Unsterblich von Flordelis (My Immortal ~ Eternal Chronicles) ================================================================================ Kapitel 44: Abschiede --------------------- Noch bevor sie ihre Augen öffnete, wusste Leana schon, dass sie nicht dort war, wo sie das Bewusstsein verloren hatte, aber sie lag auch nicht in einem Bett. Stattdessen kniete sie auf dem Boden und saß auf ihren Fersen, ihr Rücken war vollkommen durchgestreckt. Es war eine japanische Sitzhaltung, die jemand aus der Brigade ihr als Seiza vorgestellt hatte, wie sie sich erinnerte – und es war immer noch so schmerzhaft, wie sie es in Erinnerung hatte. Sie grummelte leise, während sie die Augen öffnete und sofort wieder verstummte, als ihr Blick auf eine Tasse Tee fiel, die vor ihr auf einem kleinen Tisch stand. Im selben Moment stieg ihr erst der Duft in die Nase, es war jener Tee, den Eos gemeinsam mit ihr getrunken hatte. In jenem Atemzug, in dem ihr das auffiel, spürte sie die Anwesenheit weiterer Personen, weswegen sie sofort den Kopf hob, um ihre Tischpartner zu mustern. Eos saß links von ihr und lächelte seltsam friedlich, genau wie Ayumu zu ihrer rechten und sogar Nanashi, in ihrer großen Form, ihr direkt gegenüber, vor jedem stand ebenfalls eine Tasse mit Tee. Als sie den Kopf wandte, entdeckte sie Hyperion, der mit verschränkten Armen an der Wand lehnte. Obwohl sie hier mit drei Personen zusammen war, die sich allesamt zu Lebzeiten gehasst hatten, spürte sie keinerlei Feindseligkeit oder Bedrohung. Die Atmosphäre war entspannt, geradezu friedlich und fast schon wünschte sie sich, nie wieder fortgehen zu müssen – was sie allerdings auf eine andere Frage brachte: „Wo bin ich?“ „Das haben wir uns auch schon gefragt“, antwortete Ayumu, zwar seufzend, aber immer noch mit leichtem Amüsement in der Stimme. „Aber so ganz wissen wir es nicht.“ „Aber wir wissen, dass es nicht das Nirvana ist“, sagte Eos. „Eigentlich kamen wir deswegen darin überein, dass wir wieder zu einem großen Ganzen geworden sind.“ Leanas Verstand war noch ein wenig träge, da sie gerade erst aufgewacht war, aber kaum ergaben diese Wörter in ihrem Inneren einen bestimmten Sinn, stieß sie einen erstickten Laut aus. „Das stimmt! Zetsu sagte, er ist wieder da! Wir haben mit Philia gekämpft und dann ...“ Sie griff sich an ihre Brust, suchte nach einem Herzschlag und atmete erleichtert auf, als sie einen solchen feststellen konnte. „Ich lebe auch noch.“ „Ja, warum denn auch nicht?“, fragte Ayumu verwundert. „Philia hat viel von deiner Energie verbraucht“, ergänzte Eos, „aber du bist sehr zäh. Eigentlich war es nur natürlich, dass es dir vorbehalten bleibt, sie zu besiegen.“ Das fand Leana nicht, immerhin war Zetsu um einiges stärker als sie und das schon immer, doch bevor sie das einwerfen konnte, hörte sie eine andere Stimme: „Nach seiner Rückkehr blieb ihm nicht viel Zeit, sich auszuruhen. Du warst wirklich die einzige Hoffnung.“ Sie blickte wieder hinter sich, zu Hyperion, der unbewegt dastand – aber sie war der festen Überzeugung, dass er soeben gesprochen hatte, weswegen sie äußerst überrascht war. Sie hatte seine Stimme noch nie gehört, aber nun stellte sie fest, dass er wirklich fast genau wie Zetsu klang. Ohne seine Maske wäre er von diesem vielleicht nicht einmal zu unterscheiden gewesen. Die anderen kommentierten das nicht weiter, stattdessen seufzte Ayumu. „Ich beneide ihn richtig. Er darf jetzt wieder die ganze Aufregung erleben.“ Eos lachte leise. „Was gibt es da zu beneiden? Du bist doch er.“ Leana senkte den Blick wieder. Im Tee konnte sie, undeutlich, ihr Spiegelbild erkennen. „Werdet ihr alle verschwinden?“ Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Ayumu seine eigene Tasse nahm und einen Schluck trank, ehe er ihr antwortete: „Natürlich nicht. Also nicht restlos jedenfalls. He, wir sind Splitter von seiner Persönlichkeit, da verschwinden wir nicht einfach.“ „Aber ihr seid auch eigene Personen gewesen!“, begehrte Leana auf und riss den Kopf abrupt nach oben, so dass ihr Haar aufwirbelte. „Mit richtigen Persönlichkeiten!