Dicembre von gluecklich (26 Tage Weihnachten) ================================================================================ Prolog: Erster Advent --------------------- Sehr verehrtes Vongola-Mitglied, Die Weihnachtszeit rückt näher und ich freue mich, Euch bereits jetzt zu unseren alljährlichen Feierlichkeiten vom 24. bis zum 26. Dezember im kleineren Kreis der Familie einladen zu dürfen. Dieses Jahr jedoch halten wir noch eine Besonderheit für Euch und alle verbündeten Familien bereit: Die „großen“ Festlichkeiten im Hause der Vongola werden bereits am ersten Dezember beginnen und jeden Tag bestehen bleiben, bis die Weihnachtszeit vorüber ist. Aus diesem Grund ist jeder, der in der Vongola tätig oder mit ihr befreundet ist, eingeladen, den gesamten Dezember in unserem Hauptstützpunkt in Japan zu verbringen – natürlich nur, soweit es Euch die Arbeit erlaubt. Für Verpflegung, Unterkunft und Unterhaltung ist selbstverständlich schon lange im Vorfeld gesorgt. Ich freue mich über jeden Gast. Mit Hochachtung und den besten Wünschen für die anstehende Zeit, Tsunayoshi Sawada Vongola Decimo Er versuchte, sich vorzustellen, wie der Idiot in Japan saß und sich abmühte, um das Ganze in ordentlichem Italienisch zu verpacken. Und wie seine beschränkten Wächter um ihn herumstanden und ihm helfen mussten, weil sie es natürlich besser konnten als er. Er versuchte, sich vorzustellen, wie er jede einzelne Einladung von Hand unterschrieb. Und dann versuchte er, sich vorzustellen, wie er die Absage der Varia in den Händen hielt und heimlich erleichtert war. Leider war die letzte Vorstellung nichts weiter als das – eine Vorstellung. Denn die Varia würde nicht absagen. Ich hab darauf genauso wenig Bock wie du, hatte Squalo gesagt, und Xanxus war sich sicher, dass er gelogen hatte. Niemand hatte darauf so wenig Bock wie er. Aber der Idiot hat auch die Foggia eingeladen. Und die gehen natürlich hin. Und ich lass Cat nicht allein unter diesen Vongola-Missgeburten. Wenn sie da irgendjemand anquatscht – Schon gut, halt’s Maul, hatte Xanxus gesagt und den Kopf auf die Hand gestützt, während er den Blick von ihm abgewandt und aus dem Fenster gesehen hatte. Und die Foggia bleibt bis zum sechsundzwanzigsten da? Ja, hatte er geseufzt. Und ich auch. Xanxus hatte die Augen geschlossen, tief ein- und wieder ausgeatmet, und dann hatte er einen sehr großen Schluck von dem guten Scotch genommen. Ich hab keine Lust, hatte er schließlich verkündet, hier herumzuhängen, mir von Luss Weihnachtslieder vorsingen zu lassen und Levi davon abzuhalten, mir vollends in den Arsch zu kriechen, während du nicht da bist. Die jährliche Scheiße hier ertrag ich bestimmt nicht alleine. Squalo hatte die Brauen hochgezogen und ein gefährlicher Hauch von Amüsement war über sein Gesicht geschlichen, den Xanxus glücklicherweise übersehen hatte. Soll das heißen, du kommst mit? Das soll heißen, wir kommen alle mit. Kapitel 1: Erster Dezember -------------------------- Die Residenz in Japan war pompös – und gerade gut genug für die Vongola. Das Anwesen in Italien sah selbstverständlich schöner aus, aber das hier … ging. Man konnte damit arbeiten. Fand Xanxus. Zumindest diese paar Tage lang. Wenn man musste. Der im Anzug gekleidete Niemand in der Eingangshalle nahm ihnen die Uniformmäntel ab und erklärte irgendwas zu Programm und Büffet, wovon Xanxus nur den Satz »Alkoholisches wird jeden Abend ausgeschenkt« innerlich dankend aufnahm. Der Rest war ihm egal. Er würde sich besaufen. Die Tür zum großen Saal schwang auf und es folgte der beste Moment des Abends. Die Köpfe der Anwesenden drehten sich ihnen zu und mit einem Mal waren alle Gespräche verstummt. Im gesamten Raum war es schlagartig so still, dass es Xanxus fast ein Grinsen entlockt hätte. Die sieben Mitglieder der Varia-Oberschicht nahmen sich die Zeit, nur langsam über die Schwelle zu schlendern, Xanxus‘ tödlicher Blick glitt nur einmal durch den Saal – genug, um jeden, der ihn traf, zu lähmen. Dann war der Augenblick im Rampenlicht wieder vorbei. Natürlich war es die Foggia, die den Bann brach, sich wieder von der Tür wegdrehte und ihre Gespräche einfach fortsetzte. Konnte man ihnen verzeihen. Über Cat und ihre Mädchen konnte er sich später noch aufregen, jetzt hatte er ja erst einmal sechsundzwanzig Tage reserviert, um sich über Sawada und dessen Mädchen aufzuregen. Als habe er mit diesem Gedankengang darum gebeten, konnte er im nächsten Moment dabei zusehen, wie sich der hellbraune, chaotische Haarschopf durch die Menge auf sie zubewegte. Die graue Masse teilte sich und da stand er. In einem genauso langweiligen, schwarz-weißen Anzug. Locker hingen seine Arme herab, nicht verschränkt, nicht händeringend, und in seinem Gesicht prangte ein lässiges, freundliches Lächeln. Xanxus wäre ihm dafür am liebsten an die Kehle gesprungen, dass er der Varia gegenüber stand und einfach … entspannt war. Theoretisch war das gut. Er wurde Boss, er sollte keine Angst vor seinen eigenen Leuten haben. Aber gottverflucht, dieser Versager sollte erzittern, wenn er vor ihm stand. »Xanxus«, grüßte er ruhig, als sei er auf Opium, ohne Stammeln, ohne diese großäugige Ehrfurcht von früher. Dann nickte er der restlichen Varia zu. »Wie schön, dass ihr gekommen seid.« Xanxus zog nur die Brauen hoch und schwieg. Die Heuchelei konnte er sich sparen. Hier war garantiert niemand erfreut, dass sie hier waren. Schon gar nicht Sawada und seine Bande Missgeburten. »Heee, Squalo!« Na gut, einer von ihnen vielleicht schon. Gestörter Idiot. Etwas ähnlich Schmeichelhaftes murmelte auch Squalo, als Takeshi sich aus der Vongola-Gruppe löste und freudig auf ihn zukam. »Vooi! Ich hab keine Zeit«, log er. »Ich muss zu Cat.« »Oh! Grüß sie von mir«, antwortete Takeshi bloß, als habe er sie nicht schon längst selbst gesehen. Squalo machte eine wegwerfende Handbewegung, schielte dann zu Xanxus. Jetzt konnte er natürlich keinen Rückzieher mehr machen. Na ja, konnte er schon, aber nun hatte er ja auch eine Ausrede, seinem überaus frustrierten Boss aus dem Weg zu gehen. Xanxus war das schon klar. Auch egal. Er hatte ja seinen Freund Jack Daniel’s. Also verdrückte sich Squalo; Sawada sah ihm nur mit diesem milden Amüsement hinterher, was ihn Timoteo unerträglich ähnlich machte, dann wandte er sich wieder dem Rest zu. »Über Büffet und Programm seid ihr schon informiert, nehme ich an?« »Jap – und der Kerl lebt sogar noch«, sagte Belphegor trocken. Hayato brummte irgendeine Beleidigung und Sawada holte gerade Luft, um irgendetwas Mildes dazwischen zu werfen, da hatte Luss seinen Einsatz. »Ich finde es so schön, was ihr hier veranstaltet!«, trällerte er, und während der Abschaum noch verlegen lächelte, fand Xanxus, dass das der rechte Moment war, sich zu verpissen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schob er sich an der Ansammlung von Vollidioten vorbei – und steuerte geradewegs auf die Getränke zu. Den restlichen Abend verbrachte er damit, sich zu betrinken, Gesprächen aus dem Weg zu gehen, hin und wieder mit Squalo über die ganze Welt zu lästern und am Ende dabei zuzusehen, wie er mit Cat in seinem Zimmer verschwand. Bastard. Als Xanxus in sein eigenes, dunkles Zimmer trat, nahm er sich vor, am nächsten Abend auch irgendwen abzuschleppen. Kapitel 2: Zweiter Dezember --------------------------- Tat er dann auch. Aber erst später. Zunächst einmal wachte er am Morgen gegen halb zwölf auf und hatte Kopfschmerzen. Trotz des Alkohols hatte er nicht besonders gut geschlafen. Er war wie ein Mensch, der erstens nicht schnell betrunken wurde und zweitens grundsätzlich lang brauchte, um einzuschlafen. Gestern hatte er noch länger gebraucht. Weil sein Zimmer neben dem von Squalo lag. »Knebel sie das nächste Mal«, befahl er, als sie sich zum ersten Mal beim Frühstücksbüffet über den Weg liefen. »Und du selbst hältst einfach die Schnauze. Und ziehst die Schrauben an deinem Bett fest, capisce?« »Dir auch einen guten Morgen, Xanxus«, sagte Cat, hörbar müde, und erschien einfach so neben Squalo. Verdammt unfair, dass man sie hinter ihm einfach nicht sah. Xanxus betrachtete sie, dann das bläulich verfärbte Bissmal an ihrer Halsbeuge, dann sah er wieder zu Squalo, der vergeblich versuchte, sich das Grinsen zu verkneifen. »Mal sehen«, meinte er und Xanxus hätte ihm am liebsten in die Eier getreten. Cat verschwand ohne einen weiteren Kommentar an den Tisch, an dem sich Kiki und Black Jack bereits mit Brötchen bewarfen, und Xanxus und Squalo suchten sich einfach den Tisch, von dem sie sich die meiste Ruhe erhofften. Noch war er leer und etwas abgeschieden vom Rest. Vielleicht hatte man den absichtlich für sie so hingestellt, damit es zu keinen Todesfällen kam. Xanxus konnte für nichts garantieren. Er aß nichts, weil er morgens nie etwas aß. Stattdessen sah er dabei zu, wie auch Levi, Luss und Bel noch dazukamen und sich benahmen wie die Schweine, und war einfach nur da. Als sich Mammon schließlich noch zu ihnen setzte, fiel ihm auf, dass sich ein großer Teil hier im Speisesaal wohl gar nicht an ihnen sattsehen konnte. Klar, sie saßen hier in zivil (was für ihn und Squalo trotzdem ein Hemd und für ihn trotzdem eine Krawatte bedeutete) und frühstückten. Das war wohl ein gleichermaßen seltenes und groteskes Bild, aber daran würden sich die Idioten auch gewöhnen müssen. Xanxus war schon froh, dass sich die Varia trotz allem benehmen konnte wie immer und das auch immer tun würde. Bels Platz sah aus wie ein Schlachtfeld und die Pappnasen waren gerade fertig mit ihrem Frühstück, als irgendwo im Saal jemand gegen ein Glas hämmerte – Xanxus hasste dieses Geräusch jetzt schon – und Sawada sich erhob. Eine Rede früh am Morgen. War ja prima. Xanxus versuchte, nicht zuzuhören, was ihm auch bruchstückweise gelang. Er bekam mit, dass der Abschaum sich natürlich freute, dass alle hier und gut angekommen waren. Dass er ein wenig aufgeregt war (Idiot, dachte Xanxus), weil das hier ja eine Premiere war, und deshalb umso mehr hoffte, dass alle hier ihren Spaß hatten. Adventszeit, blabla… Familie und so weiter. Bullenkacke. Schließlich rief er noch alle dazu auf, schöne Feiertage miteinander zu verbringen und Xanxus war kurz davor, sein Glas nach ihm zu werfen, dann setzte er sich wieder hin. Gott, er hatte keine Ahnung, ob er diesen Monat wirklich würde überstehen können. Wahrscheinlich würde es sich darauf belaufen, dass er in jeder freien Minute weit weg ging und dort sinnlos Menschen tötete, einfach nur, weil er sonst hier Amok laufen musste und das nicht wollte. So sehr ihn das auch anpisste, er konnte nicht einfach die halbe Vongola verprügeln. Und außerdem wäre ihm so eine Aktion irgendwie peinlich. Die folgende Zeit verbrachten er und Squalo mit Arbeit. Zumindest mit dem, was die beiden problemlos als Arbeit bezeichnen konnten. Sie saßen auf einem der Balkone in der Kälte und unterhielten sich. Über die Arbeit. An Papierkram hatten sie sich so einiges nach Japan mitgenommen, aber darauf hatte natürlich auch keiner der beiden Lust. So genervt waren sie dann doch nicht. Also sprachen sie einfach darüber, wer als nächstes sterben musste, wen sie auf welche Mission schicken konnten und wieso ihre Untergebenen alle so gehörnte Volltrottel waren. Und beim Mittagessen quatschte sie ihn schließlich an. Sie fing ihn mit einem vorsichtigen Lächeln ab, als er sich gerade auf den Weg aus dem Saal machen wollte, und stellte sich vor. Irgendeine unwichtige Cavallone-Tussi, sie nannte auch ihren Namen, aber Xanxus hörte ihr nicht aufmerksam genug zu, um sich den auch nur eine Minute lang zu merken. Viel lieber hörte er sich an, wie sie ihn vollbrabbelte darüber, dass sie schon so viel von ihm gehört hatte und ihn unglaublich interessant fand, und als sie fragte, ob er ein wenig Zeit für sie hätte, ließ er sich sogar zu seinem besten herablassenden Lächeln bewegen und sagte zu. Sie redete von unglaublich vielen Dingen, die Xanxus einen Scheißdreck interessierten, aber sie sah gut aus und sie war offensichtlich ziemlich dumm. Das waren die besten Voraussetzungen, also spielte er brav den geheimnisvollen, aber charmanten Zuhörer (er konnte diese Rolle mittlerweile ziemlich gut) und ließ sie sogar beim Abendessen mit ihnen am Tisch sitzen. Weil Xanxus natürlich trank, bestellte sie sich auch irgendwann etwas Alkoholisches, und als Xanxus damit fertig war, bestellte er ihr noch etwas, und dann wurde die Sache erst richtig unterhaltsam. Weil ihr Name ihm weiterhin egal war und sie höchstwahrscheinlich sein One-Night-Stand für den zweiten Dezember werden würde, nannte er sie gedanklich Seconda und sah völlig ruhig dabei zu, wie sie sich in das Vorhaben hineinsteigerte, sich möglichst offensichtlich an ihn ranzumachen. Der Speisesaal war schon fast leer, als Xanxus sich schließlich erhob und ihr mitteilte, dass sie ihren Arsch ihm hinterher schwingen sollte. Sie habe die Ehre, mit in sein Zimmer zu kommen. Wahrscheinlich würde er sie sogar übernachten lassen. Dann konnte sie am nächsten Morgen noch ein wenig die Tatsache anhimmeln, dass sie neben ihm aufgewacht war, bevor er ihr zu spüren gab, dass das hier eine einmalige Sache war. Diesmal hörte er nichts von nebenan. Seconda war einigermaßen gut im Bett und so konnte Xanxus diesmal auch einigermaßen befriedigt einschlafen, obwohl er nach dem einigermaßen unterhaltsamen Sex dennoch einigermaßen lang dafür brauchte. Es bestand also die Hoffnung, dass die Scheiße hier mit der Zeit einigermaßen erträglich werden würde. Kapitel 3: Dritter Dezember --------------------------- Er wachte auf, als es noch dunkel war, fühlte sich unwahrscheinlich müde und konnte trotzdem nicht mehr einschlafen. Xanxus hasste das. Weil es dauernd passierte, weil sein Schlafrhythmus völlig für den Arsch war und weil genau deshalb Squalo die Hälfte seiner Arbeit erledigen musste. Weil er entweder zu viel schlief oder zu wenig und entsprechend immer todmüde war. Das Leben war ein großer Haufen Scheiße. Er wartete, bis er beobachten konnte, wie die Dämmerung über den Horizont kroch, beschloss dann, dass er sich dieses bescheuerte Farbenspiel nicht länger ansehen musste, stand auf und ging duschen. Würde Seconda eben doch nicht neben ihm wach werden. Wie schade für die kleine Schlampe. Aber es war definitiv besser, wenn er sich vom Schlafmangel ablenkte, indem er sich den Schweiß der vergangenen Nacht abwusch, und nicht indem er irgendwas oder irgendwen zerstörte. Nur mit Boxershorts bekleidet trat er aus dem Bad, und durfte feststellen, dass Seconda bereits ihren Slip und ihren BH wiedergefunden hatte (beeindruckend – ER hatte die auf den ersten Blick nicht gesehen; aber er hatte auch nicht wirklich gesucht). In ihrer Unterwäsche saß sie auf der Bettkante und sah zu ihm. Ihm war nicht entgangen, dass sie ein paar Sekunden gebraucht hatte, bis ihr Blick den Weg in sein Gesicht gefunden hatte, aber das machte nichts. Er war sich bis eben auch nicht mehr so sicher gewesen, wie ihr Gesicht überhaupt aussah. »Hi«, sagte sie, leise, vorsichtig. Vielleicht war sie auch heiser. Xanxus betrachtete die leicht verfärbten Hämatome, die kleinen Wunden und die Striemen überall und beschloss, dass das gut möglich war. »Mhm«, machte Xanxus nur und verzog das Gesicht. »Sobald du angezogen bist, will ich dich hier nicht mehr sehen. Also beeil dich und hau ab.« Sie tat ihm den Gefallen, keinen Aufstand zu machen. Sie lächelte nur geschlagen, wahrscheinlich hatte sie mit dieser Abfuhr schon gerechnet, und nickte leicht. So war das gut. Einfach gehorchen und sich verdrücken. Ein paar Minuten später stand Xanxus vor der geschlossenen Tür und band sich geistesabwesend seine Krawatte. Das mit Seconda war gut gewesen. Halbwegs. Es machte seine Laune nicht besser, aber eben auch nicht schlechter und das war wichtig. Er befand sich immerhin in Japan. Es konnte jede Sekunde passieren, dass irgendwas in seinem Kopf abstürzte. Und auch wenn alles in ihm danach schrie, einfach loszulassen und hier in diesen dämlichen Festsälen radikal Unkraut zu jäten, musste er genau das um jeden Preis verhindern. Und wenn er dafür jede Nacht mit dummen, gefügigen Tussen schlafen musste, dann würde er das eben tun. Er war den ganzen Tag nur zur Hälfte anwesend, weil sein Kopf zwischen Schlaf und Aggression schwankte, und zum Abendessen hatte er schon so viel Alkohol intus, dass andere Männer in seinem Alter wohl längst im Koma lägen. Xanxus fühlte sich nicht einmal ansatzweise betrunken. Manchmal hasste er seine Leber. Sie saßen in ihrer üblichen Runde, Xanxus würgte irgendetwas vom Büffet herunter, das er sich nicht einmal genau angesehen hatte, und hörte den Brabbeln der Leute zu. Bis er gerade noch rechtzeitig aufsah, um Squalos Augenverdrehen zu bemerken. Squalo griff in seine Hosentasche, fischte das lächerlich kleine Handy heraus, versuchte für einen Moment den Anrufer auf dem Display mit seinem Blick zu töten und klappte es dann auf. »Was?« Das Brabbeln ging weiter, nur am Tisch war es ruhig. Ungefähr eine Minute lang saß Squalo nur da, blickte stirnrunzelnd seinen Teller an und hörte zu. Dann hob er den Kopf, senkte gleichzeitig das Handy und sah Xanxus direkt in die Augen. »Die Varia wird angegriffen.« Es war grotesk. Da sprach Squalo einmal in normaler Lautstärke, anstatt alle anzubrüllen, und dennoch schien es der gesamte Saal gehört zu haben. Es wurde schlagartig still. Seine Leute am Tisch hielten in der Bewegung inne und blickten ihn erwartungsvoll an, und sämtliche Idioten im Raum taten es ihnen gleich. Xanxus war vollkommen ruhig. »Von wem?«, fragte er nur. Man konnte förmlich spüren, wie der Saal die Luft anhielt, während Squalo simpel mit den Schultern zuckte. »Von diesen kubanischen Vollpfosten«, antwortete er. »Haben wohl spitzgekriegt, dass wir nicht da sind, und dachten sich, sie könnten einfach mal eben den Rest überfallen.« Nun war es an Xanxus, die Augen zu verdrehen. Brachte ja auch sehr viel, eine Organisation zu überfallen, wenn sowieso nur der niederrangige Abschaum anwesend war. Dumme Kubaner. »Die sind so schlecht, dass Levis Squad zur Verteidigung reicht. Und der Haufen Unteroffiziere soll auch seinen Arsch bewegen, statt sich wegen der paar Versager so einzuscheißen.« Squalo nickte, hob das Handy wieder und richtete es seiner lachhaften Vertretung auf höchst charmante Art und Weise aus, legte auf und aß weiter. Somit begannen auch die restlichen Gaffer zögerlich, ihr Abendessen wiederaufzunehmen, während Levi bloß dort saß und davon gerührt war, dass »seine« Leute nun die Varia verteidigen durften. Und das war das. Selbstverständlich wagte es niemand, den Anruf beim Abendessen in seiner Anwesenheit anzusprechen. War ihm aber eigentlich auch egal. Drei Stunden später war ein weiterer Anruf gekommen, der ihn bestätigt hatte: Die Kubaner waren mit Pauken und Trompeten untergegangen, die Varia stand noch und hatte so gut wie keine Verluste gemacht. Ein paar Rekruten konnte man immer entbehren, Xanxus war der letzte, der das verneinte… War also alles nochmal gut gegangen. Gut genug, dass Xanxus es sich erlaubte, auch am dritten Abend keine Arbeit zu machen, sondern sich an die Hausbar zu pflanzen und sich ein wenig Zeit für seinen besten Freund zu nehmen. Whiskey. Es war so wie meistens. Man ließ ihn allein, hielt Abstand von ihm, weil das definitiv gesünder war. Xanxus störte sich nicht die Bohne daran. Würde er nicht allein sein wollen, hätte er Squalo mit hierher geschleift. Konnte Cat sehen, wo sie blieb. Und irgendwann kam der übliche Punkt, an dem sich eine der Damen doch traute, sich ihm zu nähern. Sie ließ sich auf dem Hocker neben ihm nieder, ihm bereits etwas zugewandt, und Xanxus schielte zur Seite, um zu sehen, ob sie eine Chance hatte oder nicht. Sie war groß. Sie hatte langes braunes Haar und Beine bis zum Himmel. Schlank, verdammt gut gebaut, und ein Blick, der sagte, dass sie ihm für heute überallhin folgen würde. Oh, ja, sie hatte eine Chance. Sie wurde zu Terza. Und sie übertraf Seconda um Welten. Es wurde gut, es wurde verdammt gut, es wurde schweißtreibend, anstrengend und befriedigend und verdammt gut. Und es reichte trotzdem nicht. Kapitel 4: Vierter Dezember --------------------------- Tsuna hatte ein schlechtes Gewissen. Natürlich war er sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass er sich um die Varia die wenigsten Sorgen machen musste. Er hatte Squalo später noch gefragt und erfahren, dass alles gut ausgegangen war. Etwas anderes hatte er auch gar nicht erwartet, aber trotzdem… Die Varia war sehr wichtig für die Vongola. Im normalen Leben hatten sie kaum Kontakt, aber Tsuna wusste, dass er sich auf sie würde verlassen können, wenn sie irgendwann mal in der Klemme steckten. Militärisch gesehen waren sie das Nonplusultra. Er wollte ihnen keinen unnötigen Stress machen. Deshalb hatte er auch so sehr mit sich gerungen, diese ganze Aktion zu starten. Er fand, dass es unglaublich schön aussah, wenn hier alle beisammen saßen, und er war stolz auf sich, dass er überhaupt so viele Leute hatte zusammentrommeln können. Aber er wusste auch, dass zum Beispiel die Varia und die Cavallone aus Italien hatten anreisen müssen und dafür ihr Hauptquartier allein ließen. Natürlich hatte jeder Vertretungen organisiert und war für den Notfall erreichbar, aber man kam nun mal nicht so schnell von Japan nach Italien. Wenn es hart auf hart kam, während die Bosse hier in Asien Weihnachten feierten, waren die Familien möglicherweise aufgeschmissen. Und das seinetwegen. Er konnte sich nur selbst daran erinnern, dass er niemanden gezwungen hatte, herzukommen, und dass alle Anwesenden gute Leute waren und hatten. Er konnte hoffen und optimistisch sein und das klappte auch ganz gut. Ein schlechtes Gewissen hatte er trotzdem. Dennoch wurde er dieses Gefühl nicht los – dass es einfach nötig gewesen war, so etwas mal zu veranstalten. Nächstes Jahr würde er den ganzen Aufwand bestimmt nicht mehr wiederholen, aber ein einziges Mal hatte es sein müssen. Er war noch nicht lang offizieller Boss der Vongola. Und Nono war noch nicht lang tot. Kommenden Monat würde es ein Jahr her sein, dass Timoteo seinem Alter erlegen war. Von seinen Wächtern waren auch nicht mehr viele übrig, und die, die noch da waren, hatten den Stolz gehabt, sich zurückzuziehen und die Sache Tsuna und seinen Leuten zu überlassen. Sie waren jetzt also seit elf Monaten allein. Und es klappte ganz gut. Tsuna hatte vorher ja schon mit Timoteo an seiner Seite „üben“ können – eigentlich war er schon länger als nur dieses Jahr der rechtmäßige Boss der Vongola, aber solang Nono noch gelebt hatte, hatte er ihm auch unter die Arme gegriffen. Tsuna war unendlich dankbar gewesen und hatte Angst davor gehabt, was passieren würde, wäre diese Hilfe eines Tages nicht mehr da. Aber die Geschäfte liefen einfach weiter. Bisher hatte niemand versucht, ihn umzubringen – na ja, ein Bombenleger war in der Nähe des Vongola-Grundstücks in Japan gefunden worden, aber sowas kam ständig vor und irgendwie hatte Tsuna sich tatsächlich daran gewöhnt. Auch, wenn er sich das vor Jahren niemals hätte vorstellen können. Er gewöhnte sich wirklich an alles. Er wurde ein guter Boss. Nur ein paar Dinge waren da eben noch, die ihn beschäftigten. Er wollte respektiert werden. Die Leute sollten nicht vor ihm niederknien, das war ihm ziemlich unangenehm, aber er wollte eben, dass seine Verbündeten ihn annahmen. Und er glaubte, dass es dafür wichtig war, dass man sich eben einfach … na ja, kannte. Er wollte seine Partner kennen und sie sollten ihn auch kennen. Er wollte, dass die Beziehungen funktionierten. Und deshalb war er irgendwann auf diese Idee mit dem gemeinsamen Dezember gekommen. Deshalb saßen nun alle hier und ließen nur für ihn ihre Stützpunkte in Italien allein. Mit den meisten hatte er sich schon unterhalten. Es lief gut, er führte angeregte Gespräche über Gott und die Welt und war sowohl stolz, als auch einfach nur verdammt froh, dass er immer eine passende Antwort parat hatte, wenn man ihn auf die Arbeit ansprach. Auch seine Wächter integrierten sich perfekt in die Menge, Tsuna lernte nach und nach jeden seiner Geschäftspartner immer besser kennen und fast alles lief wie am Schnürchen. Richtig, fast alles. Einen einzigen Geschäftspartner wollte er sich bis zum Schluss aufheben. Es war der vierte Dezember, Tsuna verbrachte mal wieder einige freie Minuten damit, Xanxus aus der Ferne zu beobachten, und stellte fest, dass der Variaboss mittlerweile ein bisschen ruhiger schien. Vielleicht lag das daran, dass er gestern mit einer von Tsunas Sekretärinnen geschlafen hatte. Das war ihm nicht entgangen. Er machte sich keinen Kopf darum, es ging ihn nichts an und solang Xanxus seine Leute nicht vergewaltigte, hielt er seine Nase da raus. Die Hauptsache war, dass er nach vier Tagen endlich begann, auf Tsuna weniger so zu wirken, als wolle er alle Anwesenden augenblicklich umbringen. Das war gut. Denn er musste unbedingt noch mit ihm reden. Unbedingt. Kapitel 5: Fünfter Dezember --------------------------- Terzas zweiter Vorname war nun Quarta. Sie hatte gestern Abend an der Bar auf ihn gewartet und es war ihm mehr als nur recht gewesen. Sie hatten viel getrunken und wenig gesprochen, er wusste nun, dass sie für die Vongola arbeitete und sich jeden Morgen kommentarlos verdrückte, während er noch duschte, und dass sie so etwas wie das perfekte Fickstück war. Sie wollte einfach nur den Abend und die Nacht mit ihm verbringen, nicht mehr und nicht weniger. Xanxus konnte damit gut leben. Er war immer noch frustriert, schlief zu spät ein und wachte zu früh auf, aber wenigstens war er etwas ruhiger, wenn er unter Menschen war. Er hasste es, diese glücklichen, debilen Fratzen überall zu sehen, aber er fühlte wenigstens nicht mehr den unwiderstehlichen Drang, sie alle einzuschlagen. Er und Squalo hatten beschlossen, dass sie mal wieder einen produktiven Tag brauchten, und hatten sich deshalb zusammengesetzt, um ein kleines bisschen zu arbeiten. Sie erledigten Papierkram, gingen aktuelle Aufträge durch und riefen hin und wieder die Offiziere zu sich, um ihnen welche zuzuteilen. Es war trocken, aber wenigstens hatten sie etwas zu tun – etwas, was sie auch davon ablenkte, dass sie gerade in Japan waren und ausgerechnet Weihnachten feierten. Am zehnten und elften Dezember würden er und Squalo außer Haus sein, weil sie sich mit einem Bündnispartner in Amerika besprechen mussten, der natürlich zu keinem anderen Termin konnte. Xanxus konnte nicht sicher sagen, ob das verwöhnte, neureiche Arschgesicht diese Besprechung überleben würde. Irgendwann rauchten ihnen die Köpfe, es war Nachmittag, sie holten ihr Mittagessen nach und dann verließen sie das Anwesen. Cat war mit ihren Mädchen verschwunden, »Spaß haben«, hatte sie Squalo wohl erklärt, der sich das genauso wenig vorstellen wollte wie Xanxus. Aber an sich war es eine gute Idee. Gehen und Spaß haben. Sie fuhren, sie liefen, sie fuhren wieder, schauten hier und da mal herein und amüsierten sich darüber, wie bescheuert man sie hier ansah – irgendwann waren sie in der nächsten Stadt angekommen und endeten in irgendeinem Pub, der nach ihrer verhältnismäßig langen, ertragslosen Tour einfach nur noch annehmbar ausgesehen hatte. Drinnen schwebte Rauch an der Decke, es roch nach einer Mischung aus Alkohol, Urin, Tabak und Kotze, aber die Bänke waren bequem und die Getränkekarte überaus ansprechend, also war es genug, um einfach mal wieder zu zweit hier zu sitzen und sich zu beschweren. Über alles, was ihnen gerade so einfiel. »Es geht mir sowas von auf den Sack«, sagte Xanxus irgendwann, mit ungewohnter Inbrunst, nachdem er sein Glas abgesetzt hatte. »Wem sagst du das«, brummte Squalo und streckte die Beine aus. »Voooi! Ich hab Weihnachten ja schon immer gehasst, aber das hier sprengt irgendwie jeden Rahmen.« Xanxus schloss die Augen und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger darüber. »Und ich bin auch noch nur hier, weil deine dumme Trulla nicht absagen konnte…« »Cat ist keine dumme Trulla«, korrigierte Squalo geduldig. »Sie hat hier Spaß… Wieso auch immer. Ich rall diese ganzen Weihnachtsfans nicht.« »Natürlich hat die Spaß«, sagte Xanxus trocken. »Die ist ja auch Boss von einem Haufen shoppingwütender Weiber. Die kann sich sicher sein, dass sie von Geschenken überhäuft wird. Kommerz-Sache, capisce?« »Du wirst doch auch von Geschenken überhäuft…«, gluckste Squalo. Xanxus verdrehte die Augen. »Ja, aber die sind alle von Levi.« »Vooi. Geschenk ist Geschenk.« »Ja, und Levi ist Levi. Das macht es nicht besser.« »Auch wieder wahr.« »Xanxus, ich glaub, ich verzieh mich langsam wieder… Wenn ich noch mehr trinke, wach ich bloß irgendwo auf, wo ich gar nicht hin wollte.« Xanxus gab so etwas wie ein »Hrmh« von sich und zuckte die Achseln. »Von mir aus.« »Kommst du mit? Ich will dich morgen nicht aus dem Bett kratzen müssen.« »Du musst mich generell nie irgendwo wegkratzen. Schon gar nicht aus dem Bett.« »Voooi – Xanxus. Ja oder nein?« »Ich komm mit.« »Gut. Aber du hast nicht vor, da drüben schon wieder irgendeine Trulla aufzureißen, oder?« »Weiß ich doch jetzt noch nicht.« »Irgendwann hast du alle durch. Kein Wunder, dass du müde bist.« »Du weißt genau, dass es nicht daran liegt.« »Zumindest nicht nur… Vooi, bestimmt haben die Mädchen nicht mal Namen.« »Natürlich haben die Namen. Sie heißen Seconda, Terza und Quarta.« »Du bist ein kranker Bastard.« »Ich bin ein kranker Bastard.« So ging es noch hin und her, bis sie wieder zurück im Anwesen waren und Xanxus letztendlich auch eingesehen hatte, dass es eigentlich keine gute Idee war, um diese Uhrzeit und mit diesem Alkoholpegel noch jemanden abzuschleppen. Und dennoch. Squalo ging ins Bett. Xanxus nicht. Kapitel 6: Krisensitzung [Adventsbonuskapitel] ---------------------------------------------- Achtung: Dieses Kapitel spielt außerhalb des eigentlichen Universums der FF. "Ich brauch einen Freund mit weiten Armen Ich brauch einen Freund, der kein Erbarmen kennt Der mich zu Boden ringt, ich tob und rase Ein Tuch mit Äther über Mund und Nase. Ich brauche tiefste schwarze Nacht hinter meinen Lidern Ein Gift gegen den Schmerz in meinen Gliedern Ich brauch einen Schuss Feuer in meine Venen Ich brauch eine Bahre, Blaulicht und Sirenen. Ich brauch, ich brauch, ich brauche Licht Bring mich nach Hause Ich bin schon zu lang hier draußen Komm und trag mich – frag nicht wieder, wohin Ich will nach Hause Ich bin schon zu weit hier draußen Komm und trag mich – schlag mich nieder Ich bin nicht still genug." (Wir sind Helden – Bring mich nach Hause) Sie standen nur gute drei Meter voneinander entfernt und doch schienen Welten zwischen ihnen zu liegen. Das Halbdunkel der beginnenden Nacht um sie herum schien eine zusätzliche Barriere aufzurichten, eine massive Wand, die es zu durchbrechen galt. Alles, was bis zur jeweils anderen Seite durchdrang, waren die wachen, gefährlich verengten Augen – und die Flammen. Krisensitzung. So nannte man das, was sie hier seit Stunden taten, an der Spitze der Vongola. Krisensitzung. Tsuna war ungern in den Hyper Dying Will Modus gegangen, aber nun gab es kein Zurück mehr. Würde er diesen Zustand jetzt wieder verlassen, wäre er genauso tot wie der Rest. Und mehr Verluste konnten sie sich definitiv nicht leisten. Die Gegner waren längst weg. Sie hatten sich zurückgezogen; theoretisch war es also ein Unentschieden, aber es fühlte sich an wie eine Niederlage. Vor allem für ihn. Tsuna war müde, er wollte nicht mehr kämpfen, er wollte nach Hause, zu seinen Freunden, und endlich seine Wunden versorgen lassen. Aber spätestens, als die Narben wieder begonnen hatten, über sein ganzes Gesicht zu wuchern, hatte er gewusst, dass er keine andere Wahl hatte. Diese Schlacht war noch nicht vorbei. Seine Wächter waren verletzt. Sie würden eine ganze Weile lang außer Gefecht sein, aber zumindest hatten sie überlebt. Und das hatten sie dem Schutz der Varia-Offiziere zu verdanken – die Dafür zu einem Großteil ihr Leben gelassen hatten. Squalo und Fran waren bereits abtransportiert worden – die einzigen Überlebenden. Selbstverständlich würden sie die beste Behandlung bekommen, aber selbst damit war es nicht sicher, ob sie je wieder auf ihr ursprüngliches Level würden kommen können. Die Flamme in Xanxus‘ Hand flackerte. Er hatte drei seiner besten Männer einbüßen müssen, und das nur, um Leuten Rückendeckung zu geben, die er hasste – und dennoch war der Gegner davongekommen. Tsuna verstand, wie er dachte. Tsuna wusste, dass das mehr als nur eine Niederlage für Xanxus war, und dass man sein Ego dem Erdboden gleichgemacht hatte. Aber Tsuna wusste eben auch, dass Xanxus in diesem Zustand unberechenbar war. Und dass es leider viel zu nah lag, dass er nun loszog und Scheiße baute. Also hatte er versucht, ihn auszubremsen. Wahrscheinlich war er ein bisschen selbst an dieser Situation schuld. Er hatte ihm gesagt, er solle sich zusammenreißen. Das hatte ihm den Rest gegeben. Sie hatten »gestritten«. Lautstark, und es hatte keine fünf Sekunden gedauert, bis sie sich zeitgleich auch geprügelt hatten. Tsuna hatte nicht gewollt, aber verdammt nochmal, er musste sich verteidigen. Und er musste diese verfluchte Sache mit Xanxus klären. Krisensitzung. Hier standen sie nun also, beide blutig geschlagen, beide keuchend, und beide bereit, noch weiter zu machen. Mit welchem Ziel auch immer. »Worin soll das enden?«, fragte Tsuna schließlich. »Ich dachte, auf die sinnlosen Prügeleien könnten wir mittlerweile verzichten.« »Das können wir dann wieder, wenn du mich vorbeilässt.« Tsuna schnaubte. Er würde ihn nicht vorbeilassen, nicht jetzt, nicht so, weil Xanxus entweder einen Haufen unschuldiger Menschen umbringen würde, oder sich selbst, in dem Versuch, seine Varia zu rächen. Und das konnte er nicht verantworten. Schon gar nicht letzteres. Aus viel zu vielen Gründen. »Ich kann dich nicht gehen lassen«, sagte er also. »Du bist zu wichtig.« Er war ihm zu wichtig, Tsuna zählte auf diesen Idioten, Tsuna brauchte diesen Idioten. Und er wusste, dass der Idiot ihn früher oder später auch brauchen würde. Weil er jede Hilfe brauchte, die es nur gab. Es hatte damit angefangen, dass Tsuna vor Jahren, als er den Boss-Job wirklich und endgültig übernommen hatte, festgestellt hatte, wie essenziell die Varia für die Vongola war. Er hatte gelernt, dass er ihre herausragenden Fähigkeiten brauchte, wenn er die Famiglia weiterhin dort halten wollte, wo sie war. Er hatte gelernt, dass die Varia mindestens so erfolgreich bleiben musste wie jetzt. Und er hatte verstanden, dass es fast nur auf Xanxus‘ Gemütszustand ankam, ob sie das tat oder nicht. Das Wohl der Varia hing davon ab, wie es sich mit Xanxus‘ Psyche verhielt. Und seit Tsuna diesen Mann kannte, konnte er beobachten, wie es mit genau jener Psyche stetig bergab ging. Also hatte er irgendwann angefangen, sich mehr und mehr mit Xanxus auseinander zu setzen. Tsuna konnte nicht ändern, wer er war. Er bekam Mitleid, er bekam Verständnis, und er bekam den unbändigen Drang, diesem emotional verkrüppelten Trottel unter die Arme zu greifen – offiziell, damit die Varia überlebte. Inoffiziell, weil es sich einfach nur richtig anfühlte. Aber Xanxus war eben jemand, der sich nicht einfach so unter die Arme greifen ließ. Dafür mussten gewisse Register gezogen werden. »Du traust mir nicht zu, zu gehen, ohne dass ich dabei verrecke?«, fragte Xanxus, leise, kaum hörbar, bedrohlich. Eine Fangfrage. Nicht direkt antworten. Etwas Wichtiges, was man lernen musste, wenn man mit Xanxus zu tun hatte. Tsuna sah ihm in die Augen, auch seine Stimme war leise, gefasst, eindringlich. »Du treibst dich in den Ruin.« Etwas in Xanxus‘ Mimik zuckte. Zu weit. Tsuna ging zu weit, wurde zu persönlich, kam ihm zu nah. Aber das war ihm vollkommen egal. Er würde tun, was getan werden musste, damit Xanxus auch nur halbwegs bei Verstand blieb. Und wenn das die ganze Nacht dauerte. Er konnte das Knurren hören. Es war ganz leise, ganz kurz, ganz weit hinten in seiner Kehle. Aber Tsuna konnte es hören. Er konnte den Sekundenbruchteil spüren, in dem Xanxus‘ Finger zuckten. Konnte sehen, wie sich seine Muskeln anspannten. Konnte erahnen, wie er sich in seine Richtung stürzen würde. Tsuna würde nie etwas sagen können, was Xanxus‘ Selbstbewusstsein nicht mindestens ein wenig stutzen würde. Es würde immer so bleiben, wie es schon immer gewesen war – weil allein seine Existenz schon ein Dämpfer für Xanxus‘ Ego war. Aber das scherte Tsuna nicht mehr. Er war längst nicht mehr der kleine Junge, der sich um die Herkunft seiner Feinde sorgte. Er war der Boss. Er, nicht Xanxus. Und es war an der Zeit, den sturen Psychopathen das spüren zu lassen. Sie trafen sich in der Mitte, Tsuna hielt die Arme fest, die auf ihn zugeflogen gekommen waren, umklammerte Xanxus‘ Handgelenke mit einer Kraft, die beide zu überraschen schien, und für einen kurzen Moment schwebten sie einfach nur dort in der Luft, ein gescheiterter Angreifer und die standhafte Verteidigung. Dann fielen sie. Tsuna versenkte sein Knie in Xanxus‘ Bauch, im gleichen Moment kam Xanxus hart rücklings auf dem Boden auf. Als die Luft aus seinen Lungen entwich, drang ein erstickter Laut aus seiner Kehle, er starrte an Tsuna vorbei und sah für eine widerliche Sekunde aus, als sei er tot, dann verzog er schmerzlich das Gesicht und versuchte gleichzeitig, sich loszureißen und Tsuna von sich zu treten. Aber Tsunayoshi hatte dazugelernt. Schwer wie Eisen lagen seine Beine auf Xanxus‘ Beinen, er würde sich jetzt nicht mehr abwerfen lassen, er würde jetzt ausreden, er würde jetzt dafür sorgen, dass er dort liegen blieb und auf ihn hörte, und wenn es sein musste, gottverdammt, dann würde er seine Beine auch ein weiteres Mal an den Boden festfrieren. Es ging doch nur um Xanxus selbst. Würde der Dummkopf das nur endlich verstehen. Noch immer hielt Tsuna seine Handgelenke, presste sie so fest er konnte in den lehmigen Boden unter ihnen, hielt sich die Flamme vom Leib. Egal, ob Xanxus das Zittern seiner Arme dabei sah. Egal, ob er Xanxus damit vielleicht das Blut in den Händen abdrückte. Er konnte ihn nicht gehen lassen. »Du treibst dich – in den – Ruin«, wiederholte Tsuna ein weiteres Mal, langsamer, noch deutlicher, als spräche er mit einem begriffsstutzigen Kind. Das Gefühl hatte er oft genug. »Und das kann ich nicht verantworten. Du weißt sehr genau, dass die Vongola dich braucht –« »Du weißt sehr genau, dass ich einen Scheiß darauf gebe, ob du und deine Missgeburten mich brauchen«, fauchte Xanxus. Malmend biss Tsuna die Zähne zusammen. Ein kurzer Ruck ging durch seinen Körper, er verstärkte den Druck auf seinen Beinen, seinen Armen. »Lass mich ausreden«, befahl er, und nun war seine Stimme nur noch ein Raunen, und für einen Moment sah es so aus, als habe Xanxus just in diesem Augenblick erst verstanden, dass Tsuna kein vierzehnjähriger Junge mehr war. Das war gut. Denn genau darauf wollte er hinaus. »Es ist nicht mehr so wie früher«, sagte er leise. »Wir sind keine Gegner mehr, Xanxus. Wir müssen zusammenarbeiten, ob wir wollen oder nicht. Und ich weiß, dass du mich dafür hasst, und damit müssen wir beide klarkommen: Ich bin der Boss dieser Familie. Demnach ist es meine Aufgabe, mich darum zu kümmern, dass alle arbeitsfähig sind. Auch du. Und deshalb seh ich nicht länger dabei zu, wie du dich zerstörst.« Xanxus ballte seine Hände zu Fäusten. Einen Augenblick lang rechnete Tsuna damit, dass er wieder versuchen würde, sich loszureißen, ihn zu schlagen, doch wie es aussah, erlaubte ihm sein Stolz nicht mehr, solche sinnlosen Versuche zu starten. Immerhin etwas. »Seh ich aus, als könnte ich nicht auf mich selbst aufpassen?«, fragte er nur schroff. Tsuna schwieg, sah ihn nur an. Er blutete, seine Kleidung war an mehreren Stellen aufgerissen, er lag am Boden und war übersät mit Narben, von denen sie beide wussten, dass er sie sich letztendlich selbst zuzuschreiben hatte. Die Antwort erübrigte sich. Xanxus schnaubte. »Geh von mir runter, Abschaum«, befahl er gefährlich leise, doch der drohende Ton ging an Tsuna vorbei. »Du trittst auf der Stelle«, fuhr er nur fort, sah ihm hartnäckig in die Augen, hielt ihn hartnäckig am Boden fest. »Das tötet dich – du musst aufhören. Die Mafia verändert sich jeden Tag an irgendeiner Stelle, und du darfst nicht einfach stehen bleiben. Du musst dich anpassen. Du wirst älter, Xanxus, und die Gegner werden jünger, und so wird es immer weiter gehen. Hör auf, die Welt dafür zu hassen. Fang an, damit klarzukommen. Und wenn ihr die Elite seid, es wird immer jemanden geben, der euch das Wasser reichen kann. So wie heute. Du wurdest besiegt, Xanxus, akzeptier es. Renn ihnen nicht hinterher. Du bist kein Perpetuum Mobile, du bist verwundbar – egal, ob du dir das eingestehen willst oder nicht. Und wenn du jetzt aufstehst und diese Leute verfolgst, stürzt du dich und womöglich auch uns ins Verderben.« Tsuna atmete ruhig ein und aus, gab sich die allergrößte Mühe, sich von Xanxus‘ mittlerweile völlig ausdruckslosem Gesicht nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, und lehnte sich auf seine noch immer leicht zitternden Arme. »Du bist sterblich. Du trägst Verantwortung, es gibt Leute, die auf dich zählen. Ich muss mich auf dich verlassen können. Und ich will nicht, dass du gehst. Hast du verstanden?« Minimal zog Xanxus seine Augenbrauen zusammen, und er holte Luft und hob den Kopf etwas an und wollte etwas sagen, doch Tsuna ließ ihn nicht. »Es ist wichtig. Du bist sterblich. Sieh es endlich ein.« Wahrscheinlich hatte er seine Position als Vongolaboss noch nie in seinem Leben so sehr ausgenutzt. Und wahrscheinlich hatte er auch noch nie in seinem Leben das Gefühl gehabt, dass es so sehr nötig gewesen war. Und dass es funktioniert hatte. Xanxus sprach nicht aus, was er hatte aussprechen wollen, sah ihn einige Sekunden lang einfach nur an, dann schloss er die Augen, atmete leise aus und ließ den Kopf zurück auf die Erde fallen. Sein Atem ging flacher und er öffnete die Lider nicht mehr, aber Tsuna wusste, dass er noch bei Bewusstsein war. Es war ein einmaliges Bild, und doch wusste er ganz genau, wen und was er vor sich hatte. So sah ein Xanxus aus, wenn er resignierte. Schwach, mild, lächelte Tsuna, ließ dann langsam von seinen Handgelenken ab und richtete sich auf, sodass er nur noch mit weitaus weniger Druck auf ihm saß. Xanxus rührte sich nicht und Tsuna unterdrückte ein Glucksen. Als er sah, wie ein dünnes Blutrinnsal sich den Weg über Xanxus‘ Schläfe erkämpfte, streckte er eine völlig ruhige Hand aus und wischte es weg. »Ich bring dich nach Hause«, sagte er. Kapitel 7: Sechster Dezember ---------------------------- Er wusste nicht mehr, wie er ins Bett gekommen war. Er wusste generell nur noch alarmierend wenig. Dass er noch mit Squalo zurück ins Vongola-Hauptquartier gekommen war, wusste er. Und dass sie beide angetrunken gewesen waren. Angetrunken. Er war schon angetrunken gewesen, da bestand kein Zweifel, aber scheinbar war der Frust wieder zurückgekehrt, nachdem Squalo sich verdrückt hatte. Oh, heilige Scheiße, ja, Xanxus war ein Frustsäufer. Also hatte er sich an der Hausbar doch noch etwas besorgt. Soweit er sich erinnern konnte, war es nur eine Flasche gewesen. Aber eine volle Flasche mit ziemlich gutem Zeug. Sagte ihm sein Kopfschmerz. Ab dann gab es nur noch Bruchstücke. Ein bisschen von der Bar. Dann hatte er sich wohl den großen Saal nochmal angeguckt, der aber schon leer gewesen war. Er erinnerte sich an irgendeinen Flur. Und dann war er schon wieder zurück in die Bar gekommen. Er hatte jemanden angesprochen. Das hieß, er war schon ziemlich dicht gewesen, weil Xanxus eigentlich keine Frauen ansprach. Das hatte er das letzte Mal als Teenager gemacht, seitdem war es einfach nicht mehr nötig gewesen. Die kamen von alleine. Und letzten Abend hatte also er mal wieder den Mund aufgemacht. Wenn seine Erinnerung stimmte, war sie hübsch gewesen. Aber er war ja betrunken gewesen, da konnte man sich nie so sicher sein. Er hatte sich also eine Quinta geangelt. Und diesmal hatte er noch weniger Ahnung, wer sie war, als sonst, und er wusste nicht einmal, wo sie jetzt steckte. Weil er sich sicher war, dass er sie nicht in seinem Bett gevögelt hatte. Im Gegenteil, er konnte sich an irgendeinen Flur erinnern. An einen völlig leeren Gang und eine kalte Wand. Ja, da war es gewesen. Das war das letzte, was er wusste, danach kam nur noch sein Bett. Ohne Quinta. Kacke. Xanxus hatte das Gefühl, dass er mindestens die Hälfte seines Duschwassers getrunken hatte, und trotzdem schmeckte es in seinem Mund noch, als sei irgendein Tier in seinen Rachen gekrochen und dort verendet. Die Zahnpasta änderte auch nicht mehr viel. Also rang er sich tatsächlich mal dazu durch, beim Frühstück etwas zu essen (die Kopfschmerztablette, die er sich danach reinpfiff, sollte man ja auch nicht auf leeren Magen nehmen), und mit der Zeit fühlte er sich wenigstens nicht mehr ganz so, wie ausgekotzt. Bis nach dem Mittagessen erfuhr er nicht, wer Quinta gewesen und wohin sie verschwunden war. Und hätte er entscheiden können, hätte er es auch lieber nicht erfahren. Zumindest nicht so. Er stand auf einem der Balkone, es war kühl und er blickte hinaus in den Garten, der von vorn bis hinten widerlich grün und getrimmt war. Eigentlich wartete er darauf, dass Squalo hier aufkreuzte. Vielleicht konnte der ihm ja weiterhelfen. Es war okay, wenn Xanxus nicht wusste, wie seine Bettgeschichten hießen. Aber wenn er gar nicht, so richtig überhaupt nicht, wusste, wer sie waren, beunruhigte ihn das. Nur würde er eben nicht von selbst zu Squalo gehen. Er sollte herkommen. Es war nicht das erste Mal, dass er für seinen verdammten Stolz bezahlen musste. Er hörte Schritte, die zu leicht für Squalo waren, und dann schloss sich die Balkontür. Xanxus sah nicht auf, bis die Figur an seiner rechten Seite erschien. Okay. Würde er sich aufrichten, würde sie ihm ungefähr bis zur Schulter reichen. Sie war also klein und sie war schmal und aus dem Augenwinkel konnte er dreckig-blonde Haare erahnen. Eine kleine, blonde Frau, die sich einfach so traute, sich zu ihm auf den Balkon zu stellen und ihn wütend anzusehen. Gut. Statt Squalo war also Squalos Freundin hier aufgekreuzt, die sich wohl ziemlich sicher war, dass Xanxus die Ische seines besten Freundes nicht töten würde, und den Mund deshalb hin und wieder ein bisschen zu voll nahm. Schlimm genug, dass sie überhaupt existierte. Was wollte sie jetzt hier? »Kannst du mir erklären, was zum Teufel du hier treibst?« Xanxus schloss die Augen und atmete leise aus. Deshalb hasste er Frauen. Wieso konnte sie nicht einfach Klartext reden, anstatt sich ein keifendes Drama aus der Nase zu ziehen? Er richtete sich auf, löste sich vom Geländer des Balkons und drehte sich Cat zu, sah ruhig zu ihr hinab, in die grünen Augen, die ihn überraschend aufgebracht anstarrten. Er kannte Cat eigentlich nur ruhig. Höchstens sarkastisch. Okay… »Ich schätze, ich stehe auf einem Balkon«, antwortete er trocken. »Reicht das als Erklärung?« Cat verengte die Augen und er konnte sehen, wie sich ihre Kiefer anspannten. »Wärst du jemand anderes, hätte ich dir jetzt schon sowas von die Eier ausgerissen«, brummte sie und verschränkte die Arme. »Hast du auch nur irgendeine Vorstellung davon, wen du gestern Nacht flachgelegt hast, Mister Ladykiller?« Für einen Moment konnte Xanxus tatsächlich nichts anderes tun, als sie perplex anzublinzeln. Zum Glück war der Moment nur kurz und schließlich runzelte er die Stirn. Nein. Das war ja sein Problem. Er hatte überhaupt keine Vorstellung. Wie es aussah, könnte Cat ihm da weiterhelfen. Und wie sie aussah, würde das nicht so angenehm werden. »Dich jedenfalls nicht«, meinte er nur dumpf und war froh, dass die Tür zu war, damit ihn niemand hören konnte. Cat versenkte ihr Gesicht in einer Handfläche, bevor sie sich die Augen rieb und wieder die Arme verschränkte. »Nein, mich nicht«, sagte sie, klang noch immer so ungewohnt aggressiv. »Sondern Noel Blanchard. Lange rote Haare, blaue Augen? Na? Erinnerst du dich?« Xanxus erinnerte sich, aber Cat ließ ihm keine Zeit zu antworten. Hatte er sowieso nicht vorgehabt. »Sie ist Teil meiner Famiglia. Und weißt du was, wenn du unbedingt irgendwen aus der Foggia vögeln musst, dann kannst du das von mir aus auch tun, deine verfluchte Libido interessiert mich einen Scheißdreck. Aber selbst du solltest dich an gewisse Regeln halten, Xanxus. Zum Beispiel daran, dass man besoffen nicht mehr auf die Jagd geht. Und dass man mit Ende zwanzig gefälligst keine Minderjährigen mehr flachlegt, und schon gar nicht so, dass sie heute nicht einmal aus dem Bett aufstehen können.« Ah. Xanxus rekapitulierte. Das Gesicht, das er zu Quinta im Kopf hatte, gehörte zu einer Noel Irgendwas, die für Cat arbeitete, aber anscheinend noch minderjährig war. Er fand es interessant, dass sie zwar Minderjährige in der Mafia beschäftigte, sie sich aber nicht mit ihm einlassen sollten, aber würde er ihr das jetzt an den Kopf werfen, würde er sich nur noch mehr Standpauken anhören müssen und dafür war er definitiv zu faul. Quinta-Noel-Werauchimmer war also jung und scheinbar auch noch nicht wirklich robust genug für Xanxus‘ … Art. »Ist das wirklich mein Problem?«, fragte er schroff. Es schien fast so, als habe er Cat damit außer Gefecht gesetzt. Sie sah ihn an, sie wirkte fassungslos, sie löste ihre Arme aus der Verschränkung und Xanxus dachte schon, er sei sie los, als es weiterging. »Okay, von mir aus gesteh ich dir ein, dass dich meine Mädchen einen feuchten Kehricht interessieren«, fauchte sie – immerhin durfte sie durch Squalo mittlerweile sehr gut wissen, wie sehr man sich in der Varia um andere Leute scherte. »Die sind also nicht dein Problem, aber du hast ein Problem. Wenn du dich schon nicht um den Rest der Welt kümmerst, solltest du dich vielleicht mal um dich kümmern. Du solltest den Arsch bewegen, Narbenfresse. Alles, was ich in den letzten Tagen hier von dir gesehen habe, ist, dass du dich absolut nicht im Griff hast, und wir wissen alle, woran das liegt. Vor mir steht ein schlechter Verlierer, der die Wahl hat, ob er in zehn bis zwanzig Jahren an Leberzirrhose oder Tripper verreckt.« Hatte sie ihn gerade Narbenfresse genannt? »Du stolzierst hier durch die Weltgeschichte, kippst dich mit Whiskey voll und fickst alles, was dir über den Weg läuft, und das nur, weil sich ein paar Leute in deinem Leben nicht so verhalten haben, wie es dir passt. Du bist ein kleiner, verkümmernder Krüppel, Xanxus, und wärst du nicht so ein Arschloch, könntest du mir leidtun. Irgendwann hast du alles, was du jetzt noch hast – und das ist jetzt schon verdammt wenig – weggesoffen, weggevögelt oder weggeprügelt. Ich sag dir, irgendwann stehst du allein da. Squalo wird dir nicht ewig die Stange halten. Und Tsunayoshi wird sich das nicht ewig ansehen. Wenn du so weitermachst wie jetzt, hast du bald nur noch Nächte wie die letzte. Dann kannst du dich von deiner beschissenen Varia verabschieden.« Xanxus stand nur da und sah sie an, die Worte waren in seinem Kopf angekommen und ergaben wenig Sinn und eigentlich hatte er nur Lust, sie auszulachen, weil Sätze wie »Squalo wird dir nicht ewig die Stange halten« einfach nur dämlich klangen. Konnte sie vergessen. Sie hatte offensichtlich nur jemanden gesucht, bei dem sie sich mal aufregen konnte. Bitte sehr. Cat stemmte die Hände in die Hüften, sah immer noch zu ihm hoch und atmete schließlich schnaubend aus. Hoffentlich bekamen sie und Squalo nie Kinder, dachte Xanxus. »Wenn ich dich noch einmal bei Noel sehe, schieb ich dir deinen beschissenen Schwanz so tief in den Arsch, dass du ihn auskotzen kannst«, sagte sie, drehte sich um und ging. Xanxus sah ihr nach, dachte, dass er sich den Spruch vielleicht merken sollte, dann drehte er sich zurück zum Geländer und lehnte sich wieder an, als sei nichts passiert. Er hatte Lust, nach unten in den Garten zu kotzen. Kapitel 8: Siebter Dezember --------------------------- Der kleine Junge mit den roten Augen würgte, als der alte Mann mit der freien Hand um seinen Hals griff. Er schielte nach oben, wo sich der eiskalte Lauf der Waffe gegen seine Stirn drückte. Die Luft blieb ihm weg, er wollte nicht gehen, doch er wehrte sich nicht. Der Schuss zerfetzte nicht nur die Stille. Er drehte sich auf die Seite, zog die Bettdecke hoch bis zu seinem Hals. Xanxus döste, erinnerte sich diffus und unterbewusst an den vergangenen Tag. Daran, wie er noch gut eine Stunde lang auf dem Balkon gestanden und in den Garten gestarrt hatte. Daran, wie Sawada später im großen Saal ein paar Worte zu Nikolaus verloren hatte – der an der Varia natürlich völlig vorübergegangen war. Daran, wie Luss das erschreckt und wie Bel das erfreut hatte. Und daran, wie er sich danach in sein Zimmer verzogen hatte. Xanxus hatte den gesamten restlichen Tag dort verbracht. Er hatte zwei Gläser Whiskey geleert, mehr hatte er nicht getrunken. Stattdessen hatte er sich auf sein Bett geworfen und den großen Fernseher im Zimmer genutzt, um Leuten dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig anbrüllten. Und die ganze Zeit hatte er sich geärgert, und er wusste immer noch nicht, worüber. Er hörte, wie die Tür ins Schloss fiel. Dass sie geöffnet worden war, er hatte er nicht gehört. Auch nicht das Klopfen. Ja, er hatte es sogar geschafft, die Stimme zu überhören. Bis jetzt. Die Wärme der Decke verschwand von einer Sekunde auf die andere von seinem gesamten Körper und nahm die wohlige Ruhe seins Halbschlafs brutal mit sich. »VOOOOOOOOOOOOI!« Oh, Scheiße. Xanxus gab einen müden Laut von sich, drehte den Kopf dann gänzlich der Matratze zu und versenkte sein Gesicht darin. Er wusste, dass auf seinem Nachttisch noch das leere Glas von gestern stand, und hatte Lust, es zu greifen und nach Squalo zu werfen, aber dafür war er noch nicht wach genug. »Du kannst froh sein, dass ich deine verfickte Uhr nicht an deinem verfickten Kopf zerstöre. Steh auf, Mann. Es ist viertel vor vier. Nachmittags.« Xanxus öffnete die Augen und blinzelte gegen das Bettlaken. Oh, okay, jetzt fühlte er sich gleich viel wacher. … Na ja, ein bisschen zumindest. Er wälzte sich wieder auf den Rücken, lag auf dem großen Bett wie gekreuzigt, ohne seine Decke und nur in Boxershorts, rieb sich die schmerzenden Augen und sah dann blinzelnd in Squalos Richtung. Der stand am Fußende des Bettes, hatte die rechte Hand in die Hüfte gestemmt, und so aggressiv, wie er wirkte, hatte Xanxus fast damit gerechnet, dass ein Schwert aus seinem linken Ärmel schaute. Aber das sparte er sich logischerweise. »Was zur Hölle hast du gestern schon wieder angestellt?« »Gar nichts«, antwortete Xanxus wahrheitsgemäß, er war heiser und seine Lippen brannten. Ich hab mich von deiner Freundin zusammenscheißen lassen, antwortete er nicht. Einen Augenblick lang sah Squalo ihn nur an, dann seufzte er hörbar und drehte sich wortlos zu Xanxus‘ Kleiderschrank, und im nächsten Moment flogen eine Hose und ein Hemd auf ihn zu. Die nächsten Sekunden vergingen wortlos. Xanxus rappelte sich auf und zog sich an, und Squalo besaß die Höflichkeit, dezent aus dem Fenster zu sehen, während er das tat. Erst, als Xanxus sich wieder auf die Bettkante setzte, schielte er zurück zu ihm – bevor er sich bewegte und einfach neben ihn setzte. »Hast du wieder geträumt?«, fragte er. Xanxus verzog das Gesicht. Bastard. Manchmal hasste er Squalo dafür, dass er in ihm lesen konnte wie in einem offenen Buch, seit er… na ja, seit er Bescheid wusste. »Ja.« Squalo ließ ein kurzes Seufzen hören. »Die ganze Woche hast du also gesoffen und gevögelt und warst deshalb müde, und kaum tust du das mal eine Nacht lang nicht, verpennst du.« »Ich hasse dich.« Xanxus wäre am liebsten wieder zur Seite gekippt und eingeschlafen, während er beobachtete, wie Squalo sich neben ihm die Augen rieb. »Voooi – warst du nicht früher mal derjenige, der sich für den Ruf der Varia den Arsch aufgerissen hätte?« Oh, wow. Sah aus, als bekäme er gleich die nächste Standpauke. »Was willst du, Squalo…?« »Ich will, dass du dich zusammenreißt. Hast du mir nicht noch gesagt, ich müsse dich nicht aus irgendwelchen Betten kratzen? Jetzt schau dich an. Muss ich sehr wohl. Du trinkst zu viel und das weißt du. Du hast Schlafstörungen und das weißt du. Warum zur Hölle tust du nichts?« »Das wird nichts ändern an dem, was passiert ist.« »VOOOI! Heilige Scheiße, Xanxus! Du bist fast dreißig! Du kannst mir nicht erzählen, dass du dich bis an dein Lebensende an diesen verfickten acht Jahren festklammern willst. Das ist dreizehn Jahre her. Und Japan war jetzt auch schon vor einem halben Jahrzehnt. Diese Sachen sind keine verdammte Entschuldigung. Und außerdem ändert dein Alkoholkonsum auch nichts…« Xanxus hatte große Lust, seine Waffe zu schnappen und sie so lang gegen Squalos Kopf zu drücken, bis er die Schnauze hielt. Aber er wusste, dass er das nicht tun würde. Er würde ja nicht einmal abdrücken. Er würde Squalo nicht töten und er würde ihn nicht zum Schweigen bringen, weil er in Wahrheit genau dafür da war. Dass er hier saß und mit ihm redete. Weil das sonst keiner tat, und auch, wenn er sich sagte, dass er Squalo hasste für das, was er hier von sich gab, wusste er, dass er ihm dafür kein Haar würde krümmen können. »Im Moment legst du eher alles daran, unseren Ruf in den Dreck zu ziehen«, fuhr Squalo leiser fort. »Hast dir doch gestern von Cat hinreichend anhören können, wie du auf die Leute da draußen wirkst, oder? Sie sehen dich jeden Abend mit einer anderen Tussi verschwinden, und jeden Morgen mit Augenringen bis zum Fußboden wieder aufkreuzen. Und heute haben sie dich bisher überhaupt nicht gesehen, du weißt ganz genau, wie schnell die beschissensten Gerüchte die Runde machen. Du solltest als Boss der Varia hier sein, und stattdessen bist du hier wie… Scheiße, keine Ahnung, Mann. Wären wir noch sechzehn, und die da draußen auch, dann würden sie vielleicht cool finden, was du hier abziehst. Aber je älter du wirst, desto erbärmlicher sieht es aus.« Okay, er konnte ihm doch ein Haar krümmen. Xanxus biss die Zähne zusammen, atmete aus und schlug Squalo dann mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf – nichts Schlimmes an sich, jedoch kräftig genug, dass sein ganzer Oberkörper ein Stück nach vorn flog, bevor er sich wieder fing. »Nenn mich nicht erbärmlich«, sagte Xanxus leise. »Ich bin der letzte, der dich für erbärmlich hält«, erwiderte Squalo genauso leise, nachdem er sein Haar wieder in Ordnung gebracht hatte, und zum ersten Mal, seit er begonnen hatte, zu sprechen, sahen sie sich in die Augen. »Ich sage nur, dass du auf den ganzen Rest so wirken könntest. Weil du Dingen nachhängst, die vorbei sind, die hier kein Schwein mehr interessieren, und dir von diesen Dingen dein eigenes Leben versauen lässt. Du kannst mir nicht erzählen, dass es dir gut geht bei dem ganzen Scheiß, den du treibst, seit wir hier angekommen sind.« Xanxus rümpfte die Nase und schwieg. Nein, es ging ihm nicht gut. Ja, es ging ihm scheiße. Aber Gott, er hatte doch auch allen Grund dazu, es sich scheiße gehen zu lassen. Oder? »Du bist ein erwachsener Mann, Xanxus«, stellte Squalo fest, während er sich langsam erhob. »Und noch dazu mein Vorgesetzter. Du solltest dir nicht von mir sagen lassen, wie du deinen Job zu machen hast. Richtig?« »Richtig«, murmelte Xanxus, obwohl er noch nicht ganz verstanden hatte, was diese Rede sollte. Er begann, zu begreifen, aber er war einfach noch nicht fertig. »Voooi – wenn du dich zum Abendessen auch nicht blicken lässt, schick ich Cat nochmal hier rein, die frisst dir die Haare vom Kopf.« Squalo grinste, Xanxus grinste zurück und warf ihn aus dem Zimmer. Xanxus ließ sich zum Abendessen blicken. Cat fraß ihm nicht die Haare vom Kopf. Xanxus betrank sich nicht und ließ gleich zwei potenzielle Settimas abblitzen. Xanxus ging zurück in sein Zimmer, ließ den Fernseher aus und dachte nach. Xanxus begriff. Und Xanxus war wütend. Kapitel 9: Achter Dezember -------------------------- Der Fernseher war kaputt. Ein zerstörtes Whiskeyglas lag zwischen den Scherben des Bildschirms. Das Bett hatte Schrammen, weil er es umgeworfen und zum Schlafen natürlich wieder aufgestellt hatte. Von einem der beiden Holzstühle war nichts mehr übrig. Der andere lag aus irgendwelchen Gründen im Bad. In der Wand neben seinem Fenster war ein tiefes Loch. Deshalb konnte er seine Finger nach wie vor nicht wirklich bewegen. »Boss! Lass mich das doch heilen!« »Ruhe. Das geht schon.« »Aber sie sind offensichtlich gebrochen!« »Ja, und sie werden offensichtlich wieder zusammenwachsen. Also hau ab.« »Aber Boss –« »Hau. Ab.« Luss hatte aufgegeben. Xanxus war beim Frühstück und beim Mittagessen gewesen. Dazwischen hatte er sich ein bisschen in den Saal gesetzt, wo auch alle anderen Pfeifen herumhingen. Niemand hatte ihn angesprochen, entweder hatte es keiner gewagt, oder keinen interessiert, aber er war da gewesen. Die Knöchel seiner rechten Hand waren blau und etwas aufgerissen, aber natürlich hatte er das Blut beseitigt und er hatte genug Übung darin, seine Hand so zu halten, dass nicht jeder die Prügelmerkmale darauf sehen konnte. Ansonsten war er gefasst gewesen. Keine Augenringe. Kein Alkohol. Und keine Frau, die fast auf seinem Schoß saß oder ihn vollbrabbelte. Heute nicht. Nicht mehr. Scheiße, ja, er hatte verstanden. Squalo hatte Recht. Das war das erste, was ihn aufgeregt hatte. Dass Squalo tatsächlich Recht hatte. Und dann hatte er auch noch begriffen, wie ärmlich und aufgeschmissen er rüberkommen musste, wie direkt er auf eine hoffnungslose Verwahrlosung zusteuerte. Das hatte ihn noch mehr aufgeregt. Er war wütend gewesen, er hatte jemanden töten wollen, aber ihm war eingeleuchtet, dass das genau das war, was ihn auf kurz oder lang so ruinierte. Das impulsive Handeln, die Aggression. Er konnte für seine eigenen Fehler nicht irgendwelche Leute sterben lassen. Zumindest nicht hier. Als Variaboss in ihrem geschlossenen Anwesen, da ging das vielleicht. Auf der Arbeit, mittendrin. Aber nicht hier in Japan, auf einer öffentlichen Veranstaltung, wo er einen wichtigen Teil der Vongola aus Italien vertreten musste. Er musste sich zusammenreißen. Er musste ignorieren, was passiert war, egal, wie schwer es ihm fiel. Und vor allem musste er mit seinem Schwarz-Weiß-Denken aufhören. War ihm gestern Abend aufgefallen, als er den beschissenen Fernseher schon so weit traktiert hatte (irgendwas hatte er immerhin kaputtmachen müssen), dass er keine Farbe mehr hatte senden können. Sein Leben bestand aus Schwarz-Weiß-Tönen. Es gab kein Grau. Es gab Verbündete und es gab Feinde. Früher hatte ihm das nie Probleme gemacht. Vor allem, als er klein gewesen war, als er noch nicht bei der Vongola gelebt hatte, war es wichtig gewesen, unterscheiden zu können. »Grau« war damals lebensgefährlich gewesen. Man hatte sich bei denen gehalten, denen man hatte vertrauen können, und der Rest war eben der Feind gewesen. Jetzt ging das aber nicht mehr. Er konnte Sawada nicht permanent als seinen Feind ansehen. Weil sie in derselben Famiglia arbeiteten, weil sie sogar noch verdammt oft würden zusammenarbeiten müssen. Xanxus bestand zwar darauf, dass die Varia nicht für Sawada arbeitete, weil sie unabhängig waren, aber letzten Endes arbeiteten sie sehr wohl für die Vongola. Und er war der Boss der Vongola. Also kam Xanxus irgendwie nicht an ihm vorbei. Und wenn es nur Feinde und Verbündete gab und nichts dazwischen, dann hatte er definitiv ein Problem. Das war der Grund, weshalb er hier in den letzten Tagen dermaßen die Kontrolle über sich verloren hatte. Der primäre Grund zumindest. Weil er hier bei einem Feind sitzen und sich benehmen musste. Bei einer schwarzen Person in seiner Welt. Xanxus hasste es, so denken zu müssen, aber es wurde Zeit, dass er dem Mist eine Chance gab. Damit Sawada wenigstens Feind und Verbündeter werden konnte. Damit er wenigstens einmal die Gelegenheit bekam, zumindest eine graue Person zu werden. Die erste graue Person, die er dulden würde. Kapitel 10: Neunter Dezember ---------------------------- Tsuna hatte keine Ahnung, was passiert war. Er unterhielt sich viel mit Cat und Takeshi unterhielt sich viel mit Squalo, aber wenn es um Xanxus ging, schwiegen beide eisern. Vielleicht war es ja auch gar nicht wichtig, was nun genau mit ihm los war. Es interessierte Tsuna, sehr sogar, aber wenn er es sich genau überlegte, ging es ihn eigentlich nichts an. Er konnte einfach nur froh darum sein, dass sich etwas getan hatte. Man hatte schon angefangen, zu reden. Dass er jedes Mal mehr trank, wenn man ihn sah. Dass man die jungen Mädchen auf dieser Veranstaltung vor ihm wegschließen sollte. Dass sie schon darauf warteten, wann er »mal wieder« wahllos um sich prügelte. Und dass es manchen schon peinlich sein konnte, dass er sich selbst auf Festen der eigenen Familie benahm wie die Axt im Walde. Tsuna hatte nicht gern gehört, was man sich so erzählt hatte, aber letztendlich konnte er den Leuten auch nicht den Mund verbieten, und verübeln konnte er es auch nicht. Nicht viele wussten, was nun genau mit Xanxus los war. Tsuna hatte natürlich eine starke Ahnung, weil er eben unfreiwillig seine Geschichte kannte. Er konnte sich sehr gut vorstellen, was in ihm passierte, aber ihm war klar, dass Xanxus nicht wollte, dass das irgendwer erfuhr. Deshalb blieben die Leute eben ahnungslos und tuschelten sich die schlimmsten Geschichten ins Ohr. Xanxus persönlich war das wahrscheinlich egal. Aber für die Varia war es nicht gerade gut – und was für die Varia nicht gut war, war auch für die Vongola nicht gut. Aber genau das schien er eingesehen zu haben. Er wirkte gefasster, ruhiger, zivilisierter –besser. Das kam Tsuna unglaublich gelegen. Xanxus war nun seit über einer Woche hier und Tsuna fand, dass es langsam an der Zeit war, mit ihm zu sprechen. Und er hatte eigentlich nicht vorgehabt, mit ihm darüber zu sprechen, dass er sich bitte benehmen sollte. Die letzten Tage hatte es ausgesehen, als sei das nötig, und das wäre sicherlich ein eher unangenehmes Gespräch geworden. Nun glaubte er, dass er das nicht tun musste, und hoffte darauf, dass das, was er tatsächlich mit Xanxus besprechen wollte, keine Tortur wurde. Für keine der beiden Parteien. Tsuna wusste bereits, dass Xanxus und Squalo an den folgenden beiden Tagen nicht da sein würden. Vielleicht war es deshalb gut, wenn er es heute versuchte. Sollte es wirklich zum Gespräch kommen, hatten sie danach beide eine zweitätige Auszeit, um zu verarbeiten, was auch immer dabei herauskam. War sicher gut, wenn sie sich erstmal nicht sahen. Tsuna wollte nichts provozieren. Gerade, weil es bei Xanxus letztendlich immer um Leben und Tod ging. Er leerte sein Sektglas (er vertrug nach wie vor so gut wie keinen Alkohol, aber ein bisschen Sekt am Abend konnte er sich immer mal erlauben), stellte es weg und ließ den Blick schweifen. Gerade eben hatte er noch gesehen, wie Squalo mit Cat im Arm aus dem Saal verschwunden war. Wahrscheinlich würde Xanxus dann auch nicht mehr lang bleiben, der Raum leerte sich sowieso seit dem Abendessen langsam, aber stetig. Also sollte er jetzt gehen. Damit er ihn noch erwischte. Tsuna fand ihn am üblichen Tisch, beobachtete ihn einige Sekunden lang und atmete dann leise durch. Ein bisschen Angst würde er immer vor ihm haben. Der alte Tsuna war natürlich auch noch nicht verschwunden und würde das vermutlich auch nie tun. Er war immer noch ungeschickt, schwer von Begriff und zurückhaltend, aber er hatte eben gelernt, das alles zu unterdrücken, sobald er als Boss handeln musste. Musste er theoretisch auch jetzt. Also los. Ihm war ein bisschen schlecht, aber er glaubte, dass er sich nichts anmerken ließ, während er den Saal durchquerte und schließlich am runden Varia-Tisch stehen blieb, an dem Xanxus nun allein saß und in die Menge sah – bis eben Tsuna auftauchte. Nur langsam hoben sich die roten Augen, und Tsuna nahm sich zusammen, um unter dem eiskalten Blick nicht zu erstarren. Wahrscheinlich hatte Xanxus keine Ahnung, wie schwer das war. Tsuna brachte ein Lächeln zustande (obwohl er wusste, dass Xanxus das nur aufregte) und räusperte sich. »Darf ich mich setzen?«, hörte er sich ruhig fragen. Okay, der Anfang klappte schon mal gut. Xanxus zog die Brauen zusammen, sah ihn einen Moment lang nur an und sagte nichts. Wahrscheinlich dachte er, dass er jetzt eh nicht nein sagen konnte. Das würde ihn wie ein bockiges Kind wirken lassen, das war auch Tsuna bewusst. Er konnte ein leises Seufzen hören, dann senkte Xanxus den Blick und kickte den Stuhl neben ihm ein wenig vom Tisch weg – sodass Tsuna sich setzen konnte. »Danke«, sagte er leise, während er sich mit einem Schmunzeln niederließ und Xanxus betrachtete. Sein Gegenüber sah ihn nur mit dem für ihn typischen Maß an Erwartung an und Tsuna beschloss, dass er einfach anfangen musste. »Ich…« - Und er brach ab. Na toll. Flüchtig gluckste Tsuna über sich selbst, schloss kurz die Augen und riss sich dann zusammen. »Vielleicht hast du dir schon denken können, dass ich dich … nicht ganz ohne Hintergedanken eingeladen habe.« Xanxus zog bloß eine Braue hoch. Er sprach nicht, aber er startete auch keinen Versuch, ihn umzubringen, also traute Tsuna sich, weiterzusprechen. »Ich hatte gehofft, wir könnten die Gelegenheit nutzen, um… Na ja, um zu reden. Ich finde, das ist dringend nötig. Wir müssen uns unterhalten, wie es weitergeht, was wir aus unserer Arbeit machen, und … wie wir es in Zukunft schaffen, hier Seite an Seite zu stehen.« Tsuna bemerkte, dass seine Ohren wärmer waren als sie sollten, und schluckte. Aber immerhin hatte er das Wichtigste gesagt. Jetzt brauchte er nur noch eine Reaktion. »Hast du … dafür gerade Zeit…?« Es dauerte nicht lang. Zwei oder drei Sekunden. Xanxus sah ihn an, Xanxus sah zur Seite, Xanxus rümpfte die Nase, dann sah er ihn wieder an. Und sprach, noch während er sich erhob. »Nicht jetzt.« Und im nächsten Moment saß Tsuna allein mit seinem geschlagenen Lächeln am Tisch. Mit so etwas hatte er gerechnet. Aber schade war es trotzdem. Kapitel 11: Zehnter Dezember ---------------------------- Dunkel und still wartete die Welt vor seinem Fenster auf ihn. Er lag auf der Seite und starrte ins Schwarz, in dem er nicht viel mehr erkennen konnte als das matte Glänzen seines Balkongeländers. Xanxus war mal wieder zu früh aufgewacht, aber diesmal war es nicht so dramatisch. Heute mussten er und Squalo sowieso früh raus, damit sie noch rechtzeitig in Amerika waren, um diesem Idioten den Arsch aufzureißen. Seine roten Augen hafteten unbewegt an der Scheibe, er hatte die Brauen zusammengezogen, als versuche er, die Außenwelt mit seinem Blick zu erdolchen. Xanxus wollte, dass die Erde stehen blieb. Dass sich nichts mehr drehte, nichts mehr bewegte, damit er Zeit hatte, nachzudenken. Er war frustriert. Von sich selbst. Das kam selten vor – meistens schob er den Stress auf andere und wusste nur irgendwo im Hinterkopf, dass er sich die Scheiße selbst eingebrockt hatte. Diesmal war ihm alles klar. Diesmal hatte er den Mist an den Hacken. Diesmal war er für alles verantwortlich, das hatte er begriffen und er hatte sich geschworen, sich daran zu halten. Das war anstrengend und nervtötend, aber was musste, das musste. Es irritierte ihn, dass plötzlich scheinbar jeder mit ihm reden wollte, der auch nur halbwegs über ihn Bescheid wusste. Erst Cat, dann Squalo, jetzt auch noch Sawada. Fehlten nur noch der Rest der Varia und am besten auch noch die anderen Vongola-Kackbratzen. Alle wollten ihm erzählen, dass die Cradle-Affair und die Ringkonflikte vorbei waren und er sich zusammenreißen musste, und das ging Xanxus tierisch auf den Geist. Außerdem hatte er es ja jetzt begriffen. Er brauchte keinen Sawada mehr, der ihm erzählte, dass sie miteinander leben können mussten und er deshalb doch bitte bitte bitte aufhören sollte, so ein böser Mensch zu sein. Das wusste Xanxus und er würde dafür sorgen, dass er die Bedingungen für eine Zusammenarbeit wenigstens halbwegs erfüllte. Aber noch war das eben nicht geschafft. Und deshalb konnte er nicht mit Tsuna reden. Nicht jetzt. Die ersten Sonnenstrahlen schoben sich träge über den Garten der Vongola-Residenz, ließen die gefrorenen Grashalme glitzern und die letzten Vögel erbärmlich krächzen, als Xanxus und Squalo sich vor der großen Haustür trafen. »Voi! Hast du geschlafen?«, fragte Squalo. Xanxus dachte nicht zum ersten Mal, dass er ihn viel zu gut kannte. »Ja«, sagte er. »Wird reichen. Du auch?« »Klar. Polieren wir dem Kerl die Fresse?« »Aber sowas von.« Xanxus fragte sich, was Squalo getan hätte, hätte er gesagt, er habe nicht geschlafen. Direkt darauf beschloss er, dass er das eigentlich lieber nicht wissen wollte, und dann verbrachten die beiden erst einmal einige Zeit damit, sich ausgelassen über ihren amerikanischen Geschäftspartner aufzuregen. Der Fahrer hatte sie aus der Stadt gebracht und ihr kleines (aber dennoch unnötig luxuriöses) Privatflugzeug hatte seinen höchsten Punkt erreicht, als ihnen schließlich keine unterhaltsamen Beleidigungen mehr einfielen. Xanxus hatte den Kopf auf eine Hand gestützt und sah aus dem Fenster, und auf seinen Lippen zeigte sich tatsächlich ein Schmunzeln. Das war natürlich nichts im Vergleich zu Squalos amüsiertem Grinsen, aber es war ein Anfang. »Hat Cat dich eigentlich schlimm zusammengeschissen?«, fragte Squalo irgendwann. Xanxus wandte seinen Blick ihm zu und stellte fest, dass er noch aus dem Fenster sah. Wahrscheinlich war er sich nicht sicher, ob es klug gewesen war, diese Frage zu stellen. Xanxus zuckte die Achseln. »Kann Cat irgendjemanden nicht schlimm zusammenscheißen?« Die Dame konnte nicht besonders gut kämpfen, das wusste Xanxus, war deshalb wohl zu einem wandelnden Schimpfwörterbuch geworden und hatte es sich zum liebsten Hobby gemacht, alles und jeden verbal in Grund und Boden zu stampfen. Das war schon okay. Xanxus interessierte sich nicht groß für Worte. Es hatte ihm zu denken gegeben, das gab er zu, aber das war in Ordnung. Die glückliche kleine Ratte hatte den Squalos-Freundin-Bonus. Squalo sah ihn nur an, grinste kurz und sah dann wieder aus dem Fenster. »Und ich?« Xanxus schnaubte. »Du hast mich noch nie irgendwie zusammengeschissen«, log er. »Natürlich nicht«, log Squalo. Als sie in Amerika landeten, hatte keiner der beiden eine wirkliche Ahnung, wie viel Uhr Ortszeit sie nun eigentlich hatten. Aber Xanxus nutzte die nächste Gelegenheit, um Squalo erst einmal ein Frühstück auszugeben. Squalo blickte ihn mit großen Augen an, was so lustig aussah, dass Xanxus ihn fast ausgelacht hätte. Die Tage, an denen Xanxus Squalo auf irgendetwas eingeladen hatte, konnte man an einer Hand abzählen. Und die meisten davon lagen über zehn Jahre zurück. Sie aßen, sie schwiegen, und Squalo wusste, dass sein Freund sich gerade bei ihm bedankt hatte. Kapitel 12: Elfter Dezember --------------------------- »Du und Xanxus, huh?« Tsuna sah sie verständnislos an, als Cat sich neben ihm an die Wand lehnte und ihn wissend angrinste. »Heey – Was soll das denn heißen?« Nun war es Cat, die verständnislos den Blick hob. »Wow, ich hab nur drei Worte gesagt – und das, ohne einen wirklichen Satz zu bilden. Reg dich ab, Smokin‘ Bomb, okay?« Hayato grummelte etwas, was Cat nicht verstand. War ja auch egal. Sie nickte in die Menge, gluckste und schob die Hände in die Taschen. »Geh dich lieber um deine Freundin kümmern und lass die Bosse mal unter vier Augen reden.« Er sah aus, als wolle er ihr an die Kehle springen, doch als Tsuna ihm einen entschuldigenden Blick zuwarf, schnaubte er nur und wandte sich ab. Schließlich gesellte er sich tatsächlich zu Haru und Cat und Tsuna waren unter sich. »Was ist mit Xanxus und mir?«, fragte er vorsichtig. »Du versuchst, ihn mit ins Boot zu ziehen, richtig?« