hat gegen die Wurzel gekämpft.“ Sie fragte nicht nach dem Magier, denn ihr war durchaus bewusst, dass er als kleiner Junge kaum eine Hilfe für irgendwen hatte sein können. Sogesehen war Ayumu die beste Wahl gewesen, aber es störte sie dennoch. Niemand außer Zetsu durfte ihren Lippen zu nahe kommen, nicht einmal ein Fragment von ihm! Aber sie war zu erschöpft, um wütend etwas zu erwidern, deswegen ließ sie die Schultern wieder sinken und wechselte das Thema, merkte sich das aber, um später noch einmal darauf zu sprechen zu kommen. „Wo sind Fuu und Tokimi?“ Lillys Namen und dieses kleine Mädchen ließ sie aus, sie waren kein Teil der Gruppe, der Magier und die Eternal aber irgendwie schon – immerhin hatten sie dieses Chaos zu verantworten. Ayumu deutete über seine Schulter. „Sie sind im Nebenraum und besprechen irgendetwas, scheint wirklich wichtig zu sein. Tokimi schaut reichlich ernst.“ Leanas Blick ging zwischen Ayumu und Ylva hin und her, dann trommelte sie ihre Kraft zusammen und stieg aus dem Bett. Augenblicklich schossen scharfe Schmerzen durch ihren Körper, brandeten in heißen Wellen durch ihre Brust, kamen aber nur dumpf an den tauben Beinen an, die sie mehr schlecht als recht aufrecht hielten – aber immerhin stand sie, wenn auch auf Ylva gestützt. Sie erinnerte sich wieder daran, von den Dornen durchbohrt worden zu sein, spürte aber keinerlei Blut, Verletzungen oder Verbände, offenbar hatte Lillys Heilmagie etwas bewirkt. Sie durfte nicht vergessen, sich bei ihr dafür zu bedanken. „Geht es?“, fragte das Mädchen besorgt. Leana nickte. Sie ignorierte Ayumus Blick, da er gehofft hatte, er dürfte sie stützen und ließ sich von Ylva zur Tür bringen. Als sie in den Nebenraum traten – der ein Zwilling des Zimmers, in dem Leana erwacht war, hätte sein können – verstummten die Gespräche sofort. Sie bemerkte auf einen Blick, dass Fuu ganz der Alte war, sogar seinen Zylinder trug er wieder, was sie ein wenig bedauerte, sie hatte den kleinen Zauberer gemocht, mehr jedenfalls als sein erwachsenes Ich. Sie alle saßen um einen Tisch herum, blickten auf Leana und zeigten sich ähnlich überrascht, dass sie es bereits aus dem Bett geschafft hatte. „Das ist aber auch ein Vorteil“, merkte Tokimi an, als Leana sich auf einem Stuhl niedergelassen hatte. „So können wir die Reise schneller vorantreiben.“ „Wieso Reise?“, fragte Leana verwirrt. „Ich dachte, euch geht es darum, die Fragmente zu vernichten?“ Auch wenn sie mit diesem Ziel ganz und gar nicht einverstanden war. Lieber würde sie warten, bis die Personen, die aus Zetsus Splittern geworden waren, an einer natürlichen Ursache starben. Sie war ein Eternal, für sie war das lediglich ein Augenzwinkern in der Ewigkeit. Tokimi deutete ein Nicken an und legte die Hand auf ihr Herz. „Das ist nach wie vor unser Ziel und wir haben beschlossen, mit Eos anzufangen. Sie ist die einzige, die uns wirklich gefährlich werden könnte.“ „Und wie soll das aussehen?“, fragte Leana weiter und überlegte, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, weiterzuträumen. Zu ihrer Überraschung deutete Tokimi auf Ayumu, der sich mit verschränkten Armen gegen die Wand gelehnt hatte. „Er ist ebenfalls ein Splitter. Wenn wir die anderen beiden zerstören, werden sie zu ihm zurückkehren und dann wieder zu Zetsu werden.“ Ihr Herz flatterte für einen kurzen Moment, als sie sich das vorstellte, aber dann kehrten ihre Gedanken wieder zu der Tatsache zurück, dass Ayumu nicht einfach eine Zeichnung war, die man ausradieren könnte, um Platz für Zetsu zu schaffen. Er war ein Lebewesen und musste auch unter allen Umständen vor solch einer Willkür beschützt werden – genau wie diese Eos und auch Hyperion. „Das könnt ihr nicht tun“, sagte sie deshalb, worauf alle sie wieder so überrascht wie zuvor ansahen. Lediglich Tokimi behielt ihren ernsten Blick bei, ihre Brauen zogen sich sogar noch ein wenig mehr zusammen, sie war eindeutig verärgert. „Wieso nicht? Eigentlich dürften sie nicht einmal existieren, genau wie Lakaien. Es gibt keinen Unterschied zwischen ihnen.“ Da Ayumu nicht wusste, was Lakaien waren, trafen ihn diese Worte nicht, Leana wurde von ihnen umso stärker erwischt, für einen kurzen Moment drehte sich vor ihren Augen alles. „Wie kannst du das nur sagen?“, knurrte Leana. „Wie kannst du Lakaien mit diesen drei vergleichen? Sie sind vollkommen unterschiedlich! Lakaien sind künstlich geschaffene Wesen, die nur aus einem Instinkt heraus handeln, die keine Vergangenheit und keine Zukunft haben – ganz anders als diese drei! Sie sind Menschen!“ Mit jedem Wort war ihr Ärger auf die Eternal größer geworden und ihre Stimme damit fester, die Atmosphäre im Raum drückender. Während die anderen Anwesenden schwiegen, starrten Leana und Tokimi sich über den Tisch hinweg an. Keine von beiden war bereit, als erstes wegzusehen oder auch nur den Blick zu senken, auch wenn es sie beide viel Kraft kostete. Schließlich – Leana war davon überzeugt, dass mindestens eine Stunde vergangen war, in Wahrheit mochte es aber höchstens eine Minute gewesen sein – schloss Tokimi lächelnd die Augen. Sie seufzte theatralisch. „Gut, du hast gewonnen, wir werden sie nicht töten.“ Leana atmete kaum merklich auf und spürte erst in diesem Moment in dem die Anspannung von ihr abfiel, wie ihr Körper vor Anstrengung zu zittern begonnen. „Ich werde mir etwas anderes einfallen lassen“, versprach Tokimi. „Etwas, wodurch niemand zu Schaden kommt. Und wenn es die ganze Nacht dauert.“ Ihr Blick huschte zu dem Fächer, den sie in ihrer Hand hielt und Leana wusste genau, woran die Schreinmaid gerade dachte. „Es ist in Ordnung. Dir muss nicht schon heute Nacht etwas einfallen. Statt die Zeit so lange zurückzudrehen, bis du eine Idee hast, sollten wir uns heute alle ausruhen und dann morgen gemeinsam über das weitere Vorgehen sprechen.“ Schamesröte stieg Tokimi ins Gesicht, hastig steckte sie den Fächer wieder ein. Offenbar war sie es nicht gewohnt, dass man sie derart durchschaute. „Ja, das sollten wir“, stimmte sie zu. Die anderen waren ebenfalls damit einverstanden, lediglich Lilly erhob sich. „Ich werde dann besser wieder gehen. Jemand muss Mey auch wieder zurückbringen.“ Mit diesen Worten hob sie das Mädchen, das Leana gar nicht aufgefallen war, vom Boden auf. Sie war noch immer gefesselt, ein Pflaster klebte über ihrem Mund, die Stirn war zornig gerunzelt, aber sie schien bei bester Gesundheit zu sein. Leana versuchte ebenfalls aufzustehen, scheiterte aber an ihrem zitternden Körper. „Warte! Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt, dass du mich geheilt hast.“ Lilly schüttelte den Kopf. „Das ist schon in Ordnung. Es war das Mindeste, was ich tun konnte.“ „Ich habe dir ebenfalls noch nicht gedankt“, fiel Fuu in diesem Moment ein, worauf er zu lächeln begann. „Vielen Dank, Lilly.“ Sie warf einen kurzen Blick zu ihm und in diesem Moment glaubte Leana, sehen zu können, wie sie errötete, doch als Lilly die Augen niederschlug, war es wieder fort. „Schon gut. Es war immerhin die Schuld meiner Schwester, dass das überhaupt geschehen konnte.“ Ohne sich auf eine Diskussion einzulassen – und Fuu schien definitiv bereit dazu, da er bereits wieder den Mund öffnete – ging sie hastig mit Mey davon. Doch bevor sie ging, tauschte sie noch einen letzten Blick mit Tokimi und Leana war davon überzeugt, einem Moment der Verschwörung beizuwohnen, den sie nicht verstehen konnte. Im nächsten Augenblick war Lilly fort und das Gefühl, dass ein Komplott im Gange war, verschwand mit ihr. Bleierne Müdigkeit legte sich auf Leanas Lider, sie bemerkte, dass sie viel zu viel von sich abverlangt hatte nach dem Aufwachen und stellte sich vor, wie Zetsu sie dafür tadeln würde. Das brachte sie zum Lächeln und ließ sie die Augen schließen, damit sie auch sein besorgtes Gesicht vor sich sehen konnte. Und bevor sie sich versah, war sie bereits wieder eingeschlafen. Kapitel 25: Feuer um Mitternacht -------------------------------- Die Pferde liefen allesamt mit gesenkten Köpfen und überraschenderweise sogar in Reih und Glied, obwohl jeder der Reiter die Zügel lediglich locker- oder sogar gar nicht hielt. Man hätte glauben können, dass diese Männer es schafften, allein durch den Druck, den ihre Unterschenkel oder Fersen ausübten, die Pferde im Griff zu halten, aber Yori saß für seinen Teil das allererste Mal auf einem solchen Tier und dennoch verhielt es sich genau wie alle anderen. Vielleicht eine Art von Rudelverhalten, überlegte er. Wie nennt man das bei Pferden? Eigentlich interessierte es ihn nicht wirklich, aber er musste sich irgendwie von dem Schwanken ablenken, das seinen Magen rebellieren ließ, obwohl sie lediglich im Schritt ritten. Sie bewegten sich nicht aus Rücksicht auf ihn so langsam, sondern damit niemand verfrüht die ganze Kompanie an Soldaten bemerkte, die da gerade auf die Stadt zuritt. Sie waren nicht auf der Suche nach Leana, sondern nach dem Mädchen, das in der Ramenbude arbeitete, in der Yori oft aß, deswegen musste er diese Männer begleiten, um sicherzugehen, dass sie die richtige Person mit sich nahmen, denn Eos duldete in diesem Bereich keinen Fehlschlag, das hatte sie ihm eindrucksvoll deutlich gemacht. Er schauderte, als er an ihr verrückt grinsendes Gesicht und das aufgerissene goldene Auge dachte. Aber es war nicht er gewesen, der dieses Mädchen, das genau wie die puppengroße Gestalt aussah, verraten hatte – es war Hyperion gewesen, der sich nun wieder an Leanas Fersen geheftet hatte. Eos wollte zu Sonnenaufgang beide haben, das Mädchen und Leana. Yori fand keinerlei Weg, das zu umgehen und deswegen gehorchte er. Zwar fürchtete er sich ein wenig davor, was Eos mit dem Mädchen aus der Ramenbude bezwecken wollte, aber insgeheim dachte er sich auch: Besser sie wird ein Opfer von Eos-sama als ich. Es war kurz vor Mitternacht und entsprechend still lag die Stadt da. Es war ein guter Ort, an dem es nachts keine Gewalt auf den Straßen gab, keine Prostitution und auch kein Schwarzhandel. Sicherlich gab es diese in irgendwelchen verschlagenen Hinterhöfen oder finsteren Gebäuden, hinter verhangenen Fenster, aber nicht auf der Straße und das war die Hauptsache, alles andere interessierte immerhin niemanden und konnte auch nicht gänzlich unterbunden werden. Zu diesem Zeitpunkt glaubte Yori noch, dass diese Stadt auch noch den neuen Morgen würde begrüßen können und die Bewohner glaubten es wohl ebenfalls, denn sie schienen allesamt friedlich zu schlafen, kein einziges Fenster öffnete sich, keine Gesichter erschienen hinter den Scheiben, um herauszufinden, welchen Aufruhr es dort draußen gab. Als sie in Sichtweite der Ramenbude kamen, hielten die Pferde allesamt auf einen lautlosen Befehl an. Kalter Schweiß brach auf Yoris Stirn aus, als ihm wieder einfiel, dass er gar nicht wusste, wo das Mädchen lebte, immerhin war es nun viel zu spät für sie, um zu arbeiten. Aber keiner fragte ihn danach, stattdessen gab es einen weiteren Befehl und auf diesen saßen die Soldaten von ihren Pferden ab, als wären sie eine Einheit und schwärmten in die unterschiedlichen Stadtteile davon. Yori, der genau wie Kobayashi auf seinem Pferd sitzengeblieben war, sah ihnen erst verwirrt hinterher, doch einsetzende Schreie verrieten ihm, was sie vorhatten. Mit einem dumpfen Gefühl in der Brust, beobachtete er, wie die Soldaten tröpfchenweise wieder zurückkehrten, dabei trieben sie junge Mädchen, etwa in dem Alter der Bedienung in der Ramenbude, vor sich her. Aus den Seitenstraßen konnte er das wütende Schreien der Väter und das wehklagende Heulen der Mütter hören, doch es dauerte nicht lange, bis beides verstummte und er musste es nicht sehen, um zu wissen, dass die Eltern niedergeschlagen oder gar direkt getötet hatte. Vielleicht hat man auch nur einen getötet, wisperte eine Stimme in seinem Inneren, und damit ein Exempel für die anderen statuiert. Kobayashi stieg von seinem Pferd und sofort eilte ein Soldat herbei, der auch Yori beim Abstieg half. Auf wackeligen Beinen, aber froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, folgte er dem General zu den Reihen der Mädchen. Sie waren gezwungen worden, sich hinzuknien, schluchzten lautlos, die Tränen liefen über ihre Gesichter, sie zitterten allesamt in ihren dünnen Nachthemden und Yori war sich nicht sicher, ob das an dem kühlen Wind, der Furcht oder beidem lag. Es ist auch unwichtig. „Ist sie dabei?“, fragte Kobayashi mit knurrender Stimme. Jeder wusste, dass er eigentlich viel lieber weiter hinter Leana hergejagt hätte, aber stattdessen befahl Eos ihm, hier ein Mädchen zu suchen, Yori konnte durchaus verstehen, dass ihm das schlechte Laune bescherte, aber sie an ihm auszulassen, würde ohnehin nichts bringen. Statt das jedoch zu sagen, ließ er seinen Blick über die Mädchen wandern. Sie wirkten allesamt generisch, mit ihren schwarzen Haaren, die sich höchstens durch die Länge oder einen etwas anderen Schnitt unterschieden. Er konnte nicht sagen, ob er einer davon schon einmal begegnet war oder nicht und fühlte bereits eine bitter-süße Mischung aus Erleichterung, dass sie nicht da war und dumpfer Erkenntnis darüber, dass er dann Eos' Zorn ausbaden müsste. Doch da fiel trafen seine Augen auf die der Bedienung. Sie waren furchtsam geweitet und schienen damit noch größer als ohnehin schon, ihr lavendelfarbenes Haar hing ausnahmsweise ungebunden auf ihre Schultern hinab und flatterte, während sie immer wieder nervös den Kopf wandte, um sich umzusehen. Sie wusste ganz offensichtlich nicht, was eigentlich vor sich ging. Als sie ihn erkannte, änderte sich ihr Blick zu einem flehenden, stummen Schrei nach Hilfe. Bei manchen Personen hätte das vielleicht sogar geholfen, doch sein Herz erweichte sie damit nicht, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass so viele andere Menschen nur wegen ihr im Moment leiden mussten. Kobayashi musste auch gar nicht mehr fragen, er deutete Yoris auf ihr ruhenden Blick richtig und befahl seinen Soldaten lautstark, dieses Mädchen aus der Menge zu nehmen. Niemand protestierte, als man sie unter den Armen packte und auf die Füße zurückriss, nicht einmal sie selbst, da sie anscheinend immer noch nicht verarbeiten konnte, was mit ihr geschehen würde. Die Soldaten warfen sie in den mitgebrachten fensterlosen Gefängniswagen aus robustem Holz und verschlossen die Tür – und ihm selben Moment war auch jegliche Spur von Mitleid in Yoris Herz verschwunden. Er wandte sich Kobayashi zu. „Dann kehren wir jetzt zurück?“ „Noch nicht ganz, wir sind noch nicht fertig.“ Yori wollte gerade fragen, was er damit meinte, als der General sich von ihm abwandte, tief Luft holte und dann die Stimme erhob: „Weil ihr einer von Eos-dono gesuchten Person Unterschlupf gewährt habt, werde ich in ihrem Namen ein Urteil über euch vollstrecken!“ Seine volle Stimme hallte überraschend laut über den Platz und Yori hätte es nicht gewundert, wenn man selbst in jeder Straße deutlich seinen Worten lauschen könnte. „Ihr sollt alle brennen!“ Im Gegensatz zu ihrer Bedeutung, schienen diese Wörter wie klirrende Eiszapfen für einen Moment unheilvoll über den Menschen zu verharren – nur um im nächsten Augenblick mit dem Hammer der Erkenntnis in sie geschlagen zu werden. Wieder schallten aufgeregte Stimmen, gemischt mit nervösem Murmeln durch die ganze Stadt, lediglich unterbrochen von dem Geräusch splitternden Glases, wenn die Soldaten ohne jeden zweiten Gedanken Brandsätze durch die Fenster warfen. Kobayashi kehrte zu seinem Pferd zurück, doch bevor er aufsteigen konnte, hielt Yori ihn noch einmal zurück. „Was soll das?!“, verlangte er zu wissen. „Das war kein Auftrag von Eos-dono!“ Der General blickte ihn kühl an und gab sich keine Mühe zu verschleiern, wie wenig er von seinem Gegenüber hielt. „Ich habe mir das Recht herausgenommen, ihre Befehle frei zu interpretieren. Und jetzt kehren wir zurück, bevor wir vom Feuer eingeschlossen werden.“ Ohne Yori die Gelegenheit zu einem weiteren Widerspruch zu geben, setzte er sich bereits auf das Pferd und gab seinen Männern den Befehl zum Rückzug. In erstaunlich kurzer Zeit war die gesamte Stadt frei von Soldaten und lediglich Yori war zurückgeblieben, inmitten der eilig umherhastenden Stadtbewohner, die versuchten, von ihrer Stadt zu retten, was zu retten war. Dumpf beobachtete er die Arbeiten, während er sich fragte, ob es Eos wohl stören würde, dass Kobayashi eine derartige Entscheidung getroffen hatte. Ihm wurde trotz der Hitze kalt, als ihm klar wurde, dass sie lediglich nicken würde, sobald sie davon erfuhr. Irgendwo in der Stadt erklang plötzlich das Schlagen einer Glocke und verkündete, dass es Mitternacht war; ein neuer Tag war angebrochen. Auch in der Stadt, in der sich Leanas Gruppe aufhielt schlug eine Glocke, weswegen sie überhaupt erst aufwachte. Es verwunderte sie ein wenig, eine Glocke zu hören, wenn sie auf ihrer Reise bislang noch keinen einzigen Kirchturm hatte sehen können, in der sich eine befinden könnte. Und sie erinnerte sich auch nicht daran, jemals in einer anderen japanisch anmutenden Welt eine solche gehört zu haben. Aber es klang nicht wie eine Kirchenglocke, eher wie- „Ein Feueralarm“, murmelte sie irritiert und stand auf. In ihren Beinen gab es wieder mehr Leben als zuvor, weswegen sie dieses Mal auch ohne jede Stütze bis zum Fenster kam, wo sie den Vorhang aufzog. Die Stadt brannte. Orange-rote Flammen schlugen aus zerstörten Fenstern und fassten gierig nach dem Holz der Häuser, der helle Schein vertrieb die Nacht teilweise und erlaubte es Leana, zu beobachten, wie die Menschen mit Eimerketten die Brände zu löschen versuchten. Für einen Moment stand sie wie festgewurzelt am Fenster und starrte hinaus, überlegte, was wohl passiert sein mochte, während sie geschlafen hatte und hoffte, dass niemandem etwas passiert war. Dann siegte ihr Helferwille und sie fuhr herum, um die Bürger trotz ihrer Verfassung beim Löschen zu unterstützen. Doch gerade als sie einen Schritt nach vorn tun wollte, hielt sie inne. Vor ihr stand Hyperion, der sie stumm ansah, wieder einmal war keinerlei Leben in den blauen Augen zu erkennen. Diesmal trug er wieder seine Ninjatracht, die sein Gesicht verbarg, so dass er sie nicht direkt an Zetsu erinnerte, aber die Erinnerungen an ihre letzte und auch an ihre erste Begegnung, versetzten ihr Blut wieder in Aufwallung und ließ sämtliche Sehnsucht nach Zetsu wieder hervorbrechen. In diesem Moment hätte sie sogar – wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde – in Kauf genommen, dass die Splitter dafür leiden müssten. Doch sie fing sich auch rasch wieder. „Was willst du?“, fragte sie mit beherrschter Stimme. Er antwortete nicht, aber etwas flackerte in seinen Augen, was sie korrekt als Dich erkannte. Automatisch griff sie an ihre Hüfte, stellte dann aber frustriert fest, dass man sie von ihrem Schwertgürtel befreit hatte und sie somit relativ schutzlos war. Ganz so schnell aufgeben wollte sie allerdings nicht, weswegen sie wartete, bis er einen Schritt auf sie zumachte – und dann mit der Faust ausholte, um sie ihm direkt ins Gesicht zu schlagen. Doch er durchschaute das offenbar und schaffte es mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit, seinen Arm um Leanas Hüfte zu schlingen und sie gleichzeitig in die andere Richtung zu drehen, so dass ihr Schlag direkt ins Leere ging. Danach umschlang er sie noch mit seinem anderen Arm, damit sie die ihren nicht mehr bewegen könnte, egal wie sehr sie sich zu wehren versuchte. „D-das ist dein Werk“, keuchte sie, obwohl ihr aufgrund des von ihm ausgeübten Drucks buchstäblich die Luft wegblieb. „Nicht wahr?“ Er antwortete nicht, aber sie wertete dies als stumme Zustimmung und stöhnte innerlich. Nur wegen ihr hatte er eine ganze Stadt in Brand gesteckt, Menschenleben riskiert und so manchem die Heimat genommen, nur wegen ihr... „Nein, das ist nicht wahr“, wisperte eine Stimme in ihren Gedanken, eine kalte, verbitterte Stimme, die ihr Angst machte und sie schaudern ließ. „Es ist nicht wegen dir. Es ist wegen ihnen, wegen anderen Menschen, anderen Eternal. Du solltest-“ Ehe die Stimme ihren Vorschlag unterbreiten konnte, brachte sie diese zum Verstimmen, indem sie ihre Gedanken von ihrem derzeit inaktiven Shinken abschirmte. Das letzte Mal, als sie diese Stimme gehört hatte, war ihr noch gut im Gedächtnis und sie wollte es nicht noch einmal erleben. Jedenfalls nicht hier und vor allem nicht in diesem Moment. Im selben Moment verließ jegliche Kraft ihren Körper und sie wäre zu Boden gestürzt, wenn Hyperion sie nicht bereits festgehalten hätte. Als er sich sicher wähnte, dass sie nicht mehr angreifen oder zu fliehen versuchen würde, warf er sie sich kurzerhand über die Schulter und setzte dann zum Rückzug an. Sie schaffte es nicht einmal, den Kopf zu heben oder eines ihrer Gliedmaße zu bewegen und musste so ohnmächtig miterleben, wie er sie aus dem verlassenen, aber immerhin nicht brennenden, Gasthaus führte. Kaum trat er ins Freie, wo die Luft von heißem, stickigem Rauch erfüllt war, begab er sich mühelos mit einem Sprung auf das Dach des Gasthauses. Der Qualm brannte in ihren Augen, so dass sie diese zusammenkniff – und dann Ayumu und Ylva zwischen den Helfern erkannte. Ihr war bewusst, dass diese beiden ihre einzige Chance sein könnten, nicht entführt zu werden, weswegen sie ihre Lungen mit Luft füllte, auch wenn es sich anfühlte, als würde sie das Feuer selbst einatmen – und dann so laut es ihr möglich war, die Namen der beiden rief. Tatsächlich drehten sich beide suchend nach der Stimme um. Erst Ylva, deren Ohren empfindlicher waren und dann Ayumu. Letzterer war es, der sie schließlich auch auf dem Dach entdeckte. Sie glaubte zu sehen, wie sein Gesicht rot vor Zorn wurde, aber sie schob es dennoch lediglich auf den Feuerschein, dann griff er an seinen Gürtel und warf etwas auf Hyperion. Während es näherkam, bemerkte sie, dass es sich dabei um zwei Wurfsterne handelte und hoffte, dass sie nicht getroffen werden würde. Hyperion, der den beiden den Rücken zugewendet hatte, drehte nicht einmal den Kopf. Eine verschwommene Silhouette erschien zwischen ihm und den Wurfsternen, Leana konnte dennoch deutlich erkennen, dass es sich dabei um Nanashi handelte – und im nächsten Moment prallten die Wurfgeschosse bereits an ihm ab und flogen in zwei verschiedene Richtungen davon, wo sie inmitten der Flammen verschwanden. Selbst auf die Entfernung war es ihr anhand von Ayumus abgehackten Bewegungen möglich, zu erkennen, dass er fluchte, ehe er erneut an seinen Gürtel griff. Doch Hyperion ließ ihm keine Gelegenheit mehr zu seinem zweiten Angriff, denn plötzlich machte er einen weiteren Sprung – und im nächsten Moment kam es Leana so vor als befände sie sich in einem Spirit Corridor. Die bunten, flirrenden Farben um sie herum und das Gefühl, jeden Moment ersticken zu müssen, wiesen jedenfalls eindeutig darauf hin, dass sie sich in einem Gebiet mit überragend hohem und dichten Managehalt befanden. Gerade als sie glaubte, es nicht mehr aushalten zu können, befanden sie sich wieder außerhalb des Korridors, aber nun standen sie in einem kühlem Raum, der mit Tatamimatten ausgelegt war. Aufgrund des wenigen Lichts, das die entzündeten Kerzen spendeten, konnte Leana nichts erkennen, aber sie hörte deutlich die amüsierte Stimme einer Frau, die vor Hyperion stand. „Wie schön, dass du so schnell zurück bist, Hyperion. Ist das unser Gast?“ Wortlos drehte er sich um, damit sie Leana betrachten könnte. Noch immer schaffte diese es nicht, den Kopf zu heben, aber ein Schauer lief ihr über den Rücken, als die Stimme noch einmal erklang: „Herzlich Willkommen, Ewige Rose Leana.“ Kapitel 26: In der Gewalt der Präfektin --------------------------------------- „Du hast gewusst, dass das geschehen würde, oder?“ Ayumu starrte Tokimi wuterfüllt an, während sie die Ruhe selbst blieb. Immerhin lächelte sie nicht, ihr ernster Blick ging in die Entfernung, direkt an ihm vorbei, was seinen Zorn nur weiter anfachte. Im Hintergrund der beiden brannte es noch immer, aber dank Fuus Hilfe war es den Einwohnern gelungen, eine Katastrophe zu verhindern. Bis auf ein oder zwei Gebäude war die Stadt nicht sonderlich in Mitleidenschaft gezogen, man würde alles rasch wieder repariert bekommen. „Du meinst, ob ich wusste, dass das Feuer nur ein Ablenkungsmanöver von Hyperion ist, um Leana zu entführen?“, fragte Tokimi und Ayumu wurde das Gefühl nicht los, dass sie nur versuchte, Zeit zu schinden. Als er nickte, schüttelte sie mit dem Kopf. „Nein.“ „Verarsch mich nicht!“, fuhr er sie wütend an und ignorierte dabei, dass sie aufgrund seiner Wortwahl die Augenbrauen unwillig zusammenzog. „Du bist doch das Orakel der Zeit, du musst es gewusst haben!“ Sie legte die Hände vor ihrer Brust zusammen als würde sie beten oder ihr Glück mitteilen wollen, aber ihr Blick blieb nach wie vor ernst, die Augenbrauen zusammengezogen. „Ich habe gesehen, dass er versuchen würde, Leana zu entführen – aber in meiner Vision ist er gescheitert.“ Ayumu stutzte. „Gescheitert? Woran?“ „In meiner Vision floh er auf normalem Weg und wurde dann von dir aufgehalten – ich wusste nicht, dass er in der Lage ist, rudimentäre Magie einzusetzen.“ Ihre Stimme klang tatsächlich bedauernd, weswegen Ayumu nicht weiter vermutete, dass sie log. Es musste die Wahrheit sein, aber... „Wie kann es sein, dass er so eine Magie plötzlich benutzen kann, ohne dass du etwas davon weißt?“ Endlich nahm sie ihren Blick aus der Entfernung und sah ihn direkt an. Etwas ungemein Verletzliches flackerte in ihren Augen, er musste unwillkürlich schlucken. „Ich kann verschiedene Möglichkeiten der Zukunft sehen“, erklärte sie. „Dinge, die geschehen und jene, die geschehen könnten, wenn sich bestimmte Bedingungen dafür ändern, indem jemand wissentlich oder unbeabsichtigt eingreift. Aber es gibt Einflüsse von außen, die ich nicht in meine Visionen miteinbeziehen kann.“ Nachdem sich die Eternal bislang derart aufgespielt und fast schon als Gottheit vor ihm präsentiert hatte, verwunderte es ihn, dass sie nun freiheraus zugab, dass es Dinge gab, die sich ihr und ihrer Vorsehungskraft entzogen. „Und was sind das für Einflüsse?“ „Verschiedene, wenngleich die Zahl im Vergleich zu dem, was ich sehen kann natürlich verschwindend gering ist“, versuchte sie ihre Aussage gleich wieder zu relativieren. Seine Geduld schwand langsam und mit ihr das Verständnis dafür, dass auch sie nur ein Mensch war, mehr oder weniger jedenfalls. „Was genau war es für ein Einfluss, der hier deine Vision zunichte machte?“ Ihr Schweigen hielt noch einen Moment lang an, offenbar war es ihr nicht ganz so recht, gerade eine sehr störende Schwäche vor ihm zugeben zu müssen, aber er ließ sie auch nicht einfach so vom Haken, er wollte diese Antwort. Schließlich seufzte sie leise und schloss die Augen. „Es war der Einfluss eines Shinjuu.“ Hyperion setzte Leana überraschend sanft auf einem aus Kissen bestehenden Berg ab. Kaum ließ er sie los, fühlte sie sich wie eine Marionette, der sämtliche Fäden abgeschnitten worden waren, ihre Arme fielen kraftlos an hier herab und auch ihren Kopf zu heben, erschien ihr unendlich schwer. Langsam wurde ihr wieder bewusst, wie schwer und schmerzhaft das Leben ohne ein Shinken und dessen Macht sein konnte. Hyperion trat zurück und die andere Person kniete sich vor sie. Fast schon schmerzhaft griff sie an Leanas Kinn und ließ ihren Kopf nach oben rucken, damit sie ihrem Gegenüber in die Augen sehen konnte – allerdings besaß diese Frau vor ihr nur eines. Das rechte Auge war von einer Augenklappe verdeckt und erinnerte sie geradezu schmerzhaft an Zetsu, der die Angewohnheit hatte, sein silbernes Haar genau dieses Auge verdecken zu lassen. Das Haar dieser Frau war ebenfalls silbern, aber der Farbton war selbst in diesem dämmrigen Licht als heller, mit mehr Weiß darin, zu erkennen. Auch wenn diese Farbe abwich, wenn ihr Auge golden war und ihre Lippen voller und rosiger, konnte Leana nicht anders als bei dieser Person an Zetsu erinnert zu werden. Es war die Art wie sie lächelte, wie ihr Haar zu einem Pferdeschwanz hochgebunden war und das seltsame Funkeln in ihrem Auge, das verriet, wie amüsant sie alles fand, was sie betrachtete. Eines war für Leana in diesem Moment jedenfalls vollkommen klar: Diese Frau war ebenfalls ein Splitter. Diese Erkenntnis brachte allerdings Verwirrung mit sich, denn warum – um Himmels willen – sollte ein Splitter von Zetsu denn eine Frau sein? Das machte einfach keinen Sinn, aber gleichzeitig wusste sie auch, dass ihr Gefühl sie nicht trog. Diese Frau war ein Teil von ihm. Da sie sich offenbar über Leanas Starren amüsierte, dauerte es eine ganze Weile, ehe sie das eingezogene Schweigen brach: „Ich bin Eos, die Präfektin.“ Der Name war genauso ungewöhnlich wie der von Hyperion und wollte auch überhaupt nicht zu dem farbenprächtigen Kimono dieser Frau passen. Einen solchen Namen hätte Leana eher mit anderen Dingen in Verbindung gebracht – aber nach all dieser Zeit war sie schon ein wenig daran gewohnt, dass ein Name nicht zwangsläufig zu dem passte, der ihn trug. Eos wandte sich an Hyperion: „Du kannst jetzt gehen. Ich werde dich rufen, falls ich dich brauche.“ Tatsächlich verschwand er gehorsam und ließ Leana allein mit Eos zurück – und schon wünschte sie sich, er würde wieder erscheinen. Schon damals, als Zetsu noch gelebt hatte, war ihr hin und wieder aufgefallen, dass er eine durchaus unberechenbare Seite besaß, eine, die sie gar nicht kennen wollte, weil sie nicht zu ihrem Bild von ihm passte – und sie hatte das Gefühl, eine Ahnung gar, dass diese Seite nicht jedem Splitter zu einem Teil zugefallen war, sondern sich gänzlich auf Eos forcierte. Ihre Vermutung bestätigte sich sofort, als sich der Gesichtsausdruck der Präfektin änderte, ihre Lippen verzogen sich zu einer angsteinflößenden Grimasse, das Funkeln in ihrem Auge wies nun eher darauf hin, dass es ihr Spaß bereiten würde, jemanden leiden zu sehen. „Verrate mir nur eines.“ Ihre Stimme war das absolute Gegenteil ihres Gesichtsausdrucks, sie war süßlich wie Honig und darum bemüht, jeden um den Finger zu wickeln. „Warum träumen wir von dir?“ Das war der letzte Beweis, den Leana benötigte, um zu wissen, dass sowohl Eos als auch Hyperion wirklich Splitter waren, denn immerhin träumte auch Ayumu von ihr. Sie hätte ihr alles erklären können, jedenfalls alles, was sie wusste, sie hätte ihr von ihrer Vergangenheit und Zetsu erzählen können – aber stattdessen schwieg Leana. Nicht nur, weil sie es im Moment als anstrengend empfand zu sprechen, sondern auch, weil es ihre Erinnerungen waren und die wollte sie mit niemandem außer Zetsu teilen, nicht einmal mit seinen Splittern. Eos schien über dieses Schweigen allerdings nicht sonderlich erbaut zu sein. Ihre Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in Leanas Kinn. „Meine Liebe, nur weil ich ein nettes Gesicht habe, heißt das nicht, dass ich auch immer nett bin.“ Im Moment war an ihrem Gesicht absolut nichts Nettes zu erkennen, aber natürlich sagte Leana das nicht, stattdessen brachte sie nur mühsam folgende Worte hervor: „Ich weiß nichts...“ Mit einem wütenden Aufschrei packte Eos ihren Oberkörper und warf sie tiefer in die Kissen hinein, so dass sie fortan auf dem Rücken lag und die Decke im Blickfeld hatte. Jedenfalls für einen kurzen Moment, denn schon einen Augenblick später beugte Eos sich mit einem sanften Lächeln über sie. „Vielleicht sollte ich nicht so unfair sein, was meinst du?“ Ihre Stimme klang wieder so honigsüß und einschmeichelnd wie zuvor, aber nun war es Leana möglich, auch die unausgesprochene Drohung hinter ihren Worten hören zu können. „Ich gebe dir noch einmal die Gelegenheit, zu überlegen, bevor ich böse werde.“ Eos strich ihr mit einem Finger über die Wange, aber in dieser Berührung war nichts zärtliches zu spüren, es war Furcht, statt Zuneigung, die dabei in Leana entstand. Aber immerhin schien es etwas in Eos anzusprechen, das sie davon abhielt, weiter auf die Beantwortung ihrer Frage zu bestehen. Was sie dann allerdings tat, gefiel Leana noch weniger. Eos' Finger glitt an ihrem Hals hinab, wanderte über ihr Schlüsselbein und hielt – sehr zu Leanas Missfallen – erst auf ihrer linken Brust wieder inne. Einen Moment lang schien es als wäre die Präfektin mit ihren Gedanken ganz woanders, doch plötzlich kehrte das Leben wieder in ihr Auge zurück und statt nur den Finger darauf liegen zu lassen, packte sie die Brust mit der ganzen Hand. Leana entfuhr ein Laut, der auf Überraschung, Empörung und Schmerz zurückzuführen war. Auch diese Berührung war ohne jegliche Zärtlichkeit oder Leidenschaft, es war ein verkrampftes Drücken, das Leana Tränen des Schmerzes in die Augen trieb. „Bitte...“ Tatsächlich ließ Eos sie wieder los, aber nur, um die Hand weiter nach unten wandern zu lassen. „Hmm, ich habe das Gefühl, dass ich das schon öfter getan habe“, murmelte sie begeistert. Leana rümpfte die Nase, erwiderte aber nicht, dass Zetsu ihr sicherlich nie derartige Schmerzen bereitet hatte, auch wenn eine Erwähnung dieses Namens sie vermutlich ganz einfach aus der unangenehmen Situation befreit hätte – oder sie in eine noch schlimmere befördert. Da sie schwieg, ließ Eos den Finger an ihrer Hüfte entlanggleiten, wobei ihr spitzer Fingernagel unangenehm kratzte, obwohl Leana noch immer das Nachthemd trug. Im nächsten Moment griff die Präfektin bereits unter Leanas Körper und packte mit derselben Brutalität von vorhin nun an ihren Hintern. Erneut entfuhr ihr ein Schrei, noch dazu stieg ihr wegen der Scham und dem Ärger über ihre eigene Machtlosigkeit heiße Röte ins Gesicht. „Ich glaube, das gefällt mir“, flötete Eos vergnügt, ließ wieder ab und strich ihr erneut über die Hüfte. Leana benötigte nicht viel Vorstellungskraft, um zu wissen, welche Stelle Eos als nächstes würde berühren wollen, immerhin hatte sie genug Zeit mit Zetsu verbracht. Aber die Aussicht, dass jemand anderes als er – und sei es auch ein Splitter von ihm – sie dort berühren könnte, ließ Zorn in ihr aufwallen. Und dieses Mal war das Gefühl stark genug, um ihr die Kraft zu geben, endlich wieder ihre Gliedmaßen zu bewegen. Sie schleuderte die überraschte Eos mit einem Tritt von sich und richtete sich dann auf. Ohne darauf zu warten, ob die Präfektin sofort wieder aufstehen würde, hastete Leana zum Fenster hinüber, um über das Dach fliehen zu können – doch bevor sie es erreichte, fiel eine Gestalt von der Decke herab und stellte sich zwischen sie und das Fenster. Zuerst glaubte Leana, es handele sich dabei um Hyperion, doch ein zweiter Blick ließ sie irritiert blinzeln. Es war kein Ninja, nicht einmal ein Mann und auch kein Mensch. Vor ihr stand ein leibhaftiger Lakai, dessen schwarzes Haar zu zwei Pferdeschwänzen gebunden war, die wohl süß aussehen sollten und Unbedarfte damit leicht in die Irre führten. Selbst ohne Shinken konnte Leana die Feindseligkeit spüren, die von diesem Wesen ausströmte. Der Lakai rührte sich zwar nicht mehr, aber sie wusste, dass er das in Windeseile wieder ändern würde, sobald sie einen erneuten Vorstoß zum Fenster wagte. Also fuhr sie herum, um es in die andere Richtung zu versuchen – und erstarrte, als sie dort weitere Lakaien entdeckte. Jeder einzelne hatte schwarzes Haar, das im krassen Kontrast zu der weißen Haut stand und trug neben schwarzer Kleidung auch ein Katana in der Hand. Sie würde hier nicht herauskommen. Zumindest griff keines der Wesen sie an, sondern warteten offenbar darauf, einen Befehl zu erhalten – und Leana war überzeugt, dass es Eos war, die ihnen Anweisungen gab. Aber warum? Sie ist ein Teil von Zetsu, warum sollte sie Lakaien kontrollieren können? Allerdings kam ihr da auch der Gedanke, dass beides vollkommen unabhängig voneinander stehen könnte. Wie Ayumu war sie immerhin eine eigenständige Person. Die Präfektin schaffte es endlich, sich aufzurichten und lachte. Die Lakaien öffneten ebenfalls ihre Münder und fielen in das Lachen mit ein, auch wenn ihnen jegliche Emotion darin fehlte, so dass es zu einem unheimlichen und furchteinflößenden Chor anschwoll. Wie festgewurzelt verharrte Leana auf ihrer Position und wartete darauf, dass endlich wieder Stille einkehren und Eos ihr sagen würde, wie es nun weitergehen sollte, was sie mit ihr vorhatte. Im nächsten Moment erstarb das Lachen – erst bei Eos und dann auf einen Schlag auch bei sämtlichen Lakaien – und die Präfektin sah Leana wieder mit demselben liebenswürdigen Lächeln von zuvor an. Das Funkeln in ihrem Auge verhieß aber nach wie vor nichts Gutes. „Ich werde dir nichts antun, keine Sorge, meine Liebe. Aber du wirst mit Sicherheit verstehen, dass du eine Weile mein Gast sein musst. Eine Rose lässt man immerhin nicht so einfach wieder gehen.