Zwischenwelten von Arle ================================================================================ Kapitel 1: Die Schule der Vampire --------------------------------- Beginn: 05.05.2009 Ende: 16.08.2009 Kapitel 1: Die Schule der Vampire „Vampire sind durch die Bank weg leidenschaftliche Liebhaber. Habt ihr das verstanden?“ Eifriges Nicken der Schüler hinter besagten Bänken. Natürlich notierte sich niemand diesen Unsinn. Jeder Einzelne von ihnen besaß ein hervorragendes Gedächtnis, das jedoch, wie er gelegentlich bedauerte, auf unbedingte Nutzung angewiesen war und leider etwas zu häufig im entscheidenden Moment erhebliche Lücken aufwies. Vampir oder nicht – Kinder blieben eben Kinder. Allerdings hatte die Freude am Thema, ebenso wie die Überflüssigkeit des Notizen anfertigens, vorrangig damit zu tun, dass die meisten der hier Anwesenden bereits so ihre eigenen Erfahrungen gesammelt hatten. Spätestens seit der Meister auf die Idee gekommen war, sie in ein Wohnheim zu stecken. Was den obersten und mächtigsten aller Schattengänger betraf, konnte man nicht einmal sicher sein, dass nicht auch das Teil seines Plans zur Bildung des hochgeschätzten Nachwuchses war. Früh übt sich, was ein Meister werden will, hatte er gesagt und wenn er an die letzten Tage und Nächte zurückdachte, so musste Luca unweigerlich eine Bedeutungsänderung feststellen. Zum Leidwesen aller involvierten Erwachsenen – im Sinne einer Lehr- und Beschützertätigkeit selbstverständlich – hatten die Jungvampire, die in jeglicher Hinsicht frühreif waren, noch nicht gelernt ihre Stimmen zu dämpfen. Gut möglich, dass er das demnächst an einem praktischen Beispiel würde demonstrieren müssen. Beim bloßen Gedanken daran schauderte er. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Vertretern seiner Art schätzte er Privatsphäre. Nicht unbedingt die der anderen – schon gar nicht, wenn es sich dabei um Menschen handelte – seine eigene dagegen schon. Und er hatte weiß Gott, der Teufel oder sonst wer keine Lust dazu, es hier auf dem Lehrertisch zu tun und dann zu verhindern, dass das Ganze in eine Orgie ausartete. Er musterte seine Schützlinge, deren Alter optisch von etwa 13 bis 19 Jahren reichte. Eine explosive Mischung, wie er wusste. Es hätte ihn interessiert zu erfahren, WEM er diesen ganzen Unsinn zu verdanken hatte, aber diesen Wunsch würde man ihm wohl nicht erfüllen. Und durch logische Schlussfolgerungen würde er der Lösung des Rätsels wohl auch nicht näher kommen. Vampire waren nicht gerade für ihr rationales Denken bekannt und davon abgesehen gab es einfach zu viele Möglichkeiten. Neben den üblichen, für Fehlentscheidungen bekannten Persönlichkeiten gab es leider noch eine Vielzahl anderer denkbarer Verantwortlicher. Sadisten, Neider, verschmähte Liebhaber – er war nicht gerade ein unbeschriebenes Blatt, wenngleich er für einen Vampir seines Alters und Standes beinahe noch in die Kategorie ‘vorbildlich‘ einzuordnen gewesen wäre. Dummerweise jedoch nur nach den moralischen Vorstellungen der Menschen. Und damit war er vermutlich bei den Hauptschuldigen angekommen. Es war schon vorher schlimm genug gewesen, aber seit eine neue Welle der Vampirbücher den Markt überschwemmt hatte, herrschte das reinste Chaos. Wie ihre dämonischen und wohl auch göttlichen Verwandten waren sie vom Glauben der Menschen abhängig. Natürlich nicht im selben Maße, aber eben doch auf diesen angewiesen. Allerdings hatte dies bei ihnen nicht zur Geburt von Vampiren geführt, die zwar einen anderen Namen trugen, aber im Grunde ein und dieselbe Person waren - was seines Wissens nach in den Gefilden der Götter durchaus der Fall war. Allerdings hieß das nicht, dass die Folgen weniger gravierend waren. Dank der blühenden Fantasie der Flügellosen gab es die wildesten Arten von Vampiren. Tageslichtresistente – er selbst gehörte auch dazu, machte für gewöhnlich aber keinen Gebrauch davon – und Nicht-resistente. Geflügelte – je nachdem im Fledermaus- oder gefallener Engel-Stil – und Flügellose. Alternde und nicht alternde und so weiter und so fort. Im Moment waren sie kurz davor den vegetarischen Vampir zu erfinden. Er schauderte. Welch absurde Vorstellung! Jeder der glaubte sie könnten sich – womöglich dauerhaft! – von Pflanzensäften, Milch oder ausschließlich anderen proteinreichen Substanzen ernähren, der hatte ganz offensichtlich ihr ureigenstes Wesen vergessen. Aber womöglich würden sie es eines Tages tatsächlich schaffen ihn zu erfinden. Nur um bald darauf festzustellen, dass es diese Art Vampir bereits gab – und dass er im Allgemeinen Blattlaus genannt wurde. Ein Wesen, mit dem er nun wirklich nicht verglichen werden wollte. Auch die Angelegenheit mit dem Licht, Kreuzen, Weihwasser und dergleichen war in ihrer individuellen Ausprägung zumindest für die Betroffenen nicht unbedingt von Vorteil. Unabhängig davon, ob es sich um einen Menschen oder einen Vampir handelte, hatte man nämlich meist nur eine Chance sich über das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein einer Resistenz klar zu werden. Und für mindestens eine der beiden Seiten endete dieser Erkenntnisprozess recht häufig tödlich. Aber wie auch immer. Jedenfalls hatte man beschlossen, wenn dies schon bei den Erwachsenen unmöglich zu sein schien, doch wenigstens die neue Generation entsprechend zu erziehen. Inklusive des Respekts vor allen toten, untoten und lebenden Kreaturen. Haha. Er fragte sich ob er in irgendeiner Weise den Eindruck erweckte Wunder vollbringen zu können. Er gehörte zu den Vampiren, die ein Spiegelbild besaßen, doch bis jetzt hatte er nichts dergleichen an sich feststellen können. Aber der Auftrag war mehr oder weniger eindeutig. Sie sollten die verschiedenen Welten kennenlernen und begreifen, was nach Meinung der Experten einen echten Vampir ausmachte. Nicht dass es jemand gewusst hätte oder in irgendeiner Weise Einigkeit darüber bestand, aber man hatte sich immerhin auf ein vielseitiges Dokument geeinigt, das einen ganzen Katalog von Regeln und Verhaltensweisen beschrieb, die man als angemessen oder dringend notwendig erachtete. Fast jeder ihm bekannte Vampir und ganz sicher jeder hier in der Schule anwesende Vampir war des Lesens mächtig und so hätte ein Selbststudium sicher vollständig genügt. Die einzige Herausforderung wäre es gewesen, die zumeist Jugendlichen dazu zu bewegen, sich die Lektüre zu Gemüte zu führen. Was zugegebenermaßen einiger Geduld bedurft hätte, da sich jeder Wirtschaftswälzer angenehmer las als diese sterbenslangweilige Endlosgeschichte. Aber was das anging bestand für sie ja keinerlei Gefahr. Im Allgemeinen starben Vampire nicht so schnell und hatten, anders als ihr menschliches Äquivalent, dementsprechend viel Zeit sich zu belesen. Natürlich konnte man das Ganze auch unter verschwörungstheoretischer Perspektive erörtern, aber nüchtern betrachtet zeigte die Tatsache, dass man stattdessen eine ganze Schule ins Leben gerufen hatte, vor allem eines. Ihre verwandtschaftliche Nähe zu den Menschen. Weshalb eine einfache Lösung finden, wenn man es ohne weiteres unnötig kompliziert machen konnte? Vielleicht war es aber auch nur eine Art Mode. Soweit er wusste wurde im Himmel gerade ein ähnliches Projekt durchgeführt. Allerdings – und das war einer der Hauptgründe für seinen Ärger – hatte man dort wenigstens auf die Rangunterschiede geachtet. Im Klartext hieß das, man hatte einen einfachen Naturgeist mit der Schulung und Aufzucht des Nachwuchses bedacht, während man hier, nach welchen Kriterien auch immer, eine Auswahl getroffen hatte, die wohl nur für die Verantwortlichen selbst einen tieferen Sinn ergab. Er beneidete Petrus nicht um seine Aufgabe. Schattenwesen beizubringen was es hieß böse zu sein hatte ja noch einen gewissen Reiz, aber den kindlichen Cherubin die Welt zu erklären erschien ihm wenig inspirierend. Andererseits – er ließ seinen Blick über die Anwesenden gleiten – waren sie mit ziemlicher Sicherheit ein dankbareres Publikum. Allerdings war bei genauerem Hinsehen auch in Petrus‘ Fall nicht klar, weshalb die Wahl auf ihn gefallen war. Sah man einmal von seinem niedrigen Rang und der offensichtlichen Unlust der Himmlischen ab, sich um den eigenen Nachwuchs zu kümmern, waren ihm die Motive nicht ganz klar. Zumal der Wetterpatron keine ausgeprägte Liebe zu den Göttern zu verspüren schien. Auch wenn es mittlerweile angeblich eine Ausnahme gab. Seit er erfahren hatte, dass der Witterungsbeauftragte mit einem ähnlichen Schicksal gestraft war wie er selbst, hatte er begonnen sich für ihn zu interessieren. Selbstverständlich aus rein beruflichen Gründen. Er selbst war ihm nie begegnet, was nicht weiter verwunderlich war, da Petrus als überaus menschenscheu galt und auch sonst eher ein Einsiedlerdasein zu führen schien. Äußerlich, so sagte man, war er eher unauffällig und hatte wohl auch sonst nicht viel mit den Himmlischen gemein. Dementsprechend wurde er bei Vertretern der dunklen Seite nicht gerade hoch gehandelt. Er war einfach zu gewöhnlich. Luca glaubte nicht recht daran. Er traute dem Wetterpatron einiges zu und war sich fast sicher, dass es überaus anregend sein konnte sich näher mit ihm zu befassen. Von den oberen Rängen, in denen die Älteren Platz genommen hatten, erklang mit einem Mal eine Melodie und nur wenig später folgten jene Zeilen, die er so sehr hasste: „My name is Luka. I life on the second floor...“ Ein Insider, den mittlerweile jedoch fast jeder kannte. Eine bösartige Anspielung auf seinen Namen, darauf wie man ihn behandelte und eine noch viel bösartigere auf den Umstand, dass er trotz seines Ranges für eine als wichtig verkaufte niedere Arbeit eingeteilt worden war. Er verzog keine Miene als er aufsah. Der Gesang verebbte beinahe augenblicklich. Eine einzige Stimme blieb. Eine männliche Stimme, deren Beschreibung mehr als anspruchsvoll gewesen wäre und die fähig war, die Luft vibrieren zu lassen. Im Augenblick brachte sie allerdings lediglich seine Nerven zum vibrieren. Einer der zahlreichen hoffnungslosen Abkömmlinge des Hauptclans und damit höheren Ranges als er selbst. Und bedauerlicherweise wusste der andere das auch. Allerdings unterschätzte ihn dieses Exemplar und vergaß ganz offensichtlich, dass ihm als Lehrenden ein paar sehr interessante und überaus nützliche Sonderrechte zugestanden worden waren. Uneingeschränktes Verfügungsrecht zum Beispiel – zu erläutern was genau das bedeutete wäre ein äußerst erquicklicher Vortrag gewesen – und fast uneingeschränkte Befehlsgewalt. Interessant wenn man bedachte, dass es eine der wichtigsten Lektionen war, dass man lediglich den Ranghöheren Respekt zu zollen und ihren Anweisungen Folge zu leisten hatte. Er betrachtete den Jüngeren mit gekonnt gleichgültigem Blick. Schwarzes Haar, stechend blaue Augen und eine betont lässige Körperhaltung – wenn man das, was er da tat, überhaupt noch als Haltung bezeichnen konnte – und ein nicht selten anzüglicher, gieriger Blick. Ein Blick, der erstaunlich oft auf ihn gerichtet war. Ein bisschen zu oft für einen Zufall. Und er wurde das Gefühl nicht los, dass es nur bedingt darauf zurückzuführen war, dass von Schülern nun einmal erwartet wurde, dass sie ihrem Lehrer zumindest einen Teil ihrer hochgeschätzten Aufmerksamkeit schenkten. Im Gegensatz zu vielen anderen war in seinen Augen sogar Interesse zu erkennen, wenn auch in einer Form, die, wenn man den Gerüchten Glauben schenkte, schon zahlreiche Vampire ins Unglück gestürzt hatte. Er besaß die für Wesen aller Welten überaus nützliche Fähigkeit, ein beliebiges Gegenüber mit bloßen Blicken zu entkleiden und ihm das Gefühl zu geben nackt zu sein. Apropos, die gedankliche Parallele erinnerte ihn an einen Buchtitel, den er kürzlich irgendwo gelesen hatte. Dass echte Vampire Kurven hätten oder so ähnlich. Selbstverständlich galt das auch für die Männer und falsche Vampire waren natürlich dementsprechend eckig. Wie kamen die Menschen nur auf solchen Unsinn? Selbst für einen Marketinggag, oder wie auch immer sie das nannten, fand er es ziemlich platt. Grundsätzlich war gegen ihre Kreativität ja nichts einzuwenden – sie hatten ganz vorzügliche Folterinstrumente hervorgebracht – aber einige ihrer Annahmen waren ebenso kühn wie unzutreffend. Wenn man genauer darüber nachdachte, waren es sogar die meisten. Dass Vampire Knoblauch verabscheuten zum Beispiel. Hatten sie noch nie an einem Menschen gerochen, der zuvor mehrere Knoblauchzehen zu sich genommen oder sich gar damit eingerieben hatte? Vampire besaßen im Allgemeinen einen sehr feinen Geruchssinn, weshalb die meisten penetranten Gerüche für sie grundsätzlich eine gewisse Herausforderung darstellten. Das hatte mit der Knolle an sich wenig zu tun, aber immerhin. Sie lagen zumindest nicht ganz daneben. Aber mit einem hatten sie der Vampir-, ja, vielleicht der gesamten Welt keinen Gefallen getan. Diese kitschigen Vampirstorys! Die meisten seiner Art waren alles andere als romantisch veranlagt, waren eher kühl und reserviert, oder hatten zumindest nicht allzu viel