“ Eos und Ayumu warfen sich über den Tisch hinweg einen amüsierten Blick zu, den Leana nicht im Mindesten verstehen konnte. Sie knurrte leise und ballte die Hände zu Fäusten, sagte aber noch nichts, sondern wartete darauf, ob noch eine Erklärung folgen würde – und diese bekam sie auch, wenngleich von Hyperion: „Die Tatsache bleibt, dass wir eigentlich niemals wirkliche Personen hätten sein sollen und wir im Endeffekt nur vertiefte Aspekte einer einzigen Person waren.“ Die ehemalige Regentin nickte. „Das ist richtig. Aber jetzt sind wir alle wieder zusammen. Wir sind wieder vollständig und können wieder die Person sein, die wir eigentlich sein sollten.“ „Und solange du uns nicht vergisst“, setzte Ayumu hinzu, „werden wir ja auch niemals vollständig verschwinden.“ „Ich will das aber nicht!“ Sie reagierte derart heftig, dass sie dabei gegen den Tisch stieß und der Tee aus ihrer Tasse überschwappte. Mit Mühe kämpfte sie die Tränen nieder, schüttelte aber immer wieder den Kopf. „Ich will nicht, dass ihr alle plötzlich verschwindet und einfach nur wieder ein Teil von Zetsu werdet! Es … es ist meine Schuld, dass es so weit kommen musste, ich kann-“ Als Hyperion seine Hand auf ihre Schulter legte, unterbrach sie sich selbst wieder. Allerdings war es nicht er, der nun die Stimme erhob, sondern Eos: „Es ist in Ordnung. Auch wenn unser Leben kurz war, haben wir es sehr genossen. Und wir haben es nur durch dich erfahren können.“ „Und all diese Erfahrungen werden wir ihm nun einbringen“, sagte Ayumu. „Nichts geht verloren und nichts geht vergessen.“ Leana senkte ihren Kopf wieder, ein wenig unwillig, das einfach so hinzunehmen. „Das ist nicht dasselbe.“ Aber sie spürte, dass keiner der anderen von seiner Meinung abrücken würde. Sie alle waren der Überzeugung, dass es besser war, wieder mit Zetsu vereint zu sein. Eigentlich wollte sie auch dieser Meinung sein, sie wusste sogar, dass sie es sein müsste, aber sie konnte es nicht so recht. Natürlich freute sie sich über Zetsus Rückkehr, aber niemals hatte sie diese zum Preis der Leben dieser drei Menschen gewünscht. Da sie bei ihnen nicht weiterkam, sprach sie endlich die Person ihr gegenüber an: „Aber was ist mit dir, Nanashi? Du kannst unmöglich damit zufrieden sein! Du wirst nicht wieder ein Teil von Zetsu.“ Leana erwartete, dass das Shinjuu sie dafür auch zurechtweisen und ihr sagen würde, was sie eigentlich hören wollte, dass irgendjemand sie endlich dafür zur Verantwortung zog, dass sie es zuerst nicht geschafft hatte, Zetsu zu retten und dann zugelassen hatte, dass sie Situation sich zuspitzte, bis Ayumu und Eos ebenfalls gestorben waren. Doch entgegen ihrer Erwartung tat Nanashi ihr diesen Gefallen nicht und schüttelte stattdessen mit dem Kopf. „Es ist wahr, dass ich kein Teil von Meister werden kann – aber das ist auch nicht notwendig. Ich bleibe nach wie vor ein Bestandteil von 'Gyouten' und Narukana-sama. Und solange dieser Fakt besteht, werde ich nicht vollständig sterben.“ Plötzlich verzogen sich ihre Lippen zu einem Grinsen, das Leana nicht an ihr kannte, aber nicht vollkommen ernst zu sein schien. Anhand ihrer Stimme und und ihrer folgenden Worte, war aber nicht auszumachen, wie sie es meinte: „Also verlass dich nicht zu sehr darauf, dass Meister endgültig dir gehört. Eines Tages sehen wir uns bestimmt wieder und dann wird es auch kein dummes Gesetz mehr geben, das mich von ihm fernhält.“ Eigentlich hätte sie sich über diese Ankündigung der Konkurrenz ärgern müssen, so wie sie es immer tat, wenn irgendein anderes Mädchen Ansprüche an Zetsu zu stellen wagte. Aber in dieser Situation lächelte Leana stattdessen. „Ich freue mich schon darauf.“ Und wenn es nur dafür war, ein für allemal Gewissheit darüber zu erhalten, ob das Gefühl, dass Nanashi, statt sie, eigentlich diese Beziehung mit Zetsu haben sollte, eine Grundlage besaß oder nicht. Aber eigentlich zweifelte Leana nicht wirklich daran, dass er sich für sie entscheiden würde, statt für sein früheres Shinjuu – nicht, nachdem er sogar in ihr Unterbewusstsein eingedrungen war und dort gegen Philia gekämpft hatte, nachdem er gerade erst wieder ins Leben zurückgekehrt war. Zetsu hatte ihr bewiesen, wie sehr er sie liebte und sie war entschlossen, ihn nie wieder gehen zu lassen und zu verhindern, dass so etwas Furchtbares noch einmal geschehen könnte. Ein warmes Gefühl füllte ihre Brust aus, während sie das dachte. Es war voller Leben und gleichzeitig auch angefüllt mit Sehnsucht, die einzig und allein Zetsu galt und niemandem sonst. Ayumu lächelte sanft, als er das zu bemerken schien. „Siehst du? Du willst zu ihm.