“ Leana sagte darauf nichts, aber ihr Schweigen wurde offenbar als Zustimmung gewertet, denn die Lakaien griffen mit ihren freien Händen bereits nach ihr, um sie fortzuziehen. Die Haut dieser Wesen war kälter als sie je gedacht hätte, sie erschauerte, als sie ihre Arme berührten. Aber sie wehrte sich nicht, sondern ließ sich von ihnen mitziehen. Eos' gieriger Blick, den sie ihr hinterherwarf, brannte geradezu in Leanas Rücken, noch lange nachdem sie weit entfernt von dem Zimmer der Präfektin war. Kapitel 27: Teestunde mit Eos ----------------------------- Auch wenn eine Gefangenschaft etwas Schlimmes war, so fühlte Leana sich im Großen und Ganzen recht... wohl. Der Raum, in dem sie sich befand, war keine Zelle im Kerker, ohne jede Lichtquelle und höchstens dem verzweifelten Seufzen und Stöhnen der Mitgefangenen als Geräuschkulisse. Stattdessen befand sie sich wirklich in einem Gästezimmer der Burg, das kleiner als Eos' Arbeitszimmer, aber immer noch geräumig war. Die Tatamimatten, mit denen der Raum ausgelegt war, fühlten sich angenehm unter ihren nackten Füßen an, der Futon war erstaunlich bequem, auch wenn er so groß war, dass sie sich ohne Zetsu darin verloren fühlte. Der Schrank im Raum war mit verschiedenen Kimono gefüllt, von denen sie sich einen aussuchte – der Farbton war schlicht dunkelblau und verzichtete auf jegliche Verzierungen – und anzog, damit sie nicht immer mit dem Nachthemd herumlaufen müsste. Wenn sie aus dem Fenster blickte, konnte sie den gesamten Hof überblicken, der den ganzen Tag mit Soldaten gefüllt war, die sich lachend unterhielten. Nachts erhellten Fackeln und die Sterne die Anlage und es herrschte eine angenehme Ruhe, die lediglich von dem Flüstern der Wachen unterbrochen wurde. Was Leana allerdings nicht möglich war: Das Zimmer auf irgendeine erdenkliche Weise zu verlassen. Vor dem Fenster saßen, unsichtbar, aber wachsam, Lakaien und auf dem Gang waren sie ebenfalls. Leana konnte die Feindseligkeit spüren, obwohl sie ihren Verstand nur ein wenig für 'Shoubi' öffnete, um nicht wieder eine Dummheit zu begehen. Auch wenn es ihr nicht gefiel, ihr war bewusst, dass sie ohne aktiven Orichalcum-Namen erst einmal dazu verdammt war, die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten. Am ersten Tag hatte sie sich von den Strapazen der Vergiftung erholt und geschlafen; am zweiten Tag hatte sie nur aus dem Fenster gesehen, um die Soldaten zu beobachten und eine Möglichkeit zur Flucht zu finden; am dritten Tag hatte sie sich im Zimmer umgesehen und sich dann den Kimono angezogen – und nun saß sie wieder am Fenster und grübelte darüber nach, was sie tun könnte. Nur auf die anderen zu warten erschien ihr zu passiv und es passte auch einfach nicht zu ihr, sie musste sich etwas einfallen lassen. Doch ihre Überlegungen wurden schlagartig unterbrochen, als es plötzlich an der Tür klopfte. Im ersten Moment glaubte sie, es sei wieder eines der Dienstmädchen, das ihr ein Tablett mit Essen brachte, doch dann fiel ihr ein, dass es dafür noch viel zu früh sei. Unwillkürlich drückte sie den Rücken durch, um gerade zu sitzen, ehe sie die Person hereinbat – und zu ihrem Erstaunen war es Eos selbst, die den Raum betrat. Aber ihre Überraschung schwand schnell, als sie die Präfektin im Sonnenlicht betrachtete. Sie sah nicht alt aus, aber erschöpft und abgekämpft, selbst das Lächeln mit dem sie Leana bedachte, wirkte müde und kein Funkeln, gleich welcher Art, leuchtete in ihren Augen. Sie war definitiv nicht gefährlich – jedenfalls nicht im Moment. Ohne eine Begrüßung setzte Eos sich gegenüber von Leana auf den Boden. „Da du dich umgezogen hast, nehme ich an, dass es dir gut geht.“ Sie überlegte, nicht zu antworten, aber da sie keinerlei Feindseligkeit oder Gier in den Worten ihres Gegenübers wahrnehmen konnte, tat sie es dennoch: „Einigermaßen, ja. Ich fühle mich noch ein wenig schwach.“ Sie wusste, dass es unklug war, so etwas vor seinem Feind zuzugeben, aber an Eos' erschöpfter Fassade änderte sich nichts. Es musste irgendwas in ihrem Arbeitszimmer geben, das sie so derartig aufdrehen und geradezu bösartig werden ließ. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob sie das wirklich herausfinden und sich diesen Gegenstand selbst ansehen wollte. Eos schwieg und sah sie nur an, was Leana nach einiger Zeit unheimlich wurde, weswegen sie die Stille wieder brach: „Bist du nur deswegen hergekommen?“ „Nicht direkt“, antwortete die Präfektin. „Eigentlich bin ich hier, weil ich die Hoffnung hege, dass mir wieder mehr von meiner Vergangenheit einfällt, wenn ich in deiner Nähe bin.“ „Und? Funktioniert es?“ Diesmal antwortete sie nicht direkt, sondern stellte eine eigene Frage: „Wie wäre es mit einem Tee? In meiner Präfektur gibt es den besten Tee, den du je gekostet hast.“ Dabei lächelte sie Leana an und für einen kurzen Moment glaubte diese, Zetsu wieder vor sich zu haben. Das charmante Lächeln war auf jeden Fall genau dasselbe und es trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie nickte wortlos und nutzte die Gelegenheit, als Eos sich abwandte, um sich mit dem Arm über die Augen zu fahren und die Tränen wegzuwischen. Auf Eos' Geheiß kam eine Dienerin herein, die ein Tablett mit zwei Schalen, zwei Kannen, einem Beutel mit grünem Pulver, einem breitem Pinsel und einem Bambuslöffel trug. Sie stellte das Tablett ab, verbeugte sich und ging dann eilig wieder davon. Leana neigte den Kopf, während sie die Zutaten betrachtete und sich fragte, wie das einen Tee ergeben sollte. Sie war eine Zubereitung mit Blättern gewohnt, teilweise sogar mit Teebeuteln, aber so etwas war gänzlich neu für sie. Zu ihrem Glück musste sie das aber nicht zugeben, denn Eos begann bereits damit, mit dem Bambuslöffel Pulver in eine der Schalen zu geben. Dann nahm sie die kleinere der beiden Kannen und gab etwas Wasser hinzu, ehe sie entschieden den Pinsel an sich nahm und die Mischung damit zu schlagen begann. Erst als die Masse zu einer cremigen – und nicht sonderlich appetitanregenden Paste – geworden war, nahm Eos die andere Kanne und füllte die Schale mit offensichtlich heißem Wasser und dann fuhr sie mit dem Schlagen fort als würde sie das täglich tun. Leana warf einen Blick auf Eos' gelöstes und friedliches Gesicht, das mit seinem leichten Lächeln im Moment noch mehr an Zetsu erinnerte als sonst, sogar noch viel mehr als der charmante Ausdruck von zuvor. Es war unter anderem diese Seite an ihm, die sie so geliebt hatte, diese Gelassenheit, das sich-auf-eine-Aufgabe-konzentrieren-und-daran-auch-noch-Vergnügen-finden, das er auf seine absolut unnachahmliche Weise beherrscht und das ihr stets Ruhe vermittelt und es ihr ermöglicht hatte, einfach zu entspannen und sich nicht zu sehr in etwas zu verbeißen. In diesem Moment war das alles in Eos und vertrieb jeglichen Argwohn oder Furcht in Leana. Die Präfektin stellte die Schale schließlich wieder auf das Tablett und widmete sich der zweiten Schale, bei der sie diese Prozedur wiederholte. Leana wandte den Blick von ihr ab und sah auf den fertigen Tee hinunter. Er war selbstverständlich immer noch grün, sah aber nun durch den cremigen Schaum auf der Oberfläche nicht mehr abstoßend, sondern sogar recht interessant aus, wie sie fand. Das kräftige Aroma lockte sie noch dazu mit einem köstlichen Geschmack. Dennoch wartete sie geduldig, bis Eos auch mit der zweiten Schale fertig war, die sie direkt im Anschluss von der Präfektin gereicht bekam. Sie wartete noch den kurzen Moment, bis Eos ihre eigene Schale nahm, dann neigten sie beide den Oberkörper voreinander – und tranken. Schon nach dem ersten Schluck hielt Leana erstaunt wieder inne. Es schmeckte tatsächlich überaus köstlich, nicht zu herb, nicht zu süß, nicht zu wässrig, dafür kraftvoll und... sie fand keinerlei Entsprechung dieses Geschmacks, aber sie bedauerte, es nicht früher probiert zu haben. Eos bemerkte offenbar, dass es ihr schmeckte und lächelte. „Ich sagte doch, dass er köstlich ist~. Da habe ich wohl nicht zu viel versprochen.“ „Ganz und gar nicht.“ Dann verfielen sie wieder in Schweigen und tranken den Tee. Dieser Moment voller Frieden gefiel Leana außerordentlich gut und rief ihr wieder ins Gedächtnis, wie sie oft gemeinsam mit Zetsu zusammengesessen und einfach seine Anwesenheit genossen hatte. Ob es ihm ebenfalls so ergangen war? Sie musste ihn unbedingt fragen, wenn sie ihm wieder gegenüberstehen würde. Doch während sie diesen Moment genoss und dabei immer gelassener wurde, änderte sich etwas an Eos' Gesichtsausdruck – doch das fiel ihr erst auf, als die Präfektin plötzlich wutentbrannt ihre Schale gegen die Wand warf. Leana zuckte zusammen und blickte an die Mauer, wo sich ein Fleck gebildet hatte. Im nächsten Moment hörte sie bereits, wie das Tablett mit all dem Geschirr darauf zur Seite geworfen wurde, sie ließ ihre eigene Schale fallen, als etwas sie zu Boden warf und kam schmerzhaft auf dem Rücken auf. Sie blickte über sich und sah direkt in Eos' wutverzerrtes Gesicht, allerdings konnte sie sich diesen plötzlichen Stimmungswandel nicht erklären. „Warum!?“, heulte sie verzweifelt, in einem Ton, der Leanas Herz ansprach. „Warum erinnere ich mich nicht!? Du löst all diese verschiedenen Gefühle in mir aus, aber keine Erinnerung!“ Neben der Furcht, verspürte Leana Mitleid. Alles, was diese Frau wollte war, ihre Erinnerungen sinnvoll zu einem Bild zusammenzusetzen und ihre Verzweiflung darüber, dass dies nicht möglich war, entlud sich in zornigen Anfällen und das war – wie sie durch Erzählungen, aber nicht eigene Erfahrungen wusste – ebenfalls eine Seite von Zetsu. „Es tut mir so Leid“, murmelte Leana. Es war nicht ihre Schuld, dass sie Eos keine Erinnerung wiederbringen konnte und es war auch nicht in ihrer Verantwortung, dass Zetsu überhaupt erst gestorben und dann gespalten worden war. Aber dennoch schmerzte es sie, diesen Moment der Verzweiflung und Hilflosigkeit miterleben zu müssen und dabei selbst nichts tun zu können. Es schmerzte sie derart, dass es ihr wirklich Leid tat, damals nicht rechtzeitig eingegriffen und sein Leben gerettet zu haben. Nichts von diesem Schmerz wäre vorhanden, wenn sie nur etwas getan hätte. Aber vor allem wäre Zetsu dann immer noch bei ihr. Als Tränen in ihre Augen traten, ließ Eos sie urplötzlich los und entfernte sich rasch von ihr, damit Leana sich aufrichten bis zur Wand zurückweichen konnte. Erst als sie diese hinter sich spürte, fühlte sie sich wieder einigermaßen sicher genug mit Eos im Raum. Ein deutlich spürbarer Hauch von Reue umgab diese und Leana empfand sogar ein wenig Mitleid mit ihr. Sie wollte aufstehen und die Präfektin in die Arme nehmen, um sie zu trösten, aber sie hielt sich selbst davon ab. Das vor ihr war nicht Zetsu, es war eine andere Person und Leana hatte keinerlei Verpflichtung ihr gegenüber. Eos richtete ihr Haar mit bemüht beherrschten Bewegungen, dann deutete sie eine Verbeugung an. „Bitte, vergib mir meinen Ausbruch. Ich wollte dir keine Furcht einjagen.“ Leana deutete ein Kopfschütteln an, brachte es aber nicht über sich, es zu vollenden. Sie konnte die Entschuldigung nicht ablehnen, sie aber auch unmöglich annehmen – aber genau genommen wusste sie im Moment auch nicht wirklich, was sie darüber denken sollte. Die Sehnsucht nach Zetsu dominierte weiter ihre Gedanken, lediglich begleitet von den Überlegungen einer Flucht und beides machte es ihr unmöglich, an etwas anderes zu denken. „Ich werde dich nun allein lassen“, sagte Eos schließlich mit ruhiger Stimme. „Aber ich werde dich wieder besuchen kommen, habe eine gute Nacht.“ Damit fuhr sie herum und verließ eilig das Zimmer. Kaum war ihre Aura verschwunden, richtete Leana den Kimono, der ihr durch den Angriff verrutscht war. Sie seufzte lautlos und zog die Beine an ihren Körper, um ihr Gesicht an ihren Knien zu verbergen. „Zetsu... Ayumu... irgendwer... Holt mich hier raus, bitte.“ Kapitel 28: Nächtliche Gespräche -------------------------------- Es war bereits spät in der Nacht, als Leana zusammengerollt auf dem Futon lag, um keinerlei Schwachstelle preiszugeben und auf die Geräusche um sie herum lauschte. Sie hörte die leisen Gespräche der Wachen im Hof, das laute Husten des Spähers auf seinem Glockenturm – aber auch das beinahe lautlose Kichern der Lakaien, die unsichtbar ihre Runden drehten, sie beobachteten und nur auf eine Gelegenheit, einen Grund, warteten, sie anzugreifen, um die Gier nach Mana zu stillen. Dieses Gefühl der Schutzlosigkeit war es, unter anderem, das Leana kaum einschlafen ließ. Immer wieder döste sie, von der Müdigkeit überwältigt, ein, nur um gleich danach wieder hochzuschrecken und mit jedem Mal verstärkten sich ihre Kopfschmerzen. Die Sehnsucht nach Zetsu, die in dieser Nacht stärker als sonst brannte und in ihrer Brust stach, ließ ebenfalls nicht zu, dass sie den benötigten Schlaf fand. So war sie noch wach, als die Glocken einer nahegelegenen Stadt verkündeten, dass es Mitternacht war – und als sie eine fremde Präsenz spürte, die sie anstarrte. Auch wenn das nicht ganz richtig war, denn die Aura kannte sie sehr wohl, nicht zuletzt, weil sie ihm in dieser Welt bereits mehrmals begegnet war. Als sie den Blick in Richtung des Fensters wandte, entdeckte sie tatsächlich den im Fensterrahmen kauernden Hyperion, der auf sie herabsah und obwohl seine Augen kein bisschen Emotionen zeigten, glaubte Leana doch, zu spüren, dass er sie besorgt musterte. Sie gab ihm mit einem kurzen Zeichen zu verstehen, dass er hereinkommen sollte, während sie sich aufrecht hinsetzte und noch in der selben Bewegung ihren erneut verrutschten Kimono richtete. Lautlos nahm Hyperion neben ihr Platz, sein Blick immer noch auf sie gerichtet. Sie bekam davon kein unangenehmes Gefühl, seine Augen waren die von Zetsu und dieser Moment war fast wie früher. „Ich weiß, dass du nichts sagen wirst“, begann sie nach einem kurzen Moment der Stille, „aber dafür rede ich einfach.“ Auch wenn das sonst nicht ihre Art war, denn normalerweise war sie die Schweigsame, doch in diesem Augenblick brauchte sie jemanden, mit dem sie reden konnte und er war die beste Wahl. Er neigte ein wenig den Kopf, was sie als Zustimmung interpretierte, so dass sie fortfuhr. „Du bist auch ein Teil von Zetsu, das wusste ich schon, als ich dir das erste Mal begegnet bin. Und auch wenn du Schuld daran bist, dass ich jetzt hier sein und das alles durchmachen muss, so bin ich doch froh, dich getroffen zu haben.“ Er neigte den Kopf ein wenig, als würde er nicht wissen, was sie meinte. Dabei fragte sie sich, ob er eigentlich wirklich fähig war, Gesprochenes zu verstehen. Er sagte nie etwas, vielleicht nicht nur, weil er nicht sprechen konnte oder wollte, sondern auch weil er diese Sprache einfach nicht beherrschte? Sie wusste es nicht und sie nahm an, dass es sinnlos war, ihn danach zu fragen. „Durch dich weiß ich endgültig und mit absoluter Gewissheit, dass Zetsu nicht verloren ist“, fuhr sie schließlich fort. „Auch wenn er gerade zersplittert ist, weiß ich ganz genau, dass ich ihn wieder zusammensetzen kann... dass wir wieder zusammen sein können...“ Sie senkte den Blick, ihr Haar fiel nach vorne und versperrte ihr die Sicht auf Hyperion. Ihre Augen brannten, aber es kamen keine Tränen, nicht eine einzige, nicht in diesem Moment. Sie zuckte überrascht zusammen, als jemand plötzlich einen Arm um sie legte. Erst nach einem kurzen Augenblick erkannte sie, dass es Hyperion war, der sie ungelenk zu umarmen versuchte, so als würde er dies zum allerersten Mal tun, wovon sie auch ausging. Er sah sie dabei nicht an, sein Blick war stur auf einen entfernten Punkt gerichtet, aber sie konnte deutlich jene Wärme spüren, die sie an Zetsu so sehr geliebt hatte, weswegen sie immer in seine Arme zurückgekehrt war und sich danach gesehnt hatte. Mit einem leichten Seufzen schmiegte sie sich dichter an ihn, auch wenn sie wusste, dass sie das eigentlich nicht tun sollte, immerhin war er... nun, sie war sich gar nicht so sicher, ob er wirklich ihr Feind war und im Moment wollte sie auch nicht darüber nachdenken. Sie wollte diesen Moment genießen, solange er anhalten würde und schloss deswegen die Augen, woraufhin sie bald tief und fest schlief, ohne sich weitere Gedanken über ihre Umgebung oder mögliche Gefahren zu machen. Ein Teil von Zetsu war immerhin bei ihr und sie wusste, dass er sie beschützen würde, egal welche Gefahr sie zu bedrohen versuchte. Nur das fahle Mondlicht erhellte Eos' dunkles Arbeitszimmer, als Yori es mitten in der Nacht betrat. Eines der Dienstmädchen hatte ihn darauf angesprochen, dass die Präfektin noch nicht in ihrem Zimmer war und man sich Sorgen um sie machte, aber niemand traute sich, sie in ihrem Büro aufzusuchen – also hatte man einfach ihn gebeten, nach dem rechten zu sehen und er war ohne Murren losgegangen. Was er allerdings vorfand, stimmte ihn eher nachdenklich als besorgt. Eos lag mit dem Rücken auf dem Boden, die Haare fächerartig ausgebreitet, so dass sie im Mondlicht silbern glitzerten. Sie hielt die Augen geschlossen und atmete tief und friedlich und dennoch konnte Yori sehen, dass sie wach war. Ihre Stirn war kaum merklich gerunzelt, was meist ein sehr eindeutiges Zeichen war. Ungebeten setzte er sich neben sie auf die Tatamimatte. „Eos-dono, worüber denkt Ihr so angestrengt nach?“ Sie schwieg lange Zeit auf seine Frage, weswegen er glaubte, dass sie ihn gar nicht gehört hätte, doch schließlich öffnete sie den Mund, um eine Gegenfrage zu stellen: „Bin ich ein schlechter Mensch, Yori?“ Überrascht und verwirrt über diese Aussage, neigte er den Kopf. „Wie kommt Ihr darauf?“ Sie hatte zwar wirklich – besonders in letzter Zeit – viele Entscheidungen getroffen oder bewilligt, die er nicht gutheißen konnte, aber im selben Ausmaß war sie bislang auch eine wunderbare Herrscherin gewesen, an der kaum jemand im Volk etwas auszusetzen wusste. Erst seit der Ankunft dieser Leana war eine Änderung in ihr vorgegangen, die sich auch auf all ihre Untertanen auswirkte. Eos schien das selbst zu bemerken und nicht zu begrüßen, war aber gleichzeitig unfähig, sich dagegen zu wehren – sie tat ihm Leid. „Du weißt genau, wie ich darauf komme“, erwiderte sie kraftlos. „Ich vernachlässige mein Volk, denke nur an mich und bin geradezu besessen von dieser Ewigen Rose, die ich wiederum für meine Probleme verantwortlich mache, die ich einsperre, bedrohe und verletze... Ich muss ein schlechter Mensch sein.“ „Das seid Ihr nicht, Eos-dono“, erwiderte er so entschieden, wie er in diesem Moment nur konnte. „Ihr seid momentan nur verwirrt, das ist alles. Wenn Ihr Euch eine Weile ausruht und Euren Gedanken ordnet, werdet Ihr wieder zu der Herrscherin, die Ihr einmal wart, davon bin ich überzeugt.“ Sie ließ sich diese Worte offenbar durch den Kopf gehen, denn einen Moment lang schwieg sie nur nachdenklich, dann öffnete sie ihre Augen und sah ihn lächelnd an. „Glaubst du wirklich so sehr an mich, Yori?“ „Natürlich tue ich das, Eos-dono.“ Sonst wäre er immerhin schon längst nicht mehr an ihrer Seite, sondern hätte sich irgendwo zur Ruhe gesetzt, um zu angeln oder sonst einem Hobby nachzugehen, für das er in seiner derzeitigen Lebenssituation keine Zeit fand. Sie setzte sich aufrecht hin und ehe er sich wehren konnte, hatte sie seinen Kopf bereits an ihre Brust gedrückt. Ihr Herz schlug ruhig und gleichmäßig, das konnte er deutlich hören, trotz des rauschenden Bluts in seinen Ohren. „Ich danke dir, dass du an meiner Seite bist“, flüsterte Eos kaum hörbar, aber es kam ihm vor als würde sie es direkt in sein Ohr flüstern. „Du gibst mir die Kraft, weiterzumachen.“ Weswegen gerade seine Meinung so wichtig für sie war, wusste er nicht, aber er war sich im Klaren darüber, dass auch andere es nicht verstanden und sich bis zu diesem Tag noch immer fragten, warum so ein junger Bursche wie er ihre rechte Hand geworden war. Sie vertraute auf ihn, genau wie er auf sie vertraute und deswegen waren sie eine derart gute Kombination. Gemeinsam, so glaubte er zu diesem Zeitpunkt noch, könnten sie auch diese Krise überwinden und sie wieder zu der Präfektin werden lassen, die sie einst gewesen war. Er brauchte nur etwas Zeit – ohne zu wissen, dass er diese nicht haben würde. „Das ist sie also?“ Ayumu blickte mit gerunzelter Stirn über die Ebene zur Burg. Die schlafende Ylva, die er auf seinem Rücken trug, wurde langsam immer schwerer und schwerer, weswegen er froh war, als Tokimi und Fuu endlich zum Stehen kamen und er das Mädchen ablegen konnte. Sie murmelte leise etwas im Schlaf und rollte sich dann, soweit es ihr möglich war, zusammen. Tokimi nickte auf seine Frage hin. „Das ist Burg Nakahara. Warst du denn noch nie hier?“ „Hat sich noch nie ergeben.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wenn jemand dorthin geschickt wurde, dann war es ein Elite-Ninja. Ich war eher... der Durchschnitts-Shinobi.“ Die Eternal schmunzelte amüsiert. „Dass du das so einfach zugibst...“ „Ich muss keinem von euch imponieren und Leana ist nicht hier – also kann ich auch ehrlich sein.“ Die Erwähnung dieses Namens erinnerte seine Begleiter wohl daran, dass ihre Aufgaben hier noch nicht erledigt waren, denn sie wandten sich sofort wieder in Richtung der Burg. „Ich kann spüren, dass sie dort ist“, sagte Tokimi. „Aber es sind auch viele Lakaien und... eine andere Kraftquelle, die ich nicht einschätzen kann, vor Ort.“ Ihr ernstes Gesicht machte Ayumu nicht gerade viel Mut, aber es ging um Leana, also ließ er sich nichts anmerken. „Wir müssen nur rein, Leana rausholen und wieder verschwinden, oder?“ „Das ist richtig“, bestätigte Fuu. „Tokimi-san, Ylva und ich werden für Ablenkung sorgen und du musst dich hineinschleichen.“ Ayumu sah auf das Mädchen hinab. „Aber sie schläft. Wie soll sie-?“ Der Magier unterbrach ihn mit einem einfachen Pfiff – und im nächsten Moment stand Ylva aufrecht, die Augen weit geöffnet, die Ohren aufmerksam aufgestellt. „Was ist los?“ Tokimi lachte leise und Ayumu hoffte, dass es nicht wegen seinem überraschten Gesicht war. „Es ist bei jedem Inugami das Gleiche“, erklärte sie schließlich. „Sie reagieren auf viele Reize genau wie Hunde.“ Ylva schien es nicht einmal gehört zu haben, denn ihre Aufmerksamkeit war der von Wachfeuern erleuchteten Burg zugewandt. „Oh, wir sind schon da?“ Fuu nickte. „Du wirst uns beim Ablenkungsmanöver helfen, Ylva, ist das in Ordnung?“ „Natürlich.“ „Sind wir dann bereit?“, fragte Tokimi. Auch wenn Ayumu sich nicht sicher war, ob er das wirklich schaffen könnte – die Burg war groß und er wusste nicht, wo genau sich Leana aufhielt – würde er es dennoch versuchen. Er musste sie einfach finden, selbst in dieser Burg, immerhin war er ein Shinobi und sie war ihm wichtig, er konnte nicht versagen. Mit diesen Worten in seinem Inneren, die er immer wiederholte, nickte er schließlich ebenfalls, so wie die anderen, die schon längst bereit schienen. Tokimis Lächeln erlosch und wurde durch einen ungewohnt ernsten und seriösen Gesichtsausdruck ersetzt, der von Bitterkeit sprach. „Dann beginnen wir hiermit den Angriff auf Burg Nakahara.“ Kapitel 29: Infiltration ------------------------ Eine überraschend laute Explosion riss Burg Nakahara schlagartig aus dem friedlichen Halbschlaf. Der Knall begleitete ein farbenfrohes Lichterspiel, das den Himmel erhellte und jeden im Innenhof befindlichen Soldaten trotz des neuen Wachsamkeitsstatus den Kopf in den Nacken legen ließ. „Warum wird ein Feuerwerk gezündet?“, fragte einer der Wächter. „Wir haben doch gar keinen Festtag.“ Doch keinem der anderen blieb Zeit, etwas zu erwidern, da genau in diesem Moment ein weiterer Knall alle anderen Geräusche übertönte. Aber statt eines neuen Lichtermeers tat sich eine Rauchwolke vor ihnen auf, die sich nur langsam wieder verzog – und dann Fuu enthüllte, der mit ausgebreiteten Armen vor ihnen stand, um sein Publikum zu begrüßen. Dieses starrte ihn ungläubig an, leises Murmeln erhob sich, während er von allen Anwesenden gemustert wurde. Fuu lächelte sanft, die allseits bekannte Mimik für seine Bühnenauftritte, kein wirkliches Lächeln, aber eines, das dem doch sehr nahe kam, denn wirklich glücklich war er nur vor seinem Publikum. Alle Wachmänner ließen sich von diesem Auftritt mitreißen, vergaßen in diesem Moment ihre Arbeit und applaudierten begeistert, was er sich gefallen ließ, sein Lächeln wurde sogar noch ein wenig fröhlicher, so schien es. Ohne etwas zu sagen, schüttelte er Spielkarten aus einem Ärmel, die er dann vor den Augen der Versammelten in einem sich langsam drehenden Kreis schweben ließ. Auf seine Handbewegungen hin schossen drei der Karten aus dem Kreis und flogen in die verschiedensten Richtungen davon. Sie verschwanden kurzzeitig aus dem Sichtfeld aller Anwesenden und als sie wieder zurückkehrten, waren sie auf ein Vielfaches ihrer Größe angewachsen. Sie bauten sich vor Fuu auf, mit dem Rücken zum Publikum, das immer noch wie gebannt auf ihn starrte. Weitere Handbewegungen ließ eine der Karten, deren Motiv aus zahlreichen Seifenblasen bestand, herumwirbeln und noch bevor jemand von ihnen wusste, was gerade geschehen war, lagen sie bereits alle auf dem Boden und befanden sich in einem tiefen, künstlichen Schlaf, der sie für mehrere Stunden in einem schönen Traum gefangenhalten würde. Aber sicherheitshalber drehte Fuu auch die zweite Karte um, deren Bänder-Motiv zahlreiche solcher beschwor, um alle Schlafenden zu fesseln, nur für den Fall, dass einer oder mehrere doch frühzeitig erwachen würden. Zufrieden mit seinem Werk, ließ er schließlich auch die letzte Karte umdrehen. Die unzähligen Feuerblumen darauf wurden sofort in die Realität umgesetzt und flogen in den Himmel hinauf, wo ein erneutes Feuerwerk erblühte. Direkt im Anschluss schrumpften die Karten wieder auf ihre normale Größe, so dass er sie gemeinsam mit den anderen wieder in seinen Ärmel gleiten lassen konnte. Ein wenig vermisste er den normalerweise anschließenden Applaus, aber mit so etwas war eben zu rechnen, wenn man das Publikum einschläferte. „Meine Arbeit ist damit vorerst getan“, stellte er zufrieden fest. „Der Rest liegt dann wohl an euch anderen.“ Ylva war ebenfalls fleißig an der Arbeit. Im Gegensatz zu Fuu, der den Großteil der Wächter ausschalten musste, war die Inugami für die eher verdeckteren Posten zuständig, die ihre Position nicht wirklich verließen und höchstens Runden drehten, selbst wenn die anderen Wachen allesamt dem Feuerwerk folgten. Zu diesem Zweck fand sie nicht nur heraus, welche Bahn die Wachen verfolgten, sondern baute ihnen auch geschickte Stolperfallen, die ihr sicherlich niemand auf den ersten Blick zugetraut hätte. Es waren nicht viele Wachen, die auf den Gängen patrouillierten, offenbar verließ sich diese Eos lieber auf das, was Tokimi als Lakaien bezeichnet hatte und jenen wollte Ylva lieber nicht begegnen. Ihr sechster Sinn, den jeder Inugami innehatte, verriet ihr, dass die Gefahr, die von diesen Wesen ausging viel zu groß für sie war – viel mehr spürte sie nicht, es war nur eine Ahnung, die ihr die Haare zu Berge stehen ließ, aber es genügte ihr, um zu wissen, dass sie nicht darauf treffen wollte. Also beschäftigte sie sich lieber mit den menschlichen Feinden, denn Menschen kannte sie, diese konnte sie einschätzen und sie bildeten nur selten eine wirkliche Gefahr. Nachdem sie alle Stolperfallen verteilt hatte, ging es darum, jeden einzelnen in diese zu locken – und zwar rennend, ansonsten könnten sie die Fallen vorher erkennen oder nicht schlimm genug stürzen, um so lange liegenzubleiben, bis Ylva sie gefesselt hatte. Sie wollte ja keinen dieser Menschen töten, sie sollten nur eine Weile außer Gefecht bleiben, damit Ayumu sich hineinschleichen, Leana retten und dann diesen Weg wieder nach draußen nehmen könnte. Schließlich beschloss Ylva, es auf die einfachste Art zu tun, die ihr einfiel. Sie stellte sich direkt auf die Route, die der erste Wachmann gehen würde und kaum trat er in ihr Blickfeld streckte sie ihm wie das kleine Kind, das sie war, die Zunge raus, um ihm zu zeigen, dass er erst gar nicht versuchen müsste, logisch mit ihr zu reden. „Na warte, du!“, schrie er wütend aus und folgte ihr sofort, als sie wegzurennen begann. Wie sie erwartet hatte, war sie um einiges schneller als er und schaffte es somit, ihn bei der für ihn vorgesehenen Falle zum Stolpern zu bringen. Er stieß einen lauten Fluch aus, als er stürzte und sich dabei vermutlich das Knie aufschlug, aber sie kümmerte sich nicht weiter darum, sondern fesselte ihn rasch, denn sein Rufen hatte einen weiteren Wachmann alarmiert, der, wie sie mit ihren empfindlichen Ohren hören konnte, ebenfalls auf dem Weg war. Kaum hatte sie den ersten mit einem Seil zusammengeschnürt – glücklicherweise war sie in ihrer Heimat oft damit beschäftigt gewesen, Seile zu knoten – stürzte bereits der zweite, zu dem sie sofort eilte, um ihn ebenfalls fesseln zu können. „Was soll denn das?“, brummte dieser wütend, der Geruch nach Alkohol war deutlich in seinem Atem festzustellen. „Ein kleines Mädchen?!“ Es überraschte sie nicht, dass keiner der Wachleute sich schnell wieder aufrichten konnte, ehe sie diese erreicht hatte, um sie zu fesseln. „Keine Sorge, mein Herr“, erwiderte sie höflich. „Sobald wir fertig sind, werden wir Sie wieder freilassen.“ Nun gut, sie selber würden das nicht tun, aber seine Kollegen würden spätestens schon dafür sorgen, davon war sie überzeugt. Seine folgenden Flüche ignorierend, rannte sie eilig weiter, um auch den nächsten gefallenen Wachmann zu fesseln. Dieser leistete nicht einmal mehr wirklich Widerstand, er schien sogar schon fast eingeschlafen zu sein, als sie ihn erreicht hatte und säuselte auch nur noch. Sie verstand zwar nicht, warum er unbedingt wollte, dass sie sich zu ihm legte und ein bisschen lieb zu ihm sein sollte, achtete dafür aber darauf, dass er ganz besonders behutsam gefesselt war. Der vierte und letzte Wachmann wiederum, den sie in diesem unterirdischen Gang, der einen Ausgang der Burg darstellte, fand, war gar nicht erst Opfer ihrer Fallen geworden, denn er schlief tief und fest. Die Sakeflasche neben ihm war sogar noch halbvoll. Ylva rümpfte die Nase, als ihr der enorm starke Alkoholgeruch in eben diese stieg. „Wie kann man so etwas nur trinken? Widerlich...“ Nachdem sie sichergestellt hatte, dass sie den Gang gesäubert und auch die Stolperfallen wieder abmontiert hatte, nickte sie zufrieden mit sich selbst. „Jetzt steht Leanas Rettung nichts mehr im Weg.“ Mit diesem festen Glauben begab sie sich selbst wieder zum Ausgang, nur um sicherzugehen, dass von dort keine anderen Wächter mehr kommen würden. Tokimi hatte im Vergleich zu den anderen beiden einen etwas schwierigeren Auftrag. Da sie die einzige war, die Lakaien bekämpfen konnte, war es ihre Aufgabe, diese hervorzulocken. Unter normalen Umständen wäre das für sie keinerlei Problem gewesen, aber der Überfluss an Mana, der von der ihr unbekannten Machtquelle verursacht wurde und daher von ihr nicht eingeschätzt werden konnte, machte ihr das nicht gerade einfach. Erstens sorgte dies dafür, dass immer neue Lakaien nachrückten, egal wie viele sie mit einem Hieb ihres Shinken besiegte und eine einzige unbedachte Bewegung hätte dafür sorgen können, dass sie das ganze Gebäude zerstörte, weil zu viel Mana vorhanden war. Während sie Welle an Welle von Lakaien bekämpfte, die sich allesamt kichernd in glitzernde Funken auflösten, versuchte sie zu ergründen, worum es sich bei dieser anderen Machtquelle handelte. Aber sie fand keinerlei vernünftige Erklärung und auch ihr Shinken 'Tokiyomi' schien absolut ratlos zu sein – oder es übte sich ausnahmsweise einfach nur in Schweigen und Zurückhaltung, beides Dinge, die sie von ihm nicht gewohnt war. Schließlich entschied sie sich, nicht länger nur im Dunkeln zu stochern. Solange sie sich immerhin von dem Bereich fernhielt, in dem sich Leana aufhielt, dürften die Lakaien ihr folgen und Ayumu in Ruhe lassen – und dieser Ahnung folgte sie. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie die Lakaien sich bewegen würde, wo eine Lücke entstehen könnte, wenn sie diese angriff und wie sie diese dann ausnutzen könnte, um ins Innere der Burg einzudringen und dort den Kern der Machtquelle zu suchen. Ohne noch länger zu zögern, riss sie einen Pfad in die angreifenden Lakaien und rannte durch die Lücke hindurch. Wie sie erwartet hatte, wandten sich die Wesen ihr zu und verfolgten sie kichernd, waren dabei aber wesentlich langsamer als sie. Manchmal schafften sie es, den Saum ihrer Kleidung zu berühren, aber es genügte immer nur ein einziger Schwertstreich, um sie wieder auf Abstand zu halten. Zielsicher fand Tokimi ihren Weg ins Innere der Burg, ohne dabei auf größere Probleme zu treffen. Sie wusste nicht, woran es lag, ob nun an den gelungenen Ablenkungsmanövern oder daran, dass sie alle etwas übersehen hatten – oder weil sich sonst niemand um ihre Anwesenheit scherte, aber im Moment kümmerte sie das auch nicht weiter, denn ihre Visionen gaben ihr keinerlei Warnhinweise. Vor der doppelflügigen Tür ließen die Angriffe der Lakaien endlich nach, so dass sie einen Moment Atem schöpfen konnte. Jenseits dieser Tür spürte sie, wie etwas pulsierte, etwas Lebendiges, Verzweifeltes und sie erinnerte sich undeutlich daran, dass die Mana-Reaktoren in Phantasmagoria eine ähnliche Energie verströmt hatten. Was immer sich hinter dieser Tür befand, musst einen ähnlichen Anblick bieten. Mit diesem Wissen in Vorbereitung atmete sie noch einmal tief durch, ehe sie den Raum dahinter betrat – und erschrocken wieder innehielt. Während des Ablenkungsmanövers seiner drei Gefährten, hastete Ayumu über die Dächer der Burg. Wie erhofft begegnete er keinerlei Wachen, da diese allesamt tief schliefen und fest verschnürt waren und auch die Lakaien folgten eher Tokimi als ihm. Nur manche von ihnen verirrte sich oder verlor das Interesse an der Eternal, sobald sie ihn in ihrer Nähe bemerkte. Aber auch ohne ominöses Shinken oder auch nur das Ziehen seines Schwertes, schaffte er es, diese abzuwehren. Als wieder einmal von ihnen kichernd vor ihm auftauchte, griff er in seine Tasche und zog eine Bannkarte hervor, die er zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand hielt. Er hielt sich die Karte an die Stirn, zählte in Gedanken bis zehn – und spürte dann, wie seine Konzentration das Papier in Brand setzte, genau wie er es gelernt hatte. Er spürte Stolz in seinem Inneren, dass er selbst nach dieser langen Pause noch immer dazu in der Lage war, doch ehe er sich in diesem Übermut verlor, schleuderte er die Karte dem Lakai entgegen. Das Papier blieb an der Stirn des Wesens haften und ließ es in einem blauen Feuer vergehen, während es weiterhin wie eine Verrückte kicherte. Ihm lief ein Schauer über den Rücken und er setzte den Weg fort, ohne weiteren Lakaien zu begegnen, da diese sich offenbar aus ihm unerfindlichen Gründen ins Innere der Burg zurückzogen. Tokimi hatte ihm kurz bevor sie sich getrennt hatten, gesagt, wo ungefähr sich Leana befand, deswegen suchte er nun nach den entsprechenden Fenstern, fand hinter den meisten aber nur leere Räume vor. Erst beim vierten Fenster war er schließlich erfolgreich. Leana saß, in einen blauen Kimono gehüllt, der sie noch schöner machte als sie ohnehin war, in diesem Raum und blickte sich immer wieder verunsichert um, als würde sie nicht verstehen, was gerade vor sich ging, etwas, das er gut nachvollziehen konnte. Seine Gedanken drehten sich bereits darum, wie Leana sich wohl bei ihm für seine Hilfe bedanken würde. Jede einzelne Variante gefiel ihm äußerst gut, besonders jene, in der sie ihm um den Hals fiel und ihn leidenschaftlich küsste... Er kicherte fast allein bei der Vorstellung daran, rief sich dann aber wieder ins Gedächtnis, dass er hier noch gar nicht fertig war und er nur wenige Meter davon entfernt war, ihre wirkliche Dankbarkeit zu spüren zu bekommen. Mit derartigen Gedanken beseelt, dachte er auch gar nicht daran, dass möglicherweise eine Falle oder ein Leibwächter auf ihn warten könnte, den er zu überwinden hätte. Dementsprechend öffnete er die Fensterflügel und sprang in den Raum hinein. „Leana! Ich bin da, mach dir keine Sorgen mehr.“ Sie wandte ihm den Kopf zu, aber statt Freude oder Erleichterung, sah er nur Panik in ihrem Gesicht, die er sich nicht erklären konnte. „Ayumu, nein...!“ Er wollte auf sie zulaufen und sie selbst in den Arm nehmen, um sie zu beruhigen – aber genau in diesem Moment spürte er eine Klinge an seinem Hals und hielt inne, ehe sie ihn verletzen konnte. Ayumu musste nicht erst lange nachdenken, um zu wissen, um wen es sich dabei handelte, schon allein weil er wieder Leanas Stimme hören konnte, die es ihm verriet: „Hyperion, nein, tu das nicht!“ Kapitel 30: Im Inneren ---------------------- Leana atmete erleichtert auf, als sie feststellte, dass Hyperion den Eindringling nicht verletzt hatte, weil dieser tatsächlich stehengeblieben war. Im Moment standen sie beide schweigend nebeneinander, die Klinge schwebte immer noch gefährlich nahe vor Ayumus Kehle, aber zumindest für den Augenblick spürte sie keine größere Gefahr. In einem ersten Impuls wollte sie fragen, was Ayumu an diesem Ort zu suchen hatte, aber schon gleich darauf wurde ihr bewusst, wie unsinnig diese Frage war, weswegen sie eine andere stellte: „Warum bist du so unvorsichtig?“ Immerhin hätte Hyperion ihm einfach die Kehle aufschlitzen können oder möglicherweise wäre ein anderer Wächter vor Ort gewesen, der weniger zimperlich war und nicht auf Leana hörte. Ayumu blickte sie empört an. „Ich wollte dich retten! Ist das etwa der Dank dafür?“ „Natürlich nicht“, erwiderte sie schnell. „Aber es ist nun einmal äußerst gefährlich hier, das solltest du doch wissen. Ich wurde nicht entführt, damit man mich einfach wieder befreien kann.“ Er schob die Unterlippe vor als wolle er schmollen, ließ es dann aber doch bleiben und entspannte sich wieder – ehe ihm erneut bewusst wurde, dass er gerade immer noch von Hyperion bedroht wurde. Der Ninja senkte seine Waffe nicht, egal wie eindringlich Leana ihn darum bat, weswegen sie es schließlich seufzend aufgab. „Er ist stur.“ Genau wie Zetsu es gewesen war, vor ihrem Treffen vielleicht sogar noch mehr, wenn sie den Erzählungen der anderen Mädchen und denen von Nozomu Glauben schenken wollte. Wenn sie so darüber nachdachte, war es gut möglich, dass die Splitter nicht einfach willkürlich Eigenschaften von Zetsu besaßen. Der Junge, der bei ihr gewesen war, als sie geträumt hatte, musste sein kindliches Ich gewesen sein; Hyperion musste der Zetsu sein, der allein und ohne Freunde durch die Welten gereist war, auf der Suche nach Rache; Eos war womöglich der Zetsu, der mit der Brigade unterwegs gewesen war – und Ayumu war schließlich ihr Zetsu. Setzte man all diese Teile, die einzeln so verrückt, liebenswürdig, seltsam und furchteinflößend waren, zusammen, bekam man das vollständige Bild, das sie so sehr vermisste und irgendwann wiederzusehen hoffte. „Mir egal, ob er stur ist“, erwiderte Ayumu und unterbrach damit ihre Gedanken. „Wenn es sein muss, werde ich ihn töten, um dich wieder mitzunehmen!“ Leana wollte ihn darauf hinweisen, dass er das ohnehin nicht schaffen würde, ließ es aber bleiben, damit er sich nicht noch aufregte und die Situation damit verschlimmerte. „Ich glaube nicht, dass das funktionieren wird. Selbst wenn du Hyperion tötest, gibt es da draußen noch Wesen, gegen die du nicht bestehen kannst mit deinem Schwert.“ Und sie auch nicht, da ihr Orichalcum-Name noch immer inaktiv war. „Bist du allein hier?“, fragte Leana. Ayumu warf einen kurzen Blick zu Hyperion, entschied dann, dass es sicher war, zu sprechen und schüttelte den Kopf. „Nein, Tokimi ist auch irgendwo hier. Warum fragst du?“ Immerhin war sie also umsichtig genug gewesen, ihn nicht allein in ein Gebäude voller Lakaien gehen zu lassen. Vielleicht kämpfte sie auch gerade gegen diese? Leana wusste es nicht, aber immerhin fühlte sie sich nun ein wenig sicherer. „Hattest du geplant, hier einfach aus der Tür rauszumarschieren?“, fragte sie weiter. „Im Prinzip, ja“, bestätigte er. „Zumindest meinte diese Tokimi, dass es die beste Methode wäre. Und auf einmal fühlte sie sich selbst zuversichtlich. Sie würden es schaffen, wenn sie gemeinsam gehen würden, solange Tokimi die Lakaien in Schach hielt. „Gut, dann los.“ Ayumus Miene hellte sich schlagartig auf. Er lief auf die Tür zu, ohne Hyperions Klinge weiter zu beachten und er rührte seine Waffe ohnehin nicht, so dass sie wie eine leere Drohung in der Luft schwebte. Da er sich nicht rührte, bedeutete Leana ihm mit der Hand, ihr zu folgen. „Dich nehmen wir natürlich mit, also komm.“ „Warum willst du ihn mitnehmen?“, fragte Ayumu mit abweisender Stimme. „Er hat dich erst entführt und wird dich wieder zurückbringen, sobald wir draußen sind!“ „Das glaube ich nicht.“ Es war nicht nur die Tatsache, dass er ein Teil von Zetsu war, nachdem sie die letzten Stunden mit ihm verbracht hatte, war sie – auch ohne jedes Wort von ihm – davon überzeugt, dass er mehr als nur der Diener von Eos war und sie wollte ihm die Möglichkeit geben, das auch wirklich auszuleben. Tatsächlich gehorchte er ihrem Befehl und schloss sich ihnen mit wieder eingesteckter Klinge, an, als sie durch die Tür auf den Gang hinaustraten. Wie Leana erwartet hatte, gab es keinerlei Lakaien, die auf sie lauerten. Etwas anderes, möglicherweise Tokimi und ihre hochrangigen Shinken, zogen sie an, fort von ihnen, was ihnen nur recht sein konnte. Ayumu übernahm rasch die Führung, um sie nach draußen zu lotsen, was auch gut funktionierte – bis Hyperion an einer Kreuzung plötzlich innehielt und dann unvermittelt in eine andere Richtung davonhuschte. Ayumu ignorierte das scheinbar, bis Leana ihn am Arm packte. „Warte! Ich glaube, wir sollten Hyperion folgen.“ „Warum? Jetzt, da wir ihn los sind, können wir einfach abhauen.“ Doch sie schüttelte entschieden den Kopf. „Das können wir nicht machen, wir müssen ihm hinterher, ich spüre, dass es wichtig ist.“ Ayumu blickte in die Richtung, in die Hyperion verschwunden war, er runzelte nachdenklich die Stirn, immer noch sichtlich abgeneigt. „Ich denke eher, wir sollten verschwinden, das scheint gefährlich zu werden.“ Da er nicht nachzugeben schien, sie aber auch nicht riskieren wollte, dass sie Hyperions Spur verlor, fuhr sie herum und rannte den Gang entlang, ohne auf Ayumus Protestrufe zu reagieren. Sie wollte herausfinden, was Hyperion abgelenkt hatte und gleichzeitig gab es da diese Ahnung in ihrem Inneren, die ihr verriet, dass es wichtig war, sich anzusehen, was es dort gab. Sie war derart schnell unterwegs, dass Ayumu sie erst einholen konnte, als sie bei Hyperion wieder innehielt. Er stand vor einem doppelflügigen Tor, hinter dem etwas lebte. Leana konnte es spüren, wenn auch nur undeutlich. Ihr Orichalcum-Name pulsierte im Gleichklang mit diesem Etwas, sie glaubte, es zu kennen, noch bevor sie es gesehen hatte. Aber worum handelte es sich nur? „Bist du jetzt glücklich?“, fragte Ayumu. „Es ist eine Tür. Gehen wir!“ Ohne ihn zu beachten, schritt sie darauf zu und öffnete beide Flügel gleichzeitig, um einzutreten und nachzusehen, was sich im Inneren befand. Nur zögerlich trat Tokimi näher an die Wand heran. Sie hatte erwartet, dass das Innere des Reaktors aus einem riesigen Kristall mit einem Shinken darin bestehen würde, so wie es in Phantasmagoria der Fall gewesen war und vielleicht noch in einigen anderen Welten, in denen Mana gezielt als Energiequelle genutzt wurde. Aber dieser Reaktor war kein riesiger, ausladender Raum, es war vielmehr eine Kammer aus der verschiedene Leitungen abgingen, um das Gebäude mit Energie zu versorgen. Die nächste Wand, auf die Tokimi zuschritt, war nur drei Meter entfernt, weswegen sie das, was es dort zu sehen gab, äußerst deutlich vor sich beobachten konnte. Mit den Extremitäten und Eisenketten an der Wand befestigt, hing dort der ausgestreckte Körper eines puppengroßen Mädchens mit fliederfarbenem Haar, ihre Augen waren geschlossen, sie schien nicht bei Bewusstsein zu sein. Eine Aura, ähnlich der eines Shinjuu, ging von ihr aus – und bei genauerem Hinsehen erkannte Tokimi sie tatsächlich als Zetsus Shinjuu wieder. Damals hatte sie nicht viel von ihr sehen können, weswegen sie für einen Moment glaubte, sich zu irren, aber es kam nicht oft vor, dass sie das tat, daher verwarf sie diesen Gedanken sofort wieder. Die Leitungen schienen aus ihrem Rücken hervorzukommen, grüne Energiepuls-Einheiten strömten durch die durchsichtigen Rohre und verteilten sich im ganzen Gebäude. Sie wollte Nanashi von den Fesseln befreien, doch schon nach wenigen Schritten hörte sie plötzlich, wie jemand hinter ihr in den Raum trat. Die Aura, die von dieser anderen Person ausging, war ihr nicht vollkommen unbekannt, sie ähnelte jener, die sie bei Ayumu, Hyperion und auch Zetsu selbst gespürt hatte. Also konnte es nur eine sein. Sie drehte sich um, damit sie Eos gegenüberstehen konnte. Die Präfektin, deren ungemachte Haare und Kleidung verrieten, dass sie gerade erst aufgestanden war, starrte sie wütend an, ihr goldenes Auge funkelte furchteinflößend, aber Tokimi blieb vollkommen ruhig. Sie wusste, dass es nichts zu befürchten gab, denn sie hatte bereits mehrere Visionen einer möglichen Zukunft gesehen und in keiner davon war sie ihrem Gegenüber unterlegen gewesen. „Wer bist du?!“, fauchte Eos, dabei bewegte sie unruhig das Schwert in ihrer Hand auf und ab. „Ich bin Tokimi Kurahashi“, antwortete sie arglos mit souveräner Stimme. „Ich weiß, dass du die Präfektin Eos bist und ich bin nicht hier, um dich zu verärgern.“ Sie schnaubte wütend. „Gut, dass du das weißt, aber genauso solltest du wissen, dass ich bereits verärgert bin, ungeachtet deiner Intention.“ In einer blitzartigen Vision sah Tokimi, wie Eos sie mit erhobenem Schwert angreifen würde. Sie trat einen Schritt zur Seite und tatsächlich ging der Angriff ins Leere. Wütend hob die Präfektin wieder den Blick. „Was...?!“ „Ich bin nicht hier, um zu kämpfen“, erklärte Tokimi. Sie könnte Eos problemlos töten, ihre Visionen zeigten ihr das in verschiedenen Ausführungen, aber so wie Leana auf diesen Vorschlag reagiert hatte – und das, was sie als deren Reaktion auf Eos' Tod sah – überredete sie dazu, es lieber sein zu lassen, solange es nicht sein musste. „Was sollen all diese Vorrichtungen?“, fragte die Eternal und machte dabei eine ausholende Handbewegung, um den gesamten Raum einzuschließen. „Was tust du hier?“ „Wonach sieht es denn aus? Ich gewinne Energie für diese Burg. Irgendwie muss sie ja versorgt werden.“ „Aber woher kennst du diese Technik?“ Niemand anderes in dieser Welt setzte sie ein, also konnte sie diese nicht von irgendjemandem erfahren haben. Das bestätigte ihr auch Eos' Reaktion, denn sie zuckte mit den Schultern – und im nächsten Moment wirkte sie plötzlich sehr lebhaft, als wäre sie daran interessiert, ihr Wissen zu teilen: „Ich kenne sie eben, sie kam mir in einem Traum. Früher hab ich dafür Lakaien benutzt, die mir quasi zugeflogen sind, aber das war reichlich instabil. Und dann kam dieses Wesen daher – und es ist perfekt!“ Ihr Auge glitzerte begeistert und stolz auf sich selbst, während sie Nanashi betrachtete. „Und dann gibt es noch einen Ersatz, in großer Form, weil es zwei von ihnen gibt! Ist das nicht ungemein praktisch?!“ Ihre Stimme ging einige Oktaven höher, während sie sich in Begeisterung hineinredete. Aber obwohl sie nun lächelte, fiel die bedrohliche Aura nicht von ihr ab, was Tokimi weiterhin aufmerksam bleiben ließ. Ihre Visionen blieben aus, doch nicht einmal das ließ sie entspannen. „Gemeinsam mit Leana werde ich bald diese Welt beherrschen! Das ist es, was ich mir vorgenommen habe! Ich brauche meine Erinnerungen nicht mehr, wenn ich erst einmal eine Welt beherrsche und noch dazu Leana als endlose Manaquelle bei mir habe!“ Sie verfiel in ein wahnsinniges Lachen, das Tokimi mit dem Rücken bis zur Tür zurückweichen ließ. Doch ehe sie herumfahren und fliehen konnte, wirbelte Eos herum und fixierte sie wuterfüllt. „Du wirst hier nicht mehr wegkommen, dafür werde ich sorgen! Niemand verhindert, dass ich meinen Plan erfülle, nicht einmal jemand wie du!“ Sie hob das Schwert wieder, doch ehe sie angreifen konnte, hörte Tokimi, wie sich die Tür hinter ihr öffnete und im nächsten Moment erklang Leanas Stimme: „Was ist hier los?“ Kapitel 31: Namenlos -------------------- Fassungslos starrte Leana auf die kleine, an der Wand angebrachte Nanashi und wiederholte danach ihre Frage: „Was ist hier los?“ Tokimi trat automatisch einen Schritt zur Seite, damit sie nicht aus Versehen gegen Leana stoßen würde, sollte sie sich entscheiden, noch weiter zurückzuweichen. Diese Gelegenheit nutzte Leana, um vorzutreten – worauf Ayumu und Hyperion den Raum ebenfalls betraten – und Nanashi näher in Augenschein zu nehmen. „Was ist mit ihr passiert?“ „Sie ist meine Manaquelle“, antwortete Eos, ein wenig ruhiger als zuvor. „Damit halte ich meinen Palast und meine Lakaien am Leben.“ Sie blickte Leana an, mit einem Ausdruck in den Augen, der deutlich davon sprach, dass sie ein Lob dafür hören wollte, aber die Eternal schüttelte langsam mit dem Kopf. „Das ist doch Wahnsinn.“ So wenig sie Nanashi auch gemocht hatte – was hauptsächlich an deren nagenden Eifersucht und Versuche, Leana loszuwerden lag – aber das hatte nicht einmal das Shinjuu verdient, ganz gewiss nicht. Eos' Gesicht verfinsterte sich bei dieser unerwarteten Antwort. „Dir gefällt mein Plan also auch nicht, Ewige Rose?“ „Hör endlich auf, mich so zu nennen!“, platzte es aus Leana. „Mein Name ist Shoubi no Leana und das hat nichts mit einer ewigen Rose zu tun!“ Dieser Ausbruch ließ Eos' Laune noch tiefer sinken, genau wie ihre Mundwinkel. „Du wagst es wirklich, so mit mir zu reden? Mit mir? Der Präfektin?“ „Mir ist egal, ob du die Präfektin bist!“, erwiderte Leana wütend. „Von mir aus könntest du auch die Königin des Universums sein! Du benimmst dich wie ein verwöhntes Gör und so behandle ich dich auch!“ Ihr war bewusst, dass sie mit Zetsu nie derart deutlich gesprochen hätte, aber nur weil sie mit ihm auch anders hatte umgehen können – und für den Fall des Falles hatte es immer noch Isolde gegeben, die Zetsu ins Gewissen sprach, nur im Moment war das Shinjuu nicht anwesend und so blieb es an Leana, das zu tun, auch wenn es Eos weiterhin nicht gefallen wollte. Doch statt das Schwert zu heben und gegen Leana zu kämpfen, gab sie plötzlich ein amüsiertes Lachen von sich. „Nun, wenn dir so viel an diesen nutzlosen Manaquellen liegt, dann kannst du ja gemeinsam mit ihnen untergehen.“ Nach diesen Worten lachte sie noch lauter, während sie dem Ausgang des Raumes zustrebte. Ihre Aura war immer noch derart von Hass und Wut erfüllt, dass keiner der anderen sich in ihre Nähe traute und sie sogar alle einen Schritt zurückwichen – außer Hyperion, der sich ihr anschloss und die Tür hinter ihnen beiden verriegelte. Ayumu schnaubte wütend. „Ich habe doch gesagt, dass er uns in eine Falle locken wird!“ Leana war nicht in der Stimmung, sich mit ihm zu streiten, weswegen sie nicht darauf einging und sich stattdessen fragte, was Eos mit ihren letzten Worten gemeint hatte. Tokimi versuchte derweil, die Tür zu öffnen, schüttelte dann aber mit dem Kopf. „Sie ist wirklich verschlossen. Aber ich kann nicht sehen, was als nächstes passieren wird.“ „Oh, dann weiß die ach-so-kluge Tokimi also auch nicht alles?“, kommentierte Ayumu amüsiert. „Das ist ja mal was ganz Außergewöhnliches.“ Sie beachtete ihn nicht, seufzte allerdings. „Vielleicht gibt es irgendwo einen geheimen Ausgang. Wir sollten danach suchen und-“ Ein leises Geräusch unterbrach sie und ließ die Blicke der drei Anwesenden zu einer Ecke wandern. Leana schluckte schwer, als sie erkannte, wer dort stand. „Nanashi...“ Es war die große Gestalt des Shinjuu, dessen leblose Augen nichts von dem verrieten, was sie bis vor kurzem noch gewesen war: Eine Angestellte in einer kleinen Ramen-Bude, die sogar Spaß an ihrer Arbeit zu haben schien. Nun aber stand sie da, die Augen leer, das Gesicht neutral und in der Hand ein Schwert haltend. „Nanashi“, sagte Leana noch einmal. „Erkennst du mich nicht?“ Die Angesprochene rührte sich nicht, reagierte nicht einmal mit den Augen, so als ob sie nichts von ihrer Umgebung auch nur im Mindesten wahrnehmen würde. „Ich glaube nicht, dass das etwas bringt“, bemerkte Ayumu. „Denke ich auch“, bestätigte Tokimi. „Ihr Bewusstsein scheint bereits nicht mehr vorhanden zu sein. Egal wie lange du versuchst, auf sie einzureden, es würde nichts bringen.“ So ganz damit abfinden konnte sie sich nicht, immerhin war es Nanashi, um die es hier ging und auch, wenn sie ihre Probleme mit dem Shinjuu gehabt hatte, so war es doch ein Teil von Zetsu und dessen Shinken gewesen und das konnte sie nicht einfach vergessen oder verleugnen. „Gibt es keinen anderen Weg? Können wir ihr nicht irgendwie helfen?“ Für einen kurzen Moment schien auch Tokimi gedanklich abwesend zu sein, dann schüttelte sie jedoch den Kopf. „Ich sehe keinen. Ich denke nicht, dass es etwas gibt, das du tun kannst.“ Dieser Gedanke stach schmerzhaft in Leanas Brust, sie zog ihr Shinken nicht, auch nicht, als Nanashi ihr Schwert hob und sich in Angriffsposition stellte. Es erleichterte sie auch nicht, als Ayumu sich schützend vor sie stellte und Tokimi sich selbst an die Spitze dieser kleinen Gruppe setzte, den Fächer so weit erhoben, dass er die Hälfte ihres Gesichts verdeckte. „Uns bleibt keine Wahl“, entschied das Orakel. „Wenn wir sie nicht töten, wird sie das mit uns tun.“ „Dazu ist sie nicht in der Lage!“, widersprach Leana heftig. „Sie ist nur-“ „Das Shinjuu eines hochrangigen Eternal-Shinken“, führte Tokimi zu ende. „Auch wenn das Shinken und sie selbst nicht komplett sind, dürfte sie es schaffen, sofern wir nichts tun.“ Unwillig schüttelte sie den Kopf und ging in die Knie. „Nein... nein...“ Eos' Worte bedeuteten, dass sie wollte, dass Leana starb. Noch dazu schickte sie Nanashi, um das zu bewerkstelligen, Hyperion hatte sie noch dazu in diesem Raum eingeschlossen und das alles unterstützte in ihr die absurde Vorstellung, dass es Zetsu selbst war, der sie tot sehen wollte – und sie konnte mit dieser Erkenntnis nicht fertigwerden, es war in diesem Moment zu viel für sie. „Ich kümmere mich darum“, sagte Tokimi. Sie ließ den Fächer verschwinden und zog dafür ein braunes, alt und stumpf aussehendes Schwert aus ihrem Ärmel – 'Tokiyomi'. Nanashi sprintete erstaunlich schnell vorwärts, um anzugreifen, doch Tokimi wich galant zur Seite aus, um den Schwerthieb ins Leere gehen zu lassen. Allerdings nutzte sie die Gelegenheit, in der ihre Angreiferin gerade schutzlos war, um einen eigenen vertikalen Streich durchzuführen. Das Shinjuu wich sofort zurück, eine Verletzung auf dem Bauch davontragend, aus der violettes Mana strömte. Doch selbst darauf reagierte sie nicht, sie sagte nichts, verzog nicht das Gesicht, es war als wäre ihre Seele schon längst aus dem Körper verschwunden. Tokimi setzte ihr nach, das Schwert immer noch erhoben, um anzugreifen – und da der Raum nicht sonderlich groß war, ging Nanashi alsbald der Platz aus, um auszuweichen, so dass sie noch einmal getroffen wurde. Doch selbst als Tokimis Klinge ihren Unterleib durchbohrte, störte sich Nanashi nicht daran, stattdessen nutzte sie selbst die Gelegenheit, um selbst den Versuch zu starten, ihre Gegnerin mit dem Schwert anzugreifen. Aber Tokimi reagierte sofort, indem sie in einer fließenden Bewegung herumwirbelte und dabei ihr Schwert mit sich riss und dabei die Verletzung in Nanashis Unterleib noch einmal vergrößerte. Inzwischen wurde fast der gesamte Raum von violetten Manafunken erfüllt, doch an Nanashis Bewegungen änderte sich nichts. Ayumu musste die Augen zusammenkneifen, um sie weiterhin beobachten zu können, die Manafunken erschwerten ihm zusätzlich noch die Atmung, weswegen sie allesamt froh sein konnten, dass es Tokimi war, die den eigentlichen Kampf ausfocht und die sich daran nicht im Mindesten störte. Durch den bisherigen Kampf an Erfahrung gewonnen, versuchte Nanashi nicht mehr zwingend, auszuweichen, stattdessen wehrte sie Tokimis Angriffe ab. Ein lautes Geräusch erklang jedesmal, wenn ihre Schwerter aufeinandertrafen. „Wundert mich ja, dass Tokimi nicht einfach voraussehen kann, wann sie angreifen soll.“ Doch Leana hatte das Gefühl, dass es nicht ganz so einfach war. Sie hielt es sogar für möglich, dass Nanashi, ausgehend von Zetsus Fähigkeiten, zu schnell war und somit Tokimis Visionen einfach überlistete. Allerdings schwieg sie, statt darauf hinzuweisen. Das Orakel benötigte diesen Hinweis aber offenbar auch nicht, denn plötzlich erschien ein blau leuchtendes Schwert in ihrer freien Hand, so dass sie zwei Waffen zur Verfügung hatte, während Nanashi nach wie vor nur eine zur Verteidigung besaß. Das wurde dem Shinjuu auch bald zum Verhängnis, als es nur wenige Augenblicke später 'Tokiyomi' direkt in der Brust hatte. Diesmal gab sie tatsächlich einen klagenden Laut von sich, ehe sie zurückwich, so dass die Klinge wieder aus ihrem Körper glitt und Nanashi dann zu Boden stürzte. Ihr Schwert löste sich augenblicklich in Funken auf, so dass Leana es für sicher befand, zu ihr hinüberzugehen, um sich neben sie zu knien. „Nanashi...“ Die Augen des Shinjuu blickten ohne jede Fixierung an die Decke, während die von Leana sich mit Tränen gefüllt hätten, wenn noch welche übrig gewesen wären. Sie griff nach Nanashis Hand und stellte verblüfft fest, dass diese den Druck erwiderte. Dabei fiel ihr auf, dass sich die Lippen des Shinjuu unaufhörlich bewegten, weswegen sie sich vorbeugte, um sie besser verstehen zu können. „Ich will nicht... sterben...“, murmelte sie undeutlich. „Ich will nicht...“ „Es ist bald vorbei“, erwiderte Leana leise, mit einem unangenehmen Kratzen im Hals. „Mach einfach die Augen zu und wehr dich nicht mehr, dann tut es auch nicht weh.“ Das Stechen in ihrer Brust nahm zu, als Nanashi noch einmal ihre Hand drückte, während sie die Augen schloss und sich kurz darauf komplett in Manafunken auflöste. Als sie den Blick hob, stellte sie fest, dass genau dasselbe auch mit der kleinen Nanashi geschah, die an der Wand angebracht war. Es war in diesem Moment, als würde eines der letzten Überbleibsel von Zetsu verschwinden und sie könnte nichts tun, um das zu verhindern, aber es schmerzte auch nicht genug, als dass ein Mana-Outbreak eintreten würde – denn, auch wenn sie es nicht gern zugab, war es gleichzeitig eine Erleichterung, dieses kleine Shinjuu, das sogar versucht hatte, sie umzubringen, verschwinden zu sehen und das für immer, wie ihr Gefühl ihr sagte. Diese derart widersprüchlichen Emotionen versuchten die Oberhand über ihren Körper zu gewinnen, aber keine von beiden schaffte es, ließen sie dafür aber fast schon gelähmt zurück, unfähig, sich auch nur im Mindesten zu rühren oder überhaupt an etwas anderes zu denken. Wie durch Watte drang die Stimme von Ayumu an ihr Ohr und auch, wenn sie die genauen Worte nicht verstehen konnte, so wusste sie, dass er sie aufforderte, mit ihm zu kommen, damit sie diese Burg endlich verlassen könnten, vermutlich durch die versteckte Tür, die Nanashi zum Eintreten genutzt hatte. Da sie nicht darauf reagierte, griff er grob nach ihrem Handgelenk und zog sie mit sich. Sie wehrte sich nicht, sondern ließ sich einfach mitziehen, fort aus dem mit Manafunken gefüllten Raum, in dem ein weiterer Teil von Zetsu und ihrer Vergangenheit gestorben war. Fort von den finsteren Erinnerungen, die sie mit diesem Shinjuu verband. Ohne darauf zu achten, dass ihre Gedanken weiter in diesem Raum verweilten, als würden sie sich selbst von diesem Schmerz nicht trennen wollen. Schon bald schwand das Licht des Raumes und ließ die kleine Gruppe in der vollkommenen Dunkelheit ihres Fluchttunnels zurück, der so finster wie Leanas Herz in diesem Moment war. Eos bemerkte sofort, dass die Manaquellen zerstört worden waren. Nicht nur, dass es in ihrem Büro dunkel wurde, auch die ihr noch letzten verbliebenen Lakaien verschwanden, als wären sie niemals hier gewesen. Aber das störte sie nicht weiter. Was sie vielmehr ärgerte war die Tatsache, dass Leana sich ihr nicht nur derart widersetzt hatte, sie war nun mit Sicherheit auch auf der Flucht. All ihre Erfolge waren damit null und nichtig geworden und sie befand sich, zu ihrem Leidwesen, wieder am Anfang. Wo sollte sie nur eine neue Manaquelle hernehmen? Wie sollte sie Leana wieder in ihren Besitz zurückholen? Sie schnaubte leise, so beruhigte sie sich wieder ein wenig. „Dieses Mädchen hieß Nanashi, nicht wahr, Hyperion?“ Es folgte keine Antwort, aber sie erwartete auch keine, weswegen sie fortfuhr: „Wusstest du, dass das Namenlos bedeutet? Hmpf! Wer immer für ihren Namen verantwortlich war, hatte nicht einmal genug Gefühle für sie, um ihr einen anständigen zu geben. Niemand wird sie vermissen, meinst du nicht auch, Hyperion?“ Dieses Mal erwartete sie wirklich eine Antwort, weswegen sie erstaunt war, dass absolut keine Reaktion erfolgte. Erst in diesem Moment konzentrierte sie sich auf ihre Umgebung und stellte fest, dass Hyperion sich nicht im Büro befand, auch nicht zwischen den Dachbalken, wo er sich sonst so gerne versteckte. Sie war nicht irritiert und auch nicht verwirrt, stattdessen fachte es ihren Wut und ihren Zorn sofort wieder an. Ihre Quelle war tot, Leana fort – und nun war auch Hyperion verschwunden und sie zweifelte nicht im Mindesten daran, dass er der Ewigen Rose gefolgt war. Diesen Impuls konnte sie zwar gut verstehen, aber dennoch tröstete es sie nicht darüber hinweg, dass er sie im Stich gelassen hatte. Sie legte die Hände auf ihre Ohren und stieß einen lauten, markerschütternden Schrei aus, in dem ihre gesamte Frustration steckte. Ein Schrei, der durch die gesamte Burg hallte und sämtliche ihrer Bewohner aus dem Schlaf riss und auf die veränderte Situation aufmerksam machte. Ein Schrei, den Leana nicht mehr hören konnte, da sie, gemeinsam mit Ayumu und Tokimi im selben Moment weit entfernt von der Burg aus dem Geheimgang trat. Kapitel 32: Verzweiflung ------------------------ Außerhalb der Burg suchte die Gruppe sich ein Waldgebiet, um sich dort erst einmal niederzulassen und zu schlafen. Während Tokimi, Fuu und Ylva genau das taten, saß Leana ein wenig abseits, mit dem Rücken gegen einen Baumstamm gelehnt, die Beine angezogen und die Arme darum geschlungen. Die hochstehenden Wurzeln hüllten sie ein, als würden sie versuchen, sie zu umarmen, ohne das wirklich zu schaffen. Aber der Gedanke, dass der Baum versuchte, sie zu trösten, gefiel ihr in gewisser Weise, wenn sie ehrlich sein musste. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu Nanashis Tod zurück, zu dem unaufhörlichen Stechen, das sich seitdem in ihrer Brust festgesetzt hatte und nicht mehr fortgehen wollte. Egal, wie wenig sie dieses Shinjuu gemocht hatte, es war ein fester Teil von Zetsu – oder besser: dessen Shinken – gewesen. Nanashi war bei ihm gewesen, noch bevor Leana ihn getroffen hatte und vermutlich war sie, wenn auch nicht sichtbar, da gewesen, als Zetsu gestorben war. Sie war zersplittert geworden, genau wie er – und nun war sie tot. Das bekräftigte sie darin, dass es nicht möglich sein würde, ihn wieder zurückzuholen. Er könnte kein Shinkenträger mehr sein und damit auch kein Eternal mehr, damit könnten sie nicht mehr ewig zusammensein, wie sie es sich versprochen hatten oder... vielleicht könnte er so niemals wiederkommen. Dieser Gedanke machte ihr noch viel mehr Angst. Eine Ewigkeit, die sie ohne Zetsu verbringen sollte, erschien ihr nicht lebenswert. Wenn es keine Möglichkeit mehr gab, dass er sein Versprechen, zurückzukommen, einhalten könnte, wollte sie auch nicht mehr leben. Aber wie könnte sie sich einer solchen Sache sicher sein? Ich sollte Tokimi danach fragen, wenn sie aufwacht. Die Eternal war schon lange eine solche, vielleicht – hoffentlich – besaß sie wesentlich mehr Wissen, was derlei Dinge anging. Sie stieß ein leises Seufzen aus und hörte im nächsten Moment eine Stimme: „Kannst du nicht schlafen?“ Ohne den Kopf zu wenden, wusste sie, dass es sich um Ayumu handelte, der sich im nächsten Moment neben sie setzte. Eigentlich wollte sie nicht, dass er das tat, sie wollte allein sein, allein mit ihrem Kummer und ihren Selbstvorwürfen, aber sie konnte nichts sagen, deswegen ließ sie ihn gewähren. Immerhin versuchte er im Moment keine weiteren Annäherungen – doch ihre Hoffnung, dass er still sein würde, erfüllte sich nicht. „Du siehst sehr durcheinander aus“, merkte er an. „Willst du mit mir darüber reden?“ Sie wollte verneinen, ihm sagen, dass er sich da raushalten sollte, weil es ihn überhaupt nichts anging, aber stattdessen geschah das, was immer passierte, wenn sie sich mit Zetsu unterhielt und es platzte aus ihr heraus: „Ich hasste Nanashi! Sie war manchmal süß und fügsam, aber oft unausstehlich und ekelhaft. Immer, wenn ich sie angesehen habe, musste ich daran denken, was zwischen ihr und Zetsu vorgefallen war und das hat in mir Abscheu gegen Zetsu ausgelöst. Ich dachte immer, wenn sie weg ist, kann ich ihn mit anderen Augen sehen. Aber nun ist sie fort und ich... ich mache mir Vorwürfe, weil ich es nicht verhindert und sie nicht beschützt habe.“ Ein leises Schluchzen unterbrach sie, aber es kamen keine Tränen, das erlaubte sie sich nicht. Stattdessen atmete sie mehrmals tief durch, um fortzufahren: „Sie war ein Teil von Zetsu, ein Teil seines Shinken, nun ist sie fort... und er vermutlich mit ihr – und diese Strafe verdiene ich vermutlich auch noch.“ „Das ist nicht wahr“, erwiderte er sanft. „Niemand hat eine Strafe verdient, die daraus besteht, dass man von der Person getrennt wird, die man liebt.“ Sie deutete ein Kopfschütteln an. „Du verstehst das nicht...“ Ihre Reaktion ließ ihn seufzen. „Außerdem kannst du auch jemand anderen finden, du musst nicht ewig auf diesen Zetsu warten, den du vielleicht nie wiedersehen wirst.“ In seiner Stimme konnte sie überraschend viel Abscheu wahrnehmen, was sie verwunderte, immerhin war er selbst ein Teil von ihm – aber vielleicht gab es etwas in Zetsu, das sich selbst nicht leiden konnte... oder Ayumu hatte sich einfach derart einen eigenen Charakter entwickelt, dass er schon die Geschichten über sein eigentliches Ich nicht ertragen konnte. Aber konnte sie wirklich sagen, dass Zetsu sein eigentliches Ich war? Vielleicht... Nein, sie wollte nicht weiter darüber nachdenken, deswegen schüttelte sie den Gedanken wieder ab. „Es ist mir egal“, antwortete sie murmelnd. „Auch wenn ich ihn nie wiedersehen werde, für mich gibt es keinen anderen. Mein Herz wird immer ihm gehören.“ Sie legte sich eine Hand auf ihre Brust, während sie das sagte, ein scharfer Schmerz zuckte durch ihren Körper, als sie wirklich erwog, dass sie die gesamte Ewigkeit ohne ihn verbringen müsste. Ohne Zetsus glückliches Lachen, ohne seine Berührungen, seine Küsse... Gerade als sie das bedauerte, spürte sie, wie Ayumu seine Lippen auf ihre legte. Schockiert riss sie ihre Augen auf, überlegte, was sie tun und wie sie weiter vorgehen sollte. Dabei konnte sie nicht anders, als festzustellen, wie überraschend weich seine Lippen waren, genau wie jene von Zetsu und dass er auch dessen Talent zu küssen besaß. Zumindest konnte sie sich nicht vorstellen, dass Ayumu in seinem bisherigen Leben sonderlich viel Erfahrung darin gesammelt hatte. Doch schließlich entschied sie sich für die einzige Methode, die ihr spontan einfiel, um das Ganze zu beenden. Sie drückte ihn entschlossen von sich, ohne dass sich etwas an ihrem schockierten Gesichtsausdruck änderte. „Warum hast du das getan?!“ Ratlos und ein wenig enttäuscht, erwiderte er ihren Blick. „Was stört dich daran?“, fragte er verständnislos. „Ich wollte dich nur trösten. Und dir zeigen, dass ich außerdem auch noch da bin. Ich werde bei dir bleiben und dich nicht einfach verlassen, so wie er es getan hat. Das ist es doch, was du willst, oder?“ Sie konnte aus seinen Worten heraushören, wie aufrichtig er diese meinte, sie konnte in seinem Gesicht sehen, wie ernst es ihm war, sie wusste einfach, dass er auch dazu stehen würde, denn in diesem Aspekt war er wie Zetsu. Aber dennoch, ganz gleich wie ähnlich sie sich waren... „Nein, das ist es nicht“, antwortete sie. „Das ist nicht, was ich will. Ich will Zetsu.“ Sie brachte diese Worte nur mit einem weiteren Schluchzen hervor und dabei hoffte sie, dass er ihren Punkt verstand und sie nicht weiter quälen würde. Tatsächlich war er für einen kurzen Moment still, doch ihre Hoffnung erfüllte sich nicht. Urplötzlich stieß Ayumu einen frustrierten Schrei aus, ehe er aufsprang, dann seine Hand gegen den Baumstamm rammte und diesen damit leicht zum Zittern brachte. Für einen Augenblick stand er einfach nur da, das Gesicht gesenkt, den Oberkörper gegen den Stamm gelehnt, den Blick gesenkt, als würde er über etwas Wichtiges nachdenken – und vielleicht tat er das sogar. „Warum?“, presste er mühsam hervor, sie konnte regelrecht hören, wie sehr er sich anstrengte, nicht schreien oder in Tränen ausbrechen zu müssen. „Warum immer nur dieser Zetsu?“ Sie schwieg auf diese Frage nur und wartete darauf, dass er fortfahren würde, was er auch sofort tat: „Er hat dich immer nur enttäuscht und im Stich gelassen, selbst wenn du ihn gebraucht hast. Er war nie für dich da und hat immer nur an sich gedacht!“ Sie musste schlucken, als sie feststellte, dass sie sich geirrt hatte. Ayumu erinnerte sich durchaus an Zetsu und daher vermutlich an sein letztes Leben, aber es waren keine sonderlich positiven Erinnerungen, die sich da in ihm angesammelt hatten, sie zeigten ihm allesamt nur das negative und das war nicht das, an was sie sich erinnerte oder erinnern wollte. „Ich habe... so hart daran gearbeitet, mich zu ändern... um zu jemandem zu werden, den du lieben kannst und der dich auch verdient hat. Und doch... und doch...“ Seine Stimme brach ein, so dass es ihm nicht möglich war, seinen Satz zu beenden. Aber Leana musste auch nicht wissen, was er noch hatte sagen wollen. In diesem Moment kam sie sich über alle Maßen dumm und blind vor. In all ihrem Schmerz, ihrem Leid, war ihr nie aufgefallen, dass sie nicht die einzige war, die Qualen mit sich herumtrug, die sich kaum in Worte fassen ließen. Ayumu war genau wie sie, er litt unter einem Herzen, das wider besseren Wissens einfach nicht still sein wollte und ihm unablässig Dinge einflüsterte, die ihm unnötige Schmerzen zufügten. Er war wie sie und doch waren sie beide... einsam und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Sie empfand nichts für ihn und sie wusste, dass ein solcher Fall auch niemals eintreten würde und genauso wusste sie, dass ihm das durchaus bewusst war. „Aber meine Worte sind auch unwichtig, oder?“ Er löste sich wieder von dem Stamm, sah sie aber immer noch nicht an, sondern blickte irgendwo ins Nichts. „Nichts, was ich sage, wird etwas an der Tatsache ändern. Und dieser viel zu nervige Fakt ist, dass du immer diesen egoistischen Mistkerl lieben wirst.“ Etwas an seinen Worten und auch an dem, was sie in diesem Moment in seinen Augen sehen konnte, verunsicherte sie und erzeugte ein unangenehmes Gefühl in ihrem Inneren. Sie glaubte, sehen zu können, wie ein Entschluss in ihm heranreifte, einer jener Sorte, die ihr gar nicht gefallen wollte. Einen Wimpernschlag später lächelte er wieder, als wäre nichts geschehen – zumindest versuchte er es. Hinter diesem Lächeln konnte sie allerdings etwas Düsteres, Furchteinflößendes wahrnehmen, ein Entschluss, den sie wirklich hassen würde, wenn sie ihn gekannt hätte. „Was hast du vor?“, fragte sie. Er sah auf sie hinab und bemühte sich, noch mehr zu lächeln, um sie zu beruhigen, erreichte damit jedoch das genaue Gegenteil, denn ihre Sorge wuchs weiter an. „Es ist nichts“, sagte er ruhig. „Du solltest bald schlafen gehen, es ist wichtig, dass du viel Schlaf bekommst.“ Ohne noch etwas zu sagen oder ihre Erwiderung abzuwarten, fuhr er herum und wandelte mit traumgleichen Bewegungen davon, wenngleich er nicht die Richtung einschlug, in der sie ihr Lager errichtet hatten. Sie hielt ihn nicht auf, blickte ihm nur hinterher und hoffte, dass er keine Dummheit begehen würde – und dass er bald zurückkommen würde. Vielleicht war es besser, wenn sie noch einmal darüber reden würden, wenn sie ihm zu erklären versuchte, warum es nur Zetsu für sie gab und niemanden sonst... auch wenn sie nicht gut darin war, so etwas in Worte zu fassen. Sie war sicher, dass sie es nicht einmal Zetsu gesagt hatte und dabei ging es in diesem Fall ja immerhin um ihn. Er war wesentlich besser darin gewesen, seine Gefühle auszudrücken und ihr damit zu zeigen, weswegen er mit ihr zusammen war, statt mit einer der unzähligen anderen Mädchen, die er sich aussuchen könnte. „Zetsu...“ Wieder legte sie die Hände auf ihr Herz, das erneut zu schmerzen begonnen hatte. Ihr blieb nur noch zu hoffen, dass Tokimi etwas zu sagen wusste, das diese ganze Situation aufklären und zu einer Besserung bringen könnte. Und falls sie das nicht könnte, müsste Leana selbst einen Weg finden, denn eine Ewigkeit ohne Zetsu war eine Unmöglichkeit in ihren Gedanken. Sie erhob sich von ihrem Platz und ging wieder in Richtung ihres Lagers davon, in der Hoffnung, dass die anderen bald aufwachen würden – und dass Ayumu ihre Zurückweisung ertragen könnte. Kapitel 33: Ein Funken Hoffnung ------------------------------- Wie Leana gehofft hatte, waren alle inzwischen wach. Ylva schien noch immer reichlich müde, sie gähnte immer wieder, hielt sich aber tapfer wach. Fuu und Tokimi unterhielten sich leise, verstummten aber sofort, als sie sahen, wie Leana auf die Lichtung trat. Sie setzte sich zu Ylva und schloss diese wortlos in eine Umarmung, gegen die sich das Mädchen nicht einmal wehrte, sondern sich sogar an die Eternal schmiegte. Offenbar spürte sie, dass Leana Trost durchaus gut gebrauchen konnte, selbst wenn er nur zu der stillen Sorte gehörte. „Wie fühlst du dich heute?“, fragte Tokimi fürsorglich, Fuu lächelte darauf lediglich. Leana antwortete darauf nicht, es schien ihr viel zu schwer, darauf eine richtige Antwort zu finden und sie wollte erst gar nicht darüber nachdenken, wenn es nicht sein musste. Also lenkte sie das Gespräch auf ein anderes Thema: „Fuu, Tokimi, es gibt etwas, das mich interessiert.“ „Worum geht es?“, hakte Fuu nach. „Nachdem Nanashi nun tot ist, besteht da überhaupt noch die Möglichkeit, dass Zetsu jemals zurückkommen kann?“ Schweigen breitete sich nach dieser Frage aus. Fuu und Tokimi tauschten einen Blick miteinander, keiner, der danach aussah, als ob sie die Antwort wüssten und sich nur fragten, ob und wie sie ihr diese mitteilen sollten, sondern eher, als ob sie sich selbst nicht sicher waren und nun von dem jeweils anderen mehr zu erfahren hofften. Die Sekunden, in denen sie stumm miteinander kommunizierten, vergingen nur träge, zogen sich zäh dahin und wurden für Leana zu Stunden. Als Tokimi ihr erneut den Blick zuwandte, war das Gesicht der Eternal finster. „Ich kann es dir nicht sagen. Wie du vielleicht selbst weißt, ist so etwas noch nie geschehen.“ Mit einer solchen Antwort hatte Leana gerechnet, aber sie wollte dennoch nicht einfach lockerlassen. „Kannst du mir nicht einfach irgendetwas sagen? Auch wenn du es nicht in der Zukunft sehen kannst, müsste es dir doch möglich sein, zumindest eine Annahme zu machen.“ Tokimi kam ihr jedenfalls nicht wie jemand vor, der mit Mutmaßungen hinter dem Berg hielt, sofern sie explizit darum gebeten wurde. Sie hoffte, sich nicht zu täuschen, aber der verschlossene Geschichtsausdruck der anderen gab ihr nicht viel, was sie daran glauben ließ. „Man kann es wirklich nicht sagen“, beharrte Tokimi. „Wir haben noch nie einen solchen Fall erlebt, das hier wird ein richtiger Präzedenzfall. Rushiima wird sicher seine Freude daran haben.“ Leana fragte lieber gar nicht nach, wer das sein sollte, es interessierte sie immerhin auch nicht. Ihr Interesse galt immer noch einzig der Frage, wie es mit Zetsu weitergehen würde. „Ich will dir keine Hoffnungen machen, die vollkommen haltlos sind“, sagte Tokimi ernst. „Es ist mir lieber, wenn wir hier auf einer Ebene miteinander kommunizieren.“ Normalerweise hätte Leana ihr da durchaus zugestimmt. Aber gerade in diesem Moment, bei dieser Frage, wollte sie eine definitive Antwort. Eine tröstliche Lüge, die kalte Wahrheit, alles wäre ihr lieber gewesen als eine derart feige Ausflucht. Aber sie konnte nicht auf Tokimi zählen. Unwillkürlich wandte sie ihre Aufmerksamkeit Fuu zu, dem anderen Verantwortlichen für diese Situation, in der Hoffnung, dass er ihr etwas anderes sagen würde. Sein sanftes Lächeln, das einfach jeden beruhigen musste, der es sah, erzielte diese Wirkung auch bei ihr. „Ich bin mir sicher, dass du Zetsu wiederbegegnen wirst.“ Seine Stimme klang nicht danach, als würde er lügen, um sie zu trösten und seine Worte verrieten, dass er auch nicht einfach vermutete. Nein, Fuu war davon überzeugt, dass sie Zetsu wiedersehen würde und so wirkte er auch. Leana entging zwar Tokimis tadelnder Blick in seine Richtung nicht, aber diesen blendete sie vorerst geschickt aus. Sie wollte sich an den hoffnungsvollen Worten des Magiers laben und damit wieder an Kraft gewinnen, um die Zeit bis zu ihrem Wiedersehen zu überbrücken. „Glaubst du das wirklich?“ Sein Lächeln wandelte sich um keine einzige Nuance, es blieb so selbstsicher wie zuvor, als er nickte. „Ich bin davon überzeugt. Natürlich wissen wir nichts über diese Situation, weil wir noch nie in einer solchen waren. Aber ich weiß, dass wir mit genug Glauben und Beharrlichkeit alles zum Guten wenden können. Außerdem habt ihr einen Eternal Oath abgelegt. Zetsu wird wiederkehren, das garantiere ich dir.“ Leana blickte auf ihren Arm hinab und fragte sich, woher Fuu von dem Oath wusste. Es war nicht das erste Mal, dass er solche Dinge einfach wusste, aber dennoch stellte sie sich immer wieder diese Frage, ohne je eine Antwort darauf zu erhalten – was auch so gewesen wäre, hätte sie diese laut ausgesprochen. Er würde nur wissend lächeln und ihr jede Erklärung schuldig bleiben. „Aber sein Shinjuu...“ Eine Handbewegung von Fuu brachte sie zum Schweigen. „Es gibt kein Problem, das sich nicht lösen lässt“, sagte er. „Sobald du ihm begegnest, wirst du sehen, dass es auch dafür eine Lösung gegeben hat.“ Seine Worte erschienen ihr mehr wie eine Prophezeiung, als eine Vermutung, so als wüsste er etwas, das in der Zukunft lag und sogar Tokimi verborgen blieb. Aber was auch immer sie im Endeffekt waren, sie war dankbar, dass er sie ausgesprochen hatte, denn diese Worte ließen sie neue Hoffnung schöpfen – und sie auch ein wenig neugierig werden, worin diese Lösung am Ende bestehen würde. „Danke, Fuu.“ Diesmal änderte sich sein Lächeln tatsächlich, er schien glücklich darüber zu sein, dass er sie ein wenig hatte aufmuntern können. Tokimi dagegen wandte den Blick ab, vermutlich um diese gelöste Stimmung nicht weiter zu belasten und Fuu auch nicht direkt mit Fragen zu löchern, die ihr verraten sollten, woher er dieses Wissen zu nehmen glaubte, wenn es sogar ihr vorenthalten wurde. Während Leana nun wesentlich leichter atmen konnte, strich sie über Ylvas Kopf, was die Inugami sichtlich genoss – jedenfalls bis sie plötzlich alarmiert die Ohren aufstellte und sich hektisch umsah. „Was ist los?“, fragte Tokimi irritiert, als sie das Mädchen ansah. Ylvas Ohren zuckten nervös, während sie nach wie vor in eine bestimmte Richtung starrte. „Ich glaube, Ayumu und Hyperion sind zusammen unterwegs zurück zur Burg!“ Der grauende Morgen tauchte den Wald in ein düsteres Licht, das exakt zu seiner Stimmung passte. Dennoch vermied er es, den Kopf in den Nacken zu legen und die finsteren Blätterdächer zu betrachten, die aussahen, als würden sie nach Menschen zu greifen versuchen, um sie in die Dunkelheit zu ziehen. Stattdessen sah er auf seine Füße hinab, mit dem rechten zeichnete er Kreise in die Erde, die keinerlei Bedeutung besaßen und versuchte dabei, klare Gedanken zu fassen, während er sich gegen einen mächtigen Baumstamm lehnte. Leana lehnte ihn ab, zog diesen Zetsu ihm vor und das, obwohl er wirklich alles tat, um ihre Aufmerksamkeit und ihre Liebe für sich zu gewinnen. Der Blick in ihren Augen, das Schluchzen, als sie an Zetsu gedacht und ihm mitgeteilt hatte, dass sie nur diesen wollte, all das stach in seiner Brust und versuchte gleichzeitig, sein Herz auseinanderzureißen. Sie war der Grund, warum er lebte, warum er den Angriff auf sein Dorf überlebt hatte – und nun war ihm dieser entrissen worden. Leana wollte ihn nicht, er konnte nicht in seine Heimat zurück, es gab für ihn nichts mehr, so glaubte er. In dieser Situation gab es nur eine Sache, die er tun konnte und die ihn vielleicht doch noch an sein Ziel katapultieren würde. Eine Sache, an die sicherlich schon jemand anderes einmal gedacht hatte. Jemand, der in diesem Moment bei ihm war und sich verborgen hielt. „Du hast denselben Gedanken, nicht wahr?“, sprach er in die Stille hinein. Hyperion, der auf der anderen Seite des Stamms lehnte, fast so als müssten sie Rücken an Rücken stehen, um ein Bild zu vervollständigen, antwortete nicht auf diese Frage, aber Ayumu benötigte das auch nicht. Er wusste, was Hyperion sagen würde, wenn er sich entscheiden würde zu sprechen. „Deswegen bist du hier“, fuhr Ayumu fort. „Du willst mich noch nicht töten, aber du willst, dass ich losgehe, um Eos zu töten, in der Hoffnung, dass du dann mit mir eine wesentlich leichtere Zeit haben würdest.“ Obwohl ihm erneut nur Stille antwortete, hörte er klar und deutlich, dass er im Recht war, was ihm ein amüsiertes Lachen entlockte. „Aber du irrst dich, Hyperion. Ich bin kein leichter Gegner und sobald ich Eos getötet habe, wirst du derjenige sein, der meiner Klinge zum Opfer fallen wird.“ Wieder Stille, aber er glaubte, Hyperion lautlos lachen zu hören. Bevor er wusste, wie ihm geschah, hatte er sich bereits in Bewegung gesetzt, um von dem anderen fortzukommen und seinen Plan in die Tat umzusetzen. Wenn er Eos und dann Hyperion getötet hatte, würden die einzelnen Bruchstücke wieder zusammenkommen und dann würde er die Gewalt über Zetsus Körper an sich reißen und endlich das bekommen, was er sich erhoffte. Er würde mit Leana zusammensein und sie würden beide glücklich werden. Derart in seine Gedanken vertieft, bemerkte er erst bei Verlassen des Waldes, das Hyperion ihm folgte, offenbar erpicht darauf, zu beobachten, wie es weitergehen würde, um dann selbst im passenden Augenblick zuzuschlagen. Aber im Moment störte sich Ayumu nicht weiter daran, seine Konzentration galt ganz anderen Dingen und zwar ungeteilt. Sollte der andere ihm nur folgen, er würde schon sehen, was er davon hatte und auf diesen Moment freute er sich bereits. „Er ist nicht mehr im Wald“, bestätigte Fuu. Woher er das nun wieder wusste, war Leana wie gewohnt ein Rätsel, aber diesmal war es nicht die Lust, die ihr fehlte, darüber nachzudenken, sondern die Zeit. Wenn Ayumu sich wirklich gemeinsam mit Hyperion auf dem Weg zur Burg befand, war er in Gefahr. Auch wenn sie seinen genauen Plan nicht kannte, so war sie doch in der Lage, sich vorzustellen, was er vorhatte – und es war etwas, das ihr nicht im Mindesten gefallen wollte. „Woher weißt du, dass er auf dem Weg zur Burg ist?“, fragte Tokimi mit gerunzelter Stirn. Offenbar ließen ihre Visionen nach und das missfiel ihr. Jedenfalls konnte Leana sich an keine einzig verlässliche Vorhersage der Eternal erinnern, seit sie dieser begegnet war. Hatte sie seitdem überhaupt irgendetwas vorhergesehen? Ylva deutete in die Richtung, in der die Burg lag. „Ayumus Geruch geht in diese Richtung und der von Hyperion auch. Sie riechen fast gleich, deswegen ist es nicht so leicht, aber ich bin ganz sicher.“ Tokimi legte die Hände vor der Brust aneinander, als bräuchte sie das, um zu überlegen. „Wenn Ayumu und Hyperion zu Eos gehen, kann das nur einen Grund haben. Wie sollen wir vorgehen?“ „Na wie wohl?“, platzte es aus Leana heraus. „Wir müssen sie aufhalten!“ „Bist du dir sicher?“, fragte Tokimi ernst. „Dein Problem könnte sich schnell erledigen, wenn du die drei einfach gegeneinander kämpfen lässt.“ Am Liebsten hätte Leana einen frustrierten Schrei ausgestoßen, um der Eternal zu zeigen, was sie von dieser Art Vorschlag hielt und dass sie es nicht schätzte, dass sie mit so etwas Zeit verschwendeten. Aber sie beließ es bei einem glühenden Blick, der Tokimi wortlos zu überzeugen schien, denn plötzlich nickte sie. „In Ordnung. Wir werden ebenfalls zur Burg zurückgehen.“ Ihre Stimme wirkte, als ob sie nicht sonderlich erpicht darauf wäre – und da kam Leana plötzlich der Gedanke, dass Tokimi doch etwas gesehen hatte und zwar, dass sie auf jeden Fall zu spät kommen oder etwas Schlimmes geschehen würde. Doch sie konnte sich nicht darauf ausruhen, sie musste und wollte selbst eingreifen, in einem Versuch, das Schicksal zu ändern. Immerhin hatte Tokimi ihr bereits gesagt, dass keine Vorhersage hundertprozentig der Wahrheit entspräche. „Dann gehen wir“, sagte Tokimi und setzte sich bereits in Bewegung, worauf Fuu sich ihr rasch anschloss. Ylva warf noch einen Blick auf Leana, dann folgte sie den beiden ebenfalls. Die Zurückgebliebene dagegen atmete noch einmal tief durch, als sie in den langsam blau werdenden Himmel hinaufsah. Er war nicht grau, so wie an jenem Tag, an dem sie Zetsu verloren hatte. Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Vielleicht wollte sie auch nur an ein solches glauben. Aber das war immerhin besser als gar nichts. Wenn sie fest genug daran glaubte, würde alles gut werden, zumindest wenn sie Fuus Worten Glauben schenken wollte. Mit diesen Gedanken im Sinn, fuhr sie herum und schloss sich den anderen eilig wieder an, um zur Burg zu gelangen und Ayumu vor sich selbst zu retten. Ein Unterfangen, für das sie hoffentlich noch rechtzeitig kommen würde. Kapitel 34: Ayumus Fehler ------------------------- Obwohl schon mehrere Stunden seit ihrer Flucht vergangen waren, befand sich die Burg immer noch in heller Aufregung. Er saß auf dem Dach des Wachturms, damit er von niemandem gesehen werden würde – es sei denn, jemand würde dem Impuls folgen, aus dem Fenster zu blicken und den Kopf in den Nacken zu legen – und beobachtete, was vor sich ging. Auf dem Hof liefen immer wieder Wachen umher, kamen und gingen oder verließen einfach für kurze Zeit sein Sichtfeld, möglicherweise um sicherzugehen, dass nicht wieder eine ganze Einheit einschlief und es von niemandem rechtzeitig bemerkt wurde. Im Wachturm, nicht weit unter ihm, standen mehrere Männer und unterhielten sich leise miteinander. Er konnte vereinzelte Wörter verstehen, die ihm selbst ohne jeden Zusammenhang verrieten, dass Eos fürchterlich zornig darüber war, dass Leana hatte fliehen können. Lakaien konnte er nirgends entdecken, aber er nahm dennoch an, dass sie irgendwo im Inneren der Burg noch da waren und darauf warteten, dass jemand dumm genug war, sich ihnen zu nähern. Sie lauerten, im Dunkeln, auf Mana, das leicht zu verdienen war, das konnte er spüren... oder er glaubte das zumindest. Er war sich nicht ganz sicher, ob er sich nicht doch nur einbildete, weil er es spüren wollte. Viel wahrscheinlicher war es doch, dass es keine Lakaien mehr in dieser Burg gab, weil Leana den Kern dessen, was sie erschuf, zerstört hatte. Herausfinden wollte er es allerdings auch nicht. Er konnte Hyperions Blick auf sich spüren, auch wenn er den anderen nicht sehen konnte. Aber allein das verriet ihm, dass er nicht ewig Zeit hatte. Nur weil Hyperion ihm in diesem Moment freie Hand ließ, bedeutete das nicht, dass er es sich nicht vielleicht doch noch anders überlegen würde. Nachdem er den Hof inspiziert hatte, wanderte sein Blick über das Dach und die darin eingebauten Fenster. Die meisten waren verschlossen, mit einem stabilen Riegel, wie er vermutete, aber einige von ihnen standen tatsächlich offen, als würden sie eine stumme Einladung aussprechen. Als gaukelten sie ihm vor, dass er willkommen wäre und nicht in der Dunkelheit Lakaien nur darauf warteten, jedem ungebetenen Eindringling die Kehle durchzuschneiden. Er schüttelte mit dem Kopf, um den Gedanken wieder loszuwerden und überlegte dann, welches Fenster ihn am ehesten zu Eos führen würde, ohne einen Lakaien. Natürlich gab ihm nichts an der Architektur Aufschluss darüber – und selbst wenn, hätte er dahinter nur eine Falle vermutet – aber dennoch blieb sein Blick wie selbstverständlich bei einem bestimmten Fenster hängen. Es sah aus wie jedes andere, aber er fühlte ein unbändiges Ziehen, das ihn genau dorthin führen wollte. Es bestand kein Zweifel, dass Eos in diesem Zimmer war. Und wenn er das spürte, wusste sie vielleicht auch bereits, dass er hier war, mit der Absicht sie zu töten. Damit sie ihm nicht zuvorkommen oder sich wirklich darauf vorbereiten könnte, erhob er sich und begab sich lautlos und für die Wachen nicht sichtbar, zu dem Fenster, um in den Raum dahinter zu treten. Doch zu seiner Enttäuschung fand er Eos nicht vor. Die einzige anwesende Person saß auf dem Boden, an dem niedrigen Tisch, den Kopf gesenkt, als würde er schlafen. Es war ihr Diener, dessen Namen er nicht kannte. Aber dennoch war es als würden Bruchstücke von Gedanken und Erinnerungen anderer Personen – möglicherweise die von Eos – in seinen Kopf eindringen und ihm den Namen verraten: „Yori.“ Es war nicht viel mehr als ein Flüstern, aber es genügte, um den Mann dazu zu bringen, den Kopf zu heben und Ayumu mit fragend geneigtem Kopf anzublicken, möglicherweise hatte er doch nicht geschlafen. „Wie kommst du hier herein?“ Er klang wirklich müde, aber Ayumu konnte darauf keine Rücksicht nehmen, wenn er seinen eigenen Plan verfolgen wollte. Er deutete auf das Fenster, worauf Yori einen verstehenden Laut von sich gab – und vielleicht, hinter seiner ausdruckslosen Miene, bereute, es nicht geschlossen zu haben. „Und was möchtest du jetzt hier? Eos-dono ist nicht hier, wie du siehst.“ Offenbar nahm er automatisch an, dass Ayumu zu ihr wollte und auch, wenn es stimmte, ärgerte es den Ninja, dass es nun jemanden gab, der seine Absicht kannte. „Warum bist du hier, wenn sie es nicht ist?“, fragte er. Die Unterhaltung kam ihm ein wenig unwirklich vor, aber er nahm an, dass der andere noch zu müde war, um zu realisieren, dass er gerade unvernünftig handelte. „Ich bin ihre rechte Hand“, antwortete Yori arglos, mit unbewegtem Gesicht. „Ich warte darauf, dass sie fertig wird, mit was auch immer sie gerade beschäftigt ist.“ Ayumu stutzte einen kurzen Moment, als er das hörte. Dieser Mann war die rechte Hand der Person, die er finden wollte, das bedeutete, sie vertraute ihm und er lag ihr möglicherweise sogar irgendwie am Herzen. Warum sollte er sich das nicht zunutze machen? „Ich verstehe“, sagte er lächelnd, kaum dass er seinen Plan gefasst hatte. „Dann werde ich einfach mit dir einen Termin ausmachen, um zu Eos zu kommen.“ Leana war erschöpft. Ihr Atem ging schwer, als sie endlich an der Burg ankamen. Ohne Shinken, Schlaf oder Nahrung, war es ungemein anstrengend, derart viel zu laufen. Ylva und Fuu ging es auch nicht sonderlich besser, wobei beide noch den Vorteil besaßen, zumindest ein wenig geschlafen zu haben. Tokimi dagegen schien nicht einmal im Mindesten von der Anstrengung berührt zu sein. „Es sind ziemlich viele Wachen da“, sagte das Orakel. „Austricksen können wir sie diesmal vermutlich eher nicht.“ „Das war auch letztes Mal eigentlich mehr Glück als Verstand“, erwiderte Fuu mit einem leicht tadelnden Unterton in der Stimme. „Wachen im Dienst sollten sich nicht so leicht von Zaubertricks ablenken lassen.“ Ein Lächeln huschte über Tokimis Gesicht, ehe sie sich wieder der aktuellen Situation zuwandte. „Aber sie wirken nicht in Panik, eher in Bereitschaft. Ayumu ist entweder noch nicht hier oder er hat sich nur noch nicht gezeigt.“ Leana tippte eher auf Letzteres. Da er ein Ninja war, vermutete sie, dass er lieber unentdeckt bleiben wollte, um sich unnötigen Ärger zu ersparen, bis er seine Aufgabe hinter sich gebracht hatte. „Was tun wir jetzt?“, fragte Fuu. Tokimi überlegte bereits, aber Leana wartete nicht weiter darauf, dass ihr etwas einfallen würde, sondern setzte sich bereits in Bewegung, um den Hof zu betreten. Die anderen sahen ihr erschrocken hinterher und schlossen dann rasch zu ihr auf, um sie nicht zu verlieren. Kaum hatte sie einen Fuß auf das Grundstück der Burg gesetzt, hielten alle Wachen augenblicklich inne und wandten sich ihr wortlos zu. In ihren Gesichtern konnte sie lesen, dass einige sich fragten, was sie hier wollte, während andere sie durchaus als Eos' Gast wiedererkannten, der geflohen war. Innerhalb kurzer Zeit brach ein wütendes Murmeln los, in dessen Verlauf den Unwissenden erklärt wurde, wer sie war und sich dann gefragt wurde, warum sie nun wieder vor ihnen stand, nachdem sie erst vor kurzem die Flucht geschafft hatte. Leana blieb vollkommen ruhig, sie wusste genau, dass niemand ihr etwas tun würde, besonders nicht nachdem bekannt geworden war, dass sie von Eos geschätzt wurde. Keiner ihrer Untergebenen würde es wagen, ihren Unmut auf sich zu lenken. Sie hatte nicht überlegt, was sie tun sollte, wenn sie erst einmal im Burghof stand, sondern war einfach ihrer Intuition und dem Wissen gefolgt, dass ihr nichts geschehen würde. Also wollte sie einfach weiter so vorgehen und ihrem nächsten Impuls folgen. Sie öffnete den Mund, um nach Eos zu verlangen, da Ayumu dann sicher auch auftauchen würde, aber eine andere, wesentlich lautere Stimme, kam ihr zuvor: „Eos!“ Leana fuhr sofort zusammen, als sie das hörte. Es war eindeutig Ayumu, der da gerade nach der Präfektin gerufen hatte. Alle Anwesenden sahen sich nach der Quelle dieser Stimme um und plötzlich öffnete sich eine Schneise zwischen den Wächtern. Leana konnte Ayumu in einiger Entfernung von sich sehen, gemeinsam mit Yori, dessen Arme er gewaltsam hinter den Rücken hielt. Sein Gefangener sah nicht unbedingt gesund aus, er wirkte mitgenommen und auch verletzt, so dass Leana ihn am Liebsten gebeten hätte, den Mann wieder freizulassen – aber Ayumu achtete nicht auf sie. Sein Blick galt einzig und allein einer Person, die Leana erst sehen konnte, als sie einige Schritte auf ihn zuging. Eos stand weiter rechts auf dem Hof, offenbar war sie gerade erst aus der Burg herausgetreten, in Begleitung mit Kobayashi. Sein Gesicht war verkniffen, offenbar war er wütend darüber, die Nacht über nicht wirklich geschlafen zu haben. Eos schien davon nicht im Mindesten berührt. Sie reckte das Kinn, als würde sie auf Ayumu herabblicken wollen. „Was willst du hier?“ „Ich bin gekommen, um dir das Leben zu nehmen“, erwiderte er kühl, worauf Ylva ein erschrockener Laut entfuhr, den er auch nicht beachtete oder vielleicht nicht einmal bemerkte, da sie zu weit entfernt stand. Leana wollte eigentlich vortreten, um ihn davon abzuhalten, ihm zu sagen, dass er solch einen Unsinn nicht einmal denken sollte. Aber dennoch bewegte sie sich nicht. Tief in ihrem Inneren gab es etwas, das sie davon abhielt, weil sie fürchtete, sich in etwas einzumischen, das sie nichts anging und das Zetsu quasi mit sich selbst ausmachen musste. Eos hob nicht einmal eine Augenbraue. „Ach? Und dafür musst du meine Angestellten bedrohen?“ „Wenn du dich versteckst, muss ich dich eben irgendwie hervorlocken.“ „Du wirst diesen Ort nicht mehr lebend verlassen, Ayumu“, erwiderte sie. „In dem Moment, in dem du deine Deckung fallenlässt, wirst du sterben. Ob nun durch meine Hand oder die eines meiner Wächter.“ Kaum hatte sie das gesagt, waren zahlreiche Schwerter gezogen und auf Ayumu gedeutet worden. Doch ihn schien das absolut nicht zu kümmern. Leana konnte nicht sagen, ob das sein Selbstbewusstsein war oder er ohnehin nie damit gerechnet hatte, zu überleben. „Ich werde vorher etwas anderes fallenlassen“, entgegnete er. Noch im selben Moment zog er ein Messer aus seinem Gürtel und stach es ohne jede Vorwarnung in Yoris Seite. Leana sog scharf die Luft ein, als sie das beobachtete und dabei Zetsu zu sehen glaubte, der grundlos jemandem Schmerzen zufügte. Yori gab keinen Ton von sich, aber er verzog deutlich sichtbar das Gesicht, seine Augen flackerten. Damit stieß Ayumu ihn von sich, worauf er zu Boden stürzte und sichtlich schmerzhaft landete. Eos' Mimik änderte sich, als sie das beobachtete. Diesmal hob sie tatsächlich die Augenbrauen, Wahnsinn flammte in ihrem gesunden Auge auf, getrieben von Rachsucht. „Du!“, stieß sie mit vor Wut zitternder Stimme hervor. „Dann wirst du jetzt gegen mich kämpfen, oder?“, fragte Ayumu, als wäre es vollkommen normal, Unschuldige zu verletzen, um andere zu provozieren. Das hatte nichts mehr mit Zetsu zu tun, jedenfalls nicht mit dem Zetsu, den Leana kannte, weswegen sie es nicht akzeptieren konnte und langsam den Kopf schüttelte, in einem erfolglosen Versuch, dieses Bild wieder zu verdrängen. Doch es blieb und brannte sich ihr unaufhörlich ein, fast schon so als wollte es, dass ihr eigentliches Bild von Zetsu sich änderte und zerstört wurde, egal wie oft sie sich zu sagen versuchte, dass es Ayumu und nicht ihr Ehemann war, der dort handelte. Aber all das half nicht. Auch nicht, als Eos einen wütenden Schrei ausstieß, ihr Schwert zog und schneller als jemand von ihnen es sehen konnte, auf Ayumu zustürmte und im nächsten Moment bereits ihre Klinge in seiner Brust versenkt hatte. Sämtliche Geräusche um Leana schienen zu verstummen, alles andere wurde augenblicklich unwichtig, sie hörte nur noch ihren eigenen Herzschlag, der aufgeregt in ihren Ohren hallte. Ayumu blickte überrascht hinunter, er sah aus, als hätte er noch nicht realisiert, was geschehen war, weil es sogar für ihn zu schnell passiert war. Eos bewegte keinen einzigen Muskel, sondern sah ihn nur an, mit einem Blick, der ihm sagen sollte, dass sie ihn nur seiner gerechten Strafe zugeführt hätte. Der Moment schien ewig anzuhalten, bis Eos ihre Waffe wieder herauszog. Ayumu, dessen Gesicht nun trauriges Verständnis ausdrückte, stürzte. Im selben Moment rannte Leana los, um ihn aufzufangen, bevor er auf den Boden aufschlagen konnte. Sie ging in die Knie, um ihn besser halten zu können. Er wandte den Kopf, um sie anzusehen und obwohl er sichtlich kurz vor dem Tod stand und sich bereits violette Manafunken von seinem Körper lösten, lächelte er. „Leana... du bist gekommen... nur wegen mir?“ Sie konnte seine Stimme deutlich hören, obwohl alle anderen Geräusche noch immer ausgeblendet waren. Dabei stellte sie auch fest, dass keiner der anderen reagierte, sie alle standen nur da und beobachteten sie und den Verletzten. „Natürlich bin ich das“, sagte sie und stellte dabei überrascht fest, dass sie trocken schluchzte. „Ich wollte das eigentlich verhindern.“ Und doch war es ihr nicht gelungen. Weswegen verlor sie nur alles, was ihr irgendwie wichtig war? Ihre Familie, Zetsu, Isolde und nun auch Ayumu, ohne dass sie etwas hatte tun können. Sie spürte, wie sich etwas in ihr aufbaute, etwas Dunkles und Zerstörerisches. Aber noch schwelte es unter der Oberfläche. Lediglich das Brennen, das sie in ihrem Orichalcum-Namen spüren konnte, wies sie immer wieder darauf hin und ließ es sie nicht vergessen. „Das freut mich wirklich“, sagte Ayumu. „Ich hatte gehofft, dass du kommen würdest.“ Er machte eine kurze Pause, um wieder zu Atem zu kommen. „Aber ich habe auch gehofft, dass ich besser aussehen würde...“ Einen kurzen Augenblick lang wollte sie ihm an den Kopf werfen, dass er einen Unschuldigen verletzt hatte mit seiner dummen Aktion, die am Ende zu nichts führte, aber der Anblick der immer schneller schwindenden Manafunken, mit denen sich sein Körper auflöste, ließ das nicht zu. Sie konnte nur den Kopf schütteln. „Es ist okay... wirklich... alles ist okay...“ Sie strich ihm durch das Haar, die glitzernden Funken fühlten sich warm und vertraut auf ihrer Haut an. „Du musst dir keine Vorwürfe machen.“ Es genügte immerhin, dass sie sich selbst Vorwürfe machte. Wenn sie schneller gewesen wäre, an jenem grauen Tag der Hinrichtung, wäre es nie zu dieser Sache gekommen. Auch Tokimi, Fuu und alle, die an Zetsus Spaltung schuld waren, standen dahinter zurück, wie sie fand. All das war ihr Verschulden – und möglicherweise verdiente sie daher den Schmerz und die Einsamkeit, die sie in diesem Moment empfand. „Es tut mir wirklich Leid“, flüsterte Ayumu kraftlos, ehe das Gewicht aus Leanas Armen verschwand, weil er sich vollständig aufgelöst hatte – und in ihrem Innerem zersprang etwas. Kapitel 35: Mana-Outbreak ------------------------- Ich erinnere mich immer noch an den roten Schleier... nein, das ist das falsche Wort. Es war mehr ein Rahmen, so tiefrot, dass er fast schon schwarz war und der immer mehr von meinem Blickfeld einnahm. Mit jedem Schritt, den ich tat, schwang ich mein Shinken. Auch wenn es an diesem Ort, den Hof, in dem Cinaed meinen Zetsu umgebracht hat, nicht möglich war, die Kraft von Shinken zu benutzen, so war 'Shoubi' doch noch als normales Schwert zu gebrauchen. Ich machte mir das zunutze, indem ich es schwang und dabei jeden tötete, der es wagte, mir zu nahe zu kommen. Ich hörte die Schreie, aber sie berührten mich nicht. Ich sah nicht die Gesichter jener, die ich niederwarf, mein Blick war voll und ganz auf Cinaed konzentriert, der mich irritiert und gleichzeitig neugierig musterte. Er wich keinen Schritt zurück, egal wie sehr ich mich ihm näherte. Als ich nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, warf er einen Blick zu Colin, der allerdings nur mit den Schultern zucken konnte. Dann wollte er sein Schwert ziehen, doch mit einem einzigen Satz hatte ich ihn bereits erreicht und zwang ihn damit, auszuweichen. Doch seine Bewegungen waren nicht schnell genug. Mein Arm schnellte vor, die Spitze 'Shoubis' glitt durch seinen Oberkörper hindurch, verletzte dabei allerdings keinerlei vitale Organe. Ich wollte ihn umbringen, aber die finstere Seite in mir, der Menschlichkeit vollkommen unbekannt war, wollte ihn unter allen Umständen dabei leiden sehen. Er sah mir direkt in die Augen, das Gesicht verzerrt von Schmerz und Unglauben. Dieser Blick fachte das Feuer in meinem Inneren noch einmal an. Ich drehte die Klinge in seinem Körper, sein Gesicht wandelte sich in eine groteske Grimasse des Schmerzes, die eine mir bis dahin gänzlich unbekannte Befriedigung in mir auslöste. Aus weiter Ferne konnte ich Colin hören, der seinen Soldaten Anweisungen gab, mich zu ergreifen und da kamen sie auch bereits schwer bewaffnet dahergelaufen. Ich riss das Schwert aus Cinaeds Körper und wandte mich damit ihnen zu. Die erste Reihe blieb derart abrupt stehen, dass jene, die ihnen folgten, beinahe in ihre Kameraden hineinliefen. Es war mir nicht möglich, zu sehen, was sie an oder um mich herum erblickten, aber die geschockten Ausdrücke auf ihren Gesichtern sagten mir bereits genug – und im nächsten Moment ergriffen sie bereits schreiend die Flucht. Sie ließen sogar ihre Waffen fallen, um nicht von diesen bei der Flucht behindert zu werden. Zufrieden, dass diese Störung nun passe war, wandte ich mich wieder Cinaed zu. Dieser war inzwischen zu Boden gestürzt, Blut floss aus seiner Verletzung und bildete eine rasch größer werdende Pfütze. In einem verzweifelten, wie aussichtslosen Versuch, die Blutung zu stoppen, presste er sich eine Hand auf die Brust, doch die kostbare rote Flüssigkeit quoll einfach zwischen seinen Fingern hindurch. Mein Blick wanderte weiter zu Colin, der in einiger Entfernung stand und seine Waffe auf mich richtete. Es war eine Fernkampfwaffe, so viel wusste ich, aber ich war noch nie mit ihr konfrontiert worden. Dennoch machte ich mir keine Gedanken, ich war überzeugt, dass mir nichts geschehen würde und selbst wenn... Sein Finger krümmte sich um den Abzug, ein Knall erklang. Ich sah das Geschoss wie in Zeitlupe auf mich zufliegen, weswegen ich nur einen Schritt zur Seite tun musste, damit es an mir vorbeiflog. Kaum berührten beide meiner Füße wieder den Boden, stieß ich mich von diesem ab, stürmte auf Colin zu – und durchbohrte sein Herz mit 'Shoubi'. Ein lauter, schriller Schrei, riss Leana aus ihrer Erinnerung. Durch die flammende und gleichzeitig eisige Umarmung des Hasses, der ihren Verstand zu vernebeln versuchte, schaffte sie es nicht sofort, zu verstehen, was geschehen war. Doch je mehr sie realisierte, desto mehr wünschte sie sich, es nicht gesehen zu haben. 'Shoubi' steckte tief in der Brust von Eos, die auf dem Boden saß, das zerbrochene Schwert neben sich. Nur undeutlich erinnerte Leana sich daran, dass sie die Klinge der Präfektin mit nur einem einzigen Hieb zerteilt und ihre Feindin dann zu Boden geworfen hatte. Um sich herum konnte sie, überall auf der Erde, zahlreiche Schwerter sehen, die von geflohenen Wächtern zurückgelassen worden waren. Nicht weit entfernt, aber außerhalb eines gewissen Radius, konnte sie Tokimi, Fuu, Ylva, Kobayashi und den verletzten Yori erkennen. Alle fünf starrten in ihre Richtung, sichtlich schockiert von dem, was da gerade vor ihren Augen vor sich ging. Leana sah wieder auf Eos hinab, deren Gesicht vor Schmerz verzerrt war, doch in ihrem Auge war Dankbarkeit zu erkennen. Etwas, was Leana in diesem Moment nicht verstehen konnte. „Was ist?“, fragte sie, dabei klang es so, als würde sie nur zuhören, wie jemand anderes sprach; sie erkannte ihre eigene Stimme nicht mehr. „Ich verstehe es jetzt...“ Die Eternal hob die Augenbrauen, um zu erfahren, was Eos meinte und diese holte auch sofort zu einer Erklärung aus: „Ich kann jetzt sehen, woher diese Erinnerungen kommen. Gyouten no Zetsu...“ Die Erwähnung dieses Namens versetzte Leana einen Stich ins Herz, eine weitere Flut von schmerzhafter Hitze ging von ihrem Orichalcum-Namen aus und wollte sie wieder in den betäubenden Mordwahn ziehen. Aber noch schaffte sie es, sich dagegen zu wehren. Es erforderte sie viel Kraft, aber sie wusste, sie durfte nicht einfach nachgeben oder sie würde etwas tun, das sie noch lange bereuen würde. „Ich werde wieder ein Teil von ihm“, sagte Eos, Blut lief dabei aus ihrem Mundwinkel und die ersten violetten Manafunken lösten sich von ihrem Körper. „Und dann werden wir uns wiedersehen, das weiß ich.“ Leana wollte sich an diese Hoffnung klammern, wollte wirklich glauben, dass sie Zetsu wiedersehen würde, sobald all das vorbei war – doch ihr Orichalcum-Name sandte weitere Wellen von Hass und Rachegedanken aus. Eos schloss ihr Auge und fiel nach hinten, das Schwert glitt dabei aus ihrem Oberkörper. Kein Blut floss aus ihren Wunden, dafür wurden es immer mehr Manafunken, die sich von ihrem Körper lösten, so dass dieser langsam desintegrierte. Mit jedem Lichtpunkt, der langsam verschwand und dabei von Leana beobachtet wurde, brannte ihr Orichalcum-Namen immer mehr. Etwas in ihrem Inneren wollte zerspringen, so wie zuvor, doch da es bereits zerbrochen war, gelang das nicht. Der Schmerz staute sich immer weiter auf, ohne eine Möglichkeit, irgendwohin abzufließen. Sie warf den Kopf in den Nacken und stieß ein Schreien, ein Heulen gar, aus, das nicht von dieser Welt und schon gar nicht menschlich schien. Ihr Orichalcum-Name und auch 'Shoubi' strahlten ein unheimliches, rotes Glühen aus, das sich mit jedem weiteren Manafunken von Eos verstärkte. Aus weiter Ferne hörte sie Tokimis Stimme, die ihr etwas zurief, das sie nicht verstehen konnte, nicht verstehen wollte! In ihrem Kopf schrie etwas, das viel lauter war, ein Wesen aus einer Zeit, die lange vor ihr geschehen war und dessen Stimme sie wieder in ihre Erinnerung zurückwarf. Nachdem Colin leblos zu Boden gestürzt war, wandte ich mich wieder Cinaed zu, der es aufgegeben hatte, die Blutung zu stillen und stattdessen versuchte, aus meiner Reichweite zu kriechen. Mit wenigen Schritten glich ich die entstandene Distanz zwischen uns wieder aus und rammte ihm 'Shoubi' in die Schulter. Er gab einen erstickten Schmerzenslaut von sich, hielt aber endlich inne. „Du hast dich eindeutig mit der falschen Person angelegt“, zischte ich und zog das Shinken wieder heraus – nur um es in seine andere Schulter zu rammen und einen erneuten Schrei zu ernten. Es klang in diesem Moment wie Musik in meinen Ohren, ich genoss diesen Moment, so schlimm ich es auch im Nachhinein immer noch finde. Ich hasse ihn heute noch – aber ich hätte ihn nicht derart behandeln dürfen, es machte mich nicht im Mindesten besser als ihn. „Solltest du wiedergeboren werden, merkst du dir das hoffentlich“, sagte ich weiter und riss 'Shoubi' erneut aus seinem Körper heraus. Als nächstes rammte ich ihm die Waffe in den Oberschenkel. Sein Schrei nahm an Volumen ab, es war deutlich, dass ihn die Kraft verließ, während sich gleichzeitig die Blutlache um ihn herum immer weiter vergrößerte. „Und sollten wir uns jemals wiederbegegnen, solltest du besser Demut vor mir zeigen.“ Ich wusste nicht, woher diese Worte kamen oder warum ich sie sagte, aber in diesem Moment entsprangen sie meiner festen Überzeugung. Ich riss das Shinken wieder heraus, die durchtrennte Arterie ließ die Lache wesentlich schneller anschwellen als die Verletzungen zuvor. Zuguterletzt verpasste ich ihm noch einen heftigen Tritt gegen das verletzte Bein, was ihm noch eine letzte Reaktion – ein Zusammenzucken – entlockte. Dann lag er still und atmete auch nicht mehr. Cinaed war tot. Colin ebenfalls. Von den beiden Personen, die sich für Zetsus Tod verantwortlich zeigten, war nun nichts anderes mehr übrig als Manafunken, die sich langsam auflösten und dann ebenfalls verschwunden sein würden. Dann würde nur ich zurückbleiben. Ich, mit meinem Hass, meiner Trauer und meiner ewigen Reue, weil ich nicht rechtzeitig eingegriffen hatte. Das alles war meine Schuld, nur meine und nicht einmal Zetsu könnte mir das ausreden, obwohl ich in diesem Moment überzeugt war, dass er das ohnehin nicht versuchen würde. Mit Sicherheit gäbe auch er mir die Schuld, wenn er könnte. Dieser Gedanke klammerte sich an mich, schlug regelrecht auf mich ein und zwang mich schließlich in die Knie, wo ich mich endlich meiner Trauer ergab und zu weinen begann. Auf dem Boden hockend, die Arme um die Beine geschlungen, wippte Leana immer wieder vor und zurück. Es entsprach nicht ihrem Naturell, niemals würde sie so gesehen werden wollen – aber hier, an diesem Ort, war sie allein. Niemand wäre jemals in der Lage, dort hinzukommen. Zumindest hatte sie das bis vor kurzem noch geglaubt. Doch nun stand hier, direkt vor ihr, eine Person, eine Gestalt, die sie nur undeutlich erkennen konnte, aber sie machte sich auch keine weiteren Bemühungen, sie zu mustern. Sie wollte nicht wissen, wer diese Person war, was sie hier tat oder wie sie an diesen Ort gelangt war. Sie wollte in Ruhe gelassen werden, um zu trauern und sich ganz ihrer Schuld zu ergeben. Es war nun nicht mehr nur Zetsu. Nanashi, ein Teil von ihm, war tot; Ayumu war ebenfalls gestorben, weil sie zu spät gekommen war; sie hatte Eos ermordet und vielleicht – da konnte sie sich nicht sonderlich sicher sein – war auch Hyperion ein Opfer ihres Zorns geworden, während sie sich im Mana-Outbreak befunden hatte. Und wer wusste schon, wie viele Männer in diesen Phasen von ihr getötet worden waren? Unschuldige, die nur Befehlen gefolgt waren, die lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren. All diese Gedanken schnitten tiefe Wunden in ihr Gewissen und ihr Herz und wollten sie nicht mehr loslassen. Sie wünschte sich, einfach an diesem Ort bleiben zu können, sie glaubte nicht, jemals wieder aufwachen zu können, so schwer fühlte sich alles an. „Nur keine Sorge.“ Die sanfte Stimme begleitete ein behutsames Streichen über ihr Haar. Es war die Person ihr gegenüber, die sie nicht kannte und sich dennoch hier befand. Ihre Stimme schien Leana bekannt, sie weckte Erinnerungen an 'Shoubi' in ihr, aber sie war zu kraftlos, um diesen Gedanken weiterzuverfolgen. „Du musst nie wieder aufwachen“, fuhr die Stimme melodisch fort, als wäre sie versucht zu singen. „Ab sofort werde ich deine Rolle ausfüllen – und ich werde sie um ein Wesentliches verbessern.“ Unter anderen Umständen hätte Leana sich dagegen gewehrt, gekämpft, um nicht die Herrschaft über ihren eigenen Körper zu verlieren. Aber sie fühlte sich ungewohnt schwach und hilflos, jegliche Perspektive schien aus ihrem Leben verschwunden und durch ein schwarzes Loch ersetzt worden zu sein. Sie ergab sich der freundlichen Stimme, die so sanft und mitfühlend schien und deswegen in diesem Moment etwas in ihr ansprach, das sich sonst nicht so einfach beeinflussen ließ. Leana atmete tief durch und deutete ein Nicken an, was für die andere Person genug war. Sie lachte amüsiert und begann in einem hellen, weißen Licht zu strahlen. „Endlich werde ich wieder frei sein. Nur keine Sorge, ich werde dich würdig vertreten – ich, Shoubi no Philia, die rechtmäßige Besitzerin dieses Shinken!“ Kapitel 36: Massaker -------------------- „Was geht da vor sich?“ Kobayashis Stimme durchschnitt die eingetretene angespannte Stille. Alle Anwesenden waren damit beschäftigt gewesen, Leana anzustarren, die sich seit ihrem Schrei nicht mehr bewegt hatte. Sie stand da, mit gesenktem Kopf, umgeben von rot glühenden Manafunken, deren Intensität sogar jene des normalen roten Mana bei weitem überstieg. Fuu wandte sich ratsuchend an Tokimi, die das alles mit verkniffenem Gesicht beobachtete. Sie ahnte nur entfernt, was gerade geschah, wollte es aber nicht aussprechen. Ihr Blick wanderte über den Hof, aber außer ihnen befand sich bereits niemand mehr hier, also wandte sie sich wieder dem Magier zu. „Fuu-sama, bringt bitte die anderen in Sicherheit. Es ist hier nicht mehr sicher.“ Sie hoffte, dass er nicht zu widersprechen und erwidern versuchte, dass er sie nicht allein lassen konnte, aber ihm blieb auch absolut keine Gelegenheit dazu. Ein helles Lachen erklang und ließ alle erst einmal verwirrt innehalten und sich umsehen. Es war Tokimi, die zuerst bemerkte, dass das Lachen von Leana kam. Es klang auch entfernt nach ihrem, jedenfalls nach ihrer Stimme, aber es war voller Bitterkeit, Hass und Spott, das nicht nur Tokimi einen Schauer über den Rücken jagte. „Es ist ohnehin schon zu spät“, sagte Leana lachend. Sie richtete ihren Blick auf die kleine Gruppe. In ihren braunen Augen war kein Leben mehr zu sehen, aber unter der Oberfläche schimmerte eine grauenvolle Dunkelheit. 'Shoubi' leuchtete rot, das Licht pulsierte als würde es einen Herzschlag imitieren. Tokimi sog scharf die Luft ein und stellte sich schützend vor die Gruppe. Sie zog ihren Fächer hervor und hob diesen vor ihr Gesicht, kampfbereit, sofern es gebraucht wurde. „Du wirst es nicht schaffen, mich aufzuhalten, Orakel der Zeit.“ Leanas Lippen kräuselten sich zu einem freudlosen Lächeln. Sie bewegte sich kein Stück fort von dem Ort, an dem sie stand, holte dafür mit dem Shinken aus und ließ es knallen, als trüge sie eine Peitsche mit sich. Tatsächlich war es, als würde die Klinge sich teilen, in zahlreiche, miteinander verbundene Glieder zerbrechen und auf die Gruppe zustürmen, etwas, was keiner von ihnen bei 'Shoubi' vermutet hatte. Ehe Tokimi überhaupt verstand, was geschah, hatte sich die Spitze bereits in Kobayashis Brust gebohrt, war durch seine Rüstung gegangen, wie ein warmes Messer durch weiche Butter. Mit einem Lachen zog Leana sie wieder heraus, Kobayashi fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden und regte sich nicht mehr. Tokimi schnaubte wütend. Aus einem ihr unerfindlichen Grund war es ihr nicht möglich gewesen, diesen Angriff vorherzusehen und Leana hatte das genau gewusst und diese Tatsache ausgenutzt – oder es war nur ein glücklicher Zufall gewesen. Also beschloss Tokimi, sich nicht mehr darauf zu verlassen. Als ein erneuter Angriff auf die Gruppe zuschoss, zog sie ein eigenes Shinken hervor, ein bronzefarbenes Schwert, um die Klingenglieder abzuwehren. Jedes Mal, wenn ihre Waffen aufeinandertrafen, ließ Leana ein weiteres, kurzes Auflachen hören, als würde sie das alles eher amüsieren, als einen vernünftigen Gegner in dem Orakel der Zeit zu sehen. Tokimi war derweil zuversichtlich, es schaffen zu können – doch plötzlich änderte die Klingenpeitsche ihren Kurs, auf den sich die Eternal vorbereitet hatte und traf sie schmerzhaft in die Seite. Blut spritzte aus der Wunde, verbunden mit farblosen Manafunken, die sich von der Flüssigkeit trennten und dann nach oben stiegen, statt zu Boden zu fallen. Die Eternal stieß ein schmerzerfülltes Stöhnen aus. „I-ich halte dir zugute, dass du mich treffen konntest...“ „Sieh endlich ein, dass es vorbei ist“, erwiderte Leana mit spöttischem Lachen. Ihre gute Laune war durchsetzt von Dunkelheit und Hass. Die Peitsche wirbelte, als hätte sie ein eigenes Bewusstsein entwickelt und bräuchte ihre Besitzerin nur, um nicht wie eine Schlange auf dem Boden herumzukriechen. Tokimi hielt sich die Seite, aus der noch immer ihr Lebenssaft floss, egal wie stark sie drückte, um die Blutung zu stoppen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so sehr verletzt worden zu sein, aber sie dachte mit Grauen daran zurück, dass Kira einst ähnlich schwer verletzt worden war – es war ein Glück, dass sie diesmal nicht dabei war, obwohl sie ursprünglich daran interessiert gewesen war, sie zu begleiten. Leana sah sie offenbar nicht weiter als irgendeine Konkurrenz und konzentrierte sich auf Fuu, der am nächsten als Feind in Frage kam. Er hatte sich nun selbst schützend vor Ylva und den verletzten Yori gestellt und eine Formel gesprochen, die ein grün-blau leuchtendes Schild erstellte, das sie alle vollkommen umgab. Doch diese Maßnahme beeindruckte Leana nicht sonderlich, sie schleuderte erneut die Peitsche. Die Klingenglieder durchschnitten mühelos das Schild und schleuderten Fuu in eines der Gebäude hinein. Er verschwand aus Tokimis Sicht, aber die Peitsche folgte ihm – und als sie wieder zu sehen war, tropfte etwas herab, sie war nass von Blut. Ein eisiger Schreck fuhr durch die Glieder des Orakels. Sie musste nicht einmal sehen, was geschehen war, um zu wissen, dass Fuu nicht mehr am Leben war. Ylva gab einen erschrockenen Schrei von sich, als Leana die Peitsche auf sie lenkte. Tokimi reagierte sofort und ging dazwischen, auch wenn dadurch die ihr zugefügte Wunde dadurch nur noch heftiger zu bluten begann. Wieder prallten ihr Shinken und die Kettenglieder aneinander. Während Tokimi durch die Verletzung noch wesentlich mehr Schwierigkeiten hatte, zu kämpfen, brach Leana nicht einmal in Schweiß aus, immerhin bewegte sie sich auch kein bisschen und das Verwenden des Shinken schien ihr ebenfalls nicht zuzusetzen. Scharfe Schmerzen fuhren durch Tokimis Körper und zwangen sie in die Knie uns da sie erst einmal nichts mehr tun konnte, lag Ylva im nächsten Moment bereits auf dem Boden und, eingehüllt von Staub, stach das Schwert immer wieder auf sie ein, bis nicht einmal mehr das leiseste Geräusch von ihr erklang. Yori beobachtete das mit leblosen Augen, als wäre er bereits darauf vorbereitet, ebenfalls sterben zu müssen. Aber zu seinem sichtlichen Erstaunen geschah das nicht. Die Klingenglieder deuteten nur für einen kurzen Moment auf ihn, dann wandten sie sich wieder Tokimi zu, die sich mit zusammengebissenen Zähnen aufrichtete. „Willst du nicht endlich aufgeben?“, fragte Leana kalt lächelnd. „Dann wird dein Tod auch nicht ganz so schmerzhaft.“ „Warum tust du das?“, fragte Tokimi, die keinerlei Informationen in der Zukunft dazu abrufen konnte und sich zum ersten Mal seit Langem verloren fühlte. Leanas finsteres Lächeln erlosch nicht. „Ich hasse alle Eternal und deswegen vernichte ich sie. Ganz einfach. Oh und deine drei Begleiter? Die waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.“ Sie stieß ein abgehacktes Lachen aus, dann bewegten sich die Klingenglieder erneut und schossen auf Tokimi zu. Der Blutverlust und der Schmerz machte es ihr unmöglich, auszuweichen. Die Kette traf sie in die Brust, hinterließ aber keine Wunde, die tief genug war, um sie zu töten. Der Blutverlust zwang sie endgültig zu Boden, ein dunkler Schleier legte sich über ihre Augen. Doch bevor sich dieser vollkommen senkte, konnte sie beobachten, wie 'Shoubi' wieder zu einem gewöhnlichen Schwert wurde und Leana dann zu Yori hinüberlief. Sie hatte nicht viel mit diesem Mann zu tun, kannte ihn nicht einmal, aber auch er hatte es nicht verdient, einen solchen Tod zu sterben. Sie wollte sich wieder aufrichten, ihre letzte Kraft nutzen, um ihm doch noch zu helfen, aber ihr Körper wollte sich nicht mehr bewegen, kein bisschen. Leana kniete sich vor Yori und strich ihm fast schon zärtlich über die Wange. „Awww, du hast ein schlimmes Schicksal, mein Lieber. Aber du hast so einen loyalen Geist. Ich weiß, dass es sich lohnen wird, dich zu behalten. Du darfst mich auch Philia nennen.“ Auf einen Schlag war Yoris Verletzung wieder geheilt, Leana warf Tokimi dabei einen abfällig schmunzelnden Blick zu, als ob sie ihr wortlos ihre Fähigkeit, auch sie retten zu können, ins Gesicht reiben wollte. Die Lider der Eternal wurden langsam schwerer, sie schloss die Augen... Und riss sie im selben Moment erschrocken wieder auf. Ihr Herz schlug doppelt so schnell wie es eigentlich sollte, so kam es ihr zumindest vor. Sie spürte Fuus fragenden Blick auf sich. „Was ist geschehen, Tokimi-san?“ Seine Frage brachte auch Ylva, Kobayashi und Yori dazu, sie anzusehen. Hastig schüttelte sie mit dem Kopf. „Gar nichts. Es ist nichts.“ Ihre Vision würde die anderen lediglich beunruhigen, etwas, was sie nicht wollte. Sie würde einfach genauso handeln wie immer und dem Feind zuvorkommen. Diesmal gab es keinen Vorteil für Leana. Sie zog ihren Fächer hervor, noch bevor die anderen überhaupt begriffen hatten, dass Leana nun zu ihrer Feindin geworden war, zu einer Eternal-Hasserin mit der Macht einer solchen. „Bleibt immer hinter mir“, riet Tokimi den anderen, als Leana zu lachen begann. Sie richtete ihren Blick auf die kleine Gruppe. In ihren braunen Augen war kein Leben mehr zu sehen, aber unter der Oberfläche schimmerte eine grauenvolle Dunkelheit. 'Shoubi' leuchtete rot, das Licht pulsierte als würde es einen Herzschlag imitieren. Es war genau so, wie Tokimi es in ihrer Vision gesehen hatte, aber dieses Mal war sie vorbereitet. „Du wirst es nicht schaffen, mich aufzuhalten, Orakel der Zeit.“ Leanas Lippen kräuselten sich zu einem freudlosen Lächeln. „Da wäre ich mir nicht so sicher“, erwiderte Tokimi ruhig. „Ich kenne jede deiner Bewegungen, du kannst mich mit nichts überraschen, Shoubi no Philia.“ Kapitel 37: Unerwarteter Beistand --------------------------------- Philia, die noch immer in Gestalt Leanas war, legte eine Hand an ihre Wange und lachte amüsiert. „So, du kennst nun also meinen richtigen Namen, Orakel. Aber weiterhelfen wird dir das auch nicht.“ „Ich weiß genau, wann und wie du zuschlagen wirst“, erwiderte Tokimi gefasst. „Du kannst mich nicht überraschen.“ „Oh, daran zweifele ich nicht.“ Philia versuchte nicht einmal einen Angriff, aber sie schwankte auch nicht in ihrer Selbstsicherheit. „Aber ich zweifle daran, dass du das für immer und ewig durchhalten kannst.“ Über diese billige Provokation konnte Tokimi nicht einmal eine Augenbraue heben. „Genausowenig wie du. Noch dazu bist du vor kurzem erst erwacht und dürftest diesen Körper noch nicht wirklich beherrschen. Ich zweifle nicht daran, dass ich länger kämpfen könnte als du.“ Philias Lächeln wandelte sich nicht, aber ihre Hand ballte sich zur Faust, sie knackte leise, voll Zorn. „Dann sollten wir uns vielleicht nicht mit diesen Kinkerlitzchen aufhalten und lieber zur Sache kommen, meinst du nicht auch?“ Sie holte mit 'Shoubi' aus und ließ es knallen. Die Klinge teilte sich in zahlreiche, miteinander verbundene Glieder und stürmte dann wie eine Schlange auf die Gruppe zu – oder besser gesagt, direkt auf Kobayashi. Tokimi reagierte sofort. Sie ließ das bronzefarbene Schwert 'Tokihate' aus ihrem Ärmel gleiten und wehrte 'Shoubi' mit einem einfachen Schwung ihrer eigenen Klinge ab. Der General war nicht im Mindesten verletzt worden. Philia stieß ein wütendes Schnauben aus und änderte den Kurs der Peitsche. Auch wenn die Aktion früher als in ihrer Vision kam, gelang es Tokimi, genau vorherzusagen, an welcher Stelle sie getroffen werden sollte und wehrte auch diesen Angriff ab. Ihre Gegnerin schien sich allerdings wieder zu fassen und ließ dann in erstaunlich rascher Abfolge Angriffe über Tokimi hereinbrechen. Sie wehrte diese ab, vertraute dabei wieder mehr auf ihr Gefühl als auf die Vision und achtete besonders darauf, dass sie nicht an der Seite getroffen werden würde. Diesmal wollte sie nicht so einfach sterben. Doch dann geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hatte. Nur nebenbei bekam sie mit, dass Fuu offenbar die Anweisung gab, sich zurückzuziehen und die Gruppe hinter ihr deswegen ihre bisherige Position verließ – was in Philias Augen sofort zu einer Gelegenheit wurde. Wieder ließ sie den Kurs der Peitsche ändern, steuerte auf die kleine Gruppe zu, in einem Winkel, den Tokimi unmöglich würde kontern können. Aber das musste sie auch nicht, denn ein helles Blitzen später, war die Kette bereits zurückgeschleudert worden und fiel erst einmal kraftlos zu Boden. Gleichermaßen verwirrt blickten alle Anwesenden an die Stelle, an der das Blitzen stattgefunden hatte und fanden dort einen blauhaarigen Jungen vor. Er hielt einen Stab in der Hand und sah grimmig in Philias Richtung, als wäre es ihm vollkommen gleichgültig, dass er gerade eine Heldentat begangen hatte. „Wie kommt dieser Junge hierher?“, fragte Kobayashi brummend. „Das ist kein gewöhnlicher Junge“, gab Tokimi zu bedenken. Sie konnte die Energie spüren, die von ihm ausging und der nichts Menschliches anhaftete. Er war ein Shugo Shinjuu – und noch dazu eines, das sie nicht kannte. Ihr Griff um 'Tokihate' festigte sich, sie war bereit, gegen noch einen Feind zu kämpfen, wenn es sein musste, da sie nicht darauf vertraute, dass er ihnen wirklich aus Eigennutz das Leben gerettet hatte. „Du solltest dich hier nicht einmischen!“, fauchte Philia und richtete ihre freie Hand auf ihn. Ein Dutzend Stacheln erschienen in der Luft und rasten – auf eine einfache Bewegung von ihr – direkt auf den Jungen zu. Dieser dachte offenbar nicht daran, auszuweichen, sondern blieb einfach stehen und wirbelte den Stab als würde er nichts wiegen. Die Stacheln lösten sich mit einem leisen Zischen auf, wann immer sie von seiner Waffe getroffen wurden und mit jedem einzelnen wurde Philia noch ein wenig wütender und damit erschien eine rot glühende Aura um sie herum. Der Junge wandte den Kopf. „Worauf wartet ihr?! Verschwindet endlich!“ Tatsächlich erwachte die Gruppe aus der Starre, gleichzeitig feuerte Philia weitere Stacheln ab, die diesmal aber nicht einfach nur verschwanden, sondern regelrecht explodierten, bevor sie sich auflösten. Er gab leise, schmerzerfüllte Laute von sich, blieb aber standhaft. Während Tokimi von diesem Heldenmut beeindruckt war, fachte es Philias Zorn nur weiter an. Neben den – nun wesentlich zahlreicheren Stacheln – benutzte sie auch erneut 'Shoubi' als Peitsche, um ihn anzugreifen. Ihre anderen Feinde schienen bereits vergessen. Tokimi wollte bereits lossprinten, um zumindest die Kette abzuwehren, doch da stand plötzlich Hyperion vor dem Jungen und im selben Moment erstarb die Klinge und sank kraftlos zu Boden, als könnte sie es nicht über sich bringen, diesen Mann anzugreifen. Doch es war nicht der Ninja, der Tokimi erstaunt wieder innehalten ließ, sondern das Schwert, das er in seiner Hand trug. Es glühte, umhüllt von violetten Manafunken, die ihr verrieten, das 'Gyouten' wieder erwacht und einsatzbereit war. Das Shinken war komplett und damit... Noch während sie darüber nachdachte, ging eine Veränderung an Hyperion vor sich. Manafunken in derselben Farbe wie die von 'Gyouten' lösten sich von seinem Körper, schienen dabei einzelne Partikel seines Selbst mit sich zu nehmen und enthüllten darunter eine gänzlich andere Person, die ihr allerdings nicht unbekannt war. Er sah aus, als wäre er keinen einzigen Tag fort gewesen. Das lange, silberne Haar war immer noch in seinem Nacken zusammengebunden, die eisblauen Augen blickten kalt, aber unter der Oberfläche schimmerte Wärme und Witz, selbst sein ernstes Gesicht konnte diesem Eindruck nicht abhelfen. Sogar seine graue Kleidung war wieder dieselbe, so wie es bei jedem Tenseitai der Fall war; sie nahmen immer die Kleidung jener Götter an, die sie zuvor gewesen waren, egal wie sehr sie ramponiert worden waren. „Gyouten no Zetsu“, entfuhr es Tokimi und Fuu gleichzeitig, als seine Verwandlung vollkommen abgeschlossen war. Der Genannte hob daraufhin leicht die Mundwinkel, nur um sie sofort wieder fallenzulassen und sich dem Shinjuu zuzuwenden. „Asake, bring die anderen hier weg.“ Der Junge nickte, warf dann aber einen vielsagenden Blick zum verletzten Yori hinüber, der sich selbst mit Kobayashis Hilfe kaum hatte rühren können. Zetsu folgte dem Blick und wollte gerade eine Entscheidung diesbezüglich mitteilen, als Tokimi ihm bereits zuvorkam: „Lasst ihn hier. Sie wird ihm nichts tun, das garantiere ich.“ Zetsu sah zu ihr hinüber, kühl, berechnend, als versuche er abzuschätzen, ob er ihr genug vertrauen könnte, um dieses Risiko einzugehen, dann deutete er ein Nicken an. „Begleite die anderen, Asake und pass auf sie auf. Wir lassen ihn hier.“ „Das kann nicht euer Ernst sein!“, begehrte Kobayashi wütend auf. „Ich lasse keinen Verwundeten zurück!“ Tokimi blickte unruhig zu Philia, die allerdings keinerlei Anstalten machte, irgendetwas zu tun. Dafür war sie viel zu sehr damit beschäftigt, 'Shoubi' dazu zu bringen, wieder zu funktionieren. Es war ein unsichtbarer Kampf zwischen Meister und widerwilligem Shinken, den nur die Zeit entscheiden könnte – und Tokimi war sich nicht sicher, wie viel sie davon noch haben würden. Doch glücklicherweise entschied Yori sich ebenfalls, etwas dazu zu sagen: „General Kobayashi... es ist wichtig, dass Ihr entkommt. Es ehrt mich, dass Ihr mir helfen wollt, aber ich wäre Euch nur eine Last.“ Er sprach diese Worte mit Bedacht und unter großer Anstrengung, wie der auf seiner Stirn stehende Schweiß verriet, aber sie halfen. Kobayashi gab seinen Widerstand mit einem schweren Seufzen auf. „Das hier ist noch nicht vorbei. Wenn ich zurückkomme, erwarte ich, dass du noch am Leben bist, Jungspund!“ Yori lächelte sacht, es wirkte gequält und gleichzeitig ehrlich. „Das werde ich, General.“ Erst nachdem er diese Versicherung erhalten hatte, fuhr Kobayashi herum und schloss sich der Gruppe wieder an, die eilig von Asake fortgeführt wurde. Philia versuchte nicht einmal, sie aufzuhalten. Tokimi stellte sich neben Zetsu, der darüber nur schmunzeln konnte. „Du hättest nicht bleiben müssen. Ich kriege das auch allein hin.“ „Nenn es einfach Neugierde“, erwiderte sie. „Ich will sehen, wie du das schaffen willst.“ Für sie selbst war es immerhin schon schwer gewesen und sie besaß wesentlich umfangreichere Fähigkeiten als er. Wie sollte er es dann schaffen? Philias Gesicht war vor Anstrengung inzwischen verzerrt, offenbar war 'Shoubi' wirklich hartnäckig, was seine Weigerung, gegen 'Gyouten' anzutreten anging. „Funktioniert es nicht, Leana?“, fragte Zetsu mit einem Hauch von Spott in der Stimme. Philias Blickt fixierte sich sofort auf ihn, sie knurrte wütend. „Wage es nicht, mich so zu nennen! Deine teure Leana hat keine Gewalt mehr über mich!“ Diese Antwort gefiel Zetsu scheinbar nicht, denn er runzelte missbilligend die Stirn. „Dann wird es Zeit, dass wir das ändern. Vor allem solange du das Shinken nicht benutzen kannst.“ Damit stürmte er bereits auf sie zu. Philia streckte ihm die Hand entgegen, worauf, wie zuvor bei Asake, zahlreiche Stacheln auf ihn zuflogen. „Pah! Als ob ich ein lausiges Shinken bräuchte, um dich zu vernichten!“, rief sie dabei wütend. Schneller als Tokimi seinen Bewegungen folgen konnte, wich er den Stacheln aus. Sie bohrten sich allesamt in den Boden und öffneten sich dort. Ranken schossen aus ihnen heraus und schlangen sich um Zetsus Körper, um ihn aufzuhalten. Tokimi reagierte schneller als er und zerteilte die Ranken mit gezielten Hieben, so dass er seinen Angriff fortsetzen konnte. Er nickte ihr nur knapp zu, um sich zu bedanken und konzentrierte sich dann wieder auf seine Feindin. Doch sein Vorstoß endete abrupt. Philia streckte beide Hände aus, doch statt noch mehr Stacheln, entstand direkt vor ihr ein Netz aus zahlreichen, ineinander verflochtenen Kletterrosen, an dem 'Gyouten' abprallte, ohne auch nur den geringsten Schaden zu verursachen. Wütend hieb er immer wieder auf die Wand ein, aber keine der Pflanzen gab auch nur ein wenig nach. Philia lachte amüsiert über seine Versuche. „Es wird dir nicht gelingen, mich zu erreichen. Diese Wand ist stärker als jedes Shinken.“ Tokimi hob den Fächer und wollte ihn gerade einsetzen, um in der Sekunde, bevor das Schild entstand, Philia davon abhalten zu können, es zu erstellen – doch da hielt Zetsu abrupt inne, als würde er nach etwas lauschen. Im nächsten Moment stellte er sich aufrecht hin und steckte 'Gyouten' wieder ein. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Für heute hast du dann wohl gewonnen. Aber denke ja nicht, dass ich aufgebe. Das ist nur ein strategischer Rückzug.“ Kaum hatte er das gesagt, erlosch das Lächeln und machte Platz für eine Ernsthaftigkeit, die derart intensiv war, dass sogar Tokimi erschauerte. „Ich werde nicht eher ruhen, bis ich Leana wiederhabe!“ Für einen winzigen Augenblick erschienen die verschiedensten Emotionen auf Philias Gesicht, aber Tokimi gelang es lediglich Neid und Sehnsucht herauszulesen, dann nahm ihre Feindin wieder eine betont überhebliche Mimik an. „Das wird dir nicht gelingen. Aber verschwende ruhig deine Zeit, Eternal.“ Ohne weitere Worte fuhr Zetsu herum und ging langsam davon. Philia ließ es geschehen, weswegen Tokimi sich ihm rasch anschloss. „Warum gehst du jetzt?“, fragte sie nach wenigen Schritten. „Ich wollte nur Zeit gewinnen, bis Asake die anderen in Sicherheit gebracht hat. Bevor ich gegen diese Person kämpfe, benötige ich erst mehr Einblick in alles. Anders wäre es idiotisch.“ Sie nickte verstehend und warf dann einen Blick über ihre Schulter, um zu beobachten, was Philia als nächstes tun würde. Yori war sicher, dass er Kobayashi angelogen hatte. Er spürte keine Schmerzen mehr, aber er wusste, dass das lediglich ein schlechtes Zeichen war, es verwunderte ihn, dass er überhaupt noch am Leben war. Sein Blickfeld verdunkelte sich immer mehr und auch alle Geräusche kamen nur noch aus weiter Ferne zu ihm. Deutlich erkannte er allerdings, dass Philia sich vor ihn hinkniete. Er fürchtete nicht, dass sie ihm etwas antun könnte, der Gedanke kam ihm schon eher wie eine Erlösung vor. Doch stattdessen strich sie ihm über die Wange, ihre Berührung war sanft, beinahe zärtlich. „Awww, du hast ein schlimmes Schicksal, mein Lieber.“ Er verstand nicht, was sie meinte. Menschen starben andauernd, ungeachtet ihres Alters und eben hatte sie versucht, andere umzubringen. Was qualifizierte sein Schicksal als schlimmer als das anderer Menschen? „Aber du hast so einen loyalen Geist“, fuhr sie fort. „Ich weiß, dass es sich lohnen wird, dich zu behalten.“ Eine angenehm warme Energie, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte, durchströmte Yori – und auf einen Schlag war seine Verletzung geheilt und er fühlte sich so erholt, als hätte er eine Nacht lang tief und fest geschlafen. Verwundert sah er an sich herab und sah so nicht mehr Philias zufriedenes Lächeln. „Das ist die Macht, die mir innewohnt. Mit ihr werde ich bald über alles herrschen – und ich will, dass du dann an meiner Seite bist.“ Er verstand nicht, weswegen sie das wollte, aber er fragte auch nicht. Die in ihm rumorende Energie ließ nicht zu, dass er sie hinterfragte und erstickte den Wunsch danach direkt im Keim, so dass ihm nichts anderes übrig blieb, als zustimmend zu nicken. „Wie Ihr wünscht, Lady Philia.“ Sie tätschelte ihm den Kopf, ehe sie sich wieder aufrichtete. „Und nun komm. Wir haben Eternal-Ratten zu jagen.“ Kapitel 38: Hintergründe ------------------------ Zetsu und Tokimi fanden die Gruppe nicht weit entfernt auf einer Waldlichtung. Asake sprintete sofort zu ihnen hinüber, als die beiden Eternal ebenfalls dazutraten. „Meister, es sind alle in Sicherheit“, verkündete er mit einem gewissen Stolz in der Stimme. Der Silberhaarige tätschelte ihm den Kopf, die Lippen zu einem sanften Lächeln verzogen. „Gut gemacht, Asake. Ich wusste, dass du das kannst.“ Das Shinjuu lächelte hocherfreut und kehrte dann gemeinsam mit den Eternal wieder zu den anderen zurück. Kobayashi hielt die Arme vor der Brust verschränkt, Ylva wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz, aber Fuu war es, der schließlich etwas sagte: „Es ist lange her, Zetsu.“ „Ich denke, ich hätte auch noch länger darauf verzichten können. Immer, wenn ich dich sehe, bedeutet das nur Ärger.“ Von diesen Worten scheinbar getroffen, griff der Magier sich an die Brust, aber Tokimi legte sofort Einspruch ein: „Es war meine Bitte, wegen der es überhaupt soweit kommen konnte, sei ihm nicht böse, Zetsu-san.“ Er wandte sich nun ihr zu und überlegte, wann er sie bereits einmal getroffen haben mochte, abseits seiner kurzen Zeit als Ayumu mit ihr. Da er sich allerdings nicht wirklich entsinnen konnte, beschloss er, zu fragen: „Kennen wir uns?“ Sie legte eine Hand auf ihr Herz. „Es ist schon eine Weile her, seit wir uns in Izumo begegnet sind.“ Kaum hatte sie das gesagt, fiel es ihm auch wieder ein. Tokimi war eine der Repräsentantinnen Izumos gewesen, aber im Gegensatz zu Kira und Tamaki war sie nur eine recht kurze Zeit da gewesen und hatte auch nicht viel mit der Brigade gesprochen. „Ich bin keinem von euch böse“, sagte er schließlich. „Zumindest nicht bezüglich dem, was mir zugestoßen ist. Die Sache mit Leana ist nun eine gänzlich andere Sache.“ „Wie hätten wir es verhindern sollen?“, fragte Fuu. „Eure Orichalcum-Namen sind derart miteinander verbunden, dass so etwas geschehen musste, wenn dir etwas zustößt.“ „Ich bin dennoch überrascht, dass auch das Töten der Splitter diesen Effekt erzeugt“, vermeldete Tokimi. „So etwas habe ich noch nie gehört.“ „Ich sagte doch bereits, sie sind derart miteinander verbunden.“ Zetsu und Tokimi blickten beide zu Fuu, in der Hoffnung auf eine weitere Erklärung, doch er lächelte nur unschuldig. Noch dazu begann Kobayashi plötzlich zu knurren. „Würde mir endlich jemand erklären, was genau da eigentlich gerade geschehen ist?“ Nun wandte sich die volle Aufmerksamkeit Tokimi zu, die bereits die Hände vor ihrer Brust zusammenlegte. „Wir haben beobachten können, wie eine andere Eternal Leana übernimmt.“ „Eine andere Eternal?“, hakte Zetsu nach. „Wie ist das möglich?“ Hätte Vartanian es versucht, wäre das etwas gewesen, was er verstehen könnte. So war es immerhin auch bei Jiruol und Nozomu gewesen und Rutsuruji war auch nicht völlig untätig in seinem Inneren gewesen. Aber diese andere war nicht Vartanian, da war er sich sicher. „Ich weiß es nicht genau“, antwortete Tokimi zu seiner Enttäuschung. „Aber es muss damit zu tun haben, dass 'Shoubi' überhaupt zu einem Eternal-Shinken werden konnte. Normalerweise ist das nicht einfach so möglich.“ „Bei meinem ging es doch auch“, erwiderte Zetsu, aber sie schüttelte bereits sanft mit dem Kopf. „'Gyouten' ist eine Kopie von 'Reimei', welches wiederum aus 'Murakumo' geschaffen wurde. Es erforderte viel Willenskraft von dir, aber im Endeffekt wurde 'Gyouten' zu einem Eternal-Shinken, weil es quasi bereits von einem solchen abstammt.“ Salles wäre sicher daran interessiert gewesen, Zetsu aber eher weniger. „Gut, aber was ist das nun mit dieser anderen Eternal? Wer ist Shoubi no Philia?“ Tokimi schwieg einen Moment, der ihm viel zu lange vorkam und in dem er sich allerlei grausame Szenarien ausmalte, in denen Leanas Seele möglicherweise bereits verschlungen worden war, ohne eine Aussicht darauf, sie jemals wiederzusehen. „Es war vor meiner Zeit als Eternal“, durchbrach sie plötzlich seine Gedanken. „Deswegen weiß ich nicht sehr viel darüber. Ich weiß nur, was Rogus mir erzählte. Dass es viele Eternal gab, die er in ihre Shinken sperren musste, weil er sie nicht vernichten konnte.“ „Rogus...“ Fuu wiederholte den Namen langsam. „Das ist der Anführer der Chaos-Eternal, richtig?“ Tokimi nickte, worauf der Magier eine weitere Frage stellte: „Warum konnte er sie dann nicht vernichten? Er soll der stärkste Eternal sein, den es gibt. Er konnte sogar Narukana einsperren.“ Zetsu zog die Brauen zusammen. „Aber auch sie hat er nicht vernichtet, dabei dürfte ihr annullierendes Mana eine Gefahrenquelle gewesen sein.“ Nur ungern erinnerte er sich an Satsukis schwarze Flügel zurück oder an das bedrohliche Gefühl, dass jedes Mal von Narukana ausgegangen war, wann immer sie gekämpft hatte. Bei ihr war er richtiggehend froh gewesen, dass sie es bevorzugt hatte, allein zu kämpfen. „Richtig“, sagte Tokimi. „Er hat Narukanas Energie genutzt, um einen Zeitbaum mit Energie zu speisen. Aber bei ihr war das auch anders. Sie ist ein sehr hochrangiges Shinken, er konnte sie nicht einfach vernichten, ohne nicht sein eigenes Ziel zu verraten.“ Zetsu kannte sich nicht im Mindesten mit derlei Dingen aus. Er war ein Eternal, aber ein neutraler, deswegen hatte er sich nie um all diese Sachen gekümmert. Aber Fuu nickte zumindest verstehend. „Das erklärt dennoch nicht, weswegen er Philia nicht einfach vernichten konnte“, wandte er dann allerdings doch noch ein. „In diesem Fall wäre dem Shinken doch gar nichts geschehen.“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Tokimi nach einer kurzen Zeit des Schweigens. „Es wurde mir nie gesagt und ich kann nicht in die Vergangenheit sehen.“ Fuu war sichtlich unzufrieden mit dieser Antwort, musste sich aber geschlagen geben. Etwas an dieser Geschichte irritierte Zetsu weiterhin und es war nicht nur die Tatsache, dass Rogus, einer der stärksten Eternal, die es geben sollte, es nicht geschafft haben sollte, diese Philia zu töten. Aber er zog es, genau wie Fuu, vor, lieber nicht mehr darauf einzugehen. Und Tokimi schien auch lieber das Thema wechseln zu wollen: „Wer ist denn nun eigentlich das?“ Lächelnd blickte sie auf Asake hinab, der sich inzwischen mit Ylva konfrontiert sah, die seinen Arm genommen und sich an diesen geschmiegt hatte. Ihre Ohren zuckten dabei fröhlich. Das Shinjuu wirkte über diese Zuneigungsbekundung allerdings hauptsächlich verwirrt und war deswegen nicht in der Lage gewesen, der Unterhaltung der anderen zu folgen. „Das ist Asake“, stellte Zetsu ihn vor. „Ich habe ihn getroffen, während ein Teil von mir... im Nirgendwo war.“ Noch immer wusste er nicht so recht, wo er sich eigentlich aufgehalten hatte und warum. Aber er erinnerte sich an die Kälte und die Verzweiflung, die seine Motivationslosigkeit verstärkt und ihn regelrecht niedergerungen hatten. Dort war er nun gesessen, wer weiß wie lange – und dann war Asake vorbeigekommen und er hatte Hoffnung mit sich geführt. „Asake erzählte mir, dass er ein herrenloses Shinjuu war, das von seinem letzten Meister entbunden worden war.“ „Ich wusste nicht, dass das möglich ist“, bemerkte Tokimi, doch Fuu ereiferte sich sofort zu einer Antwort: „Oh, doch, das ist es. Aber eigentlich ist es vollkommen unsinnig. Trennt man das Shinjuu vom Shinken, verliert dieses seine Macht. Sein voriger Besitzer wusste das entweder nicht oder-“ „Genau deswegen hat er es getan“, sagte Asake monoton. „Er wollte den Fluch des Shinken brechen und hat deswegen einen Weg gesucht, es unbrauchbar zu machen, ohne es zu zerstören.“ Zetsu erinnerte sich noch gut an diese Geschichte, die an sein Herz gerührt hatte. Asake, der sein ganzes Dasein lang als unnütz bezeichnet worden war, der keinem seiner Meister etwas hatte rechtmachen können, dessen Existenz mit dem Todesfluch für die Träger seines Shinken verbunden war und der eigentlich immer nur nach Anerkennung gestrebt hatte, war es gewesen, der seinem letzten Meister dabei geholfen hatte, sich selbst von seinem Shinken zu lösen. In seiner Erwartung, so Asake, hätte es eigentlich seinen Tod bedeuten müssen. Aber er lebte immer noch und war all die Jahrzehnte ganz allein durch das Labyrinth der Zeit geirrt, immer auf der Suche nach einem Weg, selbst sterben zu können, so wie er all seinen Meistern zuvor den Tod gebracht hatte. Und dann war er Zetsu begegnet. Zuerst hatte er den Eternal ebenfalls für ein Shinjuu gehalten, doch nachdem dieses Missverständnis beseitigt worden und die Geschichten ausgetauscht waren, war Asake Feuer und Flamme gewesen, Zetsu zu unterstützen und das Shinjuu eines neuen Shinken zu werden, eines, das keinen Todesfluch für seinen Träger beinhaltete. „Es war Schicksal, dass aufgrund von Eos' Aktivitäten auch Nanashi zerstört worden war“, erklärte Zetsu mit Bedauern in der Stimme. „So konnte ich Asakes Angebot annehmen und ihn gemeinsam mit mir in diese Welt bringen.“ Erneut tätschelte er das Kopf des Shinjuu. „Und ich bin sicher, dass er weiterhin gute Arbeit leisten wird. Nicht wahr?“ Er lächelte Asake zu, was dieser nur allzugern erwiderte: „Jawohl, Meister!“ Ein Schnauben Kobayashis lenkte die Aufmerksamkeit aller zu dem Samurai, der sich auf einen gestürzten Baumstamm gesetzt hatte. „Und was habt ihr nun alle vor?“, fragte er und maß die Gruppe dabei mit abschätzenden Blicken. „Wollt ihr weiter hier eine Teestunde abhalten? Ich habe noch zu tun, wie ihr vielleicht wisst.“ Das Versprechen des älteren Mannes gegenüber Yori kam Zetsu wieder in den Sinn, direkt gefolgt von seinem eigenen Schwur, Leana wieder zurückzuholen, was er auch sogleich der Gruppe unterbreitete. Kobayashi kratzte sich am Kinn, wo sich die ersten Bartstoppeln zeigten. „Und nachdem du das dieser Frau gesagt hast, wird sie dich ganz bestimmt mit offenen Armen empfangen. Du hättest bedachter mit deinen Worten umgehen sollen.“ „Aber es gibt doch bestimmt einen Geheimweg“, vermutete Fuu. „Einen anderen wie jenen, den wir benutzt haben und der Philia damit bekannt ist.“ „Es gibt viele Geheimwege“, bestätigte Kobayashi. „Ich kann euch einen weiteren zeigen, unter der Voraussetzung natürlich, dass ich mitgehen darf.“ Davon war Zetsu nicht im Mindesten begeistert. Die ganze Burg würde nun unter der Kontrolle eines Eternal stehen und wer-weiß-was für Gefahren beinhalten, es war sicherlich kein Ort mehr für einen Menschen. Aber es ging um Leana, die er so schnell wie möglich retten wollte, also war es besser, wenn er darauf einging. Irgendwie würde er es auch schaffen, diesen Mann zu beschützen, wenn es sein musste. Also verbeugte er sich höflich. „Bitte, Kobayashi-san, führt uns in die Burg zurück.“ Der Samurai lächelte zufrieden über diese Antwort und nickte. „Gleich morgen früh werden wir wieder zurückkehren – auf einem geheimen Pfad, den nur ich kenne. Diese Frau wird gar nicht wissen, wie ihr geschieht.“ Im Moment war es Yori, der nicht so recht wusste, wie ihm geschah. Nach seiner Heilung hatte Philia ihn mit sich in den Thronsaal gezerrt, wo sie ihr Shinken in den Boden gerammt und es sich dann auf dem Thron gemütlich gemacht hatte, indem sie sich schräg darauf niederließ und die Beine über die Armlehne baumeln ließ. Nach kurzer Zeit war eine Kletterrose aus dem Spalt entstanden, den das Schwert verursacht hatte, war an der Klinge entlanggewandert und breitete sich immer noch unablässig im Thronsaal aus. Philia schien das nicht zu kümmern und Yori konnte es nur mit staunendem Unglauben beobachten, denn zu seinem Glück machten die Ranken einen großen Bogen um ihn, also wollten sie ihn eher nicht ebenfalls als Kletterhilfe missbrauchen. „Was tust du?“, fragte er schließlich, da sie keinerlei Anstalten machte, sich ihm zu erklären. Sie warf ihm einen kurzen, verständnislosen Blick zu, so dass er ein wenig mit der Hand ausholte, um sich zu erklären und sie das gleich darauf auch tat: „Ich dekoriere. Dieser Raum ist mir zu trostlos, er benötigt dringend mehr Rosen.“ Bei diesen Worten wuchs gerade eine Ranke an ihr vorbei und eine rote, geschlossene Blüte erschien direkt bei ihr. Lächelnd betrachtete Philia diese und für einen Moment konnte er nicht mehr glauben, dass sie, in irgendeiner Art und Weise gefährlich sein könnte. Dann wandte sie sich ihm wieder zu, immer noch lächelnd. „Oh, bestimmt fragst du dich, wer ich eigentlich bin, nicht wahr?“ Das hatte er eigentlich nicht, aber er wollte sie nur ungern verärgern, deswegen nickte er, worauf sie leise lachte. „Ich wusste es. Also, ich sagte ja bereits, dass ich Shoubi no Philia heiße – und ich bin eine Eternal. Du weißt, was das ist?“ Er nickte noch einmal. Eos hatte es ihm einmal erklärt und auch ansonsten war das Konzept der Eternal nicht unbekannt in dieser Welt. Es hieß sogar, dass für lange Zeit verschiedene Eternal die Präfekten der verschiedenen Präfekturen gewesen waren, ehe sie menschliche Nachfolger wählten und dann diese Welt verließen. Möglicherweise war Eos deswegen so rasch aufgestiegen, vielleicht hatte man in ihr eine zurückgekehrte Eternal gesehen. „Fein“, sagte sie zufrieden. „Aber ganz bestimmt weißt du nichts von den Kriegen, die wir untereinander führen. Sie sind stets brutal und vollkommen ohne Gewissen, dabei ziehen wir schon mal Menschen in Mitleidenschaft.“ Yori fürchtete bereits um die Bewohner dieser Präfektur, falls auch hier ein solche Schlacht entfachen sollte und hoffte nur, dass alles friedlich verlaufen oder zumindest schnell enden würde, selbst wenn er heimlich nachhelfen müsste. Philia, die nichts von seinen Gedanken ahnte, blickte an einen ungewissen Punkt an der Wand, ihr Blick wurde sanft, fast so als dachte sie gerade an etwas besonders Schönes. „Einst war ich gemeinsam mit meinem Gefährten in derartige Kämpfe verstrickt. Wir waren unzertrennlich – und dann verriet er mich!“ Sie runzelte ihre Stirn, ihre Augen begannen zu glänzen, als stünde sie kurz davor, zu weinen, aber ihre Stimme war vollkommen monoton. „Er sagte, er könne nicht mehr mitansehen, wie ich immer tiefer von meinem Shinken in die Zerstörungswut getrieben werde und würde mich deswegen darin versiegeln, in der Hoffnung, dass ich eines Tages meinen Fehler erkennen könnte.“ Während sie sich daran erinnerte, stieß sie ein kurzes, freudloses Lachen aus. „Und während er das sagte, hat er die ganze Zeit geweint. Wie erbärmlich! Die einzige, die Grund zum Weinen hatte, wäre ich gewesen!“ 'Shoubi' glühte auf, wie im Einklang mit ihrem Hass. „Aber er wird schon noch sehen, was er davon hat. Er wird meine Wut kennenlernen, wenn er erst einmal hierherkommt – und ich werde ihn zwingen, in diese Welt zu kommen.“ „Wie?“, fragte Yori, obwohl er sich gar nicht sicher war, ob er das wirklich hören wollte. Zur Antwort auf seine Frage, öffneten sich alle Rosenblüten und gleichzeitig erschienen zahlreiche Lakaien, so viele, dass sie kaum in den Thronsaal passten und sie bei der kleinsten Berührung gegeneinander stießen. Sie sahen auf den ersten Blick aus wie jene von Eos – aber diese hier waren anders. Sie waren nicht nur schwarz, es gab auch blaue, grüne, weiße und rote und jede dieser Farben trug ihre eigene Waffe mit sich, so dass es neben den Katana nun auch Schwerter, Speere, Stäbe und Doppelschwerter gab. Doch noch viel erschreckender waren die von ihnen ausgehenden Aurae, die Yori den Atem zu rauben drohten, da er noch nie etwas derart Machtvolles gespürt hatte. Außerdem gaben diese Lakaien keinen Ton von sich, sie kicherten nicht einmal und starrten ausdruckslos nur geradeaus. Philia griff sich zufrieden über diese Verstärkung an die Wange. „Ich werde einfach für so viel Zerstörung auf dieser Welt sorgen, dass er gar nicht anders können wird, als hierher zu eilen – und dann wird er seinen eigenen Irrtum erkennen, bevor ich ihn zerquetsche!“ Kaum hatte sie das gesagt, schien sie nicht mehr an sich halten zu können und brach in ein schallendes Gelächter aus, in das die zahllosen Lakaien alsbald humorlos einstimmten, so dass ein Chor aus herzlosem Lachen entstand, der Yori das Blut in den Adern zu gefrieren schien und ihn wünschen ließ, nie von ihr gerettet worden zu sein. Kapitel 39: Kampf im Rosengarten -------------------------------- Am nächsten Morgen führte Kobayashi sie wie versprochen zu dem erwähnten Geheimgang. Zetsu hatte noch versucht, Fuu und Ylva davon zu überzeugen, in Sicherheit zu bleiben, aber beide waren hartnäckig gewesen und so begleiteten sie die kleine Gruppe ebenfalls. Dabei fand er es schon bedenklich genug, dass Kobayashi bei ihnen war. Tokimi war eine Eternal, die in die Zukunft sehen konnte, sie würde es verstehen, auf sich aufzupassen, aber die anderen waren sterblich... zumindest glaubte er, dass dies auch auf Fuu zutraf. Irgendwie wurde er nicht so recht schlau aus dem Magier. „Alles in Ordnung, Meister?“ Asake klang ein wenig besorgt, wie Zetsu feststellte. Ja, keine Sorge. Wir werden nur ein wenig achtsam sein müssen. Bist du auch bereit für den ersten richtigen Kampf mit mir? „Und wie, Meister!“ Seine Besorgnis wurde von einer fast schon enthusiastischen Vorfreude ersetzt, die Zetsu lachen ließ und ihm dann einen fragenden Blick von dem Rest der Gruppe einhandelte, auf den er nicht reagierte. Gut, dann kriegen wir das mit Sicherheit hin. Kobayashi führte sie während dieses inneren Monologs zu einem Höhlengang, der weit abseits von der Burg der Präfektin zu liegen schien. Es schien Zetsu fast unglaublich, dass sie hierdurch wirklich dorthin kommen sollten, aber er hoffte, dass der General wusste, was er tat. Fuu zweifelte dagegen wirklich. „Ist das der richtige Gang?“ Er ignorierte Kobayashis Worte, die ihm das bestätigen sollten und blickte stattdessen zu Tokimi hinüber, die ihm ein zuversichtliches Lächeln schenkte. „Ich habe gesehen, dass er uns wirklich in die Burg hineinführen wird, macht Euch keine Sorgen.“ Der Samurai schnaubte wütend, aber Zetsu konnte es durchaus verstehen. Fuu hatte nun einige Zeit gemeinsam mit Tokimi verbracht, deswegen vertraute er ihr mehr als einem Fremden. Aber er wollte sich im Moment auf keinerlei Diskussion einlassen, deswegen bewegte er sich rasch weiter und betrat die Höhle. Der Gang war, mit Ausnahme von ihnen, vollkommen leer und ereignislos, aber es gab eine ständige Quelle von Bosheit, die sich durch den ganzen Schacht zu ziehen schien. Allein dies hätte Zetsu bereits verraten, dass sie sich auf dem richtigen Weg befanden, auch wenn Philias Aura daneben auch noch von Bitterkeit durchzogen war. Es musste also noch etwas anderes hier sein – und nicht bald nach diesem Gedanken trafen sie auch schon auf diese anderen Wesen. Sie näherten ihnen sich ihnen schweigend, sogar ohne zu lachen, wie es andere ihrer Art taten. Im Großen und Ganzen sahen sie wirklich aus wie normale Lakaien, aber ihre Gesichter wirkten noch emotionsarmer, falls das überhaupt möglich war. Glühendes Mana umgab ihre Körper, entsprechend ihrer eigentlichen Farbe, in diesem Fall waren es ein schwarzer, ein grüner und ein roter Lakai. Die Gruppe blieb automatisch stehen und musterte diese Wesen, wobei lediglich Tokimi nicht irritiert wirkte, sondern sogar zu einer Erklärung ansetzte: „Das sind Eternal Lakaien. Philia muss sie hierher gerufen haben.“ Was gleichzeitig bedeutete, dass das Benutzen des Geheimganges völlig überflüssig gewesen war. Mit Sicherheit wusste Philia nun bereits, dass sie auf dem Weg zu ihr waren. „Gibt es dafür irgendwelche Dinge, die wir beachten müssen?“, fragte Zetsu. „Nein, sie sind nur ein wenig stärker als gewöhnliche. Solange du daran denkst, solltest du keine Probleme haben. Außerdem...“ Sie zog ihren Fächer hervor. „Bist du hierbei ja nicht allein.“ „Wenn du mit mir mithalten kannst“, erwiderte er. Kaum hatte er diesen Satz beendet, sprang er bereits vor. 'Gyouten' traf auf den Schutzschild des grünen Lakai, der diesem Angriff sogar standhielt. Augenblicklich sprang er wieder zurück, um einem Gegenangriff zu entgehen. Er warf keinen Blick zu Tokimi, um sich anzusehen, wie selbstzufrieden sie wohl schmunzeln mochte und konzentrierte sich weiter auf den Kampf. „Asake! Es wird Zeit!“ Die Manafunken sammelten sich um und ließen 'Gyouten' in einem hellen Licht erstrahlen. „Endless Screams!“ Im nächsten Moment erschien bereits Asake neben Zetsu und schwang seinen Stab, um das Mana zu sammeln, ehe er es den Lakaien entgegenschleuderte. Als der Zauber die Feinde traf und an ihrer Lebensenergie zehrte, kam es Zetsu so vor, als würde seine ebenfalls darunter leiden. Er blieb mit einem Keuchen zurück, als der Strom endlich versiegte, aber immerhin waren alle Lakaien verschwunden. Ihre Manafunken schwebten noch eine Weile in der Luft, statt sich direkt aufzulösen, wie es sonst zu tun pflegten und ließen ihn nur schwer zu Atem kommen. „Geht es, Meister?“ Asake stand neben ihm und blickte besorgt zu ihm hinauf. Zetsu atmete tief durch, so gut er konnte, ehe er nickte. „Ja. Der schwarze Lakai musste einen Schutzzauber haben, der automatisch konterte.“ Er selbst besaß diesen ebenfalls, weswegen er sich innerlich verfluchte, nicht sofort daran gedacht zu haben. Welchen Eindruck machte das denn vor allen anderen? „Das wusste ich~“, bemerkte Tokimi vergnügt. „Vielleicht hättest du mir zuhören sollen.“ Er rollte mit den Augen und deutete dann tiefer in den Gang hinein. „Gehen wir lieber weiter, dann kannst du ja deine Überlegenheit beweisen.“ Sie schmunzelte amüsiert über diese Herausforderung und lief dann bereits voraus. „Ein Wettbewerb, Meister?“, fragte Asake irritiert. „Wirklich?“ Die anderen wirkten davon auch recht verwundert, aber Zetsu kümmerte sich nicht darum, als er Tokimi folgte. „He, irgendwie muss man sich doch von seinen Sorgen ablenken, oder?“ Er zwinkerte seinem Shinjuu noch einmal zu, ehe er sich wieder auf die bevorstehende Schlacht konzentrierte, da ihnen bereits zahlreiche andere Eternal Lakaien entgegenströmten. Er zog 'Gyouten' und warf sich gemeinsam mit Tokimi den Feinden entgegen. Als sie endlich das Ende des Ganges erreichten, kamen keine neuen Lakaien nach, was Ylva erleichtert aufatmen ließ. „Ich dachte schon, das schaffen wir nicht mehr.“ „Hast du etwa an ihnen gezweifelt?“, fragte Fuu sanft. Kobayashi schnaubte empört. „Wer hätte denn nicht gezweifelt, bei so vielen Feinden?“ „Als ob einer von uns an so etwas scheitern würde.“ Tokimi strich sich betont lässig durch das Haar, als sie ebenfalls aus dem Gang trat. Zetsu, der kurz nach ihr folgte, stimmte schmunzelnd zu. „Ein paar Lakaien halten uns doch nicht auf.“ Ein wirklicher Sieger für seinen kleinen Wettkampf mit Tokimi stand nun zwar nicht fest, aber immerhin waren sie lebend und immer noch recht gut erholt, durch diesen Gang gekommen. Er war noch immer damit beschäftigt, die hartnäckigen Manafunken von seiner Kleidung zu wischen, gab das aber sofort auf, als er bemerkte, in welcher Umgebung sie eigentlich standen. „Was zum...?“ Nichts an diesem Ort erinnerte mehr an den Palasthof, in dem sie zuletzt miteinander gekämpft hatten. Aber auch nichts hiervon ließ darauf schließen, dass Leana irgendeine Art von Einfluss auf die Umgebung ausgeübt hatte. Sie standen mitten in einem Garten voll kunstvoll hochgezogener Rosenhecken. Die ganze Luft war erfüllt von dem schweren Duft der Blumen. Ein Pavillon, an dem sich Kletterrosen rankte, markierte das Zentrum, aber von hier aus war nicht einzusehen, wer oder was sich dort befand. Dennoch war es deutlich, dass ihr Weg sie dorthin führen musste. Die Blüten waren allesamt blutrot und erweckten in Zetsu kein sonderlich gutes Gefühl. Zumindest spürte er allerdings keinerlei feindliche Anwesenheit mehr, außer jene von Philia. „Ist es eine Falle?“, fragte Fuu. Ylva streckte schnuppernd die Nase in die Luft, auch wenn Zetsu nicht glaubte, dass sie noch mehr würde riechen können als die Rosen – doch es gelang ihr tatsächlich: „Philia ist allein. Und ich glaube, sie ist traurig.“ „Huh?“ Asake sah sie verwirrt an. „Wie kannst du das riechen?“ „Menschen sondern einen ganz besonderen Geruch ab, wenn sie traurig sind.“ „Hmpf, warum sollte jemand wie sie traurig sein?“, konterte Kobayashi. Zetsu konnte sich einige Gründe vorstellen, wenn Tokimis Geschichte über diese Eternal auch nur ansatzweise stimmte. Aber für eine derartige Diskussion war nun keine Zeit mehr. „Wenn sie uns schon erwartet, sollten wir ihre kostbare Zeit nicht verschwenden, findet ihr nicht auch?“ Mit diesen Worten lief der Eternal bereits los, um ins Zentrum zu kommen. Asake folgte ihm sofort, genau wie Tokimi und auch Ylva. Kobayashi und Fuu blieben dagegen noch einen kurzen Moment stehen. Der Magier nutzte die Gelegenheit, um die Rosen zu bewundern. „Mhm, vielleicht sollte ich mir auch einmal einen Trick mit Rosen überlegen.“ Der Samurai schnaubte dagegen erneut. „Ich bin froh, wenn ich diese verdammte Pflanze hiernach nie wieder sehen muss.“ „Oh, das werdet Ihr ganz sicher nicht.“ Fuu schenkte ihm noch eines seiner sanften Lächeln, dann folgten sie ebenfalls Zetsu, der inzwischen das Zentrum erreicht hatte. Philia stand dort tatsächlich, direkt in der Mitte des Pavillons, vollkommen unbewaffnet und blickte ihnen abwartend entgegen. Sie war noch immer in Gestalt Leanas, was Zetsu wieder an seinem Vorhaben zweifeln ließ. Er wusste, er würde gegen sie kämpfen müssen, um Leana zurückzubekommen, aber sein Körper sträubte sich dagegen. Bei ihrer letzten Begegnung war es ihm nur gelungen, weil er dort lediglich Zeit geschunden hatte, aber hier könnte es ein Kampf bis zum bitteren Ende sein und daran wollte er nicht einmal denken. „Ich wusste doch, dass ihr so schnell kommen würdet“, bemerkte Philia. „Wo ist Yori?“, verlangte Kobayashi sofort zu wissen. „In Sicherheit.“ Philia vollführte eine wegwerfende Handbewegung. „Im Gegensatz zu euch. Euch erwartet hier nämlich nur der Tod.“ Sie hob die Hand, aber ehe etwas geschehen konnte, lachte Zetsu bereits. „Das klingt fast so als hättest du ein Seminar für schlechte Bösewicht-Sprüche besucht.“ Ihr empörter Blick ließ ihn noch einmal lachen, ehe er schlagartig wieder ernst wurde: „Und jetzt gib mir endlich Leana zurück!“ „Nur weil du das andauernd forderst, wird es nicht wahr!“ Ein von ihr ausgehender Impuls bewirkte eine Veränderung in den Rosenblüten um sie herum. Plötzlich wuchsen ihnen ganze Körper, was von der Gruppe nur ungläubig betrachtet werden konnte. Ihnen wuchsen Beine, Füße, Arme, Hände, die Blüten an sich formten sich zu einem Gesicht, ehe sie sich von den Ranken lösten und sich dann aufrecht hinstellten. Sie trugen furchteinflößende Grimassen auf ihren Gesichtern und lachten leise, was dafür sorgte, dass Asake sich näher an ihn drängte. Sie schienen Zetsu nicht weiter gefährlich, aber sie waren dennoch ein Störfaktor, der sie von ihrer eigentlichen Aufgabe abhielt. „Diese Wesen haben keine Eternal-Kräfte“, sagte Tokimi. „Sie sind nur niedere Diener.“ „Umso besser“, meldete Kobayashi sich, ehe Zetsu etwas dazu sagen konnte. „Das Hundemädchen, der Zylinderträger und ich werden uns darum kümmern, während ihr euch unserer Feindin annehmt.“ Ylva und Fuu warfen ihm beide einen kritischen Blick zu, ob seiner Bezeichnung für sie, protestierten aber nicht weiter, sondern begaben sich tatsächlich an die Außenseiten des Pavillons, um sich diesen Wesen anzunehmen. Zetsu und Tokimi wanden sich derweil wieder Philia zu. „Dann ist das jetzt wohl eine Sache zwischen uns.“ „Es sieht ganz so aus“, erwiderte die feindliche Eternal. „Also macht euch auf einen harten Kampf gefasst!“ Zetsu merkte schnell, dass Philia nicht zu viel versprochen hatte. Inzwischen beherrschte sie Leanas Körper wesentlich besser als zuvor und sie schaffte es spielend, an zwei Fronten gleichzeitig zu kämpfen. Während sie mit einer Hand immer wieder 'Shoubi' schwang, um Tokimi mit der Peitsche auf Abstand zu halten, ließ sie mit der anderen Hand immer wieder Dornen entstehen, die ihn angreifen sollten. Er schaffte es, sich dieses Mal nicht von irgendwelchen Ranken einwickeln zu lassen, indem er sie allesamt zerstörte, aber sie hinderten ihn auch daran, Philia zu nahe zu kommen. Tokimi erging es mit den Peitschenhieben nicht besser, obwohl sie in die Zukunft sehen konnte. „Ich kann das den ganzen Tag machen“, sagte Philia plötzlich, fast schon ein wenig gelangweilt. „Wenn ihr einfach aufgebt, werde ich noch einmal gnädig sein und euch nicht umbringen.“ Er glaubte ihr wirklich, dass sie das könnte. Nicht nur weil sie eine Eternal war, Leana war, selbst ohne tägliches Training, noch überraschend durchtrainiert und fit, sie würde solche Angriffe sicher ebenfalls den ganzen Tag durchhalten, wenn sie es darauf anlegte. Allein dieser Gedanke sagte ihm erneut, dass er nicht aufgeben durfte. Leana brauchte ihn, so wie er sie brauchte! Und im selben Moment leuchtete 'Gyouten' bereits auf und ohne dass er daran denken musste, erschien Asake bereits, um die Dornen für ihn mit seinem Stab abzuwehren. Dies gab Zetsu Gelegenheit, Philias Abwehr zu durchbrechen, was sie mit einem überraschten Blick quittierte. Geistesgegenwärtig riss sie 'Shoubi' hoch, als er sein eigenes Shinken hob, obwohl er das eigentlich nicht einmal wollte. Im nächsten Moment erstrahlten beide Shinken in einem überraschend grellen, weißen Licht, das derart intensiv war, dass Zetsu gegen seinen Willen die Augen schließen musste. Kapitel 40: Erinnerungen einer Rose ----------------------------------- Zetsu erwartete, einen tödlichen Stoß, während er derart wehrlos war, doch er kam nicht. Stattdessen spürte er einen leichten Windhauch, gefolgt von leisen Stimmen, die ihm nicht bekannt vorkamen. Vorsichtig öffnete er die Augen wieder und erkannte, dass er sich nicht mehr im Rosengarten befand. Er stand auf einer Wiese, genauer einem sanft abfallenden Hügel, auf dem er allerdings nicht allein war. Einige Schritte entfernt saßen zwei Personen, die sich miteinander unterhielten. Die eine war eine junge Frau, mit schneeweißem Haar, das überraschend lang war, so dass sie es selbst im Sitzen um sich herum ausbreiten konnte. Ihre blauen Augen betrachteten den Mann neben ihr, während sie immer wieder leise über seine Worte lachte. Zetsu musste nicht erst ihren Namen erfahren, um zu wissen, wer sie war: „Philia ...“ Er hatte den Namen nur geflüstert und doch kam es ihm vor, als wäre seine Stimme plötzlich viel zu laut und als müsste er damit die beiden stören. Doch der Mann erzählte und scherzte immer weiter, als wäre der unfreiwillige Beobachter gar nicht anwesend. Ihn kannte Zetsu ganz gewiss nicht; die schmächtige Figur, die unschuldigen blauen Augen und das fein frisierte blonde Haar, verriet nichts von der Macht, die in seinem Inneren lebte und die der Beobachter deutlich spüren konnte. Zetsu war so sehr in die Betrachtung der beiden vertieft, dass er nicht einmal mitbekam, worüber sie eigentlich sprachen und lachten, aber es war eindeutig, dass sie beide … glücklich waren. Er spürte dabei gleichzeitig Neid, weil er einen solchen Moment wieder mit Leana teilen wollte und gleichzeitig freute er sich für die beiden – und er fragte sich, was genau das alles verändert haben mochte. Wann war aus dieser sorglosen, glücklichen Philia ein Wesen geworden, das man einsperren musste und das nach seiner Befreiung nur daran dachte, Zerstörung und Unglück zu bringen? Doch die Antwort folgte sogleich, als ein heftiger Windstoß das rhythmische Geräusch von Kriegstrommeln herbeitrug und der Himmel sich dabei blutrot färbte. Philia und ihr Begleiter erhoben sich und blickten in jene Richtung, aus der sie offenbar den Kampf hören konnten. Als Zetsu ihren Blicken folgten, bemerkte er ebenfalls, dass in der Entfernung gekämpft wurde. Die sprühenden Manafunken und das Aufblitzen der Zauber waren deutlich zu erkennen. „Es ist Zeit, Izar“, sagte Philia, nun mit überraschend kühler Stimme. Er nickte lediglich, selbst diese Bewegung schien von Bedauern erfüllt zu sein, aber er sagte sonst nichts dazu – da er auch keine Gelegenheit bekam, weil sie beide sich plötzlich mitten im Kampf befanden. Die Bewegungen aller Beteiligten erfolgten derart schnell, dass Zetsu ihnen kaum mit den Augen folgen konnte, um herauszufinden, um wie viele Feinde es sich überhaupt handelte. Während Izar mit Pfeil und Bogen bemüht war, die Gegner auf Abstand zu halten, rauschte Philia über das Schlachtfeld – nein, sie tanzte regelrecht – und verwendete 'Shoubi' dabei nicht nur als Peitsche, so wie sie es in den letzten Kämpfen gegen Zetsu und Tokimi getan hatte, sondern auch wie ein reguläres Schwert. Jeder Feind, der von ihr berührt wurde, löste sich augenblicklich in Manastaub auf, so dass das gesamte Schlachtfeld bald von glitzernden Funken erfüllt war. Zetsu konnte nicht anders, als zu Izar hinüberzusehen, der sich noch nicht von seinem Platz bewegt hatte. Er beobachtete Philias Tun besorgt, mit gerunzelter Stirn, aber gleichzeitig hilflos, offenbar wusste er nicht, was er tun sollte, um das zu verhindern. Doch ehe Zetsu sich das erklären konnte, änderte die Szene sich erneut und plötzlich fand er sich in einem Rosengarten wieder, der jenem glich, in dem er gemeinsam mit Tokimi eben noch gekämpft hatte. Izar befand sich mit Philia hier, sie saßen beide auf einer einfachen Bank und betrachteten schweigend die Rosen. Aber etwas lag deutlich in der Luft, das konnte nicht nur Zetsu spüren, sondern auch Philia, die sich plötzlich seufzend an Izar wandte: „Raus damit. Was ist los?“ Er schien ein wenig erleichtert, als sie das fragte und er legte auch sofort los: „Ich mache mir in letzter Zeit Sorgen um dich.“ Verwundert hob sie die Augenbrauen. „Warum das denn?“ „Jedes Mal, wenn du kämpfst, wirst du ganz anders. Ich habe Angst, dass du-“ Sie unterbrach ihn, indem sie einen Arm um ihn schlang und seinen Kopf auf ihrer Schulter ablegte. Das brachte ihn sofort zum Schweigen, so dass sie etwas sagen konnte: „Mach dir keine Sorgen, Izar. Es ist wirklich alles gut. Ich werde nicht zu einer Abtrünnigen.“ Als sie das sagte, lächelte sie mit geschlossenen Augen, sie schien es zu genießen, ihn in dieser Situation zu haben. Aber er war noch nicht überzeugt: „Versprichst du es? Dass ich niemals gegen dich werde kämpfen müssen, meine ich.“ „Aber natürlich“, antwortete sie sofort, ohne auch nur eine einzige Sekunde zu zögern. „Wir werden niemals gegeneinander kämpfen, immerhin will ich dir auch nicht wehtun.“ Izar lächelte nun ebenfalls, wenngleich er dabei weiterhin traurig schien. „Danke, Philia.“ Die Atmosphäre war nun nicht mehr angespannt, aber sie war erfüllt von einer unfassbaren Traurigkeit, die sogar Zetsu zu erfüllen drohte. Glücklicherweise befand er sich schon einen Augenblick später bereits in einem ihm unbekannten Gang. Von Philia war nichts zu sehen, dafür stand Izar mit einem jungen rothaarigen Mann zusammen, dessen Brauen nachdenklich zusammengezogen waren. Es musste ein wenig Zeit vergangen sein, denn Izars Traurigkeit war inzwischen einer gewissen Frustration gewichen, die Zetsu noch mehr zuzusetzen drohte. „Du sagst, ihr Bewusstsein schwindet?“, fragte der Fremde. Seine Rüstung klapperte ein wenig, als er auch noch die Arme vor der Brust verschränkte. Izar seufzte leise, es klang, als ob er das in der letzten Zeit schon oft hatte tun müssen. „So ist es. Ich kann spüren, wie sie mit jedem Kampf mehr nachgibt. Und ich mache mir Sorgen um sie.“ „Ich mir auch“, sagte der Rothaarige. „Nicht nur, weil sie unserem Ziel abtrünnig wird.“ Er schien wirklich ernstlich besorgt zu sein, kam es Zetsu vor, auch wenn er nicht wirklich wusste, wer dieser Mann eigentlich war. Aber seine klare Stimme klang bedrückt, in einem Ausmaß, das der Silberhaarige nicht im Mindesten erfassen konnte. „Was soll ich jetzt tun, Rogus-sama?“ Es dauerte einen Moment, aber dann fiel Zetsu wieder ein, woher er diesen Namen kannte. Es war nun schon eine Weile her, aber damals, im Labyrinth der Zeit, hatte Ciar eine Geschichte erzählt, die sie als sich veränderndes Wandbild beobachtet hatten. Rogus war darin auch vorgekommen, aber er sah anders aus als jener, den er in diesem Gang beobachten konnte. Der auf dem Bild war ein groß gewachsener Mann gewesen, aber dieser hier war ... eher noch ein halbes Kind. „Du weißt, was zu tun ist“, sagte Rogus. Er griff in seine Tasche und holte etwas hervor, das er Izar reichte. Dieser steckte den Gegenstand sofort ein, ohne dass Zetsu ihn genauer betrachten konnte. Offenbar wusste der andere bereits, worum es sich handelte und stellte deswegen keine weiteren Fragen. Izar senkte seufzend den Kopf. „Ist das wirklich die einzige Möglichkeit?“ „Es wird kein Abschied für immer sein“, versuchte Rogus ihn zu ermuntern. „Im Notfall darfst du also keine Sekunde zögern.“ Ehe Zetsu Izars Antwort darauf hören konnte, wandelte sich die Szenerie erneut und im nächsten Moment befand er sich in einem Raum. Bei den hellen, braunen Holztischen, den, auf der Kommode der gleichen Art, stehenden Rosen und dem hellen Parkettboden, musste er unwillkürlich an Katimas oder Leanas Heimatwelt denken. Aber er konnte nicht aus dem Fenster hinaussehen, um das zu überprüfen oder näher zu bestimmen, da genau vor diesem Philia und Izar standen und sich unterhielten. Diesmal waren es aber keine ruhigen, humorvollen Worte, wie bei ihrer letzten Unterhaltung, die Stimmung war spürbar angespannt. „Ich finde, du solltest damit aufhören“, sagte Izar mit gepresster Stimme. Er sah Philia direkt an, während sie aus dem Fenster blickte und dabei eine Hand auf die Scheibe gelegt hatte, als sehnte sie sich eigentlich vielmehr danach, dort draußen zu sein. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“ Ihre Stimme klang wesentlich emotionsarmer als bei ihrer letzten Unterhaltung dieser Art. Sie war wirklich dabei, ihre Seele zu verlieren und Izar musste das mitansehen, versuchen, ihr zu helfen, so gut er konnte, nur um dabei immer wieder zu scheitern. „Das weißt du sehr genau.“ Seine Besorgnis war fast schon greifbar und sie rührte sogar Zetsus Herz, aber bei Philia erreichte er damit nur eines. Sie ballte die Hand zur Faust und schlug damit voller Wucht gegen die Scheibe, die dennoch nicht zu Bruch ging, dann fuhr sie zu ihm herum und blickte ihn mit vor Wut funkelnden Augen an. „Und du nervst langsam damit! Ich habe dir schon einmal gesagt, dass mit mir alles in Ordnung ist! Ich gebe weder der Zerstörungswut nach, noch finde ich, dass ich übertrieben viel Vergnügen am Töten finde!“ Einen Moment lang fürchtete Zetsu, dass Izar nun derart eingeschüchtert wäre, dass er nichts mehr sagen würde, doch da öffnete er bereits wieder den Mund: „Du siehst dich nicht so, wie ich dich sehe, wenn du kämpfst.“ Sie knirschte mit den Zähnen und wandte sich dann von ihm ab, um vom Fenster fortzugehen. Dabei lief sie direkt durch Zetsu hindurch, ohne sich an seiner Anwesenheit zu stören. Es war deutlich, dass sie diesen verbalen Kampf schon öfter durchlebt hatten und sie das nicht noch einmal durchmachen wollte. Doch gerade als sie den Knauf an der Tür drehte, um diese zu öffnen, ließ Izars Stimme sie noch einmal innehalten: „Philia, ich mache mir nur Sorgen um dich. Und nicht nur ich, Rogus-sama ist genauso besorgt um dich.“ Immerhin wusste Zetsu, dass es der Wahrheit entsprach, hatte er diese Szene zuvor doch selbst gesehen. „Dafür gibt es keinen Grund“, murmelte Philia allerdings abweisend und verließ den Raum. Kaum war die Tür hinter ihr zugefallen, griff Izar mit einem Seufzen in seine Tasche und holte einen Gegenstand heraus, der wie ein unscheinbarer Würfel aussah und vermutlich jener war, den er zuvor von Rogus erhalten hatte. „Ich hoffe, ich werde das nicht benutzen müssen. Aber wenn du mir keine Wahl lassen wirst ...“ Schlagartig änderte sich die Szenerie noch einmal und im nächsten Moment fand Zetsu sich erneut auf einem Schlachtfeld wieder. Diesmal fand er aber keinerlei Feinde vor, offenbar war der Kampf bereits vorbei. Philia stand inmitten von einem Wirbel von Manafunken, den Kopf in den Nacken gelegt – und sie lachte. Es war ein irrsinniger Laut, der von dem Wahnsinn sprach, den sie gerade in ihrem Inneren durchmachen musste und der sogar Zetsu fast erschauern ließ. „Mehr!“, brachte sie zwischen zwei Lachern hervor. „Mehr!“ Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem in der Nähe stehenden Izar zu, aber ihr Blick war noch immer glasig, die Augen geweitet, als ob ein Blinzeln sie zu verletzlich machen würde. Sie griff ihr Schwert fester und lief langsam auf ihn zu, jeder konnte deutlich sehen, was sie vorhatte, auch Izar, der ein wenig zurückwich und dabei ein Kopfschütteln andeutete. Doch egal, wie sehr er es zu verleugnen versuchte, die Wahrheit war direkt vor seinen Augen. Er griff in seine Tasche und holte erneut den Würfel hervor, den er auf seiner offenen Handfläche hielt. Als sie diesen sah, hielt sie irritiert wieder inne. „Was hast du vor, Izar?“ Im Gegensatz zu Zetsu, der immer noch ratlos war, kannte sie diesen Gegenstand wohl und betrachtete ihn deswegen mit einer Mischung aus Furcht und Unglauben. Der Würfel begann, ohne jedes fremde Zutun, sich zu drehen und dabei in einem eigentümlichen, hellen Licht zu leuchten. Der Unglauben auf Philias Gesicht wich sofort Panik. „Nein! Das kannst du nicht tun!“ „Es tut mir so leid.“ Izar schluchzte leise, als er sprach, das Leuchten nahm noch mehr zu. „Ich wollte das nicht tun, aber du zwingst mich dazu.“ „Ich zwinge dich dazu?“, spie sie verächtlich aus. „Ich habe nichts falsch gemacht! Ich folge nur dem natürlichen Lauf aller Dinge! Alles wurde geboren, um zu sterben! Das ist das Schicksal, das Rogus-sama vor uns verbirgt! Wir können es nicht ändern!“ Zetsu war von diesen Worten durchaus beeindruckt. Sie waren derart hasserfüllt und voller Verbitterung, dass er nicht glaubte, dass sie sich das nur ausdachte. Irgendwie musste sie wirklich dahinter gekommen sein, was dieser Mann vor ihnen verbarg – falls er das denn tat – oder sie war auf die Stimme ihres Shinken hereingefallen, das naturgemäß den Wunsch nach Zerstörung barg. Izar ließ diese Worte aber gar nicht erst an sich heran. „Philia, ich weiß, dass du jetzt verwirrt bist und dich verraten fühlst, aber alles wird gut werden.“ 'Shoubi' begann im Einklang mit dem Würfel zu strahlen, weswegen Philia hastig zurückwich. Sie schien allerdings unfähig, wirklich fortzulaufen, wie sie es eigentlich tun sollte. „Natürlich fühle ich mich verraten!“, rief sie wütend. „Ich werde einen Weg finden, um zurückzukommen und du wirst einer der ersten sein, den ich dann umbringe!“ Er schluchzte noch einmal leise, als sie das sagte, erwiderte aber nicht wirklich etwas darauf, als er weitersprach: „Ich wünsche mir nur, dass du diese Zeit nutzen wirst, um zu erkennen, welchen Fehler du begangen hast. Und eines Tages werden wir uns dann wiedersehen.“ Er brachte trotz der Tränen ein Lächeln zustande, das zu einem hasserfüllten Kreischen von Philia führte. Das Licht strahlte noch einmal heller – und dann war nur noch 'Shoubi' zu sehen, das ohne jeden Träger auf dem Boden lag. Izar stürzte schluchzend auf die Knie und schon einen Augenblick später fand Zetsu sich erneut woanders wieder. Diesmal waren sie in einer Art Thronsaal. Izar kniete, mit 'Shoubi' in den Händen, auf dem Boden und wenige Schritte entfernt stand eine Person in den Schatten, deren Schemen er undeutlich ausmachen konnte, aber es schien eine Frau zu sein. Auf dem Thron saß Rogus, wenngleich er die Beine über die Lehne geschwungen hatte und damit viel zu locker dasaß. „Ich soll 'Shoubi' an Lady Vartanian übergeben?“, fragte Izar irritiert, worauf Rogus nickte. Zetsu neigte den Kopf ein wenig. Leana war die Tenseitai von Vartanian, deswegen besaß sie nun 'Shoubi'. Aber wie war aus einem hochrangigen Shinken irgendwann ein niederrangiges geworden, so wie es das bei seiner ersten Begegnung mit Leana gewesen war? „Es wird Zeit, dass unsere Verbündete auch eine wirkliche Eternal wird“, sagte Rogus. „Und Lady Vartanian hat sich als kompatibel zu 'Shoubi' erwiesen.“ „Aber Philia ist-“ „Mach dir keine Sorgen“, erklang die Stimme der Frau aus den Schatten. „Ich werde auf das Shinken achten und Philia dabei schlafen lassen. Eines Tages wird sie bestimmt erkannt haben, was du ihr sagen wolltest – und dann wird sie das Shinken zurückerhalten.“ Diese Worte verrieten ihm, dass es sich dabei um Vartanian handelte und er bedauerte fast, sie nicht wirklich erkennen zu können und er fragte sich, warum sie derart im Schatten stehen musste. Aber da war noch etwas anderes, das ihm diese Worte sagen sollten: Es war von Anfang nur eine vorübergehende Sache gewesen und nur ein dummer Unfall, dass Leana überhaupt in den Besitz von 'Shoubi' geraten war und das jederzeit hätte enden können. Das gefiel Zetsu nicht, aber so wie es im Moment aussah, wäre das Ende dieser Zeit ohnehin nie eine Gefahr, denn er glaubte nicht, dass Philia jemals wieder normal werden würde – er zweifelte sogar daran, dass das möglich war. Es missfiel Izar sichtlich – vielleicht zweifelte er inzwischen ebenfalls daran – aber schließlich gab er nach und reichte der Frau 'Shoubi' – und im selben Moment, in dem ihre Hand das Schwert berührte, stand Zetsu erneut im Rosengarten, in der Gegenwart aber. Philia, wieder in der Gestalt Leanas, wich vor ihm zurück, obwohl er nicht einmal 'Gyouten' neu erhob, da er im ersten Moment noch vollkommen von dieser plötzlich Rückkehr verwirrt war. „Was sollte das?!“, fauchte sie. „Wie konntest du mir so nahe kommen?“ Offenbar hatte sie nicht mitbekommen, was sie gerade mit ihm geteilt hatte, was ihm genug Gelegenheit ließ, sich wieder zu sammeln. Aber die Gedanken, die ihm dafür kamen, gefielen ihm absolut nicht. Er stellte sich vor, wie sie im Körper von Leana Chaos anrichten würde, so wie sie es in ihrem alten Körper getan hatte und es brach ihm fast das Herz. Die Vorstellung, sich das alles hilflos mitansehen zu müssen, nur um am Ende dann eine solch furchtbare Entscheidung treffen und auch durchführen zu müssen, war geradezu unerträglich. Er konnte durchaus nachvollziehen, wie Izar sich gefühlt haben musste. Er aber wollte es nicht so weit kommen lassen. Als Fuu sich schließlich zu ihnen gesellte, da Kobayashi und Ylva es offenbar allein schafften, wusste Zetsu, dass sie auch eine Chance haben würden, da Tokimis Gesicht sich sofort aufhellte, also hatte sie offenbar bereits einen Plan, von dem er nur noch nichts wusste. Dennoch wandte er sich mit neuem Selbstvertrauen wieder Philia zu, als wüsste er genau, was nun geschehen würde. „Genieß deine Freiheit, so lange du kannst. Du wirst bald nichts mehr davon haben.“ Kapitel 41: Ein neuer Plan -------------------------- Zetsu wusste nicht, was Tokimi oder Fuu vorhatten, aber er war sich im Klaren darüber, dass es im Moment nicht an der Zeit war, nachzuhaken, worin genau der Plan bestand. Philia stand immer noch vor ihnen und starrte sie böswillig an, bereit, zuzuschlagen, falls einer von ihnen zu nahe kommen versuchte. Sie selbst startete aber keinen Versuch, von sich aus anzugreifen, als wüsste sie genau, dass zwei ihrer drei Feinde etwas planten. Ein helles, von Fuu ausgehendes Glitzern, verriet schließlich, dass er gerade einen Zauber gewirkt hatte, ohne dass es einem von ihnen wirklich bewusst geworden war. In einer anderen Situation hätte Zetsu nun überlegt, wie genau seine Macht funktionierte, aber die Anspannung, einem Feind gegenüberzustehen, bei dem jede Ablenkung tödlich sein könnte, ließ das nicht zu. „Was immer du da versuchst, Magier“, sagte Philia schnaubend, „es wird dir nicht gelingen.“ „Er wird auch nicht dein Problem sein“, erwiderte Tokimi ruhig, „sondern ich.“ Damit faltete sie den Fächer zusammen, den sie im Kampf beständig mit sich trug und streckte die Arme aus. Als sich Funken um sie zu sammeln begannen, ließ Philia wieder 'Shoubi' knallen, aber das Schwert scheiterte an einer glitzernden, transparenten Mauer, die nur zu sehen war, als die Waffe direkt darauf traf. Das war also Fuus Zauber. Beeindruckend. Philia fand das allerdings weniger, weswegen sie wütend knurrte und dann wieder die Dornen beschwor, so zahlreich, dass sie fast die gesamte Front einzunehmen schienen. Doch selbst diese schafften es, im Verbund mit der Peitsche nicht, die Mauer zu durchbrechen, was ihre Laune immer tiefer sinken ließ. „Ich werde dich wieder dorthin zurückschicken, wo du hingehörst“, sagte Tokimi schließlich und begann dabei in einem hellen Licht zu leuchten. „Offenbar fehlen dir noch ein paar Jahre, um in Ruhe über diese Sache nachzudenken.“ Das hat ja bislang auch so unheimlich gut funktioniert. Die Aussicht, dass sie wieder ein Teil des Shinken werden würde, dass Leana sich möglicherweise noch einmal mit ihr auseinandersetzen müsste, behagte Zetsu nicht im Mindesten. Aber es sah nicht so aus, als wäre es an ihm, dem Plan zu widersprechen, vor allem, da er auch keinen anderen parat hatte – und mindestens das wurde wohl von jemandem erwartet, der widersprach. Also schwieg er einfach und presste die Kiefer aufeinander, wobei er fast schon die Hoffnung hatte, dass es ohnehin scheitern würde. Tokimi ging in die Knie, wobei ihr Haar einen interessanten Bogen beschrieb und das Glöckchen darin zu klingeln begann, dann explodierte das Licht um sie herum geradewegs. Philia hielt sich die Hand vor das Gesicht, machte sonst aber, im Vergleich zu dem Rückblick, keine Anstalten, irgendetwas zu tun. Sie begann diesmal nicht zu fluchen, sie regte sich nicht einmal auf, sondern blieb vollkommen ruhig, was bei Zetsu zu einem ratlosen Heben der Augenbraue führte. Als Tokimi sich schließlich wieder aufrichtete, war das Licht erloschen – aber nichts war geschehen. Noch immer ging eine ungute, aggressive Aura von ihr aus, die eindeutig nicht von Leana stammen konnte. Philia war immer noch hier. Sie ließ die Hand wieder sinken und enthüllte ein amüsiertes Lächeln. „Dachtest du wirklich, dieser Trick funktioniert noch einmal? Nur zu deiner Information: Ich bin wirklich wütend – und zwar nicht auf dich, sondern auf Izar! Und Rogus!“ Bei diesen Worten schien ein Feuer in ihren Augen glühen, das nicht nur von Hass, sondern auch einer Leidenschaft zeugte, die Zetsu beeindruckte. Er war sicher, dass sie in diesem Zustand, sogar einem vollkommen normalen Angriffszauber die Stirn geboten hätte. Aber es war nicht nur das. Als sie den Ellenbogen anwinkelte, schwirrten Manafunken um ihre Hand. „Das hier war auch nicht ganz unpraktisch. Dieser Körper hilft mir, noch mehr Mana freizusetzen, als mein Geist allein es je könnte – und das wiederum ist meine Trumpfkarte, um diesem verdammten Siegelzauber zu entgehen. Es gibt nichts, was du dagegen tun kannst.“ Sie zuckte lächelnd mit den Schultern. Tokimis und Fuus Reaktion, die bei beiden aus einer gerunzelten Stirn bestand, schien sie sehr zu amüsieren. „Jetzt seid ihr ratlos, was?“, stichelte sie weiter. „Tja, es gibt nichts mehr, was ihr tun könnt – also könnt ihr auch einfach aufgeben, dann werde ich euren Tod nicht zu lange hinauszögern.“ „Was lässt dich denken, dass du uns töten kannst?“, fragte Tokimi. „Bislang ist es dir noch nicht gelungen.“ Von diesem einfachen Fakt ließ Philia sich aber nicht von ihrem Plan abbringen, sie lächelte weiterhin. „Wer sagt dir, dass ich bislang ernst gemacht habe?“ Zetsu war nur allzu bereit, ihr das sofort zu glauben. Bei ihrer ersten Begegnung war der Körper noch neu für sie gewesen, inzwischen war sie an ihn gewöhnt und sein voriger, kurzer Kampf mit ihr, hatte ihm bereits ausgereicht, um zu wissen, dass sie eine gefährliche Gegnerin war und man sie nicht unterschätzen sollte. Es war ähnlich, wie bei Leana. Er war froh, dass er nie gegen seine Frau hatte kämpfen müssen, nachdem sie ein Eternal geworden war. Kämpfen wollte er aber auch jetzt nicht, er wollte sie nicht töten, sondern Leana wieder zurückholen. Irgendwie müsste ihm das gelingen. Er müsste nur ein wenig darüber nachdenken. Eine solche Situation hatte er doch bereits schon einmal erlebt. Als Nozomu von Jiruol besessen war, ist Ikaruga-senpai in sein Unterbewusstsein eingedrungen, um ihn dort zu treffen. Warum sollte das hier nicht gehen? Aber um das zu besprechen, müsste er Philia erst einmal ablenken. Kaum hatte er das gedacht, erschien Asake jenseits der Mauer, um die Eternal in einen Kampf zu verwickeln. Dieser war zwar aussichtslos, aber das war im Moment nicht weiter wichtig. Zetsu wandte sich den anderen beiden zu. „Da Plan A gescheitert ist, schlage ich einen Plan B vor.“ Tokimi wirkte davon nicht sonderlich überzeugt, aber Fuu nickte ihm lächelnd zu. „Wie soll er aussehen?“ „Es gibt die Möglichkeit, in Leanas Unterbewusstsein einzudringen. Wenn sie gegen Philia rebelliert, dürfte das helfen, diese wieder loszuwerden.“ Zumindest hatte das bei Jiruol gewirkt und Zetsu konnte sich nicht vorstellen, dass Philia trotz aller Wut stärker oder dickköpfiger sein könnte als der Schlachtgott. Während Fuu verstehend nickte, wirkte Tokimi nicht sonderlich überzeugt. „Wie soll das funktionieren?“ Er erklärte ihr in Kurzfassung das Prozedere, das die Brigade bei Jiruol und Nozomu durchgeführt hatte. „Ich denke, 'Gyouten' resoniert mit 'Shoubi', deswegen können wir diese Methode hier ebenfalls anwenden. Und es ist besser, als sie zu töten.“ An einem solchen Plan wollte er nämlich keinesfalls beteiligt sein, so viel sollten seine Verbündeten wissen. Zumindest Fuu würde es sich bestimmt denken können – und Tokimis Meinung dazu interessierte ihn nicht weiter. Asake zeigte sich derweil überraschend ehrgeizig und noch dazu erfolgreich, wie Zetsu feststellte, als er zwischendurch mal zum Kampfgeschehen hinüberblickte. Verletzungen hatte das Shinjuu natürlich nicht davongetragen, aber er wirkte durchaus ein wenig erschöpft. Zetsu hoffte daher, dass diese Diskussion nicht noch ewig weitergehen würde. Tokimi seufzte schließlich. „Fein. Wir versuchen es.“ Im Klartext: Sie hat keine Ahnung, was wir sonst tun sollen. Aber auch gut. „Also, wie machen wir das?“, fragte Tokimi. Zetsu warf erneut einen Blick zu den Kämpfenden. Philia war vollkommen in ihre Auseinandersetzung mit Asake vertieft und beachtete ihre anderen Feinde gar nicht mehr. Also sah er es als sicher genug an, weiter über diese Pläne zu sprechen. „Ich glaube kaum, dass ich ihr noch einmal nahe genug komme, dass ich es auf gewöhnliche Art und Weise versuchen kann.“ Seine beiden Gefährten runzelten nachdenklich die Stirn. Da keiner von ihnen etwas sagte, schaltete Zetsu sich erneut mit einem leisen Seufzen ein: „Könnt ihr es nicht hinbekommen, dass die Zeit stillsteht? Zumindest für einen Moment? Mehr benötige ich nicht.“ Fuu und Tokimi tauschten einen Blick miteinander. Sie sagten nichts, aber, sehr zu Zetsus Verwunderung, kamen sie dennoch zu einer Einigung. Als sie ihn wieder ansahen, nickten sie beide. „Das können wir machen.“ Er ließ sich seine Erleichterung nicht im Mindesten anmerken, damit keiner der Anwesenden Schwäche darin entdecken konnte. Dann wandte er sich wieder Philia zu und Asake wusste sofort, was los war und verschwand mitten im Kampf. In seinem Inneren konnte Zetsu ihn erleichtert seufzen hören, er dachte daran, dass er sich später daran erinnern müsste, das Shinjuu noch gebührend für sein Durchhaltevermögen zu loben, nun war aber etwas anderes wichtiger. Fuu löste die Mauer auf und konzentrierte sich dann gemeinsam mit Tokimi auf einen anderen Zauber. Damit Philia keinen der beiden in ihrer Konzentration stören konnte, griff Zetsu sie nun selbst wieder an, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Anders als Leana war Philia nicht unbedingt sonderlich aufmerksam, sobald sie einen Gegner hatte, auf den sie sich konzentrieren musste. Das war im Moment ein entscheidender Vorteil für die Gruppe. Wie schon zuvor war sie auch in diesem Kampf nun wieder nur darauf konzentriert, Zetsu davon abzuhalten, ihr zu nahe zu kommen oder sie auch nur mit einem Zauber treffen zu können. Er wich der Peitsche, die äußerst artistische Formen annehmen konnte, immer wieder aus, fand dabei aber, wie erwartet, keine Gelegenheit, selbst anzugreifen oder ihr auch nur zu nahe zu kommen. Dass Philia gerade aussah wie Leana, machte es für ihn nicht leichter. Auch wenn er sich immer wieder sagte, dass es nicht seine Frau war, die ihn hier als Feind betrachtete, sondern eine gänzlich andere Person, nagte das Gefühl an ihm. Leana hätte immerhin alles Recht der Welt, wütend auf ihn zu sein, bis zu dem Punkt, an dem sie ihn eben derart angreifen würde. Immerhin hatte er das Versprechen gebrochen und einfach aufgegeben, sich ohne jeglichen Widerstand töten lassen. Es hätte ihn absolut nicht gewundert, wenn ein Teil von Philias Zorn tatsächlich jener von Leana auf ihn war. Das ist in Ordnung. Wenn du so wütend bist, tob dich ruhig aus – aber dann werde ich dich zurückholen. Philia schien jedenfalls die Energie nicht im Mindesten auszugehen. Nachdem die Peitsche nicht zum gewünschten Erfolg führte, beschwor sie erneut Dornen und schleuderte sie Zetsu entgegen. Doch das scheiterte daran, dass er ein Manaschild vor sich aufbaute, an dem die Dornen abprallten. Philia zeigte keinerlei Frustration auf ihrem Gesicht, aber ihr Zorn schien dafür nur noch zuzunehmen. Doch bevor sie noch mehr Dornen rufen konnte, kam es Zetsu vor, als würde in seinen Ohren eine Uhr existieren, die immer langsamer tickte, bevor sie schließlich ganz verstummte. Im nächsten Moment rührte Philia sich nicht mehr, sie war mitten in der Bewegung eingefroren. „Das ist deine Chance“, sagte Tokimi. Als er sich zu seinen beiden Begleitern drehte, erkannte er, dass alles, außer ihnen, derart bewegungslos war. Selbst Kobayashi und Ylva, die sich immer noch im Kampf mit den Rosenwesen befanden, rührten sich nicht mehr. „Wir können das nicht lange aufrechterhalten“, mahnte Fuu. „Beeil dich, Zetsu.“ Er nickte dem Magier zu und zog dann sein 'Gyouten' hervor. 'Shoubi' war gerade ebenfalls wieder in Schwertform, weswegen er einfach nur mit seinem Schwert ausholen und es auf ihre Klinge treffen lassen musste. Dabei konzentrierte er sich darauf, dass er Leana wiedersehen wollte, dass es wichtig war, dass sie zurückkam. Ein grelles weißes Licht, das von den beiden Shinken ausging, blendete ihn, so wie beim letzten Mal, so dass er die Augen schließen musste und dabei nur hoffen konnte, dass er nun wirklich dort landen würde, wo Leana war. Kapitel 42: Im Inneren ---------------------- Das Haus brachte Erinnerungen wieder. Keine, die Leana deutlich erkennen konnte; keine, die ihr verrieten, weswegen sie hier war; sie konnte lediglich spüren, dass dies ein Ort war, der ihr viel bedeutete. Egal, wie lange sie davor stand und das Hochhaus betrachtete, änderte sich nichts an den Erinnerungen, die in ihre Brust stachen, als wären sie Rosendornen. In ihrem Zustand bemerkte sie auch nicht, dass lediglich das Haus deutlich zu sehen war, während alles andere, das eigentlich in dessen Nähe sein sollte, nur undeutlich zu sehen war, manchmal sogar gänzlich in der Dunkelheit verschwand, nur um kurz danach wieder aufzutauchen und dabei immer abstrakter auszusehen. Obwohl sie es nicht wollte, strebte sie auf das Gebäude zu. Die Tür schwang von allein auf, rief sie herein und verhieß ihr Glück, wenn sie nur endlich aufhören würde, sich an diese Erinnerung und damit ihr letztes bisschen Leben zu klammern. Aber sie konnte nicht loslassen. Noch nicht. Das Treppenhaus bot ein vertrautes, düsteres Bild. Auf den Briefkästen direkt neben der Tür, standen allerdings keine Namen. Auf jedem einzelnen waren Zeichen zu sehen, die ihr im Moment nichts sagten, von denen sie aber wusste, dass sie diese kannte. Es war nur … zu mühsam, darüber nachzudenken, was sie wohl bedeuten mochten. Sie wollte nicht nachdenken, nicht wissen, was dort stand und setzte stattdessen ihren Weg fort. Eine Dornenhecke, die scheinbar aus dem Nichts kam, folgte ihr dabei und verschlang sämtliche Briefkästen. Ein lautes Knacken, das Knirschen von Metall, das alles konnte sie hören, während sie unter dem Gewächs verschwanden, von wo sie niemals wieder herauskommen würden. Leana machte sich derweil an den Aufstieg der Stufen. Langsam, ohne jede Hast, nahm sie eine Stufe nach der anderen, hielt immer wieder inne, als müsste sie sich erst erinnern, wie das überhaupt funktionieren sollte. Die Dornenhecke folgte ihr derweil geduldig und nahm jede Stufe ein, kaum, dass sie diese verlassen hatte. Auf dem ersten Absatz angekommen, fand sie sich einem Fenster gegenüber, obwohl sie nicht glaubte, dass dort jemals zuvor ein Fenster gewesen wäre. Mit trägem Blick sah sie hinaus, konnte aber nicht die Umgebung jenseits des Hauses erkennen. Stattdessen war es, als würde sie in eine Wohnung hineinblicken, eine, die ihr äußerst vertraut war. Sie sah sich selbst auf dem Boden des Wohnzimmers sitzen, gegen den Körper eines Mannes gelehnt, dessen silbernes Haar so lang war, dass etwas davon ebenfalls auf dem Boden lag. Der Mann lächelte zufrieden und hatte den Arm um sie gelegt. Diesmal suchte sie in ihrer Erinnerung nach seinem Namen und fand ihn sogar. „... Zetsu ...“ Ihre heisere Stimme erzeugte ein Echo, irgendwo war ein leises Kreischen zu vernehmen, als würde dieser Name jemandem körperliche Schmerzen zufügen. Für Leana hatte dieser Name allerdings eine andere Bedeutung. Er weckte Hoffnung in ihr und Zuversicht. Sie wusste, würde sie denjenigen finden, zu dem dieser Name gehörte, würde das alles hier enden, sie könnte sich wieder an alles erinnern und alles würde gut werden. Ihre Schritte beschleunigten sich, als sie die weiteren Stufen hinaufstieg und mit jeder einzelnen glaubte sie, dass mehr von ihrer Erinnerung wiederkam. Sie roch seinen Duft, konnte wieder seine Stimme in ihren Ohren hören, glaubte sogar, dass er sie aus einem der unteren Stockwerke rief. Aber sie wusste, dass sie nicht umkehren durfte. Die Dornenhecke, die ihr immer noch folgte, würde sie dann ebenfalls verschlingen. Dort unten lebte nichts und niemand mehr, dieser Ruf war nur eine Falle, um sie endgültig aus dem Leben zu reißen und sie zu verschlingen. Auf dem nächsten Treppenabsatz fand sie kein Fenster, dafür saß eine Person auf dem Fensterbrett, die sie nicht erkannte. Es war ein Mädchen, etwa 15 Jahre alt, mit langem schwarzem Haar und roten Augen, aber egal wie sehr sie danach suchte, sie fand ihren Namen nicht mehr, nur die Tatsache, dass Leana sie gehasst hatte. Deswegen blieb sie nicht stehen und lief an ihr vorbei, auch nicht, als das Mädchen den Mund öffnete: „Wo willst du hin? Wo willst du hin? Wo willst du hin?“ Sie wiederholte immer nur diese eine Frage, weswegen Leana sie nach wie vor ignorierte und weiter die Treppe hinaufstieg. Die Dornenhecke verschlang das Mädchen ohne jedes Geräusch. Leana dachte nicht daran, stehenzubleiben. Weder ihr Körper, noch ihr Wille verlangten danach, so dass sie innerhalb kürzester Zeit den nächsten Absatz erreichte. Dort saß ein Mädchen mit langem blonden Haar und braunen Augen. An ihrem schwarzen Haarband war eine rote Rose befestigt, deren Anblick Leana in den Augen schmerzte. „Es ist sinnlos“, sagte das Mädchen. „Es ist sinnlos. Es ist sinnlos.“ Sie wiederholte diesen Satz immer wieder, weswegen Leana einfach nur an ihr vorbeilief und auch nicht zurücksah, als auch dieses Mädchen von der Hecke verschlungen wurde. Etwas zog sie weiter nach oben und versuchte gleichzeitig, sie nach unten zu rufen. Aber sie wusste, sie konnte nicht mehr stehenbleiben, nicht, wenn sie Zetsu erreichen wollte. Daran änderte auch das Mädchen auf dem nächsten Absatz nichts. Es hatte kurzes, schwarzes Haar und trug eine Brille, Lichtreflexionen verhinderten, dass Leana ihre Augen erkennen konnte. „Er ist nicht hier. Er ist nicht hier. Er ist nicht hier.“ Immer wieder derselbe Satz, bis das Mädchen von der Hecke verschlungen wurde. Leana spürte keinerlei Bedauern darüber. Sie hasste jede einzelne von ihnen, selbst wenn sie sich nicht einmal an ihre Namen erinnerte und war geradezu froh darüber, dass sie derart zermalmt wurden. Schon auf dem nächsten Absatz begegnete sie der nächsten. Sie sah jünger aus, als die vorigen, möglicherweise gerade erst 13, sie hatte kurzes, braunes Haar und rot-braune Augen, die sie verunsichert ansahen. Trotzdem waren die Worte, die sie sagte, vollkommen emotionslos: „Du wirst ihn nicht finden. Du wirst ihn nicht finden. Du wirst ihn nicht finden.“ Als dieses Mädchen von der Hecke verschlungen wurde, kam es Leana vor, als könnte sie noch einmal Zetsus Stimme hören, die ihren Namen rief. Aber es kam immer noch von unten, die Falle wollte nicht nachgeben, obwohl sie inzwischen weiter entfernt schien und mit jeder Stufe vergrößerte sie die Distanz zwischen sich und ihrem Feind. Auf dem nächsten Absatz war ein weiteres blondes Mädchen, das allerdings verspielt lächelte. „Kehr um. Kehr um. Kehr um.“ Die Hecke fand neue Nahrung an ihr, Leana dachte gar nicht daran, umzukehren. Niemand würde sie mehr von Zetsu trennen können, wenn sie erst einmal bei ihm war. Sie würde verhindern, dass irgendjemand ihn ihr noch einmal entreißen würde. „Du wirst sterben. Du wirst sterben. Du wirst sterben.“ Die Warnung des nächsten blonden Mädchens, das sein Haar zu zwei Pferdeschwänzen gebunden hatte, wurde von ihr genauso ignoriert, wie das neuerliche Rufen, nachdem es von der Hecke verschlungen worden war. Als Leana die letzten Stufen erklommen hatte, stand sie vor einer Tür. Es gab keine weiteren Treppen, obwohl sie wusste, dass hier eigentlich noch welche sein müssten, genau wie es keine weiteren Türen gab. Dafür stand eine Person davor, ein Junge mit kurzen schwarzen Haaren, der Leana schelmisch anlächelte. Sie erinnerte sich auch nicht an seinen Namen, aber sie spürte auch keinen Hass ihm gegenüber, weswegen sie sogar stehenblieb, um sich anzuhören, was er zu sagen wusste. Die Hecke bahnte sich derweil ebenfalls die letzten Stufen hinauf. „Du bist zu spät“, sagte der Junge lächelnd. „Du bist zu spät. Du bist zu spät.“ Als die Worte in ihren Kopf sickerten, rannte sie weiter, stieß die Tür auf und stürzte in die kleine Wohnung hinein, die noch genau so war, wie es ihrer Erinnerung entsprach. Selbst der Geruch – Zetsus Geruch – war noch allgegenwärtig. Sie durchquerte den kleinen Flur und betrat das Wohnzimmer. Dort, auf den Tatamimatten, saß Zetsu, mit dem Rücken zu ihr. Sie rief seinen Namen, setzte sich hastig neben ihn und schlang die Arme um ihn, nur um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich da war, dass sie nicht zu spät gekommen war. Doch bevor die Erleichterung sie durchströmen konnte, spürte sie, wie der Zetsu in ihren Armen langsam zerbröckelte, bis nur noch ein Haufen Steine, die nicht im Mindesten an ihn erinnerten, dort lag, wo er eben noch gesessen hatte. Stumpf starrte sie auf die Klumpen hinab. Sie wusste, sie müsste etwas fühlen, aber sie konnte nicht. Stattdessen war da nur das Wissen, dass sie wieder zu spät gekommen war, dass sie es wieder nicht geschafft hatte, ihn zu retten und dass sie ihn niemals wiedersehen würde. „Er ist fort“, murmelte sie. „Er ist fort.“ Sie zog die Beine an ihren Körper. „Er ist fort.“ Sie schlang ihre Arme um ihre Beine. „Er ist fort.“Sie starrte auf die Tür, durch die sich nun die Dornenhecke in die Wohnung hineinarbeitete. „Er ist fort.“ Wie viel Zeit verging, während der sie einfach nur dasaß und auf die Tür starrte, wusste sie nicht und es war ihr auch egal. Ihr Innerstes war derart leer, dass sie nicht einmal Schmerzen spürte, als die Dornenhecke sich sogar um ihren Körper schlang und dabei oberflächliche Wunden in ihre Haut schlug. Es kümmerte sie nicht einmal, dass plötzlich jemand zur Tür hereinkam, jemand, der früher ihr Herz allein dadurch hatte schneller schlagen lassen, dass er im selben Raum wie sie war. Aber an diesem Tag interessierte sie das nicht. Auch als er sich vor sie kniete und in seine blauen Augen sehen konnte, die sie besorgt anblickten, interessierte es sie nicht. Sie wollte ihm sagen, dass er verschwinden sollte, da er nur eine weitere Falle in dieser Welt war, um sie in die Irre zu führen und sie zu zerbrechen, aber sie machte sich nicht die Mühe. In diesem Moment war sie sich selbst derart unwichtig, dass sie ihm sogar eher viel Glück dabei wünschte, sie zu zerstören, damit das alles endlich enden würde. „Leana ...“ Wie sehr hatte sie sich gewünscht, wieder ihren Namen von ihm zu hören und doch hasste sie denjenigen, der vor ihr saß, gerade, als er es tat. Nein, sie konnte nicht einmal genug Kraft aufbringen, ihn zu hassen. Sie starrte ihn einfach nur an. Er griff durch die Dornenhecke hindurch nach ihren Oberarmen. „Komm schon, du musst aufstehen, du kannst hier nicht bleiben.“ Vorsichtig und doch mit einer gewissen Hast, versuchte er, die Ranken zu entfernen. „Warum?“, fragte sie murmelnd. „Weil es wichtig ist, dass du lebst.“ Er antwortete, während er sich selbst die Hände mit den Dornen aufschnitt. „Es ist unwichtig“, erwiderte sie kraftlos. „Zetsu ist fort. Es ist meine Schuld. Ich habe es verdient.“ Diesmal hielt er inne und schüttelte den Kopf. „Das ist nicht wahr. Ich bin nicht fort, ich bin genau hier und versuche gerade, dich wieder zurückzuholen.“ „Du bist nicht Zetsu … Zetsu ist tot.“ „Das bin ich nicht. Ich bin genau hier.“ Sie erwiderte nichts mehr darauf, machte aber auch keine Anstalten, ihm zu helfen, als er sich wieder darum bemühte, die Ranken zu entfernen. Ohne sie anzusehen, sprach er weiter: „Es sieht dir nicht ähnlich, einfach so aufzugeben. Und es tut mir leid, dass ich damals einfach aufgegeben habe und du mich deswegen nicht retten konntest. Ich wollte nicht, dass du so viel leidest.“ Das Blut tropfte bereits von seinen Händen zu Boden, kleine Rinnsale flossen seine Arme hinab, aber dennoch fuhr er fort damit, die Ranken von ihr zu entfernen. „Ich wusste aber, dass ich dich wiedersehen würde, wenn ich auf den Eternal Oath vertraue.“ Der Schwur, der ihre Orichalcum-Namen damals miteinander verbunden hatte, Leana erinnerte sich noch daran, obwohl alles andere inzwischen mehr als nur verschwommen war. Damals hatte es bereits so ausgesehen, als läge Zetsu im Sterben, mit dem Schwur hatte er damals sichergehen wollen, dass er sie auf jeden Fall wiedersehen würde. Endlich legte er einen ihrer Arme frei. Sie blickte hinab und bemerkte, dass ihr Orichalcum-Name in einem sanften Licht leuchtete, im Einklang mit dem seinen, wie ihr in diesem Moment auffiel. Das konnte keine Einbildung sein. Sie glaubte nicht länger an eine Falle, an einen Hinterhalt, der sie brechen sollte, stattdessen hob sie wieder den Blick, um ihm in die Augen sehen zu können. „Zetsu?“ Er lächelte sanft und nickte. „Ich bin es wirklich. Und ich bin hier, um dich zurückzuholen.“ „Zurück?“ „Ins Leben. Gemeinsam mit mir.“ Er log nicht. Sie spürte genau, dass er die Wahrheit sagte, dass sein Lächeln echt war, dass ihre Verzweiflung nun enden könnte, wenn sie es zuließ. Langsam, weil es sie unendlich viel Anstrengung erforderte, hob sie ihre Arme, ignorierte dabei die Dornenranken, die noch immer um den einen geschlungen waren. Kaum befand sie sich in einer Situation, in der sie Zetsu umarmen könnte, fielen die Ranken von ihr ab und begannen sich, überraschend schnell, aufzulösen. Leanas Blick galt aber einzig und allein Zetsu, den sie immer noch nicht umarmte, aus Furcht, er würde sich dann direkt wieder auflösen. Sie wusste, sie würde es nicht ertragen, wenn sich herausstellte, dass er, entgegen ihres festen Glaubens, doch nicht real war. Doch er überging ihre Unsicherheit einfach, indem er die Arme um sie schlang und sie an sich drückte. Dabei glaubte sie sogar, ihn leise schluchzen zu hören, aber schon einen Moment später erkannte sie, dass sie es war, die zu weinen begonnen hatte. Sie schmiegte sich an ihn, nahm seinen Geruch und seine Wärme in sich auf, hörte seine Stimme, die beruhigende Dinge in ihr Ohr flüsterte, stellte sicher, dass er es wirklich war und schluchzte dabei immer weiter. Doch diesmal war es keine Trauer, die diese Tränen hervorrief, es war pure, unverfälschte Freude, Erleichterung, alle positiven Emotionen auf einmal. „Zetsu“, brachte sie leise hervor. „Zetsu ...“ „Lass uns gehen“, erwiderte er. „Es wird langsam Zeit.“ Sie wusste nicht, wofür es Zeit wurde, nicht, was überhaupt wirklich geschehen war oder wo sie sich überhaupt befand, aber sie wusste, dass er damit recht hatte. Es gab keinen Grund mehr zu bleiben. Er half ihr aufzustehen, ohne sich dabei aus ihrer Umarmung zu lösen. Doch bevor sie wirklich gehen konnten, erklang eine kalte Stimme, die Leana glaubte, schon einmal gehört zu haben, auch wenn es ihr inzwischen wie eine Ewigkeit vorkam: „Denkt ihr wirklich, ich lasse das so einfach zu?!“ Leana löste ihren Kopf von Zetsus Brust, um sich umsehen zu können, aber sie konnte sonst niemanden entdecken. Als sie in sein besorgtes Gesicht sah, wusste sie aber, dass diese Stimme wirklich ein Problem darstellte. „Das hat gerade noch gefehlt“, murmelte er. Im nächsten Moment zersprang die Wohnung, in der sie sich bis dahin befunden hatten und ein helles Licht überschattete Leanas Augen. Sie schloss diese und legte ihren Kopf wieder an Zetsus Brust. Sie lauschte seinem Herzschlag, der sie immer zu beruhigen verstanden hatte und wusste eines ganz genau: Egal, was geschieht … wir sind zusammen und werden es auch immer bleiben. Kapitel 43: Mana Serenade ------------------------- Als das Licht wieder erlosch, befanden Zetsu und Leana sich in einem Rosengarten, dessen Blüten allerdings abgestorben waren. Selbst für sie, die diese Blumen nicht mochte, war es ein trauriger Anblick. Sie löste sich ein wenig von ihrem Begleiter, um sich besser umsehen zu können – und einen Atemzug später, entdeckte sie bereits eine Person mit langem, schneeweißem Haar vor ihnen. Die Frau war von einer finsteren Aura umgeben, eine bösartige Grimasse zierte ihr Gesicht. „Dachtet ihr wirklich, ihr könntet vor mir entkommen?“, fragte sie wütend. „Ich werde keinem von euch beiden noch Gnade zukommen lassen! Ihr habt endgültig verloren!“ Ehe Leana fragen konnte, um wen es sich dabei handelte, teilte Zetsu es ihr mit: „Das ist Philia. Sie hat deinen Körper übernommen, während du nicht wach warst.“ Das verstand sie zwar immer noch nicht, aber es war deutlich, dass sie gerade keine Zeit besaßen, dass sie gründlich aufgeklärt werden konnte. Also verschob sie das auf später und wollte ihr Shinken erscheinen lassen – aber nichts geschah. „Hm?“ Als sie zu Philia hinüberblickte, bemerkte sie, dass diese gerade 'Shoubi' in der Hand hielt. „Und ich glaube, dein Shinken mag sie ein wenig mehr“, erklärte Zetsu weiter. „Sie war eine seiner alten Meister.“ „Was nun?“ „Ich kümmere mich schon darum“, versicherte er ihr schmunzelnd. Noch im selben Moment sprintete er bereits los, direkt auf Philia zu. Diese hob einfach 'Shoubi' und wehrte seinen ersten Angriff damit ab. Sie hob ihr Bein, um ihn zu treten, aber er wich sofort nach hinten aus, um dem zu entgehen. Leana beobachtete, wie die beiden weitere Schläge austauschten und sie hasste sich im Moment dafür, dass sie nichts tun konnte, außer nur zuzusehen. Sie wollte eigentlich nie wieder zulassen, dass irgendjemandem, der ihr nahestand, wieder etwas geschehen müsste und am wenigsten Zetsu, nachdem er nun endlich zurück war. Aber ohne Waffe, ohne Shinken, gab es nichts, was sie gegen einen Gegner mit einem solchen, tun könnte. Außerdem war deutlich, dass Philia wesentlich besser mit dieser Waffe umgehen konnte als sie. Sie verformte sogar die Klinge zu einer Peitsche, um Zetsu aus der Distanz anzugreifen, aber er war darauf vorbereitet, wich dem ersten Knall aus und fing den zweiten mit 'Gyouten' ab. Im Anschluss schleuderte Philia sogar Dornen auf ihn, aber diese wurden von Zetsus Schild abgefangen – und einem blauhaarigen Jungen, den Leana immer nur kurze Bruchteile von Sekunden lang sehen konnte, weswegen sie sogar glaubte, sich ihn nur einzubilden. Aber ungeachtet dessen zweifelte sie für einen Moment daran, ob sie 'Shoubi' wirklich zurückbekommen sollte. Wenn es jemanden gab, der so sehr mit dieser Waffe synchronisiert war, wäre es vielleicht sogar Diebstahl von ihrer Seite aus. Aber wenn Zetsu damit im Recht war, dass diese Philia ihren Körper vereinnahmt hatte, dann durfte sie nicht zweifeln. Sie musste wieder zurückkehren und das funktionierte nur, wenn sie Philia besiegen würden. Zurück ... gemeinsam mit Zetsu ... Alles würde wie früher werden. Sie wären wieder vereint, könnten wieder gemeinsam durch alle Welten reisen und einfach nur glücklich sein, genau wie sie es sich in der ganzen letzten Zeit gewünscht hatte. Kaum wurde ihr das wieder bewusst, wuchs ein warmes Gefühl in ihrer Brust, das sie seit Zetsus Tod nicht mehr gefühlt hatte. Es war der Wille zu kämpfen, der sie gemeinsam mit Zetsu damals verlassen hatte. Er war der Grund gewesen, warum sie ein Eternal geworden war, er war der Grund, warum sie kämpfen wollte. Und er war der Grund, weswegen sie 'Shoubi' benötigte. Nur damit könnte sie an seiner Seite sein, könnte sie ihn vor allen Gefahren beschützen, die auftraten, so wie in diesem Moment. Sie gehörte zu Zetsu, wie 'Shoubi' nun zu 'Gyouten' gehörte. Niemals wieder würde sie zulassen, dass ihn ihr jemand wegnahm, dass die Shinken voneinander getrennt werden würden. Sie konzentrierte sich vollkommen auf dieses Gefühl und schon einen Augenblick später, spürte sie wieder 'Shoubis' vertrauten Griff in ihrer Hand. Die Kämpfenden hielten derweil inne; Philia, weil sie nun keine Waffe mehr besaß und Zetsu, weil er offenbar mindestens genauso verwirrt darüber war, wie seine Feindin. Leana blickte hinab. 'Shoubi' glitzerte und sie wollte darin gern sehen, dass das Shinken sich darüber freute, wieder bei ihr zu sein, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, ob es überhaupt ein derartiges Bewusstsein – abseits von Isolde – besaß. Aber gemeinsam mit diesem Shinken, davon war sie überzeugt, würde es ihr nun gelingen, allem zu trotzen, was sich ihnen in den Weg stellen würde. Sie würde Zetsu beschützen – mit diesem Shinken, das sie als seine Meisterin auserkoren und für würdig befunden hatte. „Das kann nicht sein!“, entfuhr es Philia. „Warum hat 'Shoubi' mich verlassen?!“ Zetsu wich derweil zurück, bis er wieder neben Leana stand. Er nickte ihr lächelnd zu, was von ihr erwidert wurde, dann widmeten sie sich beide wieder ihrer Feindin, vereint, Seite an Seite, auf dem Schlachtfeld, so wie sie es vermisst hatte ... jedenfalls manchmal. Es wäre ihr auch recht gewesen, wenn sie nicht mehr kämpfen müssten. „Gib auf, Philia“, sagte Zetsu. „Ohne Shinken gibt es nichts mehr, was du tun kannst.“ Das dachte Leana ebenfalls, noch dazu weil sie entschlossen war, 'Shoubi' nicht mehr gehen zu lassen. Sie würde dem Shinken beweisen, dass es gut war, dass es sich für sie entschieden hatte, um ihren Beschützerdrang zu erfüllen. Doch Philia war da vollkommen anderer Meinung. Statt aufzugeben, stieß sie ein spöttisches Lachen aus. „Ich werde niemals zulassen, dass ihr mich besiegt!“ Ihre bis dahin blauen Augen wandelten sich plötzlich. Erst färbte sich die Iris rot, dann wurde auch das Weiß vollkommen verdrängt, eine rote Spur bahnte sich über ihre Wangen, bis es so aussah, als würden ihre Augen bluten. Zetsu seufzte leise. „Ist das Standard bei Eternal?“ Leana fragte sich, worauf seine Frage anspielte, aber sie hatte nach wie vor keine Zeit, es laut auszusprechen. Die Aura um Philia schien regelrecht zu explodieren, weißes Mana sammelte sich um sie, so dicht, dass es sogar richtig sichtbar wurde. „Keiner von euch beiden wird entkommen!“, verkündete sie mit verzerrter Stimme. „Ich werde euch vernichten! Hier und jetzt!“ Sie riss die Hand nach oben, worauf die Manafunken sich dort konzentrierten und sich zu einer Waffe zu formen begannen. Zetsu fluchte und preschte vor, um sie mit einem Angriff aus dem Konzept zu bringen – doch das Mana, das sie noch umgab, wehrte ihn mühelos ab und schleuderte ihn zurück. Glücklicherweise schaffte er es, wieder auf den Füßen zu landen und sich dann wieder sicher hinzustellen. „Damit habe ich nicht gerechnet ...“ Einen Augenblick später, befand sich bereits eine Hellebarde in ihrer Hand, die sie mit erstaunlicher Leichtigkeit zu führen verstand, wie sie bewies, indem sie diese kunstvoll wirbelte und dann mit dem Griff auf den Boden klopfte. Einige Sekunden lang, sahen sich die Kontrahenten einfach nur gegenseitig an – dann holte Philia noch einmal aus und im selben Atemzug wichen Leana und Zetsu mit einem Sprung in unterschiedliche Richtungen aus. Die Klinge der Hellebarde zerteilte den Boden, auf dem sie eben gestanden hatten. Doch Leana blieb keine Zeit, um das gebührend zu bewundern, denn Philia ließ die Klinge bereits seitlich in ihre Richtung sausen. Leana sprang nach oben und landete auf der abgeflachten Klinge, dann versuchte sie, weiter über den Griff in Richtung ihrer Feindin zu laufen. Doch Philia warf sie bereits zu Boden, ehe sie mit 'Shoubi' in Reichweite war. Die Manafunken erschufen Dornenranken, die sich um Leanas Beine wickelten, kaum dass sie wieder in Kontakt mit dem Boden gekommen war. Es schmerzte nicht, aber sie konnte spüren, wie ihr Mana langsam schwand. Zetsu nutzte die Gelegenheit, um einen eigenen Angriff zu starten. Er rammte das Shinken in den Boden, worauf der Junge von zuvor erschien und einen grellen Lichtstrahl auf Philia abfeuerte, ehe er wieder verschwand. Doch die Manawand verdichtete sich vor ihr, so dass sie nicht im Mindesten von dem Zauber verletzt wurde, sie wirkte nicht einmal im Mindesten beeinträchtigt. Kaum war der Strahl erloschen, wischte sie Zetsu mit einer ungeduldigen Handbewegung, der ihre Waffe folgte, beiseite. Dafür schwand ihre Konzentration für einen Moment, was es Leana erlaubte, sich von den Dornenranken zu befreien und dann noch einmal anzugreifen. Diesmal machte sie sich nicht die Mühe, der Hellebarde auszuweichen, sondern wehrte diese einfach mit 'Shoubi' ab, was ihr, für jeden Zuschauer überraschenderweise, auch problemlos gelang. Doch viel weiter kam sie damit auch nicht. Statt irgendetwas ausrichten zu können, war sie nun in einer Pattsituation mit Philia gefangen, der sie nicht so einfach entkommen konnte. Jede Bewegung, die sie sich dafür vorstellen konnte, endete in ihren Gedanken nur mit einer schwerwiegenden Verletzung für sie selbst. Sie sah Philia an und blickte ihr direkt in die blutroten Augen, die sie wiederum geradewegs anstarrten. Leana, die absolut nichts über Philia wusste, fragte sich, was jemand wohl durchgemacht hatte, um derart viel Leid in sich zu tragen, dass sogar die Augen zu bluten begannen. Sie würde Zetsu später fragen – wenn sie das erst einmal gewonnen hatten. Wir können einfach nicht verlieren. Das dürfen wir nicht! Zetsu versuchte es mit einem erneuten Angriff, doch Philia warf Leana kurzentschlossen zurück und wandte sich dann ihm zu, um ihm dasselbe Schicksal zu bescheren. Kaum war das geschehen, ließ sie eine Druckwelle entstehen, die ihre beiden Feinde zu Boden drückte. Dabei stieß sie ein spöttisches Lachen aus. „Ich sagte doch, ihr habt keine Chance! Selbst wenn das hier nicht meine Welt ist, bin ich euch immer noch überlegen!“ Leana versuchte, sich wieder aufzurichten, aber der fremde Druck war noch immer zu stark und ihr Körper fühlte sich nach wie vor zu schwach an, um irgendetwas zu tun. Dafür konnte sie sehen, wie Zetsu sich wieder aufzurichten versuchte, worauf Philia zu ihm hinüberging und ihren Fuß auf seine Brust stellte, um ihn wieder niederzudrücken. „Vergiss es! Ich war bislang nett zu dir, aber jetzt ist es damit endgültig vorbei.“ Die Hellebarde wandelte sich in ein dünnes Schwert, das gerade stabil genug schien, um in Fleisch einzudringen und Verletzungen zu verursachen, die nicht tödlich enden würden. „Jetzt wird es Zeit, dass ich dir zeige, wie grausam ich sein kann.“ Er riss 'Gyouten' nach oben, um sich zu befreien, aber Philia ließ sich nicht beeindrucken. Es schien sie keinerlei Mühe zu erfordern, diesen Angriff abzuwehren, dann stieß sie ihm das Schwert in den Arm. Er gab einen erstickten Schmerzenslaut von sich und verzog das Gesicht ein wenig, bemühte sich sonst aber, ihr keinerlei Genugtuung zuteil werden zu lassen. Dieser Anblick genügte Leana aber auch schon, um ihren eigenen Körper die letzten Energiereserven aktivieren zu lassen. Mühevoll richtete sie sich auf, bis sie, wenn auch wackelig, wieder auf den Beinen stehen konnte. Einige der Funken, die bislang Philia umgeben hatten, schwebten nun zu ihr herüber und leisteten so dem neu entstehenden Mana Gesellschaft. Ihre Feindin wandte ihr den Kopf zu und runzelte die Stirn. „Was hast du vor? Es gibt nichts mehr, was du tun kannst.“ Davon war sie offenbar so sehr überzeugt, dass sie nicht einmal den Fuß von Zetsus Brust nahm, offenbar sah sie in ihm die wesentlich größere Gefahr. Aber Leana störte sich nicht daran, für sie kam das immerhin sehr gelegen. Sie legte ihre Hände auf ihr Herz, schloss die Augen und öffnete den Mund, um zu singen. Fremdartige Worte, deren genaue Bedeutung ihr unbekannt waren, erklangen aus ihrem Mund und bildeten ein Lied zu einer unhörbaren Melodie. Die toten Rosenblüten begannen als Reaktion darauf, wieder zu erblühen, Philia blickte sich irritiert um, verstand aber wohl nicht so ganz, was es zu bedeuten hatte. Leana dagegen spürte, wie der Zauber sich in ihr aufbaute, wie er Gestalt annahm. Sie wünschte Philia nicht den Tod, sondern vielmehr die Erlösung von dem Schmerz, der sie heimsuchte. Nach allem, was sie nach Zetsus Tod durchgemacht hatte, wusste sie, wie tief die Gram sich mit ihren Zähnen in die Seele beißen konnte, wie sie einen zerstörte und sie wollte, dass es für Philia endete, so wie es auch für sie nun vorbei war, da Zetsu zurückgekehrt war. Ihre Divine Magic reagierte auf ihren Wunsch. Die Rosen öffneten sich, rosa Funken strömten daraus hervor und ersetzten jenes Mana, das Philia zuvor umgeben hatte. Ihre Aggressivität schien von ihr abzufallen, während sie verwundert betrachtete, was um sie herum vorging. Leana sang derweil weiter, auch wenn sie spürte, wie sehr der Zauber an ihrem schwachen Körper zehrte und sie bereits bewusstlos zu werden drohte. Doch noch war sie nicht bereit, aufzugeben, sie kämpfte weiter mit sich, um den Zauber zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Philia nahm endlich den Fuß von Zetsus Brust, derart konzentriert war sie inzwischen auf die Funken, die sie mit wachsender Faszination betrachtete. Je länger Leana sang, desto mehr Funken entstanden und desto mehr fiel der Zorn und die Wut von Philia ab. „Das ist wunderschön ...“, sagte diese leise. Langsam, sie bemerkte es wohl selbst nicht einmal so wirklich, begann ihr Körper, sich aufzulösen. Erst schwanden ihre Füße, dann ihre Beine und schließlich, mit einem letzten erleichterten Seufzen, war alles von ihr fort und nur eine Träne der Erleichterung schwebte gemeinsam mit den Manafunken noch in der Luft. Schließlich verstummte Leana wieder und beendete damit den Zauber. Gleichzeitig verließ jegliche Kraft ihre Beine und sie sank zu Boden. Alles vor ihren Augen verschwamm, aber sie konnte noch sehen, wie Zetsu zu ihr herübersprintete und sich neben sie kniete. Sie hörte, wie er ihren Namen rief, auch wenn er dabei so unendlich fern klang. Er war am Leben, er war gesund, sie hatte alles erreicht, was ihr Ziel in diesem Kampf gewesen war. Dieser Gedanke erfüllte sie mit derart viel tiefer Zufriedenheit und Erleichterung, dass sie es nicht mehr schaffte, die Kraft aufzutreiben, weiterhin wach zu bleiben. Sie flüsterte leise, wie froh sie darüber war, ihn wiedergesehen zu haben, dann wurde alles vor ihren Augen schwarz und sie versank wieder in eine unendlich erscheinende Dunkelheit, in der es keinen Zetsu gab. Kapitel 44: Abschiede --------------------- Noch bevor sie ihre Augen öffnete, wusste Leana schon, dass sie nicht dort war, wo sie das Bewusstsein verloren hatte, aber sie lag auch nicht in einem Bett. Stattdessen kniete sie auf dem Boden und saß auf ihren Fersen, ihr Rücken war vollkommen durchgestreckt. Es war eine japanische Sitzhaltung, die jemand aus der Brigade ihr als Seiza vorgestellt hatte, wie sie sich erinnerte – und es war immer noch so schmerzhaft, wie sie es in Erinnerung hatte. Sie grummelte leise, während sie die Augen öffnete und sofort wieder verstummte, als ihr Blick auf eine Tasse Tee fiel, die vor ihr auf einem kleinen Tisch stand. Im selben Moment stieg ihr erst der Duft in die Nase, es war jener Tee, den Eos gemeinsam mit ihr getrunken hatte. In jenem Atemzug, in dem ihr das auffiel, spürte sie die Anwesenheit weiterer Personen, weswegen sie sofort den Kopf hob, um ihre Tischpartner zu mustern. Eos saß links von ihr und lächelte seltsam friedlich, genau wie Ayumu zu ihrer rechten und sogar Nanashi, in ihrer großen Form, ihr direkt gegenüber, vor jedem stand ebenfalls eine Tasse mit Tee. Als sie den Kopf wandte, entdeckte sie Hyperion, der mit verschränkten Armen an der Wand lehnte. Obwohl sie hier mit drei Personen zusammen war, die sich allesamt zu Lebzeiten gehasst hatten, spürte sie keinerlei Feindseligkeit oder Bedrohung. Die Atmosphäre war entspannt, geradezu friedlich und fast schon wünschte sie sich, nie wieder fortgehen zu müssen – was sie allerdings auf eine andere Frage brachte: „Wo bin ich?“ „Das haben wir uns auch schon gefragt“, antwortete Ayumu, zwar seufzend, aber immer noch mit leichtem Amüsement in der Stimme. „Aber so ganz wissen wir es nicht.“ „Aber wir wissen, dass es nicht das Nirvana ist“, sagte Eos. „Eigentlich kamen wir deswegen darin überein, dass wir wieder zu einem großen Ganzen geworden sind.“ Leanas Verstand war noch ein wenig träge, da sie gerade erst aufgewacht war, aber kaum ergaben diese Wörter in ihrem Inneren einen bestimmten Sinn, stieß sie einen erstickten Laut aus. „Das stimmt! Zetsu sagte, er ist wieder da! Wir haben mit Philia gekämpft und dann ...“ Sie griff sich an ihre Brust, suchte nach einem Herzschlag und atmete erleichtert auf, als sie einen solchen feststellen konnte. „Ich lebe auch noch.“ „Ja, warum denn auch nicht?“, fragte Ayumu verwundert. „Philia hat viel von deiner Energie verbraucht“, ergänzte Eos, „aber du bist sehr zäh. Eigentlich war es nur natürlich, dass es dir vorbehalten bleibt, sie zu besiegen.“ Das fand Leana nicht, immerhin war Zetsu um einiges stärker als sie und das schon immer, doch bevor sie das einwerfen konnte, hörte sie eine andere Stimme: „Nach seiner Rückkehr blieb ihm nicht viel Zeit, sich auszuruhen. Du warst wirklich die einzige Hoffnung.“ Sie blickte wieder hinter sich, zu Hyperion, der unbewegt dastand – aber sie war der festen Überzeugung, dass er soeben gesprochen hatte, weswegen sie äußerst überrascht war. Sie hatte seine Stimme noch nie gehört, aber nun stellte sie fest, dass er wirklich fast genau wie Zetsu klang. Ohne seine Maske wäre er von diesem vielleicht nicht einmal zu unterscheiden gewesen. Die anderen kommentierten das nicht weiter, stattdessen seufzte Ayumu. „Ich beneide ihn richtig. Er darf jetzt wieder die ganze Aufregung erleben.“ Eos lachte leise. „Was gibt es da zu beneiden? Du bist doch er.“ Leana senkte den Blick wieder. Im Tee konnte sie, undeutlich, ihr Spiegelbild erkennen. „Werdet ihr alle verschwinden?“ Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Ayumu seine eigene Tasse nahm und einen Schluck trank, ehe er ihr antwortete: „Natürlich nicht. Also nicht restlos jedenfalls. He, wir sind Splitter von seiner Persönlichkeit, da verschwinden wir nicht einfach.“ „Aber ihr seid auch eigene Personen gewesen!“, begehrte Leana auf und riss den Kopf abrupt nach oben, so dass ihr Haar aufwirbelte. „Mit richtigen Persönlichkeiten!“ Eos und Ayumu warfen sich über den Tisch hinweg einen amüsierten Blick zu, den Leana nicht im Mindesten verstehen konnte. Sie knurrte leise und ballte die Hände zu Fäusten, sagte aber noch nichts, sondern wartete darauf, ob noch eine Erklärung folgen würde – und diese bekam sie auch, wenngleich von Hyperion: „Die Tatsache bleibt, dass wir eigentlich niemals wirkliche Personen hätten sein sollen und wir im Endeffekt nur vertiefte Aspekte einer einzigen Person waren.“ Die ehemalige Regentin nickte. „Das ist richtig. Aber jetzt sind wir alle wieder zusammen. Wir sind wieder vollständig und können wieder die Person sein, die wir eigentlich sein sollten.“ „Und solange du uns nicht vergisst“, setzte Ayumu hinzu, „werden wir ja auch niemals vollständig verschwinden.“ „Ich will das aber nicht!“ Sie reagierte derart heftig, dass sie dabei gegen den Tisch stieß und der Tee aus ihrer Tasse überschwappte. Mit Mühe kämpfte sie die Tränen nieder, schüttelte aber immer wieder den Kopf. „Ich will nicht, dass ihr alle plötzlich verschwindet und einfach nur wieder ein Teil von Zetsu werdet! Es … es ist meine Schuld, dass es so weit kommen musste, ich kann-“ Als Hyperion seine Hand auf ihre Schulter legte, unterbrach sie sich selbst wieder. Allerdings war es nicht er, der nun die Stimme erhob, sondern Eos: „Es ist in Ordnung. Auch wenn unser Leben kurz war, haben wir es sehr genossen. Und wir haben es nur durch dich erfahren können.“ „Und all diese Erfahrungen werden wir ihm nun einbringen“, sagte Ayumu. „Nichts geht verloren und nichts geht vergessen.“ Leana senkte ihren Kopf wieder, ein wenig unwillig, das einfach so hinzunehmen. „Das ist nicht dasselbe.“ Aber sie spürte, dass keiner der anderen von seiner Meinung abrücken würde. Sie alle waren der Überzeugung, dass es besser war, wieder mit Zetsu vereint zu sein. Eigentlich wollte sie auch dieser Meinung sein, sie wusste sogar, dass sie es sein müsste, aber sie konnte es nicht so recht. Natürlich freute sie sich über Zetsus Rückkehr, aber niemals hatte sie diese zum Preis der Leben dieser drei Menschen gewünscht. Da sie bei ihnen nicht weiterkam, sprach sie endlich die Person ihr gegenüber an: „Aber was ist mit dir, Nanashi? Du kannst unmöglich damit zufrieden sein! Du wirst nicht wieder ein Teil von Zetsu.“ Leana erwartete, dass das Shinjuu sie dafür auch zurechtweisen und ihr sagen würde, was sie eigentlich hören wollte, dass irgendjemand sie endlich dafür zur Verantwortung zog, dass sie es zuerst nicht geschafft hatte, Zetsu zu retten und dann zugelassen hatte, dass sie Situation sich zuspitzte, bis Ayumu und Eos ebenfalls gestorben waren. Doch entgegen ihrer Erwartung tat Nanashi ihr diesen Gefallen nicht und schüttelte stattdessen mit dem Kopf. „Es ist wahr, dass ich kein Teil von Meister werden kann – aber das ist auch nicht notwendig. Ich bleibe nach wie vor ein Bestandteil von 'Gyouten' und Narukana-sama. Und solange dieser Fakt besteht, werde ich nicht vollständig sterben.“ Plötzlich verzogen sich ihre Lippen zu einem Grinsen, das Leana nicht an ihr kannte, aber nicht vollkommen ernst zu sein schien. Anhand ihrer Stimme und und ihrer folgenden Worte, war aber nicht auszumachen, wie sie es meinte: „Also verlass dich nicht zu sehr darauf, dass Meister endgültig dir gehört. Eines Tages sehen wir uns bestimmt wieder und dann wird es auch kein dummes Gesetz mehr geben, das mich von ihm fernhält.“ Eigentlich hätte sie sich über diese Ankündigung der Konkurrenz ärgern müssen, so wie sie es immer tat, wenn irgendein anderes Mädchen Ansprüche an Zetsu zu stellen wagte. Aber in dieser Situation lächelte Leana stattdessen. „Ich freue mich schon darauf.“ Und wenn es nur dafür war, ein für allemal Gewissheit darüber zu erhalten, ob das Gefühl, dass Nanashi, statt sie, eigentlich diese Beziehung mit Zetsu haben sollte, eine Grundlage besaß oder nicht. Aber eigentlich zweifelte Leana nicht wirklich daran, dass er sich für sie entscheiden würde, statt für sein früheres Shinjuu – nicht, nachdem er sogar in ihr Unterbewusstsein eingedrungen war und dort gegen Philia gekämpft hatte, nachdem er gerade erst wieder ins Leben zurückgekehrt war. Zetsu hatte ihr bewiesen, wie sehr er sie liebte und sie war entschlossen, ihn nie wieder gehen zu lassen und zu verhindern, dass so etwas Furchtbares noch einmal geschehen könnte. Ein warmes Gefühl füllte ihre Brust aus, während sie das dachte. Es war voller Leben und gleichzeitig auch angefüllt mit Sehnsucht, die einzig und allein Zetsu galt und niemandem sonst. Ayumu lächelte sanft, als er das zu bemerken schien. „Siehst du? Du willst zu ihm.“ „Was vollkommen nachvollziehbar ist“, bekräftigte Hyperion. „Wer so sehr liebt“, endete Eos, „kann es kaum ertragen, von der anderen Person getrennt zu sein.“ Dennoch blickte Leana verunsichert zwischen allen umher. „Und es ist wirklich … in Ordnung für euch? Ayumu? Eos?“ Den einen hatte sie mit ihrer Abweisung immerhin zu dem Handeln getrieben, das ihn letztendlich getötet hat und die andere hatte sie mit eigener Hand umgebracht. Doch beide nickten lächelnd, ehe Eos noch hinzufügte: „Du weißt selbst genau, wie wir uns am Ende verhalten haben. Wir hätten uns vielleicht noch ein ganzes Leben nur damit gequält, dass wir nicht vollständig sein werden.“ „Und jetzt werden wir es wieder sein“, schloss Ayumu sich ihr an. „Mehr noch, wir werden auch bei dir sein können, genau wie wir alle es eigentlich immer wollten. Und du wirst dabei endlich glücklich sein.“ „Und das ist genau das, was wir ebenfalls wollten“, sagte Hyperion. „Deswegen gibt es für uns keinerlei Bedauern in dieser Sache.“ Selbst er schien zu lächeln – zumindest deutete sie die glitzernden Augen derart, da sie seinen Mund hinter der Maske nicht sehen konnte. Leana war geradezu überwältigt. Sie verziehen ihr, was sie getan hatte, obwohl sie selbst es als absolut unverzeihlich eingeschätzt hätte. Hastig fuhr sie sich mit dem Arm über die Augen, die leicht zu brennen begonnen hatten, dann hob sie lächelnd wieder den Blick, um alle der Reihe nach anzusehen. Erst Hyperion, mit dessen Begegnung alles in dieser Welt überhaupt wirklich ins Rollen gekommen war, dann Ayumu, mit dem sie durch das Land gereist war und der ihre Einsamkeit vertrieben hatte und schließlich Eos, deren Verzweiflung und Traurigkeit, von der nun nichts mehr zu sehen war, damals Leanas Herz gerührt hatte. „Ich werde euch niemals vergessen“, sagte sie mit geschlossenen Augen und spürte dabei selbst, dass diese Worte aus ihrem tiefsten Inneren stammten und nicht ehrlicher hätten sein können. Jeder einzelne von ihnen hatte eine tiefe Spur hinterlassen, die Leana niemals verschwinden lassen wollte. Sie war überzeugt, dass, falls sie einmal sterben sollte, selbst ihr Tenseitai sich noch an diese drei erinnern würde. Als sie ihre Augen wieder öffnete, waren die drei verschwunden und nur noch Nanashi anwesend. Aber immer noch war die Atmosphäre entspannt, in diesem Moment gab es keinerlei Eifersucht, keine Spur von Missgunst, zwischen ihnen. Das Shinjuu, das nun kein solches mehr war, blickte sie mit leicht hochgezogenen Mundwinkeln an. „Ich vertraue dir meinen Meister solange an, bis ich ihm wiederbegegne. Bei dir weiß ich, dass er in guten Händen ist, Leana.“ Es war das einzige Mal, das Nanashi das je anerkannt hatte, weswegen Leana das Lächeln direkt erwidern musste – dabei konnte sie aber nichts gegen das kampflustige Glitzern in ihren Augen unternehmen. „Ich bin mir aber sehr sicher, dass er auch in diesen Händen bleiben wird, also mach dir keine Hoffnungen.“ Nanashi lachte – es war das erste Mal, dass Leana sie so lachen sah – und im nächsten Moment war sie bereits verschwunden. Sie löste sich nicht langsam auf, begann nicht zu leuchten, sie war einfach weg, als hätte jemand eine Tafel abgewischt. Aber dieses Mal spürte Leana keinerlei Schmerz. Ihre Brust war erfüllt von Glück und dem Verlangen, Zetsu endlich wiederzusehen und ihm alles zu erzählen, was geschehen war, während sie allein mit Isolde unterwegs gewesen war. Also legte sie ihre Hände auf ihr Herz und schloss die Augen. In ihrem Inneren sah sie Zetsus Lächeln wieder vor sich, das, wie sie nun erstmals bemerkte, eigentlich vielmehr eine Kombination aus dem Lächeln aller drei Splitter war. Während ihr wieder die glückliche Tatsache bewusst wurde, dass sie so keinen der drei jemals vergessen würde, sank sie in den Schlaf zurück, wobei sie das erste Mal seit Langem von einem angenehmen, warmen Gefühl begleitet wurde. Kapitel 45: (Wieder-)Begegnungen -------------------------------- Beim nächsten Erwachen lag sie eindeutig auf einem Bett, das erkannte Leana sofort. Die Matratze war weich, fast schon ein wenig zu sehr, und die Decke auf ihr angenehm warm. Sie öffnete ihre Augen noch nicht und versuchte stattdessen, den Geruch wahrzunehmen, der sie umgab. Tatsächlich war es ein vertrauter Duft, der sie leicht lächeln ließ, als sie sich dabei vorstellte, wie derjenige aussah, der ihn absonderte und vor allem wie strahlend sein Lächeln sein konnte. Aber noch immer öffnete sie ihre Augen nicht, als fürchtete sie, dass dies alles nur ein Teil ihrer Einbildung sei und sich alles auflösen würde, sobald sich diese Befürchtung als berechtigt herausstellte. Sie genoss die Vorstellung, dass wirklich alles wieder gut war, dass Zetsu zurückgekehrt war und sie erneut zusammen sein würden und wollte nicht Gefahr laufen, dass es verschwinden und ihre Hoffnung zerbrechen könnte. Doch irgendwann bemerkte sie zum einen, dass sie nicht ewig daliegen könnte und zum anderen, dass irgendjemand sie gerade anstarrte – und die Neugier, um wen es sich dabei handelte, war stärker, als ihr Wunsch, ignorant bleiben zu können. Also öffnete sie ihre Augen und wandte sich der Person zu von der sie angestarrt wurde. Doch sie sah nur noch, wie ein blauhaariger Junge rasch aus ihrem Blickfeld verschwand – und sich tatsächlich in Luft auflöste. Sie blinzelte kurz und erinnerte sich daran, dass sie diesen Jungen auch während ihres Kampfes gegen Philia gesehen hatte. Aber bevor sie diesen Gedanken vertiefen konnte, bemerkte sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln und im nächsten Moment saß bereits Zetsu auf ihrem Bett. Fasziniert konnte sie ihn für einen Atemzug nur anstarren, seine glitzernden, blauen Augen betrachten, die Erinnerung an sein Lächeln mit dem neuen Anblick ergänzen und dann erst, mehrere Sekunden später, ihn endlich umarmen. Wenn er sich nun auflöste, so dachte sie sich, wäre ihre Erinnerung immerhin wieder frisch. Doch er verschwand nicht, sondern blieb direkt neben ihr sitzen, in ihrer Umarmung, die er sofort erwiderte – und sie wusste einfach genau, dass sein Lächeln dabei noch eine Spur intensiver wurde. „Zetsu ... ich bin so glücklich, dass du wieder da bist.“ „Ich bin auch glücklich, wieder bei dir zu sein“, erwiderte er sanft. „Und ab sofort werden wir uns wirklich nicht mehr trennen.“ Er löste die Umarmung wieder, um sie nicht nur anzusehen, sondern ihr auch über die Wange zu streichen. „Du siehst viel zu blass aus. Bestimmt hast du zu wenig gegessen und zu wenig geschlafen, während ich nicht da war, ich kenne dich doch.“ Dabei zwinkerte er ihr zu, was sie mit einem leisen Seufzen quittierte. „Musst du mich eigentlich immer in Verlegenheit bringen?“ Sie wandte ein wenig den Blick ab, aber nur so weit, dass sie ihn immer noch aus den Augenwinkeln heraus beobachten konnte. Sein Lächeln war unverändert, aber in seinen Augen konnte sie eine Spur von Besorgnis erkennen. „Du weißt doch, was alles passiert ist, oder?“ „Teilweise“, erwiderte er. „Die Erinnerungen von Ayumu, Eos und Hyperion sind nicht unbedingt verlässlich und ich habe auch nur den Teil gesehen, den sie wirklich mitbekommen haben. Ich nehme nicht an, dass das wirklich viel war oder irre ich mich?“ „Nein, das stimmt schon.“ Aber sie wollte ihm auch nicht sagen, was ihr noch alles geschehen war, sie wollte nicht davon reden, wie schrecklich die Zeit ohne ihn gewesen war und wie sehr sie darunter gelitten hatte, von ihm getrennt zu sein. Glücklicherweise verstand er das auch und fragte nicht weiter nach. Vielleicht konnte er sich auch so vorstellen, wie es ihr ergangen sein musste. Um nicht weiter darüber nachzudenken, wechselte sie lieber das Thema, denn es gab da noch eine Sache, die sie interessierte: „Nanashi ist nicht mehr bei dir, oder?“ Sein Lächeln erlosch, als er den Kopf schüttelte. „Nein, ist sie nicht.“ „Bist du dann überhaupt noch ... ein Eternal?“ Sie spürte zwar immer noch die von ihm ausgehende Macht, an die sie sich nun erst wieder gewöhnen müsste, nachdem derart viel Zeit ohne ihn ins Land gezogen war, aber sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass das ohne Nanashi, ohne den Willen seines Shinken, noch möglich war. Doch er lächelte darauf sofort wieder, um ihre Sorgen zu zerstreuen. „Oh, darum solltest du dir keine Gedanken machen. Ich bin immer noch Gyouten no Zetsu – und das sogar noch besser als je zuvor.“ Leana schloss natürlich sofort, dass dies etwas mit dem Jungen von zuvor zu tun hatte, aber sie verstand die Bedeutung dahinter nicht so wirklich. Also sah sie ihn nur irritiert an, er bot aber keine weitere Erklärung, sondern blickte zur Seite. „Asake“, sagte er zu irgendjemandem, der nicht zu sehen war, „komm endlich und stell dich auch vor. Du musst keine Angst haben.“ Ratlos wartete Leana darauf, dass etwas geschah – und bemerkte dabei reichlich spät, dass der blauhaarige Junge von zuvor nun hinter Zetsu stand und vorsichtig hervorspickte. Er war kaum zu sehen, aber für sie war es eindeutig, dass er entweder schüchtern oder sogar verängstigt war. Der Junge hob den Blick, um nun Zetsu anzusehen. „Ist sie das?“ „Ja, das ist Leana“, antwortete der Eternal lächelnd. Erst nachdem er das gesagt hatte, kam der Junge hinter Zetsu hervor und stemmte die Arme in die Hüften. Er reckte das Kinn ein wenig, ehe er endlich sprach: „Ich bin Asake, das neue Shinjuu, das zu 'Gyouten' gehört und ich diene Meister Zetsu.“ Leana bemühte sich, ihn vollkommen regungslos anzusehen, während sie innerlich bereits ein angenehm warmes Gefühl verspürte. Sie wusste sofort, dass sie sich mit Asake wesentlich besser verstehen würde, als sie es mit Nanashi je gekonnt hätte. Sein Blick zeigte allerdings wachsende Unsicherheit, während sie schwieg, weswegen sie ihn hastig anlächelte, um ihn zu beruhigen: „Schön, dich kennenzulernen, Asake.“ Das Shinjuu strahlte bei diesen Worten, räusperte sich aber, bevor es noch etwas sagte: „Es ist auch schön, Euch kennenzulernen, Shoubi no Leana.“ Dabei verneigte er sich, was beiden Eternal ein leises Lachen abrang. „Ich habe dir doch gesagt, dass du das nicht tun musst“, sagte Zetsu. Doch Asake sah ihn nach diesen Worten schockiert an, als hätte er eben etwas Unmögliches vorgeschlagen. „Ich muss ihr doch meinen Respekt zollen, wenn sie die Frau meines Meisters ist.“ „Das ist schon okay“, erwiderte Leana. „Wegen mir musst du das wirklich nicht tun. Mein eigenes Shinjuu tut das nicht einmal.“ Kaum hatte sie das gesagt, fragte sie sich, worauf Isolde eigentlich noch wartete. Sie war sich sicher, dass ihr Orichalcum-Name nicht mehr versiegelt und ihr Shinken wieder einsatzbereit war, also dürfte es nichts mehr geben, was sie ihr Shinjuu daran hinderte, zu erscheinen. Sie hatten diesen Gedanken noch nicht einmal vollständig beendet, da hörte sie auch schon ein zustimmendes „Mh-hm, ganz genau.“ Als sie zur Seite blickte, bemerkte sie, dass nun auch Isolde endlich wieder zu sehen war. Leana spürte, wie ihr ganze Felsbrocken vom Herzen fielen, als sie feststellen konnte, dass ihre kleine Familie nun endlich wieder vollzählig und sogar eine Person reicher geworden war. Isolde lächelte amüsiert und sah Asake interessiert an. Er erwiderte diesen Blick ein wenig eingeschüchtert und klammerte sich mit einer Hand dabei wieder an Zetsus Kleidung. „Ich fresse dich schon nicht“, sagte Isolde lachend, um ihn zu beruhigen. „Ich bin Isolde, Leanas Shinjuu. Willkommen in unserer Gruppe, Kleiner.“ Asake warf erneut einen Blick zu Zetsu, der ihm zuversichtlich zulächelte. „Sie ist wirklich nett, auch wenn es nicht so scheint. Ich habe dir doch von ihr auch erzählt.“ Das kleine Shinjuu nickte, sagte sonst aber nichts weiter und warf stattdessen scheue Blicke in die Runde. Für Leana war offensichtlich, dass er erst einmal nichts mehr sagen würde, bevor er sich nicht sicher war, dass er sich mit allen gut verstand, daher übernahm Zetsu wieder das Wort. Er erzählte ihnen davon, wie er Asake begegnet war, was das Shinjuu bis dahin alles mitgemacht hatte und wie sehr er sich darüber gefreut hatte, endlich einem neuen Meister dienen zu dürfen. Asake kommentierte das nicht im Mindesten, aber sein finsterer Gesichtsausdruck, den er zu Beginn dieser Geschichte aufgesetzt hatte veränderte sich auch kein bisschen. Es rührte Leanas Herz, ihn derart verbittert zu sehen, am Liebsten hätte sie ihn umarmt, um ihm zu versichern, dass alles gut werden würde. Aber sie war überzeugt, dass sie ihn dann nur noch mehr verängstigt hätte und ließ es daher bleiben. „Das ist eine ziemlich traurige Geschichte“, kommentierte Isolde am Ende. „Sei froh, dass du nun bei uns bist, da bist du gut aufgehoben.“ Asake nickte gehorsam. „Auf mich kann Meister sich verlassen ... hoffe ich.“ Während Zetsu sanft lächelte, schüttelte Isolde seufzend den Kopf. „Das meinte ich damit nicht.“ Den verwirrten Blick Asakes beantwortete sie nicht mehr, stattdessen wandte sie sich wieder Leana zu. „Ich bin froh zu sehen, dass du wieder wach bist und es dir gut geht.“ „Natürlich geht es ihr gut“, sagte Zetsu und griff sich theatralisch an die Brust, „immerhin bin ich wieder bei ihr.“ „Oh ja.“ Isolde wandte sich ihm mit gerunzelter Stirn zu. „Mit dir habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen – und ich sorge dafür, dass Leana es auch nicht vergessen wird.“ Er presste die Lippen aufeinander, nickte aber, statt zu widersprechen und im selben Moment lächelte Isolde auch bereits wieder. Gleichzeitig kehrte auch die gute Laune bei Zetsu wieder und dementsprechend musste auch Leana wieder lächeln. In diesem Augenblick schien endlich alles wieder gut zu sein. Aber natürlich konnte das nicht lange anhalten. Gerade als sie alle endlich glücklich schienen, wurde die Tür geöffnet und Tokimi kam gemeinsam mit Fuu herein. Das Orakel der Zeit lächelte erfreut, als sie sah, dass Leana wach war, auch wenn diese keine Lust hatte, sich mit ihr oder dem, was sie wollte, auseinanderzusetzen. Aber sie wusste auch, dass es früher oder später unausweichlich war, deswegen bevorzugte sie früher. Also ließ sie zu, dass Tokimi Zetsu von ihrem Plan erzählte, 'Gyouten' zu teilen, um das Shinken dann in einer Welt unterzubringen, in der ein Stück des Ursprungsshinken nur darauf wartete, endlich aufgesammelt zu werden. Da Leana die Geschichte bereits kannte, beobachtete sie lediglich Zetsus Reaktion darauf. Sein Blick, sein ganzes Gesicht, blieb durchgehend hart und finster, ganz anders als wenn er mit ihr sprach, was das warme Gefühl in ihrem Inneren nur noch mehr verstärkte. Als Tokimi endlich geendet hatte, blickte sie ihn erwartungsvoll an. „Und wann soll ich das dann machen?“, fragte er. „Ich habe nicht vor, in nächster Zeit noch einmal zu sterben.“ „Das ist auch nicht nötig. Du musst absolut nichts anders machen, als einfach zu leben. Sobald es soweit ist, wird die Zeit in dieser Welt zurückgedreht, falls es sein muss.“ Selbst danach ließ er sie allerdings noch auf eine Antwort warten und wandte sich lieber Leana zu – aber seine Worte galten dennoch Tokimi: „Ich stimme dieser ganzen Sache zu, solange sie ebenfalls ein Teil dieser Angelegenheit wird.“ Die anderen Anwesenden schienen das nicht gänzlich zu verstehen, weswegen sie ihn nur verwirrt ansehen konnten, sogar Leana. Aber Fuu lächelte verstehend. „Du möchtest nicht der einzige sein, der in den Genuss dieses Vorteils kommt?“ „Richtig“, sagte Zetsu. „Leana soll ebenfalls nichts weiter geschehen, wenn sie stirbt. Das ist nur fair, nicht wahr?“ Damit sah er wieder zu Tokimi, die nach dieser Erklärung allerdings nicht im Mindesten mehr verwirrt war. „Das dachte ich mir bereits“, sagte sie. „Ich habe keine Probleme damit. Falls Leana also einverstanden ist, würde ich dem ebenfalls zustimmen.“ „Was sagst du dazu?“, fragte Zetsu und sah Leana wieder an. Sie lächelte ein wenig, nicht zu sehr, da sie nicht allein waren, und schloss die Augen. „Du kennst die Antwort, da musst du nicht fragen.“ Natürlich würde sie genau dieselbe Entscheidung treffen wie er und sie wusste bereits, was er tun wollte. Nicht, um Tokimi einen Gefallen zu tun, sondern damit sie beide, Leana und er, niemals wieder auf diese Art und Weise getrennt werden könnten und sie wünschte genau dasselbe. Also wandte Zetsu sich wieder Tokimi zu. „In Ordnung, Orakel der Zeit. Wir sind dabei.“ Kapitel 46: Weiterleben ----------------------- Leana war überrascht, wie angenehm einfach es gewesen war, die Shinken zu teilen, wie Tokimi es gewünscht hatte. Aber es war ungewohnt, zu sehen, wie 'Shoubi' und 'Gyouten', die Shinken, die sie schon so lange kannte, sich nun in den Händen einer gänzlich anderen Person befanden, einer, die nichts mit diesen Schwertern zu tun hatte. An ihren Hüften befanden sich nur noch die Kopien der entsprechenden Waffen, die immer noch machtvoll waren, aber längst nicht mehr so stark wie zuvor. Dennoch, so hatte Tokimi ihnen versichert, sollte es genügen, um allen Feinden die Stirn zu bieten. Sie standen auf einem Feld, abseits der Burg Nakahara, wo niemand außer ihnen war und wo – laut Yoris Aussage – auch niemand vorbeikommen würde, da es abgesperrtes Gelände war. Eos hatte Pläne für dieses Stück Land gehegt, so viel wusste er, aber worum genau es sich dabei handelte, wusste er nicht und Zetsu war genauso ratlos, da ihm diese Erinnerung fernblieb. Bei ihnen befanden sich auch ihre Shinjuu. Asake stand neben Zetsu, so weit entfernt wie möglich von Leana und vor allem Isolde, die ihm offenbar immer noch zu viel Respekt einflößte, selbst nach den zwei Tagen, in denen er sie hatte kennen lernen können. Aber sie hoffte immer noch, dass sich das geben würde, wenn sie mehr Zeit miteinander verbrachten. Kobayashi, Yori und Ylva standen zusammen, als wären sie Freunde, obwohl die junge Inugami die anderen beiden nicht einmal kannte. Leana konnte sich auch nicht vorstellen, dass sie sich angenähert hatten, aber vielleicht schätzte sie das Mädchen auch einfach falsch ein. Fuu stand ein wenig abseits von den anderen, als gehöre er eigentlich gar nicht zu ihnen und wolle auch kein Teil dieser Gruppe sein. Genau genommen fühlte Leana sich so, als würde der Magier sie alle von außen zu beobachten versuchen und dabei auf eine bestimmte Reaktion warten, die allerdings ausblieb, da keiner von ihnen etwas sagte. „Dann ist das wohl unser Abschied“, sagte Fuu, nachdem die Gruppe eine Weile schweigend zusammengestanden hatte, als wollte er die weiteren Ereignisse anstoßen. Tokimi nickte. „Das ist richtig.“ Statt mit der Verabschiedung fortzufahren, wandte Zetsu sich den drei Einheimischen zu. „Yori, Kobayashi, werdet ihr hier zurechtkommen?“ Warum genau er das fragte, wusste Leana nicht so recht, aber sie schob es auf Eos' Erinnerungen – immerhin wusste Zetsu am besten, dass er sofort vergessen werden würde, sobald er diese Welt verließ und normalerweise vergaß er im Gegenzug auch alle anderen, weswegen es ihn nicht mehr kümmerte, wie sie zurechtkamen. In diesem Fall war es aber anders. Kobayashi klopfte sich mit der Faust gegen die Brust. „Aber sicher. Wir regeln das hier alles schon.“ „Ihr müsst euch keine Gedanken machen“, stimmte auch Ylva gut gelaunt zu, obwohl sie nicht einmal etwas damit zu tun hatte. „Yashi-san und Yori-san kriegen das hin und ich helfe ihnen dabei, bis ich wieder nach Hause fahre.“ Isolde lachte leise, während Leana leise, aber durchaus zufrieden seufzte. „Das tust du bestimmt.“ „Wir werden euch nicht vergessen“, sagte Yori, bekam darauf von Zetsu aber keine Reaktion. Leana nickte dem früheren Berater zu, statt ihn darauf hinzuweisen, dass sich niemand an Eternal erinnerte, sobald sie fort waren. „Wir euch auch nicht.“ Sie bemerkte Zetsus Blick zu ihr aus den Augenwinkeln, ging aber nicht darauf ein. Stattdessen kniete sie sich vor Ylva und tätschelte deren Kopf, worauf die Inugami zufrieden lächelnd mit dem Schwanz wedelte. „Pass auf, dass du nicht wieder von bösen Männern geschnappt wirst, ja?“ Ylva nickte sofort enthusiastisch. „Jawohl! Du dann aber auch!“ Nachdem Leana ihr das bestätigt hatte, erhob sie sich wieder und ignorierte Zetsus fragenden Blick, der offenbar wissen wollte, wann und wie sie von bösen Männern geschnappt worden war. Sie wandte sich Tokimi zu, die mit einem sanften Lächeln darauf gewartet hatte, dass der Abschied zu seinem Ende kam. „Laut meinen Visionen wird es eine Weile dauern, bis wir uns wiedersehen. Ich hoffe, ihr werdet bis dahin eine gute Zeit erleben und mit weniger schlimmen Eternal zu tun haben.“ „Das hoffe ich auch“, sagte Zetsu seufzend. „Sei du auch vorsichtig. Besonders während du mit unseren Shinken unterwegs bist.“ Nachdem Tokimi genickt hatte, sahen sie zu Fuu hinüber, der sein übliches Lächeln zur Schau trug. „Von mir müsst ihr euch eigentlich nicht verabschieden“, sagte er, „ich treffe euch ohnehin bald wieder, da bin ich mir sicher.“ „Wenn du uns dann noch mehr Ärger bringst, kannst du aber auch sofort wieder verschwinden“, erwiderte Leana. „Langsam reicht es wirklich.“ Fuu versicherte ihnen gut gelaunt, dass er darauf achten würde. Erst als Zetsu sie nun wieder ansah, erwiderte Leana seinen Blick, wobei ihr ein wohltuender Schauer durch den ganzen Körper fuhr. Endlich würde sie wieder allein mit ihm und ihren Shinjuu sein können, alles war gut und sie war entschlossen, diesen Zustand so bald nicht mehr enden zu lassen. Als Zetsu ihre Hand nahm, öffnete Isolde einen Spirit Corridor, dessen wirbelnde Farben Leana zuletzt gesehen hatte, als sie in diese Welt gekommen war. Damals, vor einer gefühlten Ewigkeit, als ihr das Leben noch düster und trostlos erschienen war. Nun würde sie dieses Portal allerdings nutzen, um dort, wo auch immer sie landen würde, einen neuen, besseren Lebensabschnitt zu beginnen – und das tat sie auch sofort, indem sie gemeinsam mit Zetsu darauf zuging, ohne auch nur noch einen Blick zurückzuwerfen. Ylva wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, während sie das betrachtete, was sie vor sich sehen konnte. Es war ein normaler Wolf, der erste, den sie traf, seit sie auf diesem Kontinenten war, auf dem sie eigentlich Menschen hatte treffen wollen. Aber einen Artgenossen zu sehen, war ihr doch wesentlich angenehmer, nachdem sie mit so vielen verschiedenen Menschen aneinandergeraten war. Die einzigen, guten Personen, an die sie sich erinnerte, waren General Kobayashi und dessen Assistent Yori, die beide für den Präfekten arbeiteten. Dieser war allerdings ein finsterer Mann, den Ylva nicht mochte, weswegen sie schließlich beschlossen hatte, sich von ihren menschlichen Freunden zu verabschieden und den Rückweg nach Hause anzutreten. Nun war ihr aber dieses Wesen begegnet, das ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog – und ihm ging es wohl umgekehrt genauso. Der Wolf näherte sich ihr mit langsamen Schritten und betrachtete sie mit geneigtem Kopf. Für einen Moment blickten sie sich nur schweigend an, dann stieß der Wolf ein leises Heulen aus. Dies sorgte allerdings nur dafür, dass Ylva ratlos ihre Stirn zerfurchte. „Arooo? Ich versteh deinen Akzent nicht, kommst du von dem Wolfsrudel aus dem Norden?“ Darauf folgte keine Antwort von ihrem Gegenüber, aber zumindest legte er sich hin, was ihr sagte, dass er sie nicht angreifen würde – und das würde ihr die Gelegenheit geben, sich mit ihm anzufreunden. Also glättete sich ihre Stirn wieder. Sie setzte sich und begann dann damit, diesem Wolf davon zu erzählen, dass sie sich gerade auf dem Heimweg befand und dort all ihren Freunden von ihren Erlebnissen mit Kobayashi und Yori berichten würde. „Sitzt du schon wieder hier?“ Kobayashis Stimme durchschnitt die bis dahin angenehme Stille, in der Yori den Sternenhimmel betrachtet hatte. Er wandte den Kopf, um zu beobachten, wie der General sich den Weg über das unsichere Dach bahnte und stellte dabei erneut fest, wie wenig grazil der Ältere war. Neben Yori blieb der Mann wieder stehen, so dass der Berater den Kopf in den Nacken legen musste, um sich weiter mit ihm zu unterhalten. Doch Kobayashi blickte gar nicht zu ihm hinunter, sondern sah ebenfalls in den Nachthimmel hinauf – aber Yori wusste genau, dass er nicht dasselbe sehen konnte wie er. Tatsächlich kratzte der General sich an der unrasierten Wange, wobei ein unangenehmes Geräusch entstand. „Ich verstehe wirklich nicht, was du an diesen leuchtenden Teilen so toll findest.“ Auch wenn er wusste, dass es aussichtslos war, deutete Yori auf einen besonders hellen Stern, ehe er seine Erklärung begann: „Da, siehst du? Das muss eine andere Welt sein.“ „Und?“ Zumindest das Konzept der naheliegenden Welten war ihm also weiterhin nicht unbekannt. „Ich stelle mir gern vor, dass Leana und Zetsu dort sind.“ Und damit auch Eos, die Frau, die er so sehr bewundert und für die er seine gesamte Freizeit aufgegeben hatte. Ohne sie fehlte für ihn einfach etwas. Aber Kobayashi – „Von wem redest du da?“ – wusste von nichts mehr. Bei Ylva war es genau dasselbe gewesen und auch alle anderen, die er nach Eos gefragt hatte, wussten nichts mehr von ihr. Jeder schwor bei seinem Leben, dass der jetzige Präfekt schon immer ein solcher gewesen war. Also hatte Yori es inzwischen aufgegeben und dachte lieber selbst an Eos zurück, so lange er das noch konnte. „Es ist nicht so wichtig“, sagte er. „Was führt Euch hierher, General Kobayashi?“ „Da fragst du noch? Ich wollte dich holen kommen, weil der Rest der Mannschaft gerade anstößt und du gehörst da immerhin dazu.“ Yori musste lächeln, als er das hörte und erhob sich dann tatsächlich aus seiner Position. „Vielen Dank, General.“ Zufrieden klopfte Kobayashi ihm auf die Schulter und wandte sich dann ab, um bereits vorauszugehen. Ehe er ihm folgte, blickte Yori noch einmal in den Himmel hinauf. Er wusste nicht, warum er der einzige war, der sich an all die Geschehnisse rund um die Eternal erinnerte, aber er würde dafür sorgen, es niemals zu vergessen. In seinem Inneren würde Eos immer weiterleben. Mit diesem Gedanken im Kopf, folgte er schließlich Kobayashi, um sich den Feierlichkeiten anzuschließen und zumindest an diesem Abend einmal nicht daran zu denken, dass er die Präfektin vermisste. Zetsu und Leana betrachteten ebenfalls den Sternenhimmel, wenngleich ihrer vollkommen anders aussah, da sie sich in einer Welt befanden, die weit entfernt von Yoris waren. Großartig Sterne betrachten konnten sie allerdings nicht, denn im Moment erfüllten leuchtende Farben den Himmel, die begleitet wurden von einem lauten Knallen, wann immer die Raketen explodierten. Leana genoss diesen Moment, hauptsächlich deswegen, weil sie eng an Zetsu geschmiegt dasitzen konnte. Ein gestürzter Baumstamm war vielleicht nicht die bequemste Sitzgelegenheit, aber solange sie diesen Platz mit ihrem Ehemann teilen konnte, war jeder Ort perfekt. Sie besaß allerdings keinen Blick für das stattfindende Feuerwerk, ganz anders als Zetsu, der fasziniert in den Himmel starrte. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt nur ihm, sie nahm jedes noch so kleine Detail, den Schimmer seiner Augen und seines Haars im wechselnden Licht, in sich auf, als würde sie ihn zum allerersten Mal sehen. Erst als das Feuerwerk schließlich endete und den Himmel dunkel zurückließ, wandte Zetsu sich ihr mit einem Lächeln wieder zu. „Gefällt dir, was du siehst?“, fragte er amüsiert. Die Röte kroch ihr den Nacken herauf, aber es war ihr in diesem Moment vollkommen gleichgültig, schon deswegen, weil er es nicht sehen konnte. „Aber ja, so wie immer.“ Zetsu zog sie noch ein wenig näher zu sich. „Es gibt dennoch keinen Grund, mich dauernd anzustarren. Ich werde dich ab sofort nicht mehr allein lassen. Nie mehr. Das habe ich dir doch versprochen.“ „Ich weiß ... aber du faszinierst mich einfach immer wieder“, erwiderte sie. „Deswegen folge ich dir auch durch alle Welten, durch die du gehen willst~.“ „Und ich bin sehr froh darum, dass du das tust. Ich würde es gar nicht anders haben wollen.“ Damit beugte er sich zu ihr herunter und küsste sie zärtlich, etwas, das sie so lange vermisst hatte und deswegen nun umso mehr genoss. Eine ganze Ewigkeit, nur für sie beide, das war das einzige, was sie wollte, dieser Wunsch war ihr erfüllt worden und nun würde sie niemals wieder zulassen, dass sich daran etwas änderte, egal was sie dafür tun musste. Egal, was uns noch bevorsteht ... er und ich, für immer und ewig. Epilog: Dunkelheit ------------------ An einem Ort, den kein Eternal betreten konnte, lief Fuu durch eine Halle, die selbst ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Das Licht des Vollmondes, das an manchen Stellen durch die Wolken brach, mochte das Haus vielleicht von außen erhellen, aber durch die bunten Glasfenster kam es nur diffus im Gebäude an. Es malte unheimliche Muster auf den Boden und wäre es nicht so abstrus gewesen, hätte er geschworen, dass der Hall seiner Schritte damit noch lauter wurde. In den Schatten schienen unheimliche Gestalten zu lauern, die allerdings fauchend zurückschreckten, wann immer er an ihnen vorbeilief. Die Ursache dafür waren sicherlich die Schwerter, die er bei sich trug und die sanft glühten, als würden sie auf die Bedrohung reagieren. Er seufzte leise, während er sich fragte, wie lange es wohl noch dauern würde, bis er den Ort erreichte, den Tokimi ihm genannt hatte. Gleichzeitig überlegte er, sich merken zu müssen, dass er dem Orakel keine Gefallen mehr erweisen würde, wenn das bedeutete, sich allein in derart unheimliche Gefilde begeben zu müssen. Doch schließlich fand er tatsächlich den angegebenen Raum. Es schien ein Schrein zu sein, beschützt durch heilige Seile und heiliges Papier – und auch der einzige Ort, der ihm bislang nicht im Mindesten feindlich gesinnt schien. Nur ungern legte er die Schwerter, wie angewiesen, auf den Altar. Sie leuchteten im Einklang, als wären sie glücklich zusammen sein zu können, was Fuu unwillkürlich lächeln ließ. Er wäre im Moment auch gern mit jemandem zusammen, schon allein, weil er hoffte, dass es dann nicht so unheimlich wäre. Da er aber nichts daran ändern konnte – vielleicht hätte er einfach Lilly fragen sollen, bevor er aufgebrochen war – fuhr er schließlich herum. Ein seltsamer Schutz lag auf dem Gebäude, weswegen er in diesem keinen Spirit Corridor öffnen konnte. Also sammelte er noch einmal all seinen Mut, ehe er den Schrein wieder verließ. Kaum war die Tür geschlossen, erreichte ihn das Licht der Shinken nicht mehr. Er durchdrang die Dunkelheit mit einer künstlichen Flamme, die er auf seiner Handfläche tanzen ließ und die mehr Selbstvertrauen gab. Was bin ich auch für ein Magier, schalt er sich. Habe Angst vor ein bisschen Dunkelheit, wie ein kleines Kind. Er lachte amüsiert über sich selbst, dann setzte er sich in Bewegung, um den Ausgang zu erreichen – und bemerkte dabei nicht im Mindesten, dass einer der Schatten ihm folgte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)