für Romantik übrig. Hinzu kam, dass vor allem die männlichen Vertreter ihrer mystifizierten Rasse das waren, was die Erdenbewohner allgemein als bisexuell bezeichneten. Und ähnlich wie bei den Göttern gab es bei ihnen gerade aufgrund ihrer Lebensspanne kaum Beziehungen für die Ewigkeit. Ein Leben lang zusammenbleiben. Das sagte sich so leicht. Vor allem wenn man im Durchschnitt nicht einmal 80 Jahre alt wurde. Für Vampire war das kein Alter. Es verdiente noch nicht einmal die Bezeichnung. Man musste schon sehr deutlich die Jahrhundertgrenze überschritten haben, um nicht mehr als Jungvampir zu gelten. Die Ältesten von ihnen waren tausende von Jahren alt. Das interessante, weil paradoxe daran war, dass sie erst nachträglich entstanden waren. Irgendwann, zu Zeiten des ersten vermeintlichen Vampirs Dracula, hatten die Menschen begonnen, an Wesen wie sie zu glauben. Und irgendwann hatten sie auch begonnen zu glauben, dass es Vampire quasi vom Anbeginn der Menschheit gegeben hatte. Obwohl das nicht zutreffend war. Die Erdenbewohner hatten offenbar wenig erbauliches daran gefunden, Vampire schon in der Steinzeit oder gar noch früher zu erdenken. Zugegeben, ästhetisch war es nicht, aber auf diese Weise hatten sie es geschafft, dass plötzlich – zumindest im Vergleich zu vorher – Unmengen von alten Vampiren aus allen Ritzen der Welt gekrochen kamen. Ägyptische, griechische, römische... Von babylonischen hatte er nichts gehört, aber das musste nichts heißen. Und von einem Tag auf den anderen war Dracula nicht mehr der erste, der Urvater der Vampire. Plötzlich reichten ihre Wurzeln sehr viel weiter in die Vergangenheit und sie mussten damit leben, dass Wesen, die zuvor nicht einmal existiert hatten, nun die Macht über die vampirische Rasse einforderten. Menschen waren erstaunlich begabt, wenn es darum ging, bestehende Ordnungen zu zerstören. Unabhängig davon ob es die eigenen waren oder nicht. Und es hatte sich stets als vorteilhafter erwiesen, wenn man sie dabei unterstützte. Das war weniger enttäuschend und bot weitaus mehr Potential tiefsinnigen Amüsements. Wenn die Menschen ihrer Leidenschaft für Vampirgeschichten allerdings weiterhin in diesem Ausmaße frönten, dann würde es schon sehr bald nicht mehr nötig sein, dass sie einander in Kriegen überaus erfolgreich dezimierten. Das würden die Schattengänger dann für sie erledigen. Aber diese Schnulzenromane waren nichts weiter als eine Modeerscheinung. Dagegen konnte man im Notfall etwas unternehmen. Aber für gewöhnlich lösten sich Probleme dieser Art von allein, wenn auch nicht immer in Wohlgefallen auf. Viel bedrohlicher war der Glaube gewesen, dass jeder von einem Vampir gebissene Mensch infolgedessen selbst zum Vampir würde. Das hatte zu Beginn ihrer Existenz – einer Phase in der sie noch in weitaus größerem Maße vom Glauben der Menschen abhängig gewesen waren als heute – zu einer waren Bevölkerungsexplosion auf Seiten der Vampire und einem drastischen Rückgang auf Seiten ihrer Nahrungsquelle geführt. Nie hatte es Zeiten größerer Vampirjagden gegeben und nie waren sie so nötig gewesen. Mittlerweile hatte sich das gegeben – eine aufgeklärte Welt bedurfte solcher Schreckenslegenden schließlich nicht mehr – und sie waren relativ gleichmäßig über den Globus verteilt. Luca sah auf die Uhr. Der Unruhe seiner Schützlinge nach zu urteilen hätten sie höchstens noch fünf gemeinsame Minuten vor sich gehabt. Tatsächlich waren es fünfzehn und damit Grund genug für ein tiefes Seufzen. Augenblicklich wurde es ruhiger. Allerdings nahm der Schwarzhaarige an, dass dies weniger deshalb geschah, weil man eine unangenehme Reaktion seinerseits fürchtete, sondern vielmehr aufgrund der offenbar überaus anregenden Wirkung, die ein Laut wie dieser haben konnte. Und es schien einige Schüler zu geben, die sehr gespannt auf mehr warteten. Ob Mensch oder Vampir, in dieser Phase der Pubertät schienen sie gleichermaßen auf sexuelle Anspielungen oder solche die man eben in dieser Weise interpretieren konnte, gepolt und fixiert zu sein. Selbstverständlich würde er sie enttäuschen. Es war ihm so herausgerutscht, aber in jedem Fall war es gut zu wissen, dass er nach wie vor in der Lage war, sie mit erstaunlich einfachen Mitteln zur Ruhe zu bewegen. Nichtsdestotrotz war Luca verstimmt. In einem Anflug von Rachsucht bürdete er ihnen für den Rest der Stunde eine der unangenehmeren, weil umfangreichen Aufgaben des Lehrbuches auf – inklusive der Ankündigung das Ergebnis zu bewerten. Die Reaktion der Jungvampire unterschied sich, sofern er das beurteilen konnte, in nichts von der normalsterblicher Kinder. Murren, Jammern, Verweigerungsankündigungen und schließlich missmutiger Gehorsam. Selbstverständlich mit allen Facetten positiver und negativer Ausnahmen. Einen Vorteil allerdings besaßen die adligen Sprösslinge gegenüber den Menschen. Ob sie es nun leugneten oder nicht, insgesamt betrachtet waren sie überaus ehrgeizig. Für viele von ihnen war weniger der Gedanke eines Tadels oder einer schlechten Note, sondern vielmehr der Umstand schlechter zu sein als das Kind der Familie eines inoffiziell oder offiziell verfeindeten Clans schier unerträglich. Etwas, das man sich ohne Schwierigkeit zunutze machen konnte. Und soweit Luca wusste, taten das auch alle anderen Lehrer. Anders war diese Horde pubertierender, störrischer und meist viel zu frühreifer Gören einfach nicht unter Kontrolle zu bekommen. Das kratzende Geräusch von Füllfederhaltern und gespitzten Federkielen drang an sein Ohr und zeugte von der zumindest temporären Folgsamkeit seiner Schüler. Der Punktsieg ging eindeutig an ihn. Aus den Augenwinkeln registrierte er, dass selbst Kira sich über sein Blatt gebeugt hatte und es mit der Spitze einer riesigen schwarzen Gänsefeder, die er für gewöhnlich zum Schreiben nutzte, traktierte. Wahrscheinlich hätte er sogar eine Pfauenfeder benutzt – allein wegen ihrer Schönheit und Auffälligkeit – aber selbst ihm schien einzuleuchten, dass das einfach zu unpraktisch war. Besonders angesichts der räumlichen Nähe zum jeweiligen Sitznachbarn. Die ersten Unterrichtsstunden waren der blanke Horror gewesen, nicht zuletzt deshalb, weil sich dauernd irgendjemand von einem anderen gestört, belästigt, bedroht, angegriffen, unsittlich berührt und was nicht sonst noch alles gefühlt hatte. Allein die Diskussionen über mögliche Einzelplätze waren unglaublich kräfteraubend gewesen. Aber schließlich hatten sie sich daran gewöhnt und nicht wenige von denen, die sich so vehement dagegen gesträubt hatten, teilten nun mit wenigstens einem ihrer Kameraden weit mehr als nur die Schulbank. Was es unnötig machte, sie über Paarungsverhalten aufzuklären. Sie waren bereits jetzt dabei für eine neue Vampirgeneration zu sorgen und probierten alles was sie kannten und auch das was sie noch nicht kannten in der Praxis aus. Vermutlich war ihr Liebesleben wesentlich erfüllter als seines. Der Gedanke besaß das Potential seine Reststimmung zu ruinieren, also brach er ihn ab und registrierte stattdessen noch einmal mit gewissem Erstaunen, dass Kira sich ernstlich dazu herabließ sich Notizen zu machen. Entweder hatte ihn nun doch – zumindest für den Moment – der Ehrgeiz gepackt oder aber er war eifrig damit beschäftigt Liebesbriefe und Einladungen für die nächste Blutorgie zu verschicken. Aber das würde er schon noch herausfinden. Luca wollte keinen Blickkontakt provozieren, also wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Tafel zu und notierte in seiner schönsten Sonntagsschrift die Termine für die praktischen Übungen. Die Listen würde er das nächste Mal herumgehen lassen. Heute fühlte er sich nicht mehr dazu in der Lage sich schwarz auf weiß vor Augen führen zu lassen, wem er da was zu welcher Zeit zeigen und vormachen sollte. Aber vielleicht würde er sich auch kurzfristig für Videoaufnahmen oder Ähnliches entscheiden. Im Grunde brauchten sie diese Übungen überhaupt nicht und selbst wenn, so hätte sie jeder einzelne Vampir in dieser gottverdammten Schule, im Prinzip auf der ganzen Welt, vorführen können. Aber wie üblich war es an ihm hängen geblieben. Das taten offenbar die meisten undankbaren Aufgaben. Man hatte ganz offensichtlich keinen Respekt vor ihm und gab sich augenscheinlich auch nicht übermäßig viel Mühe das zu verbergen. Genau wie der Respekt der Menschen gegenüber der vampirischen Rasse mehr und mehr zu schwinden schien. Der aktuellste Beweis dafür war seiner Meinung nach ein Film, der über mehrere Wochen hinweg die Kinoleinwände beherrscht hatte, ohne es auch nur im Mindesten zu verdienen. Luca war sich nicht mehr sicher, was ihn dazu bewogen hatte sich diese klischeeüberladene Hollywoodschnulze überhaupt anzusehen. Möglicherweise war der Grund dafür der, dass er sich nicht dazu hatte durchringen können die zugrundeliegende Buchreihe zu lesen, er sich aber gern auf dem Laufenden hielt, was die Ansichten der Menschen über Wesen seiner Art betraf. Er hatte also im Kino gesessen und sich gefragt, warum man zwar Popcorn und Getränke inklusive der zugehörigen Behältnisse, nicht aber Tüten zur Sicherung des Mageninhaltes anbot. Wäre die Unglaubwürdigkeit der Charaktere das einzige Problem gewesen, hätte man es den Machern durchaus verzeihen können. Es war immer schwierig Wesen und Welten darzustellen, deren Existenz man zwar ahnte, die man jedoch nie zu Gesicht bekommen hatte. Besonders dann, wenn es diese Welten tatsächlich auch jenseits jeder Phantasie gab und deren Bewohner unerkannt einen Vergleich ziehen konnten. Nun gut, die wechselnde Augenfarbe kam der Wahrheit ziemlich nahe, wenngleich dafür weniger die Lichtverhältnisse als vielmehr das Erregungsniveau ausschlaggebend war. Neben der offensichtlichen Beschränktheit der jungen Dame, die im Mittelpunkt des Geschehens stand und deren angebliches und vielfach versichertes Vertrauen in ihren ‘Freund‘ in keinster Weise nachvollziehbar war, war der junge Vampir die wohl größte und geschmackloseste Beleidigung, die sich die Menschen ihnen gegenüber seit Jahrzehnten geleistet hatten. Vampire waren – dank der Menschen mittlerweile mit einigen Ausnahmen – schön und achteten für gewöhnlich auch sehr auf ihre Erscheinung. Unter anderem deshalb, weil ihr Jagderfolg nicht unwesentlich davon abhing. Wie auch ihre Fähigkeit sich, soweit als möglich, relativ ungehindert in der Welt der Menschen zu bewegen. Aber dieser lächerliche Elvisverschnitt mit den übertrieben dicken Augenbrauen und den viel zu roten Lippen war eine Unverschämtheit ohnegleichen. Die Handlung war getrost zu vernachlässigen und auch wenn die Idylle der Vampirfamilie durchaus etwas für sich hatte – niemals würden Vampire so etwas wie Baseball spielen! Nicht einmal zur Tarnung. Und sie glitzerten auch nicht in Regenbogenfarben sobald sie der Sonne ausgesetzt waren. Welch absurder Gedanke! Wie hätten sie sich jemals unbemerkt unter Menschen mischen sollen?! Diejenigen die sie vertrugen ohne dabei in Flammen aufzugehen oder zu Staub zu zerfallen, reagierten auf die wärmenden Strahlen genauso wie die Menschen. Mit dem einzigen Unterschied, dass sie für gewöhnlich nicht braun wurden. Und wie waren die Produzenten oder wer auch immer nur auf die Idee gekommen, dass Vampire einen Baum hinaufkletterten wie ein missratener Affe?! Früher einmal waren ihre Vorstellungen romantischer gewesen und sie hatten damit weitaus näher an der Wahrheit gelegen als das heute der Fall war. Vampire waren wie Schatten, wie Tänzer! Grazil und anmutig in ihren Bewegungen – zumindest für die Augen der Sterblichen – auch wenn sie überaus grausam sein konnten. Möglich, dass einige tatsächlich an diesen Trampel erinnerten, aber DAS tat nun wirklich keiner von ihnen. Ihre Sprungkraft machte das unnötig, nicht wenige von ihnen besaßen sogar die Fähigkeit zu fliegen. Und dann die Rettung des Mädchens! Warum in aller Welt sollte jemand, der stark genug war ein Auto zu stoppen und schnell genug die Dame seines Herzens im letzten Augenblick in Sicherheit zu bringen, sich nicht auch rechtzeitig wieder so weit entfernen können, dass nicht der geringste Verdacht auf ihn fiel? Oder ihre Erinnerung manipulieren! Selbst im Affekt hätte jeder echte Vampir vermutlich irgendetwas in dieser Richtung getan. Stattdessen brachte der große Held nichts als ein paar lahme, unglaubwürdige Ausreden zustande. Und aufgrund dieser und ein, zwei anderer seltsamer Umstände schlussfolgerte Superbrain dann, dass es sich bei ihm um einen Vampir handeln musste. Glückwunsch! Ganz so, als ob es das Naheliegendste wäre. Als ob es zu diesem Zeitpunkt nicht eine halbe Million wahrscheinlichere und sinnvollere Erklärungen gegeben hätte! Und davon einmal abgesehen: Warum verletzten sich Menschen eigentlich immer, wenn sie versuchten jemanden zu beschützen? Und warum glaubten sie offenbar ernsthaft daran, dass ein temporärer Streit die Gegenseite davon überzeugen würde, dass eine Schädigung dieser Person ihnen nicht das Geringste bedeuten würde? Für wie dumm hielten sie ihre Feinde eigentlich? Ein weiterer Aspekt, der Luca nicht ganz einleuchten wollte, war die Rolle des Mädchens. Sie war so hübsch wie oberflächlich, so unglaubwürdig wie naiv und trotzdem schien plötzlich alle Welt auf sie fixiert zu sein. Obwohl er nicht leugnen konnte, dass es Vampiren eine gewissen Freude bereitete anderen ihre Beute streitig zu machen, besonders wenn dem Jäger offenbar viel an ihr lag, aber spätestens wenn es ernst wurde, zog sich der Kontrahent meist zurück. Kämpfe zwischen echten Vampiren konnten sehr unschön enden. Die Unsterblichen starben nicht gerne und schon gar nicht wegen eines simplen Stück Fleisches. Und Schmerzlosigkeit war ein Segen, den weitaus weniger Vampire erhalten hatten als allgemein angenommen wurde. Luca fragte sich ob die Menschen wussten, dass der sanfte, freundliche ‘Vater‘ des Vampirs sowie seine dunkelhaarige Schwester – die einzigen Charaktere die ihm wirklich gefallen hatten – tatsächlich Vampire waren. Noch relativ jung, aber zweifelsohne Vampire. Wie lange die Maskenbildner wohl gebraucht hatten, um sie ein klein wenig menschlicher aussehen zu lassen? Und wie lange würden sie brauchen bis sie herausfanden, dass es sich bei ihnen nicht um die unter dem selben Namen tatsächlich existierenden und optisch durchaus ähnlichen Schauspieler handelte? Wenn sie es einigermaßen geschickt anstellten vermutlich nie. Diesen beiden machte das Rollenspiel einfach zu viel Freude, als dass sie so unvorsichtig gewesen wären sich ertappen zu lassen. Und das entsprechende Geld erhielten die menschlichen Schauspieler ja auch. Warum sich also aufregen, selbst wenn man sich an nichts erinnern konnte und eine Geschichte erzählen, die sowieso niemand glauben würde? Lächeln und winken. Mehr hatten sie letztlich nicht zu tun. Verlogenes Pack. Das einzig wirklich schöne in diesem Film war der mit Lichtgirlanden geschmückte Pavillon in einer der letzten Szenen gewesen. Nicht der schmalzige, einfallslose Dialog des Pärchens hatte ihn bewegt, sondern der Glanz der Lichter und ihre Reflektion auf der spiegelglatten Oberfläche des Wassers. Dieser Moment war es, der ihm im Gedächtnis geblieben war und der ihn hatte bleiben lassen, bis ihn die Reinigungskräfte höflich darauf hinwiesen, dass er den Saal jetzt verlassen müsse. In der Realität des Klassenzimmers läutete die Pausenglocke und verkündete das Ende eines kräfteraubendes Arbeitstages. Erstaunlicherweise rührte sich niemand. Offenbar hatte einer seiner hochgeschätzten Kollegen und Leidensgenossen ein sehr überzeugendes Machtwort gesprochen und so wagte es niemand, den Raum ohne entsprechende Genehmigung seinerseits zu verlassen. Bis auf einen natürlich. „Was ist?“, fragte Kira in den Raum hinein, während er selbst schon bei der Tür stand. „Ihr dürft einpacken“, sagte Luca, ohne den jungen Mann auch nur eines Blickes zu würdigen. Eifriges Kramen, Rascheln und Schwatzen war die Folge und nach und nach pilgerten die hoffnungsvollen Sprösslinge nach draußen. Als, wie er glaubte, auch der letzte verschwunden war, ließ er sich auf einen Stuhl fallen, legte den Kopf in den Nacken und seufzte tief. Die Augen hielt er geschlossen. „Nicht zu fassen“, fluchte er leise. Als er die Blicke Kiras auf sich gerichtet fühlte, sah er missbilligend in seine Richtung und nur einen Moment später fiel die Tür hinter dem Jungen ins Schloss. Kapitel 1 - ENDE Anmerkung: Für fleißiges Korrekturlesen geht ein herzliches Dankeschön an kurayamide! Kapitel 2: Eine Frage des Vertrauens ------------------------------------ Beginn: 26.08.2009 Ende: 30.08.2009 Kapitel 2: Eine Frage des Vertrauens „Weißt du, ich traue mich einfach nicht.“ Luca machte sich nicht einmal die Mühe den Kopf zu heben. Er hatte das die letzten 17 Mal getan als der andere diesen Satz gesagt hatte, ohne dass es ihn dazu animiert hätte weiterzusprechen und seinem eigentlichen Problem etwas mehr Kontur zu verleihen. Luca verspürte keine Lust nachzufragen, worum es ihm nun eigentlich ging. Er brütete gerade über einem Berg von Klausuren und hatte daher weder Zeit noch Muße sich mit den Angelegenheiten seiner Mitvampire zu beschäftigen. Abgesehen davon war es ziemlich wahrscheinlich, dass er früher oder später ohnehin erfahren würde was genau Shuka denn nun hierher geführt hatte. Ob er nun wollte oder nicht. Er betrachtete die Arbeiten, die aufgrund ihrer Vielzahl inzwischen seinen kompletten Schreibtisch einnahmen, und seufzte innerlich. Es wollte ihm einfach nicht in den Kopf, weshalb er sich mit solchen Dingen herumschlagen musste. Die Leistungen der einzelnen Schüler waren so vorhersehbar, dass sich die Kontrolle der Lösungen im Grunde erübrigte. Eigentlich erübrigte sich die ganze Klausur. Die Leistungsstarken waren verlässlich leistungsstark, das Mittelfeld blieb Mittelfeld und die Leistungsschwachen – für einige Vertreter ihrer Rasse war dies noch ein sehr schmeichelhafter Ausdruck – blieben ihren Boykottierungsversuchen treu. Objektiv gesehen hätte es durchaus Grund zur Freude gegeben. Der Notendurchschnitt seiner Schützlinge war nicht zu verachten. Allerdings trübte die Tatsache, dass auch die redlichsten Bemühungen keine Veränderung zu bewirken vermochten das Bild erheblich. Zumal es nicht gerade für ihn sprach. Diesmal seufzte Luca vernehmlich und der andere sah ihn erstaunt an. „Schlechte Nachrichten?“, fragte er höflich und wahrscheinlich auch wirklich nur aus Höflichkeit. „Schwer zu sagen, ich habe keinen Vergleich.“ Shuka lächelte ein wenig schief – das tat er immer wenn er nicht wusste was er antworten sollte – dann nahm er den Faden wieder auf. „Ich meine, wenn man sich trauen lässt, dann ist das doch ein Zeichen von Liebe, oder?“ Da es sich, soweit Luca wusste, bei seinem Gast und seiner Auserwählten nicht um eine Zwangsheirat handelte, konnte er sich nicht recht vorstellen was es sonst sein sollte. Seine momentane Stimmung veranlasste ihn allerdings dazu, eine weitaus weniger diplomatische Antwort zu geben. „Liebe wird allgemein überbewertet“, bemerkte er beiläufig und mit einer Spur von Frustration. Sorgfältig, allerdings ohne auch nur einen Hauch von Genugtuung, schrieb er die standardmäßige Fünf unter Kiras Arbeit. Diesmal würde er um ein Gespräch mit den Eltern des Jungen nicht herumkommen. Es war zum verzweifeln. Ein Schauder durchlief ihn, wenn er nur daran dachte. Adel in seiner reinsten Form. Besser, man legte sich nicht mit ihnen an, aber so konnte es nicht weitergehen. Befehlsgewalt hin oder her, Luca hatte sich an die Regeln zu halten und dafür zu sorgen, dass es die Schüler ebenso taten. Und wenn sich am Verhalten dieses Vampirs nicht bald etwas änderte, dann hatte er die längste Zeit auf dieser Schule verbracht. Nicht dass es ihn oder gar Kira gestört hätte, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass die Eltern dieses Balges es besonders amüsant finden würden, wenn sich herausstellte, dass ihr geliebter Sohn nicht einmal den Mindestanforderungen genügte. Und das an einer Schule, deren angeblich so niedriges Niveau sie ohnehin bereits als unter ihrer Würde empfunden hatten. Aber ganz gleich wie mächtig sie auch waren, selbst sie brauchten ihre Verbindungen. Und diese Institution war auf allerhöchster Ebene erdacht und abgesegnet worden. Jedenfalls hielt er es für klüger, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen bevor es zu spät war. Auch wenn er nicht daran glaubte, dass es irgendetwas nützen würde. Aber am meisten ärgerte ihn an dieser Sache, dass Kira solche Diskussionen bewusst herbeiführte. Er war intelligent, das stand außer Frage, und wäre sehr wohl zur Lösung der Aufgaben in der Lage gewesen. Gelegentlich stellte er das sogar unter Beweis. Wenngleich Luca bisher kein Schema hatte erkennen können, nach dem der Jüngere es tat. Alles was der andere damit erreichte und womöglich auch zu erreichen beabsichtigte, war, ihn zu verärgern und ihm stets aufs neue vor Augen zu führen, wie überflüssig er den Unterricht fand. Dies war im Übrigen einer der wenigen Punkte, in denen sie einer Meinung waren. „Luca!“ Er brauchte einen Moment bis ihm bewusst wurde, dass der empörte Tadel seiner Antwort und nicht seiner mangelnden Aufmerksamkeit geschuldet war. Offenbar kannte das Schicksal doch so etwas wie Erbarmen. „Ich meine, ist es nicht eher ein Zeichen von Misstrauen?“ Luca hob erstaunt den Kopf. Er war nicht verheiratet und hatte eigentlich auch nicht vor an diesem Umstand etwas zu ändern, aber dass ausgerechnet Misstrauen der Grund sein sollte, weshalb man eine solche Verbindung einging, schien ihm nun doch etwas weit hergeholt. „Wir haben ja schon vorher zusammengelebt und jetzt so plötzlich. Glaubst du sie misstraut mir und will mich deshalb an sich binden?“ „Ich finde 50 Jahre eigentlich nicht besonders plötzlich. Aber wenn du auch weiterhin in wilder Ehe leben willst, steht dem doch nichts im Wege, oder?“, bemerkte Luca und setzte schweren Herzens eine Zwei unter die Arbeit seines Lieblingsschülers. Er war brillant, aber seine Nervosität und die dadurch entstehenden Fehler kosteten ihn gelegentlich die wohlverdiente Bestnote. Vermutlich würde auch bei ihm ein Gespräch vonnöten sein. Allerdings unter vier Augen und auch nur deshalb, weil er verhindern wollte, dass sich die Komplexe des schüchternen Jungen noch verstärkten. Davon hatte er schon jetzt mehr als genug und ganz sicher mehr als gut für ihn waren. Aber – und dieser Gedanke zauberte tatsächlich ein Lächeln auf seine Lippen – wenn er die Lage richtig einschätzte, dann würde der Kleine bald jemanden an seiner Seite haben, der ihm einmal eine andere Sicht der Dinge zeigte. Und wahrscheinlich sogar weit mehr als das. Luca erwartete das Ergebnis dieser Verwandlung mit gemischten Gefühlen. Es war nicht so, dass er es ihm nicht gönnte einen verlässlichen Partner an seiner Seite zu haben – eher war das Gegenteil der Fall. Er war sich nur nicht sicher, ob dieser Partner der Richtige für den Jungen war. Er kannte ihn nicht gut genug, um sich ein Urteil darüber erlauben zu können, aber letztendlich gab es ohnehin keine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage. Das würden die beiden schon selbst herausfinden müssen. Trotzdem, ihm lag viel an diesem Kind und er wollte nicht mitansehen müssen, wie der Jüngere ein weiteres Mal zum Spielball seiner Mitschüler wurde. Für ein Geschöpf der Nacht war er einfach viel zu empfindsam und sensibel. Und Luca glaubte, ihn gut genug zu kennen um zu wissen, welchen Schaden negative Einflüsse an der kindlichen Seele anrichten konnten. „Weißt du, ich traue mich einfach nicht mich trauen zu lassen.“ Richtig, es gab da ja noch ein anderes Problem, mit dem er sich auseinandersetzen musste. „Wie traurig“, erwiderte er und machte sich einen Vermerk in seinem Terminkalender. Als sein Besucher nicht antwortete sah er auf. Für einen erwachsenen Mann hatte Shuka seine Unterlippe in erstaunlich kindlicher Manier vorgeschoben. Es war nicht zu übersehen, dass er beleidigt war. „Für dich mag das nur eine belanglose Kleinigkeit sein, aber für mich ist es sehr wichtig.“ Oje. Jetzt hatte er es tatsächlich geschafft den anderen zu verärgern, und das nur, weil er einer Tätigkeit, die er nicht mochte und im Allgemeinen für überflüssig hielt, mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte als seinem offenkundig hilfebedürftigen Bekannten. Im schlimmsten Fall hatte er den anderen mit dieser Gedankenlosigkeit sogar ernsthaft verletzt. Er legte den Korrekturstift beiseite, seufzte und bemühte sich um Schadensbegrenzung. „Hör mal Shuka. Ich habe ja auf diesem Gebiet nicht besonders viel Erfahrung, aber...“ „Stimmt auffallend.“ Luca lächelte und überging gekonnt die offensichtliche Spitze. Schließlich hatte er sich das selbst zuzuschreiben. Er war nicht gerade höflich gewesen. „Ich denke“, der andere verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück, als erwarte er einen längeren Vortrag. Einen Moment lang fragte sich Luca, ob er sich Mühe und Atem nicht einfach sparen und Shuka das Reden überlassen sollte. Wenn der andere auf seine Meinung keinen Wert mehr legte, dann würde er sich ganz sicher nicht aufdrängen. Ein paar Sekunden schwieg der Schwarzhaarige, dann war auch er innerlich wieder ruhiger. Shuka konnte im Grunde genommen ja überhaupt nichts dafür. Er war nicht das Problem, er hatte nur gerade selbst eines und es war nicht fair, seine Frustration an diesem unglücklichen Mann auszulassen. Da gab es ganz andere, die das verdient hätten. „Ich halte das für einen echten Beweis ihrer Liebe zu dir. Ihr habt die Ewigkeit, aber sie will dich schon jetzt nicht mehr hergeben. Es geht nicht darum, dass sie misstrauisch wäre und dich auf diese Weise an sich binden will. Das würde ohnehin nichts nützen. Aber sie möchte, dass du zu ihr gehörst und das auf eine Weise, die auch für andere deutlich sichtbar ist. Sie will dich nicht mit anderen teilen. So betrachtet ist Liebe etwas ziemlich egoistisches. Niemand soll dich haben, du gehörst allein mir, niemand soll einen Finger an dich legen oder dich auch nur ansehen und so weiter und so weiter. Aber das ist doch nichts Schlechtes. Es ist ganz normal. Stell dir nur einen Moment lang vor es wäre nicht so. Sie könnte dir tausendmal sagen, dass sie dich liebt, du würdest ihr nicht glauben solange sie nicht auch danach handelt. Weil du das Gefühl hättest, dass sie es nur sagt, ihren Worten aber die Kraft fehlt, die Taten nun einmal von Natur aus besitzen. Jedenfalls“, er stützte die Ellenbogen auf den Tisch, verschränkte die Hände ineinander und legte das Kinn darauf, „gibt es genau genommen nur eine einzige Frage die du für dich beantworten musst. Wenn du sie liebst und du weißt, dass auch sie dich liebt, dann gibt es keinen Grund zu zweifeln. Wenn du sie liebst, heirate sie und du kannst die Ewigkeit mit ihr gemeinsam verbringen.“ Kapitel 2 – ENDE Kapitel 3: Ewigkeit ------------------- Beginn: 26.08.2009 Ende: 30.08.2009 Kapitel 3: Ewigkeit Die Ewigkeit, dachte Luca während er unverwandt die Decke anstarrte, als gäbe es dort etwas Besonderes zu sehen. Was selbstverständlich nicht der Fall war, es sei denn man fand weiße Raufasertapete aufregend. Shuka war schon vor einer guten Viertelstunde gegangen, vor Glück den Tränen nahe und unendlich dankbar. Die Ewigkeit – an dieser Stelle hatte er wirklich übertrieben. Niemand zweifelte daran, dass die beiden ein wunderschönes Paar sein und über viele Jahrzehnte hinweg in Liebe miteinander verbunden sein würden. Niemand, der sie sah, hätte auch nur eine Sekunde daran gezweifelt. Er selbst war immer auf der Suche nach einem solchen Partner gewesen und mittlerweile zu der deprimierenden Erkenntnis gelangt, dass es ihn nicht gab. So etwas wie Ewigkeit existierte nicht und ganz sicher nicht im Hinblick auf Gefühle. Denn es war gerade ihre Flüchtigkeit, die sie so besonders, so faszinierend machte. Und nur deshalb besaßen sie eine solche Macht. Die Menschen konnten sich dieser Illusion hingeben. Ihre Lebenszeit war, gemessen an der seinen, so kurz, dass sie ohne große Schwierigkeit daran glauben konnten. Doch ihre Ewigkeit war für ihn kaum mehr als ein Augenblick. Gefühle waren nicht von solcher Langlebigkeit. Die Vampire wussten es, ebenso wie die Götter und die Dämonen. Selbstverständlich konnte er seine Beziehungen nicht zum Maß aller Dinge erklären, aber er hatte – was Beständigkeit anging – seine Erfahrungen gemacht. Und manchmal wünschte er sich, dass er wenigstens jenen Moment hätte erleben dürfen, in denen sie von leidenschaftlicher Liebe in eine Art liebevoller Kameradschaft, sogar Routine übergingen. Vielleicht hätte er einfach darauf warten sollen, in dem sicheren Wissen, dass er nicht daran zugrunde gehen, nicht sterben würde, ganz gleich wie traurig und schmerzhaft es auch immer sein mochte. Tatsächlich schien er jedoch Oberflächlichkeit magisch anzuziehen und so waren seine bisherigen Beziehungen eher von animalischer Lust als von liebevoller Zärtlichkeit geprägt gewesen. Nicht alle, weiß Gott nicht alle, aber wahrscheinlich hatte sein letzter Partner einfach einen zu tiefen Eindruck hinterlassen. Vielleicht fiel es ihm deshalb schwer, die anderen angemessen zu beurteilen. Geliebt hatte er sie, auf die eine oder andere Art und Weise, alle. Aber Vampire waren nicht einfach, Luca war nicht einfach und das kollidierte nicht selten mit den Interessen seiner Gefährten. Obwohl er zu seiner Verteidigung durchaus gerechtfertigterweise hätte anbringen können, dass es wohl nicht besonders viele Wesen gab, die von sich behaupten konnten einfach zu sein. Vor langer Zeit hatte er einmal jemanden geliebt, so sehr, dass dieses Gefühl sein ganzes Wesen ergriffen und vollkommen durcheinander gewirbelt hatte. Aurelio war viel älter gewesen als er, aber das spielte in einer Welt wie der ihren keine Rolle. Sie hatten viele Jahrzehnte miteinander verbracht und je länger sie zusammenlebten, umso deutlicher trat der Unterschied in ihrer Art zu lieben zu Tage. Es gab dieses Gefühl zwischen ihnen, daran hegte er bis heute nicht den geringsten Zweifel. Aber Aurelio war so viel erfahrener gewesen, hatte so unendlich viel Wissen besessen, dass Luca sich ihm immerzu unterlegen gefühlt hatte. Ganz gleich was er für ihn empfand, wie wichtig der Ältere für ihn auch war, er konnte dieses Gefühl einfach nicht ablegen. Das war es, das ihre Beziehung langsam und schleichend vergiftet hatte. Und er konnte es nicht ändern. Selbst dann nicht, als er spürte wie es begann ihn wütend zu machen und die Bande zwischen ihnen ganz allmählich aufzulösen. Sie hatten Zärtlichkeiten ausgetauscht, waren aber nie bis zum Äußersten gegangen. Damals hatte Luca geglaubt, in Aurelios Verhalten eine Art von Liebe zu erkennen, die sich von derjenigen unterschied die er selbst für ihn empfand. Und das war ihm schier unerträglich. Er wollte Aurelio als seinen Liebsten. Er wollte derjenige sein, der immer bei ihm war – der Partner für die Ewigkeit. Wie töricht, wie menschlich und naiv er damals gewesen war. Aurelio dagegen hatte in Luca stets das Kind gesehen, das er nun einmal war und ihn geliebt wie ein Vater. Ein Vater, der gelegentlich dem Drängen eines störrischen Kindes nachgab und ihm ein wenig Zärtlichkeit schenkte. Sie waren keine Menschen und sie waren nicht verwandt. Die Liebe zu Knaben war zu dieser Zeit nichts ungewöhnliches und niemand hätte sich daran gestört. Gedankenverloren lächelte Luca in die Leere des Raumes hinein. Niemand hätte sich daran gestört. Das hatte er damals wirklich geglaubt. Und das obwohl der Rangunterschied so offensichtlich war. Nie hätte er auch nur den Blick zu einem Mann wie ihm heben dürfen. Aber davon hatte er damals noch nichts gewusst – oder nichts wissen wollen. Heute, einige Jahrhunderte später, sah Luca die Dinge mit anderen Augen. Obwohl er außer den verbliebenen Erinnerungen keinerlei Beweis dafür hatte, glaubte er, dass Aurelio ihn wirklich geliebt hatte. Und das alles andere als leidenschaftslos. Aber er war klug genug gewesen ihn nicht zu fesseln, ihn nicht an sich zu binden in dem Wissen, dass ein so junger Vampir wie er den Stimmen ihrer Welt nicht gewachsen war. Wahrscheinlich war er es bis heute nicht, aber er verstand es jetzt besser. Ein sanfter, liebevoller Beschützer – das war es, was Aurelio gewesen war. Ein mitfühlender, zärtlicher Mann. Ein rücksichtsvolles, liebendes Monster. Seine Art zu töten hatte wenig von der Zurückhaltung ahnen lassen, die er sonst zu zeigen pflegte. Er hatte es nie vergessen. Dass auch er ein Jäger war und eine sehr grausame Seite besaß, die er so gut wie niemandem zeigte. Luca hatte sie gesehen und er erinnerte sich an den Ausdruck in Aurelios Augen, als dieser begriff, dass er es wusste. Diese unendliche Traurigkeit und tiefe Resignation. Als ob er sich einem Schicksal ergebe, das er so lange abgelehnt, gegen das er sich so verzweifelt gewehrt hatte. Es hatte ihn verändert. Es hatte sie beide verändert, doch er war damals zu sehr mit seinen eigenen Gefühlen beschäftigt gewesen, als dass er die Aurelios ernsthaft hätte begreifen können. Er glaubte nur es zu tun, ohne zu verstehen wie schmerzhaft diese Oberflächlichkeit für den anderen sein musste. Luca hatte nicht sehen können, nicht sehen wollen was so offensichtlich war. Während er eigensinnig auf seinen Gefühlen beharrte und sich darüber beklagte nicht genug geliebt zu werden, musste Aurelio alles allein tragen. Verantwortung, Angst, Zorn, Missbilligung, Verachtung. Luca war zu jung und zu unaufmerksam gewesen um zu erkennen, dass die schweigsame Zurückgezogenheit dieses Mannes, das sanfte Lächeln hinter dem sich so vieles verbarg, seinem Schutz diente. Zu jung um zu verstehen, dass Aurelio in jenen Tagen seine Hilfe gebraucht hätte. Ein wenig Trost, ein paar sanfte, liebevolle Worte. Stattdessen hatte er nur Vorwürfe zu hören, nur Wut zu spüren bekommen. Und Aurelio hatte ihm stumm verziehen. Jedes einzelne Wort. Schon damals. Nie hätte er ihm irgendeine Schuld an den Ereignissen gegeben. Vielleicht weil er sie – ohne die Gabe der Hellsicht oder des Gedankenlesens zu besitzen – immer schon vorhersah. Seufzend schloss Luca die Augen und als er sie wieder öffnete war er zurück in der Gegenwart. Es war lange her. Welche Wunden auch immer ihre Trennung hinterlassen hatte, sie waren verheilt. Manchmal schmerzten die alten Narben, doch es war ein wohltuender Schmerz, der ihn an die gemeinsame Zeit erinnerte. Eine schöne Zeit, trotz allem. Luca warf einen Blick auf die Wanduhr, deren Geschmacklosigkeit ihn stets aufs Neue in Erstaunen versetzte. Auf dem zifferlosen Ziffernblatt hatte man einen Friedhof abgedruckt, die Spitzen wie auch die Enden der Zeiger waren mit Totenköpfen versehen. Zu jeder vollen Stunde gab sie ein anderes Lachen von sich, das nach Einschätzung der Menschen wahrscheinlich furchteinflößend und gruselig sein sollte. Er persönlich fand es eher albern. Davon abgesehen gelang es diesem vermaledeiten Ding tatsächlich immer wieder ihn zu erschrecken. Empfindliche Ohren waren eben auch nicht immer von Vorteil. Er hätte doch für die rosafarbene Uhr mit Herzchen stimmen sollen. Dann hätte man wenigstens einen offensichtlichen und nachvollziehbaren Grund sich zu schämen. Es war vier Uhr morgens. Die Sprechstunde ging in diesem Moment zu Ende und er war dankbar dafür. Offenbar hatte man nicht vor, ihn mit weiteren unangemeldeten oder ungebetenen Besuchern zu strafen. Er schob die Arbeiten zur Seite und wühlte in seinen Unterlagen. Schließlich fand er, was er suchte, und drapierte es exakt in der Mitte seines Schreibtischs. Ein Briefumschlag, altes Papier, edel, sündhaft teuer und ein Siegel, wie es nur der höchste Adel sein Eigen nannte. Früher, als diese Farbe noch etwas besonderes war, war es purpur gewesen. Jetzt war es blutrot. Luca achtete nicht auf den Namen des Absenders, er wusste von wem der Brief stammte. Jedes Jahr erreichten ihn etwa vier davon und keinen von ihnen hatte er je geöffnet. Lange starrte er auf das Siegel, dann nahm er den Brief vom Tisch und trat an einen der zahlreichen Kerzenständer heran. Lange starrte er unbeweglich in die Flammen. „Verzeih mir“, flüsterte er leise und für einen langen Moment berührten seine Lippen das feste Papier. Dann übergab er den Brief dem Feuer. Einzig ein wenig Asche und ein paar rote Tropfen Siegelwachs blieben am Boden zurück. Möge Gott verhindern, dass wir uns jemals wiedersehen, flüsterte er in Gedanken und starrte in die Flammen. Sollte ich mich jemals wieder so verlieben, dann werde ich sterben. Kapitel 3 - ENDE Kapitel 4: Interesse -------------------- Beginn: 30.08.2009 Ende: 02.09.2009 Kapitel 4: Interesse Als Luca am nächsten Abend erwachte, kamen ihm seine Gedanken äußerst pathetisch vor und als er wenig später wieder im Klassenzimmer stand, schob er sie gänzlich beiseite. Dass ihn eine Hochzeit, wie sie tagtäglich überall auf der Welt stattfand, so melancholisch stimmte, war wirklich nicht feierlich. Ja, es war direkt albern. Seine verflossenen Liebhaber mochten viel Stoff für Gespräche und Grübeleien bieten, aber das war etwas, das er lieber anderen überlassen wollte. Alles hatte seine Zeit. Aurelio gehörte der Vergangenheit an. Boshaft lieferte sein Gedächtnis noch eine Reihe weiterer Namen auf die das ebenso zutraf, doch Luca ignorierte es. Es war eine viel zu angenehme Nacht um sich von so etwas die Laune verderben zu lassen. Außerdem würde der Unterricht heute sehr viel entspannter ablaufen, da zahlreiche Referate anstanden und er daher lediglich aufmerksam zuzuhören und entsprechende Bewertungen vorzunehmen hatte. „Hey!“ Luca schreckte aus seinen Gedanken auf, ließ es sich jedoch nicht anmerken. Genauso wenig wie das Seufzen, das ihm auf der Zunge lag, das er jedoch für sich behielt. Er kannte die Ursache und Bedeutung dieses Wortes nur zu gut. Es war Kiras Standardformel, wenn er tatsächlich einmal einen Beitrag zum Unterrichtsgeschehen zu leisten beabsichtigte und der Ansicht war, dass die Reaktion darauf zu lange dauerte. Betont langsam wandte Luca den Kopf und bedachte den anderen mit seinem gekonnt verbindlichen Lehrerlächeln. „Ja, bitte?“ Die blauen Augen des Jüngeren blitzten auf, dann schien er wieder so gelassen und desinteressiert wie zuvor. „Da ist ein Fehler.“ Die Art wie er es sagte ließ ein schweres Vergehen vermuten und so vertiefte sich Luca noch einmal in die Betrachtung des Arbeitsblattes. Kira tippte auf das Blatt das vor ihm auf dem Tisch lag und starrte die Referentin mit unnachgiebigem Blick an. Entgegen seiner ersten Intention überflog Luca den Inhalt nur und musste ihm wohl oder übel recht geben. Es war sogar ein ziemlich schwerwiegender Fehler. Erstaunlicherweise hatte er nichts mit der Familiengeschichte der Feroces zu tun, was erklärt hätte warum ausgerechnet Kira derjenige war, dem es als ersten auffiel. Leises Gemurmel ging durch den Raum und Luca beschloss dem armen Mädchen zu Hilfe zu kommen, dem die Sache ganz offensichtlich furchtbar unangenehm war. Sie sprach ohnehin nicht gern vor Publikum und war abgesehen davon immer sehr um die Korrektheit ihrer Aussagen bemüht. Kira wusste das, davon war Luca überzeugt. Deshalb ärgerte es ihn, dass der andere es auf diese Weise hatte sagen müssen. „Das ist sehr aufmerksam von dir Kira“, erwiderte er in süß-säuerlichem Ton, der es für die anderen wie ein Lob, für den Jüngeren wie einen leisen Hinweis erscheinen ließ. „Es freut mich, dass du den Unterricht mit so viel Interesse verfolgst.“ Das kurzzeitig im Saal aufgekommene Lachen verstummte unter den Blicken des Adligen sehr schnell wieder. Luca wusste, dass sein Verhalten pädagogisch nicht gerade wertvoll gewesen war, aber er war im Moment vielmehr damit beschäftigt die Referentin, die nach dem plötzlichen Einwurf völlig aus dem Konzept gekommen war, zum weiterreden zu ermutigen. Er wusste ziemlich gut darüber Bescheid, welche Probleme seine Schüler mit sich herumschleppten und kannte die zahlreichen Komplexe, die sich unter den Jungvampiren ungerechterweise so ungleichmäßig verteilt hatten. Kira hätten ein oder zwei davon wirklich gut gestanden. Es war erstaunlich, was ein paar aufrichtige, aufmunternde Worte bewirken konnten. Nur ein paar Worte und sie lächelte so glücklich, als habe er sie vor einem schrecklichen Unheil bewahrt. Vielleicht waren es Moment wie dieser, die dafür sorgten, dass er sein Lehrerdasein nicht aufgab. Zumindest machten sie es erträglicher und gaben ihm das Gefühl, dass seine Bemühungen wenigstens nicht ganz umsonst waren. Bei dem Gedanken daran, dass es ausgerechnet dieser Ort und diese Umstände waren, die ihm das Gefühl gaben gebraucht zu werden, hätte er um ein Haar das Gesicht verzogen. Und er tat es nur deshalb nicht, weil die junge Vampirin es ganz sicher missverstanden hätte. Aber dass er dieses Gefühl ausgerechnet hier und bei einer Tätigkeit wie dieser finden würde, war wirklich Ironie des Schicksals. Nachdem auch der letzte Vortrag sein Ende gefunden hatte, konnte er eine durchaus positive Bilanz ziehen. Insgesamt betrachtet war das Ergebnis äußerst zufriedenstellend. Seine Schützlinge hatten sich wirklich ins Zeug gelegt, wenn auch zugegebenermaßen nicht immer mit dem gewünschten Erfolg. Die üblichen Leistungsverweigerer hatten zuerst eine Drohung erhalten und dann eine zweite Chance eingeräumt bekommen und abgesehen davon konnte er nicht leugnen, dass es tatsächlich berechtigten Anlass dazu gab, stolz auf seine Schüler zu sein. Im Moment stellte sich seine Klasse den Herausforderungen der anderen Lehrer und so blieb ihm genug Zeit, um die restlichen Arbeiten zu korrigieren und sich auf den nächsten Schultag vorzubereiten. Es versprach eine wirklich angenehme und entspannte Nacht zu werden. Nicht, dass er ernstlich etwas gegen Abwechslung und Spannung gehabt hätte, aber die Abwechslungen an dieser Schule bedeuteten selten etwas Gutes und Spannung zeigte sich eher in Form von Spannungen zwischen einzelnen Personen, deren Bestehen nicht wirklich angenehm war. Seine Einschätzung der Lage geriet schlagartig ins Wanken, als er den Besucher auf dem Gang, der zum Lehrerzimmer führte, entdeckte. Der Blick der kalten Augen war direkt auf ihn gerichtet. Er hatte Kira noch nie besonders fröhlich oder gar ausgelassen erlebt, aber die Kälte, die ihm jetzt aus den abweisenden Spiegeln seiner Seele entgegenstrahlte, war ihm fremd. Wäre er jünger gewesen, es hätte ihm Angst gemacht oder zumindest einen eisigen Schauer über den Rücken gejagt. So aber löste es kaum mehr als milde Überraschung bei ihm aus. Luca bemühte sich gar nicht erst um ein Lächeln. Es wäre nicht echt gewesen und er war sich ziemlich sicher, dass auch Kira das wusste. Tatsächlich zeigte er ihm sein Lächeln für gewöhnlich nur dann, wenn er ein Gespräch für beendet hielt oder aber die Distanz zwischen ihnen betonen wollte. Warum das so war wusste er nicht. „Solltest du nicht im Unterricht sein?“, fragte er und ganz unwillkürlich erschien ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen. Vielleicht weil er ahnte, dass dem anderen diese Frage nicht gefallen würde und sie ganz sicher nichts mit seinem Hiersein zu tun hatte. „Ich habe mich freistellen lassen“, war die unterkühlte Antwort. Luca suchte in seiner Tasche nach dem Schlüssel und unterließ es, einen bissigen Kommentar anzufügen. Wie hatte er auch so naiv sein können danach zu fragen? Seine Majestät hatte selbstverständlich ein Alibi. „Und mit welcher Begründung?“, fragte er mit einem Hauch von Sarkasmus in der Stimme. „Ich schaffe es sonst nicht in Ihre Sprechstunde.“ Das hielt Luca für ein Gerücht. Sofern sie es vorher anmeldeten, waren Treffen mit ihm grundsätzlich zu fast jeder Tages- und Nachtzeit möglich. Gelegentlich gab es auch so etwas wie Notfälle, aber für gewöhnlich waren die Probleme der Jungvampire nicht übermäßig schockierend und eigentlich immer zu lösen. Dass er sich seit einiger Zeit bei einer ganzen Reihe von Schülerinnen unterschiedlichen Alters einiger Beliebtheit erfreute, war sicherlich auch auf dieses Engagement zurückzuführen. Ein anderer Grund fiel ihm nicht ein. Es mochte ja ganz schmeichelhaft sein, von jungen Mädchen umschwärmt zu werden, aber wenn er ehrlich war empfand er es eigentlich eher als störend. Selbst wenn man davon absah, dass seine Erfahrungen mit Frauen nicht allzu umfangreich waren. Inzwischen hatte er den Schlüssel gefunden und schob ihn nun in das alte, kunstvoll gestaltete Schloss. „Und weil ich so sicher sein kann, dass uns niemand stört.“ Luca war sich nicht sicher wie der andere auf diese Idee kam, musste aber schließlich einräumen, dass er zumindest nicht ganz Unrecht hatte. Wozu ihre Zweisamkeit allerdings unbedingt notwendig sein sollte, entzog sich seiner Kenntnis. Vermutlich wäre dies der richtige Moment gewesen um Angst zu haben, aber er war kein Mensch und mit einem Vampir dieses Kalibers wurde er noch spielend fertig. Daher konnte er die versteckte Drohung auch nicht wirklich ernst nehmen. „Muss ich Kronos fragen, ob er damit einverstanden war, dass du dir frei nimmst?“ Er musterte den anderen sehr genau, doch der verzog keine Miene. „Wenn Sie meinen“, erwiderte er betont gelangweilt und ließ seinen Blick durch den Gang schweifen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bluffte der Jüngere, doch Luca beließ es dabei. Ein lautes metallisches Knacken war zu hören, dann öffnete er die schwere Holztür und betrat, gefolgt von einem finster dreinblickenden Kira, das Lehrerzimmer. Während es die Höflichkeit jedem anderen Vampir geboten hätte, sich zumindest nicht so auffallend abfällig mit der Innenausstattung des Raumes zu beschäftigen, kannte Kira diesbezüglich keine Scheu. Und wie es für den Adel üblich war, ließ er sich Zeit damit das zu tun, was man von ihm erwartete. Was in diesem Fall die wenig anspruchsvolle Aufgabe gewesen wäre Platz zu nehmen und sein Anliegen vorzutragen. Stattdessen inspizierte er überaus aufmerksam seine Umgebung. Luca hatte keinen Zweifel daran, dass der Jüngere ein ausgezeichneter Jäger war. Allerdings gab es in diesem Raum nichts, das solche Beachtung verdient hätte. Es gab hier nichts, das er jagen konnte. Luca nahm auf seiner Seite des Lehrertisches Platz und nutzte die Gelegenheit, um die Arbeiten, die noch relativ willkürlich verstreut lagen, ein wenig zu ordnen. Als er wieder aufsah, hatte Kira offenbar gerade etwas Interessantes entdeckt. Er hielt inne und starrte auf den Boden, als wäre ihm dort zum ersten Mal ein besonders schönes Muster ins Auge gefallen. Aber das war höchst unwahrscheinlich. Das Parkett war vollkommen ebenmäßig. Es gab dort nichts zu entdecken. Luca stutzte. Es sei denn... „Von wem war der Brief?“ Wieder schlich sich ein Lächeln auf seine Züge, doch er entschloss sich die Frage zu ignorieren. Dieser Junge war wirklich erstaunlich. Insofern verdiente er tatsächlich Respekt, aber das änderte nun einmal nichts daran, dass es ihn nichts anging. Dennoch war es erstaunlich, dass Kira annahm, dass er den Brief erhalten hatte. Er war weiß Gott nicht der Einzige, der diesen Raum nutzte und im Grunde genommen hätte ihn jeder dort verbrennen können. Entweder besaß der Jüngere eine bewundernswerte Kombinationsgabe oder er bluffte. Doch da sprach der andere auch schon weiter. „Er trug ein Siegel, so etwas benutzen nur Adlige. Wen aus unseren Reihen kennen Sie so gut, dass er Ihnen schreiben würde?“ Jedes Wort war eine Unverschämtheit für sich, aber Luca kannte derlei Anfeindungen zur Genüge und hatte sie einfach schon zu oft von Leuten gehört, die weitaus gefährlicher waren als Kira. Im Vergleich dazu waren die Angriffe des Jüngeren kaum mehr als das Bellen eines Welpen. Doch Luca wusste, wie er mit solchen Situationen und Personen umzugehen hatte. Ihn offen zurechtzuweisen oder zu kritisieren würde nichts nützen, dagegen war der andere relativ unempfindlich. Kira und sein Verhalten einzuschätzen barg eine gewisse Herausforderung, aber er kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er es ihm auch auf andere Art und Weise deutlich machen konnte. Der Jüngere konnte es nämlich nicht ausstehen, wenn er auf seine Fragen keine Antwort erhielt – also strafte er ihn mit Schweigen. Und das war etwas, mit dem der andere nur sehr schlecht umgehen, das ihn sehr schnell äußerst aggressiv machen konnte. In diesem Fall jedoch erkannte er offenbar, dass er so nicht weiterkam. Was ihn allerdings nicht zu einem Strategiewechsel veranlasste sondern lediglich dazu, an einem anderen Punkt anzusetzen. „Warum haben Sie ihn verbrannt?“ Dieser Junge war wirklich erstaunlich. Außer ihm gelang es nur sehr wenigen, dieses distanzierte Lächeln auf seinem Gesicht einzufrieren. Mittlerweile hatte Kira ihm gegenüber Platz genommen. Luca beugte sich ein wenig vor und fixierte die blauen Augen seines Gegenübers. Was für eine schöne, kalte Farbe. Wäre er älter gewesen, sie hätte direkt etwas Anregendes gehabt. Aber er war wie ein Kind, das man mit Waffen ausgestattet hatte, die es nicht zu gebrauchen vermochte. Obwohl Kira das sicher anders gesehen hätte. In seinen Augen war seine Macht über andere bereits jetzt enorm. In der Realität zeigte sich diese Wirkung eigentlich nur bei seinen Altersgenossen. „Damit neugierige kleine Kinder ihre Nasen nicht in Angelegenheiten stecken, die sie nichts angehen.“ Er hatte es freundlich, bedauerlicherweise aber auch etwas drohender gesagt als beabsichtigt. Bei diesem Jungen musste er wirklich Acht geben. Nicht nur, dass er intelligent und intrigant war, sein Verhalten verleitete ihn immer wieder zu unbedachten Äußerungen. Normalerweise zeigten Worte beim hohen Adel meist wenig Wirkung. Ihre Ignoranz ermöglichte es ihnen quasi zu jeder Zeit über den Dingen zu stehen. Und sie machten auch kein Geheimnis daraus. Im Gegenteil. Sie ließen es ihre Mitvampire mit Vorliebe spüren. Dies hier schien allerdings die positive Ausnahme zu sein. Im Raum herrschte absolute Stille. Wieder musterte Luca die Augen des anderen. Eine wirklich schöne Farbe. Wenngleich ihr Blick so kalt war, als wolle er seine Seele einfrieren. Luca machte sich nichts daraus und beschloss stattdessen, das Gespräch in unverfänglichere Bahnen zu lenken. „Gibt es eigentlich einen bestimmten Grund dafür, warum du nicht lernen willst?“ Ein überflüssige Frage. Es gab weit mehr als nur einen Grund und die meisten davon waren ihm bereits bekannt. Aber es war nur fair zuerst mit Kira zu sprechen, bevor er sich an dessen Eltern wandte und es kam schließlich nicht oft vor, dass der Jüngere ihn freiwillig aufsuchte. Und warum sollte er eine solche Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen? Der Blick seines Gegenübers veränderte sich, auch wenn er nicht genau hätte sagen können inwiefern. „Waren Sie mit meinem Vortrag nicht zufrieden?“ Luca lächelte. Ein äußerst kluger Schachzug, aber die Partie hatte gerade erst begonnen. „Er war tadellos. Das Problem ist nur“, er klopfte mit der flachen Hand auf den Stapel korrigierter Arbeiten, „dass er gerade ausreicht, um deine letzte Klausurnote wieder einigermaßen wettzumachen.“ Kira erwiderte nichts. Warum auch? Das Thema interessierte ihn nicht, was er mit einem gelangweilten Schulterzucken unterstrich. „Das Niveau war so niedrig, ich dachte es sind Scherzfragen.“ Luca überging die Unhöflichkeit ein weiteres Mal. „Nun, es wäre schön, wenn du sie trotzdem beantworten würdest. Wenn du sie so amüsant findest, dann gerne auch humoristisch. Das würde die Korrektur der Arbeiten deutlich unterhaltsamer machen.“ Wieder herrschte Schweigen. Obwohl es ganz sicher nicht die Aufgabe eines Lehrers war, seine Schüler zu reizen, fand Luca es amüsant zu beobachten, wie der verwöhnte Adelsspross allmählich die Geduld verlor. Und nur ein paar Sekunden später hielt er es ganz offensichtlich für nötig, seinem Ärger Luft zu machen. „Flirten Sie immer so offensichtlich mit Ihren Schülerinnen?“ Ehrlich verblüfft sah Luca den anderen an. Es dauerte einen Moment bis ihm klar wurde worauf der Jüngere anspielte und dass dies wahrscheinlich der Grund für sein Hiersein war. Er ließ die Szene im Klassenzimmer noch einmal Revue passieren, konnte sich aber beim besten Willen nicht daran erinnern irgendetwas gesagt oder getan zu haben, das diese Unterstellung nahegelegt, geschweige denn gerechtfertigt hätte. Wenn er sich recht erinnerte hatte er so etwas wie 'Das ist kein Problem, korrigiere es bis zum nächsten Mal' und noch ein paar andere aufmunternde Worte gesagt. Sah man mal davon ab, dass der Vorwurf an sich schon völlig absurd war, so stand zumindest eines ganz eindeutig fest: Der andere hatte ihn noch nie flirten sehen. Sonst hätte er es ganz sicher nicht mit seinem lehrtechnischen Engagement verwechselt. Interessant war allerdings, dass ihn dieses Thema überhaupt beschäftigte. Nicht dass das grundsätzlich etwas Besonderes gewesen wäre, aber dass es Kira im Hinblick auf ihn interessierte war tatsächlich ungewöhnlich. Mühelos hielt er dem frostigen Blick des Jungen stand und konterte wie gewohnt mit einem Lächeln. „Ich nehme an, dir ist bewusst, dass dieser Vorwurf lächerlich ist. Ich habe sie lediglich dazu ermutigt weiterzusprechen. Dein Einwurf hatte sie ziemlich aus dem Konzept gebracht.“ „Ich hatte recht“, erwiderte der Jüngere kühl und erinnerte Luca einmal mehr an ein störrisches Kind. Es reizte direkt dazu, ihn auf den Arm zu nehmen – wenn auch nur im übertragenen Sinne. „Zweifellos, aber ich wäre dir dankbar, wenn du es das nächste Mal ein wenig...angemessener formulieren könntest.“ „Angemessener?“ „Feinfühliger.“ Kira schnaubte verächtlich. Es war offensichtlich, dass er die Diskussion nicht nur lästig, sondern auch lächerlich fand. Luca dagegen fand sie eher amüsant. Eine Weile herrschte Schweigen. Schließlich wich die starre Kälte aus dem Blick des Jüngeren. Allerdings war Luca sich nicht sicher, ob ihm das, was er jetzt darin erkannte, gefiel. Der andere lehnte sich über den Tisch und überschritt damit ganz eindeutig die kritische Distanz zwischen ihnen. Luca beobachtete sehr aufmerksam jede Bewegung des Vampirs. Dann lag die Hand des anderen plötzlich auf der seinen. Eine erstaunliche Kraft ging von ihr aus, die Luca überraschte. Ein gefährlicher Junge, ohne Zweifel. „Sie haben nicht besonders viel Respekt vor dem Adel. Halten Sie das für klug, Meister?“ Seine Stimme konnte ungewöhnlich tief sein, wenn er jemandem drohte und gerade jetzt tat er es. Ein schöner Klang. Noch ein paar Jahre, vielleicht Jahrzehnte und er würde mit dieser Stimme Angst und Schrecken verbreiten können. Unabhängig davon ob sein Gegenüber ein Mensch oder ein Vampir war. Luca lächelte. Die Zukunft dieses Jungen schien ihn ja brennend zu interessieren. Offenbar hatte der andere also doch einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „Würdest du das bitte unterlassen?“, fragte er betont höflich und deutete mit dem Kopf in Richtung seiner Hand. „Warum sollte ich?“, fragte der andere. „Ich möchte nicht in den Verruf geraten, ich würde mit meinen Schülern flirten.“ Das Gesicht des Jüngeren verfinsterte sich und Luca konnte nicht leugnen, dass es ihn amüsierte. Besonders der Adel reagierte äußerst empfindlich, wenn man seine eigenen Worte gegen ihn verwendete. Kira zog die Hand zurück, doch seine Augen zeigten eine ganz ungewöhnliche Entschlossenheit. „So wie es aussieht, sind wir offenbar nicht die Einzigen, die eine Erziehung nötig haben. Ganz offensichtlich habt Ihr die wichtigste Lektion unserer Welt vergessen, Meister. Gehorsam gegenüber ranghöheren Vampiren und absolute Loyalität gegenüber dem Adel.“ Luca war überrascht über die Härte in der Stimme des anderen, doch schließlich lächelte er. „Wie ich sehe, hast du deine Lektion gelernt, aber gestatte mir dich ebenfalls von einem nicht weniger bedeutsamen Umstand in Kenntnis zu setzen.“ Ihre Gesichter waren kaum mehr als ein paar Zentimeter voneinander entfernt und von einem Moment zum anderen wirkten die dunklen Augen Lucas nicht weniger bedrohlich als die des Jungen. „Solange du dich innerhalb dieser Mauern befindest, bin ich derjenige, der Befehlsgewalt besitzt. Und wenn ich dir oder den anderen etwas sage, dann habt ihr dem Folge zu leisten. Und erwarte nicht, dass die Strafen bei Zuwiderhandlung allzu milde ausfallen. Solange du Schüler dieser Schule bist, sind dein Rang und deine Herkunft vollkommen bedeutungslos.“ Er lehnte sich zurück, ließ seine Fingerspitzen einander berühren und musterte ihn mit einer Mischung aus Amüsement und Warnung. „Überlege dir also gut wem du drohst und wen du dir zum Feind machst.“ Dann herrschte undurchdringliches Schweigen. Der Jüngere schien für den Moment völlig perplex zu sein. Eine Tatsache, die nicht weiter verwunderlich war – Kira war es nicht gewohnt, dass man ihm widersprach. Nur ein paar Sekunden später war es, als habe jemand einen unsichtbaren Schalter umgelegt. Offenbar hatte der andere wieder zu sich selbst gefunden, denn Luca schlug eine solche Zorneswelle entgegen, dass er das Gefühl hatte er müsse nur die Hand ausstrecken um sie greifen zu können. Draußen schlug eine Glocke die neunte Stunde und die Uhr im Zimmer ließ ihr höhnisches Gelächter erklingen. Der zehnte Schlag kam von der Tür, die der Jüngere mit aller Gewalt hinter sich zugeworfen hatte. Kapitel 4 - ENDE Kapitel 5: Ziele ---------------- Beginn: 02.09.2009 Ende: 08.09.2009 Kapitel 5: Ziele Seine Wut war abgeklungen, hatte sich jedoch keinesfalls gelegt. Sie hatte sich lediglich ein wenig tiefer in sein Inneres zurückgezogen, um dort schwelend, still und leise den richtigen Moment abzuwarten. Den Moment, an den sie erneut hervorbrechen und gnadenlos alles vernichten würde, was sich ihm in den Weg stellte. Drei Nächte waren seit dem Gespräch mit seinem Lehrer vergangen und wann immer er daran dachte, wuchs in ihm mehr und mehr der Wunsch, den anderen für seine Respektlosigkeit büßen zu lassen. Ein niederer Vampir, der seinen Platz nicht kannte! Aber er würde ihn noch lehren, wohin er gehörte. Niemals würde er es zulassen, dass solche Beleidigungen ungestraft blieben. Der Ältere würde dafür bezahlen, dass er es gewagt hatte mit ihm zu spielen, sich über ihn lustig zu machen. Wie ein Kind hatte er ihn behandelt! Nun gut, ja, im Vergleich zu ihm war er das womöglich sogar, aber dann schien es ihm nur gerecht auch den anderen in seine Schranken zu verweisen. Für jemanden seiner Klasse war der andere dreist und überheblich in einer Weise, die geradezu danach schrie ihn daran zu erinnern, was wahrer Adel bedeutete. Allein das er ihn hier unterrichten durfte hätte für ihn mehr als alles andere eine Ehre sein sollen. Aber stattdessen... Erneut flammte die Wut in ihm auf, doch er ließ nicht zu, dass sie allzu viel Macht über ihn gewann. Als Lehrer für das gemeine Volk war dieser Mann sicher geeignet, aber für jemanden seines Standes und Intellekts war er geradezu eine Beleidigung. Umso mehr ärgerte es ihn, dass es dem anderen scheinbar mühelos gelang mit ihm fertig zu werden. Etwas, das selbst seinen Eltern zuweilen schwer fiel, was möglicherweise einer der Gründe dafür war, weshalb er diese Schule besuchen musste. Woher nahm dieser Mann nur seine Gelassenheit? Weshalb ließ er sich nicht aus der Reserve locken, wenn ihm seine Tätigkeit als Lehrer doch so zuwider war? Ein kleiner Skandal hätte völlig ausgereicht um ihn als nicht-qualifiziert des Hauses zu verweisen. Aber er leistete sich einfach keine ausnutzbare Schwäche. Nicht, dass er nicht eine hätte schaffen oder erfinden können, aber das erforderte Zeit und einen nicht unerheblichen Aufwand. Denn aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien Luca ungewöhnlich viel Vertrauen zu genießen, was ihn für Kira schon einmal grundsätzlich verdächtig machte. Er erinnerte sich gut an ihre erste Begegnung. Wie der andere vor die Klasse getreten war, um ihnen vom Direktor vorgestellt zu werden. Er hatte sich für seine Verhältnisse sehr ernsthaft gefragt, was ein Vampir wie Luca an einem Ort wie diesem zu suchen hatte. Vielleicht hätte er einen guten Hausmeister abgegeben, einen Reinigungsmann oder maximal noch einen Vertrauenslehrer, an den sich sowieso niemand wandte. Nett, hatte er gedacht, was nach der vampirschen Richterskala nur einen Punkt über akzeptabel lag. Mit anderen Worten jemand, der sich auf sein Äußeres wirklich nichts einbilden durfte. Irritierenderweise tat der andere das aber auch nicht. Er schien im Gegenteil sehr genau zu wissen, welche Wirkung er auf andere hatte und legte eine entsprechende Zurückhaltung an den Tag. Kira hatte ihn registriert, wie man eine neue Wanddekoration registrierte, später jedoch feststellen müssen, dass es sich bei diesem Mann um einen äußerst lästigen Dekorationsartikel handelte. Ja, seine Zurückhaltung konnte einen zur Weißglut treiben – und das war nicht das Einzige an ihm, das diese Wirkung hervorrufen konnte. Mittlerweile hatte der Ältere es fertig gebracht ihn davon zu überzeugen, dass eine völlige Missachtung seiner Person nicht nur nicht möglich, sondern auch alles andere als zielführend war. Dieser Mann begann ihn zu interessieren und es schien ihm durchaus erstrebenswert, ihn näher kennenzulernen. Denn nur so konnte er sicher sein, dass er ihn auch würde vernichten können. Er würde herausfinden, was der andere schätzte, was ihm gefiel und was er liebte – und würde es ihm wegnehmen. Genauso wie er in Erfahrung bringen würde, was er hasste und fürchtete. Davon würde er ihm so viel geben, bis er zu nichts anderem mehr fähig war als um Gnade zu winseln. Es würde ein Genuss sein ihn so weit zu bringen und ein Triumph ihm zu vergeben. Oder auch nicht, da war er sich noch nicht sicher. Er würde es wohl spontan entscheiden. Vielleicht würde er ihn auch zu seinem persönlichen Sklaven machen. Was konnte für einen Mann wie ihn demütigender sein, als dem Adel, den er so wenig respektierte, ein Leben lang dienen zu müssen? Der Gedanke gefiel ihm. Er gefiel ihm sogar außerordentlich. Und bei dieser Gelegenheit würde er gleich ein paar Gerüchten auf den Grund gehen. Das vielleicht interessanteste, weil in seiner Tragweite am weitesten reichende war jenes, dass der andere kein geborener Vampir, sondern ein durch einen anderen selbst zu einem solchen geworden war. Wenngleich eine Tatsache ganz und gar dagegen sprach. Und das war das Alter des Mannes. Alle, denen das Blut der Vampire ursprünglich nicht eigen gewesen war, verfielen früher oder später dem Wahnsinn. Das traf auf den Meister nicht zu und es war im Übrigen etwas, das man nur sehr schlecht verstecken konnte. Allerdings konnte man diesen Prozess erheblich verlangsamen und die dafür notwendige Bedingung war für Luca, der in verschiedenen Kreisen für seine eher exotischen Beziehungen bekannt war, gar nicht so abwegig. Keine Medizin und keine Magie dieser Welt war fähig etwas am geistigen Verfall der Erschaffenen zu ändern. Das Blut eines Adligen konnte es. Für gewöhnlich ließen sie solche Wesen nicht einmal in ihre Nähe und wenn doch, so nur um sie sich als Haustiere zu halten. Vor einigen Jahrhunderten hatte es angeblich einen Adligen gegeben, der mit ihm zusammengelebt und tatsächlich so etwas wie Gefühle für ihn entwickelt haben sollte. Schwer vorstellbar, aber wer wusste schon welche Eigenschaften der damals noch junge Meister besessen haben mochte. Aus Zuneigung und um ihn vor der allmählichen Selbstzerstörung zu bewahren, hatte der andere ihm sein Blut gegeben. Kira hielt es zwar nicht gänzlich für ausgeschlossen, aber er konnte es sich schwerlich vorstellen. Sympathie hin oder her – niemand hätte es gewagt ein solches Wesen in die Nähe seiner Kinder zu lassen. Dieses Risiko wollten selbst die Unsterblichen nicht eingehen. Leider hatten die Menschen mit ihrem Vampirwahn dafür gesorgt, dass ihre komplette Welt vollkommen durcheinander geraten war. Schönheit, Eleganz, Charisma, Leidenschaft, Kraft und Schnelligkeit – all die Eigenschaften die früher sichere Erkennungsmerkmale gewesen waren trafen heute nur noch sehr bedingt zu. Früher hatten die Menschen Vampire gefürchtet, heute wagten sie es sogar sich über sie lustig zu machen. Was in dieser Zeit so herumlief und sich Vampir nannte, wäre selbst für einen Menschen eine Beleidigung gewesen. Kira ballte die Hände zu Fäusten und beschleunigte seine Schritte. Das würde er alles noch ändern. Er würde derjenige sein, der diese Welt neu formte und dann würden es die Menschen sein, die über ihn schreiben würden. Nicht sie würden den Lebensraum der vampirischen Rasse gestalten. ER würde es tun. Und in dieser Welt würde es solche wie den Meister nicht mehr geben. Niemand würde es mehr wagen, gegen den Adel aufzubegehren. Und ironischerweise war die Schule dafür gar kein schlechter Ausgangspunkt. Denn ob er nun wollte oder nicht, er brauchte Verbündete. Die Alten waren zu träge, zu festgelegt in ihren Gedanken und Verhaltensweisen, als dass sie ihm so ohne weiteres gefolgt wären. Nicht einmal seine adlige Abstammung würde daran etwas ändern. Und er brauchte Verbündete, die sein absolutes Vertrauen genossen – und verdienten! Was er brauchte war frisches, junges Blut, das er für seine Ideen begeistern konnte und hier, an diesem Ort, kamen die Kinder fast aller namhafter Clans zusammen. Natürlich auch die weniger namhaften, aber in diesem Fall musste das nicht zwingend ein Hindernis sein. Man mochte von ihnen halten was man wollte – und in seinem Fall war das gewiss nicht viel – aber sie waren meist sehr viel loyaler, als dies in seinen Kreisen der Fall war. Und für seine Ziele war er durchaus gewillt eine Ausnahme zu machen. Aber das hatte Zeit. Er arbeitete bereits daran und schmiedete weiter seine Pläne, doch im Augenblick galt seine Aufmerksamkeit etwas oder vielmehr jemand anderem. Womöglich eignete er sich sogar dazu, ein Exempel an ihm zu statuieren. Stellvertretend für die Vertreter seiner Klasse und für all jene Zweifler, die ihre Bedeutung in dieser Welt so maßlos überschätzten. Kapitel 5 – ENDE Kapitel 6: Sempai ----------------- Beginn: 02.09.2009 Ende: 08.09.2009 Kapitel 6: Sempai Von der Aussicht auf eine nach seinen Wünschen gestalteten Zukunft beflügelt, öffnete Kira die Tür zu seinem Zimmer. Allein die Vorstellung, er könne anders als in einem Einzelzimmer untergebracht werden, war für ihn so absurd gewesen, dass er keinen Gedanken daran verschwendet hatte. Tatsächlich wohnte er mit drei weiteren Vampiren zusammen, wobei sich einer von ihnen grundsätzlich in anderen Zimmern aufzuhalten schien. Und die nächtliche, manchmal auch tägliche Geräuschkulisse ließ keinen Zweifel daran, welche Art körperlicher Bewegung er bevorzugte. Kira war weiß Gott nicht der Einzige gewesen, der sich über die Gemeinschaftszimmer beschwert hatte, aber die Einzelzimmer waren ganz ausdrücklich jenen vorbehalten, deren soziale Kompetenz bei Null und deren Aggressionspotential weit über dem Durchschnitt lag. Man wollte unter den Unsterblichen lieber keine Toten. Bis jetzt erfüllten drei Personen die Kriterien für eine Sonderbehandlung – und mindestens eine davon war Lehrer an dieser Schule. Jedenfalls war jegliche Diskussion sinnlos gewesen, vielleicht auch deshalb, weil sich Luca nicht für Rangunterschiede und die gewöhnlich damit verbundenen Annehmlichkeiten und Vorteile interessierte. Und natürlich, weil es eine wichtige Erfahrung für sie war und ihren Horizont immens erweitern würde. Das Einzige das sich bis jetzt erweitert hatte, war die Zeitspanne in der er schlechte Laune hatte. Von Privatsphäre hatten sie hier offenbar noch nie etwas gehört. Aber, das musste er wohl oder übel zugeben, er hätte es wahrlich schlechter treffen können. Seine Mitbewohner waren durchweg ältere Schüler, deren Ruhe und Gelassenheit ihn immer wieder in Erstaunen versetzte. Wenn es tatsächlich so etwas wie eine innere Mitte gab, dann hatten sie sie mit Sicherheit gefunden. Und obwohl jeder von ihnen eher die Kriterien eines Einzelgängers erfüllte, kamen sie ganz gut miteinander aus. Viel seltsamer als das war jedoch die Wirkung, die seine Zimmergenossen auf ihn hatten. Er war von Natur aus misstrauisch und obwohl er im Grunde so gut wie nichts über sie wusste, erschienen sie ihm doch überaus zuverlässig und was noch wichtiger war: verschwiegen. Bevor sich ihre Wege trennten, würde er sie fragen ob sie für ihn arbeiten wollten. Denn sie schienen ihm genau von der Art zu sein, wie er sie für die Umsetzung seiner Pläne benötigte. Als er eintrat hob Fabio den Kopf und sah zu ihm herab. Er lag rücklings auf der oberen Matratze des Doppelstockbettes und hatte ganz offensichtlich irgendein literarisches Werk gelesen. Sein Gesicht blieb so ausdruckslos wie seine Augen. Er nickte ihm kurz, aber respektvoll zu und vertiefte sich dann wieder in die seitenreiche Lektüre. Soray saß an dem Tisch, der ihnen für diverse Schreibarbeiten zur Verfügung stand und war so in seine Arbeit vertieft, dass er ihn gar nicht wie gewohnt begrüßte. Kira trat von hinten an ihn heran – Fabios Blick schien ihm plötzlich wieder zu folgen – und sah ihm über die Schulter hinweg dabei zu, wie er sorgfältig ein Schriftzeichen an das andere reihte. „Was machst du da?“ Der Ältere zuckte kaum merklich zusammen. Er wandte sich nicht um als er antwortete: „Hausaufgaben.“ Kira nickte träge und wandte sich von ihm ab. Soray, dessen schmale Augen ebenso wie sein Vorname zumindest noch ein wenig von der asiatischen Abstammung seiner Familie verrieten, war einfach viel zu pflichtbewusst. Vorbildlich in allem was er tat. Ein hervorragender Schüler soweit er wusste. Schweigsam und intelligent. Sehr beherrscht und wie es schien vollkommen leidenschaftslos. Eine hübsche Puppe, die er nur allzu gern für seine Zwecke nutzen wollte. Schwieriger war es dagegen herauszufinden, womit er den anderen locken konnte. Was war für ihn so interessant oder bedeutend, dass er sich dafür in den Dienst eines Adligen stellen würde? Denn auch wenn es eine Ehre war, so wusste doch jeder um die Demütigungen, die damit einhergingen. Kira hatte nicht vor ihn zu demütigen, aber er würde ihn auf die Probe stellen müssen. Er konnte niemanden gebrauchen der nicht bereit war, absolut alles für ihn zu tun. Der nicht bereit war das Leben seines Herrn mit dem seinen zu schützen. Aber das herauszufinden hatte Zeit. Kira ließ den Blick durch das kleine Zimmer schweifen, auf der Suche nach etwas, das möglicherweise sein Interesse wecken, zumindest aber die Langeweile vertreiben konnte. Wie erwartet fand er nichts das ihn fesselte, ging zu seinem Bett hinüber und setzte sich auf die weiche Matratze. Es konnte schließlich nicht jeder in einem Sarg schlafen und außerdem war dies hier eine Schule und keine Gruft. Und die Tatsache, dass ihr Schlaf dadurch weitaus weniger tief war, war nicht unbedingt von Nachteil. Was hier auch tagsüber durch die Gänge streifte, konnte eine abgeschlossene Zimmertür nicht aufhalten und nicht jeder liebte es, im Schlaf überfallen zu werden. Auch dann nicht, wenn man durchaus in der Lage war sich zu wehren. „Wo bekommt man am schnellsten die sichersten Informationen?“, fragte er in den Raum hinein, ohne einen der beiden Vampire direkt anzusprechen. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Das war immer so bei ihnen. Beim ersten Mal hatte er geglaubt sie hätten seine Frage nicht verstanden, tatsächlich aber nutzten sie diese Zeit dazu um zu klären, wer von ihnen antworten sollte. Die beiden waren ein sonderbares Gespann. Oberflächlich betrachtet hatten sie nicht mehr miteinander zu tun, als ein gemeinsam bewohntes Zimmer nun einmal notwendig machte. Sah man jedoch genauer hin und machte sich zudem die Mühe sie ein wenig näher kennenzulernen, dann stellte man unweigerlich fest, dass es eine ganz besondere Art von Beziehung zwischen ihnen geben musste. Die Art wie sie sich ohne ein Wort verstanden, ein Blick genügte um zu klären was ein Gespräch nicht hätte vermitteln können – all das zeugte von einer tiefen Verbundenheit, wie Kira sie noch nie zuvor gesehen und erlebt hatte. Nach wie vor unklar war ihm allerdings, worauf dieses besondere Verhältnis der beiden beruhte. Erotik oder sexuelle Anziehungskraft schienen es jedenfalls nicht zu sein. Er konnte nichts dergleichen zwischen ihnen spüren. „Kenai Ichimura“, antwortete Fabio schließlich, ohne den Blick von den Seiten zu lösen. Kira hatte schon von ihm gehört. Der Sprössling einer der seit neuestem sehr zahlreich vertretenen asiatischen Clans. Japanisch, soweit er wusste. Die Ichimuras waren ebenso wie die Feroces eine überaus mächtige und einflussreiche Familie, wenngleich sie in der Rangfolge unter ihnen standen. Geringfügig zwar, aber deutlich genug, um sie gelegentlich daran zu erinnern. Der Adel hasste Konkurrenz. Kenai war einer der zahlreichen hoffnungsvollen Sprösslinge des Familienoberhauptes, zum Leidwesen seines Erzeugers jedoch niemand, der sich für die politischen Ränkespiele der Familie besonders interessierte. Ein eigensinniger Vampir, um den sich in Ermangelung von Fakten und gesichertem Wissen zahlreiche Legenden rankten. Und das obwohl er nur unwesentlich älter war als Kira selbst. „Wenn du schnell an sichere Informationen gelangen möchtest, dann bist du bei ihm richtig“, ergänzte Soray, der noch immer in seine Arbeit vertieft schien. Niemand, der sie von außen beobachtet hätte, wäre auf die Idee gekommen, dass sie ein Gespräch miteinander führten. „Wie steht es mit seiner Verschwiegenheit?“ Wieder war es Soray der antwortete. „Er ist etwas exzentrisch.“ Eine Pause trat ein. Eine vielsagende Pause. „Der konkrete Inhalt der Antwort, die du auf deine Frage hin erhältst, sollte jedoch sicher sein.“ Kira ahnte was er meinte. Wenn dieser Kenai der Meinung war, dass er Gewinn daraus ziehen konnte dass er es mit der Diskretion nicht ganz so genau nahm, dann würde er es tun. Gut zu wissen und eine Einstellung, die Kira durchaus gefiel. Der junge Mann hätte für ihn eine Menge seiner Glaubwürdigkeit verloren, wenn er versucht hätte den Eindruck zu erwecken es sei ganz und gar selbstlos und ginge ihm in keinster Weise um seinen eigenen Vorteil. „Wie zuverlässig sind seine Informationen?“, fragte er weiter. „Hundertprozentig“, erwiderte Fabio und blätterte die Seite um. Einen Moment lang fragte sich Kira ob der andere dazu in der Lage war gleichzeitig zu lesen, zuzuhören und zu antworten, ohne dass ihm auch nur das Geringste entging. Zuzutrauen war es ihm jedenfalls. „Wer erfährt noch davon?“ Fabio blätterte in seinem Buch als könne er darin die Antwort finden. Tatsächlich war es aber sein Zimmergenosse, der sie ihm gab. „Jima.“ Für Kira klang es wie der Name eines Haustieres. „Was ist das? Ein Hund?“ Einen Moment lang glaubte er den Anflug eines Lächelns auf den Zügen des anderen bemerkt zu haben, dann war das Gesicht wieder von der gleichen ausdruckslosen Ernsthaftigkeit wie zuvor. „Jima“, die Stimme des Älteren klang nachdenklich. „Nein, ein Hund ist er nicht. Er ist sein Schatten, sein Beschützer, sein stummer, ewiger Begleiter.“ „Er weicht nicht einen Moment von seiner Seite“, mischte sich Fabio in den Monolog des anderen ein. „Kenai zu treffen ohne Jima zu treffen ist so gut wie unmöglich. Auf seine Verschwiegenheit kannst du dich allerdings verlassen. Er spricht grundsätzlich fast ausschließlich mit seinem Herrn. Nicht ein einziges Wort, das er von eurem Gespräch hört, wird jemals seine Lippen verlassen. Du wirst ihn unweigerlich bemerken, aber solange du für seinen Herrn keine Bedrohung darstellst, werdet ihr füreinander quasi unsichtbar sein.“ Kira war sich nicht sicher, ob ihm diese Vorstellung gefiel, aber wenn Fabio Recht hatte, dann ließ es sich ohnehin nicht ändern. Und Kenai würde ganz sicher nicht auf seinen treuen Beschützer verzichten. Allerdings hatte er noch eine andere und weitaus wichtigere Frage. „Wo ist der Haken?“ Zum ersten Mal seit er das Zimmer betreten hatte, schenkten ihm die beiden ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Ihre Gesichter verrieten sogar ein gewisses Erstaunen als sie zuerst ihn und dann einander ansahen. „Ich will dieses Buch heute noch fertig lesen.“ „Ich muss meine Hausaufgaben bis morgen fertiggestellt haben.“ Die Aussagen standen im Raum, während die beiden Vampire ihren Kampf mit Blicken ausfochten. „Er ist, wie gesagt, etwas exzentrisch“, erklärte Fabio, der das Duell offenbar durch Kapitulation verloren hatte. „Seine Informationen kosten in der Regel etwas. Das hängt ganz davon ab, wie schwer sie zu beschaffen waren und für wie bedeutsam er sie für den Interessenten hält. Dabei gilt übrigens ausschließlich sein eigener Maßstab. Meistens verlangt er dafür Dinge oder Informationen, die er selbst gerade besitzen möchte. Manchmal besteht der Preis auch darin, etwas bestimmtes zu tun oder eben zu lassen. Manchmal muss man für die gewonnene Information auch etwas aufgeben. In gewisser Weise handelt er mit dem was er bekommt. Eine Art Tauschbörse wenn man so will, aber alles andere als ein Flohmarkt.“ „Seine Preise tun weh?“ „Wenn er es will, tun sie das.“ Eine Weile herrschte Schweigen. Kira nutzte diese Zeit, um die neuen Erkenntnisse zu einem möglichst stimmigen Bild zusammenzufügen. Eines, das ihm womöglich noch mehr über diesen Vampir verriet. Als er bemerkte, dass Fabio ihn aufmerksam ansah und offenbar auf weitere Fragen wartete, sprach er einfach seine Gedanken aus. „Wie macht er das? Gibt es etwas das er nicht weiß?“ Fast kam ihm die Frage albern vor, aber in der Welt der Vampire konnte man nie wissen. „Es heißt es gäbe kein gesprochenes Wort, von dem er nichts weiß.“ Soray hatte ihn nicht angesehen, doch als er weitersprach tat er es. Sein Blick hatte etwas seltsam Eindringliches. „Über das Wie solltest du deine eigenen Erkundigungen einholen – und entsprechende Schlüsse daraus ziehen.“ „Aber ihr wisst wie er es macht?“, fragte Kira scharf, ohne dabei die geringste Regung bei den beiden auszulösen. „Wir vermuten es.“ „Würde es mir schaden, wenn ich ich es wüsste?“ „Das ist nicht auszuschließen.“ Kira nickte. Seine Gedanken kreisten bereits um ein Treffen mit diesem geheimnisvollen Mann. „Besten Dank“, sagte er und stand auf. Er konnte nicht behaupten, dass er die beiden verstand, aber ihre Informationen waren Gold wert. Zielstrebig bewegte er sich auf die Tür zu, als Soray noch einmal das Wort an ihn richtete. „Ich würde dir davon abraten ihn heute noch aufzusuchen. Wir haben keinen Ausgang und er legt großen Wert auf Anmeldungen.“ Kira lächelte süß-säuerlich und drückte die Klinke herunter. „Ich muss nachsitzen.“ „Oh.“ Diesmal war er sich sicher ein Lächeln auf dem Gesicht des anderen bemerkt zu haben und verließ entsprechend missmutig den Raum. Kapitel 6 - ENDE Kapitel 7: Gespräch im Geheimen ------------------------------- Beginn: 08.09.2009 Ende: 13.09.2009 Kapitel 7: Gespräch im Geheimen „Er scheint dir ja sehr zu gefallen“, bemerkte er und sah erneut von seinem Buch auf. Der Jüngere hatte das Zimmer erst vor ein paar Minuten verlassen. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, erwiderte der Blonde distanziert, seine mattblauen Augen auf die beschriebenen Seiten gerichtet. „Ich spreche davon“, sagte der Braunhaarige und schlug das Buch zu, „dass du dich für ihn interessierst.“ „Schon möglich“, erwiderte Soray nach kurzem Schweigen und löste damit jeden Zweifel in Nichts auf. Fabio lächelte wissend und strich über die goldenen Lettern, die den Buchrücken schmückten. „Was glaubst du, wann er uns fragt?“ Wie üblich ließ sich der andere Zeit mit seiner Antwort, wählte jedes Wort mit Sorgfalt und Bedacht. „Er wird warten wollen, bis wir die Schule abgeschlossen haben.“ „Es sei denn, es tritt ein unvorhergesehenes Ereignis ein.“ „Es sei denn, es tritt ein unvorhergesehenes Ereignis ein“, bestätigte der Blonde. Fabio lächelte verschwörerisch. „Sollen wir ein wenig nachhelfen?“ Soray kritzelte weiter auf dem Papier herum, das vor ihm auf dem Tisch lag. „Das wäre ein Vertrauensbruch, noch bevor wir es wirklich gewonnen haben. Man sollte eine Beziehung nicht auf einer Lüge aufbauen.“ „Wie poetisch. Ich sehe die Sache allerdings ein wenig anders. Du kannst nichts zerstören was du nicht hast.“ Der Braunhaarige legte seine Lektüre beiseite und sprang vom Bett. Während er näher trat, waren seine lindgrünen Augen unablässig auf seinen Gefährten gerichtet. „Er ist es, nicht wahr?“, fragte er und fixierte den bleichen Nacken des anderen. „Ja“, flüsterte der Blonde. Seine Stimme zitterte bei dem Versuch seine Erregung zu verbergen. „Ich will ihn als Herrn.“ Unnötig zu fragen woher er wusste, dass er der Richtige war. Es war ganz einfach ein Gefühl. Er selbst verspürte es auch, jedoch bei weitem nicht so stark wie der andere. Daher war es eine ganz und gar unnötige Frage – aber er musste sie ihm trotzdem stellen. Sie für sich zu behalten hätte er unmöglich ertragen können. „Warum er? Was ist an ihm so besonders?“ „Alles an ihm ist besonders“, erwiderte er und zog sich ein neues Blatt Papier heran. Fabio schnaubte verächtlich. Was für eine nichtssagende Antwort. „Du wirst gehen, nicht wahr?“ „Ja.“ „Auch ohne mich?“ „...Wenn es sein muss auch ohne dich.“ Die Antwort kam ein wenig verzögert, aber sie war unumstößlich. Er meinte es ernst, kein Zweifel. Der Braunhaarige ballte die Hände zu Fäusten, ließ sie jedoch ungenutzt. Gegen wen hätte er sie auch richten sollen? „So einfach?“ Der Blonde antwortete nicht. „Warum? Warum fällt es dir so leicht? Unsere Familien sind schon seit Jahrhunderten miteinander verbunden, wir...“ „Fabio“, seine Stimme war ernst, sein Blick streng als er sich zu ihm umwandte. „Hör auf damit. Es ist nur ein Name. Verstehst du das denn nicht? Hör auf, dich an die Versprechen der Vergangenheit zu klammern. Es wird dich nur verletzen.“ Zorn flammte in ihm auf. Wie er so seelenruhig dasaß und über Trennung sprach, als sei es das Einfachste und Natürlichste von der Welt. Als ob es Schicksal wäre! Aber das konnte er ihm nicht vorwerfen. Eben noch hatte er auf die gleiche Weise argumentiert. „Was verbindet dich denn mit ihm, wenn nicht dein Name? Wodurch bist du was du bist, wenn nicht durch deinen Namen?“ Soray Slave sah ihn an, ohne die geringste Gefühlsregung zu zeigen. Einzig seine blauen Augen verrieten, dass er ihm aufmerksam zuhörte – und eine gewisse Betroffenheit. „Ihr habt schon früh damit begonnen, euch eure Herren selbst zu wählen“, bemerkte Fabio mit mehr als nur einem Anflug von Verbitterung. „Du hast etwas dagegen, dass ich...“ „Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass du deinen Herrn wählst!“, unterbrach er ihn wütend. Seine Augen funkelten zornig. „Aber dass du mich so ohne weiteres verlassen würdest, dagegen habe ich etwas!“ Eine Weile sahen sie einander schweigend an, dann erhob sich der Blonde, ging an ihm vorbei und setzte sich auf eines der Betten. Wieder trafen sich ihre Blicke und diesmal gab es nichts, das sie unterbrochen hätte. „Wann“, fragte er, „habe ich jemals so etwas gesagt?“ Auf dem Gesicht des Braunhaarigen erschien ein trotziger Ausdruck. „Keine Haarspaltereien. Du hast sehr überzeugend deutlich gemacht, dass du mich nicht brauchst.“ „Das ist nicht wahr“, erwiderte Soray, stand auf und ging zu ihm. Er schmiegte sich an ihn, den Kopf an seine Schulter gelehnt. „Ich brauche dich“, sagte er leise und legte seine Hand auf die Brust des anderen, als wolle er den Schlag seines Herzens erfühlen. Und sein Lächeln verriet, dass ihm der freudige Klang nicht entgangen war. Dann wurde sein Gesicht wieder ernst. „Aber du weißt, dass ich auch ihn brauche.“ „Ja, ich weiß“, sagte er ruhig, sein Zorn war fast gänzlich verflogen. „Ich bin gern mit dir zusammen, aber ich möchte nicht, dass du dich durch einen Namen dazu verpflichtet fühlst. Kein Name soll dich zwingen zu tun was du nicht willst.“ Er löste sich von ihm. „Du wirst doch mit mir kommen?“ Fabio lächelte. Auf sein Wort war Verlass, doch seine Augen und der Klang seiner Stimme sagten ihm so unendlich viel mehr. „Wenn du zu ihm möchtest, dann werde ich mit dir gehen. Und er wird mein Herr sein, wie er dein Herr ist.“ „Du wirst ihn schützen, wie du mich beschützt“, ergänzte der Blonde und sah ihn durchdringend an. „Natürlich.“ Eine Weile herrschte Schweigen. „Soray.“ „Ja?“ „Warum kannst du nicht mich als deinen Herrn akzeptieren? Was ist es, das mir fehlt?“ Lange sah der andere ihn an, dann schmiegte er sich wieder an ihn. „Es gibt so vieles, das wir nicht tun könnten, wenn wir Herr und Diener wären.“ Fabio bezweifelte es. Zwei auf diese Weise verbundene Personen konnten alles miteinander tun. Obwohl Soray seine Zweifel ganz sicher spürte, ließ er es zu, dass er die Arme um ihn legte. Eine Geste des Vertrauens, das sie niemals in Worte hätten fassen können. „Niemals“, flüsterte der Blonde, „könnte ich so etwas tun, wärst du mein Herr.“ Fabio schüttelte langsam den Kopf. „Deine Familie war in ihrem Denken schon immer sehr unschuldig, wenn es um die Vorstellung von Dienstverhältnissen ging.“ „Wir sind bereit, alles für unseren Herrn zu tun.“ Nein, seid ihr nicht, dachte er, behielt es aber für sich. Sanft strich er dem anderen über das glatte blonde Haar. Ihr seid bereit zu tun, was sich innerhalb eurer Vorstellungskraft befindet. Doch diese Vorstellung basierte auf einem, wenn schon nicht edlen, so doch zumindest verständigen und einsichtigen Herrn. Er wäre nie so weit gegangen es realitätsfremd zu nennen, aber bis zu einem gewissen Grade war es das. Wenn es etwas gab, das außerhalb dessen lag, was sie, aus welchen Gründen auch immer, zu tun bereit waren, dann, das hatten die Erfahrungen in der Vergangenheit gezeigt, läutete es einen langsamen Prozess der Selbstzerstörung ein. Und das einzig probate Mittel dagegen war die Trennung von ihrem Herrn. Und wenn das geschah, dann gab es für sie nur eine einzige mögliche Erklärung – es war nicht der Richtige. Solange sie das glauben konnten, blieben sie am Leben. Taten sie es nicht, starben sie. Selbst dann, wenn der Verlassene davon absah sie ermorden zu lassen. Und obwohl es nur auf sehr wenige zutraf und die meisten bis zum Tode in den Diensten ihres Herrn blieben, hatten diese wenigen Ausnahmen eine gewisse Berühmtheit erlangt und ihnen den Ruf eingebracht, dass ihre Treue den Namen nicht wirklich verdiente. Dass sie vielmehr ein zweischneidiges Schwert war. Fabio teilte diese Ansicht nicht. Die Slaves hatten Charakter, das war alles. Sie waren keine geistlosen Puppen, deren Verdienst sich, bar jeden Gefühls, in bedingungsloser Unterwerfung oder Meuchelmorden zeigte. Sie waren lebendige Wesen und die meisten von ihnen zudem hochintelligent. Und in gewisser Weise bestand ihre Einzigartigkeit gerade darin, wie sie ihr Dienstverhältnis begriffen. Sie waren – die erwähnten Einschränkungen berücksichtigend, aber auch entgegen dieser – bereit alles, absolut alles zu tun, was ihrem Herrn von Nutzen war. Allerdings oblag dies ihrer eigenen Einschätzung. Nicht, dass sie nicht gehorsam gewesen wären – niemand war je mit den Diensten eines Slaves unzufrieden gewesen – aber das Wohl ihres Herrn hatte für sie absolute Priorität. Was erklärte, weshalb sie Verhaltensweisen anderer oder ihres Herrn selbst nur bis zu einem gewissen Grad dulden konnten, sofern diese negative Auswirkungen auf ihn hatten. Und wenn sie der Meinung waren, dass es das Beste sei ihren Herrn zu verlassen, dann taten sie es. Allerdings war der Betroffene für gewöhnlich darüber informiert. Es war so üblich und Teil des Dienstverhältnisses, dass ihr Herr und Meister über alles was sie taten und jeden Ort an dem sie sich aufhielten im Bilde war. Wenn er solche Aussagen jedoch nicht ernst nahm, dann lag die Schuld nicht bei den Slaves. Wenn sie etwas sagten, was selten genug vorkam, dann meinten sie es auch so und handelten dementsprechend. Es sei denn man war wortgewandt und geschickt genug sie davon abzubringen. Ein nahezu hoffnungsloses Unterfangen, aber die Aussicht auf Erfolg hing davon ab, welche Rolle man in ihrem Leben spielte. Früher einmal waren die Dominions ihre Herren gewesen, doch mittlerweile wählten sie sie selbst aus. Und ironischerweise fiel ihre Wahl so gut wie nie auf einen der ihren. Warum, wusste niemand. Vielleicht standen sich die Mitglieder beider Familien zu nahe, als dass sie ernsthaft ein Herr-Diener-Verhältnis hätten eingehen können. Andererseits waren sie frei in der Gestaltung einer solchen Verbindung. Aber es ließ sich nicht ändern, ganz gleich ob die möglichen Gründe dafür nun überzeugend waren oder nicht. Doch obwohl es so war, obwohl es diese Grenze zwischen ihnen gab, hatte nie jemand die Verbindung, die ihre Namen ihnen eingaben, in Zweifel gezogen. Niemand außer Soray. Ihre Bande hatten sich gelockert, ohne an Intensität zu verlieren. Sie hatten sich gewandelt, verformt, geändert, aber sie waren nicht verschwunden. Doch mit Soray schien die erste Generation geboren, die der alte Pakt nicht kümmerte und die – und das war es wovor er sich fürchtete – auch keinen neuen zu schließen gedachte. Es gab keine Gewissheit über ihr Schicksal, aber womöglich war dies das Ende einer jahrtausendealten Tradition. Fabio war die Tradition an sich nicht wichtig, aber Soray war es. Und dieser uralte Pakt schien ihm die einzige Verbindung zu sein, die er zu dem anderen hatte. Ihre Namen für bedeutungslos zu erklären, hieß die Grundlage ihrer Beziehung abzulehnen. Und die Vorstellung ihn zu verlieren war etwas, das er nur schwer ertragen konnte. Um jemanden gern zu haben, muss man nicht unbedingt bei ihm sein. Wenn man jemanden liebt, ist es nicht so wichtig immer beieinander zu sein. Das hatte Soray gesagt. Damit hatte er begründet, dass es nicht zwingend notwendig sei, dass sie beide gingen, dass er auch ohne ihn gehen würde. Das machte ihm Angst. Wie leicht es ihm zu fallen schien. Dabei ging es hier gar nicht um die Frage des Könnens, sondern die des Wollens. Er WOLLTE nicht von ihm getrennt sein. Dass er es konnte, daran hegte er nicht den geringsten Zweifel. Der Blonde trat von ihm zurück, musterte noch einmal eingehend das Gesicht seines Gegenübers und war schon im Begriff sich wieder seiner Schreibtätigkeit zuzuwenden, als er noch einmal das Wort an ihn richtete. „Was ist das eigentlich für ein Buch, das du die ganze Zeit liest?“ „Die Wanderhure.“ Die blauen Augen des anderen waren starr auf ihn gerichtet, sein Mund einen Spalt weit geöffnet. Dann wandte er sich ruckartig von ihm ab und nahm wieder an seinem Schreibtisch Platz. Er hatte den Wink sehr wohl verstanden. „Er ist es wirklich“, sagte er noch einmal. Der Trotz, der dabei mitschwang, war für seine Verhältnisse eine ungewöhnliche und starke Emotion. Einzig ein Lachen hätte Fabio noch mehr in Erstaunen versetzt. Der Braunhaarige schwang sich wieder auf sein Bett und nahm das Buch zur Hand. 'Das Buch der tausend Wunder', prangte in goldenen Lettern auf dem Einband. Fabio dagegen sah darin nur ein einziges Wunder. Dass es dieses Buch tatsächlich in die Bibliothek geschafft hatte – ohne eine einzige beschriebene Seite. Kapitel 7 – ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)