“ „Was vollkommen nachvollziehbar ist“, bekräftigte Hyperion. „Wer so sehr liebt“, endete Eos, „kann es kaum ertragen, von der anderen Person getrennt zu sein.“ Dennoch blickte Leana verunsichert zwischen allen umher. „Und es ist wirklich … in Ordnung für euch? Ayumu? Eos?“ Den einen hatte sie mit ihrer Abweisung immerhin zu dem Handeln getrieben, das ihn letztendlich getötet hat und die andere hatte sie mit eigener Hand umgebracht. Doch beide nickten lächelnd, ehe Eos noch hinzufügte: „Du weißt selbst genau, wie wir uns am Ende verhalten haben. Wir hätten uns vielleicht noch ein ganzes Leben nur damit gequält, dass wir nicht vollständig sein werden.“ „Und jetzt werden wir es wieder sein“, schloss Ayumu sich ihr an. „Mehr noch, wir werden auch bei dir sein können, genau wie wir alle es eigentlich immer wollten. Und du wirst dabei endlich glücklich sein.“ „Und das ist genau das, was wir ebenfalls wollten“, sagte Hyperion. „Deswegen gibt es für uns keinerlei Bedauern in dieser Sache.“ Selbst er schien zu lächeln – zumindest deutete sie die glitzernden Augen derart, da sie seinen Mund hinter der Maske nicht sehen konnte. Leana war geradezu überwältigt. Sie verziehen ihr, was sie getan hatte, obwohl sie selbst es als absolut unverzeihlich eingeschätzt hätte. Hastig fuhr sie sich mit dem Arm über die Augen, die leicht zu brennen begonnen hatten, dann hob sie lächelnd wieder den Blick, um alle der Reihe nach anzusehen. Erst Hyperion, mit dessen Begegnung alles in dieser Welt überhaupt wirklich ins Rollen gekommen war, dann Ayumu, mit dem sie durch das Land gereist war und der ihre Einsamkeit vertrieben hatte und schließlich Eos, deren Verzweiflung und Traurigkeit, von der nun nichts mehr zu sehen war, damals Leanas Herz gerührt hatte. „Ich werde euch niemals vergessen“, sagte sie mit geschlossenen Augen und spürte dabei selbst, dass diese Worte aus ihrem tiefsten Inneren stammten und nicht ehrlicher hätten sein können. Jeder einzelne von ihnen hatte eine tiefe Spur hinterlassen, die Leana niemals verschwinden lassen wollte. Sie war überzeugt, dass, falls sie einmal sterben sollte, selbst ihr Tenseitai sich noch an diese drei erinnern würde. Als sie ihre Augen wieder öffnete, waren die drei verschwunden und nur noch Nanashi anwesend. Aber immer noch war die Atmosphäre entspannt, in diesem Moment gab es keinerlei Eifersucht, keine Spur von Missgunst, zwischen ihnen. Das Shinjuu, das nun kein solches mehr war, blickte sie mit leicht hochgezogenen Mundwinkeln an. „Ich vertraue dir meinen Meister solange an, bis ich ihm wiederbegegne. Bei dir weiß ich, dass er in guten Händen ist, Leana.“ Es war das einzige Mal, das Nanashi das je anerkannt hatte, weswegen Leana das Lächeln direkt erwidern musste – dabei konnte sie aber nichts gegen das kampflustige Glitzern in ihren Augen unternehmen. „Ich bin mir aber sehr sicher, dass er auch in diesen Händen bleiben wird, also mach dir keine Hoffnungen.“ Nanashi lachte – es war das erste Mal, dass Leana sie so lachen sah – und im nächsten Moment war sie bereits verschwunden. Sie löste sich nicht langsam auf, begann nicht zu leuchten, sie war einfach weg, als hätte jemand eine Tafel abgewischt. Aber dieses Mal spürte Leana keinerlei Schmerz. Ihre Brust war erfüllt von Glück und dem Verlangen, Zetsu endlich wiederzusehen und ihm alles zu erzählen, was geschehen war, während sie allein mit Isolde unterwegs gewesen war. Also legte sie ihre Hände auf ihr Herz und schloss die Augen. In ihrem Inneren sah sie Zetsus Lächeln wieder vor sich, das, wie sie nun erstmals bemerkte, eigentlich vielmehr eine Kombination aus dem Lächeln aller drei Splitter war. Während ihr wieder die glückliche Tatsache bewusst wurde, dass sie so keinen der drei jemals vergessen würde, sank sie in den Schlaf zurück, wobei sie das erste Mal seit Langem von einem angenehmen, warmen Gefühl begleitet wurde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)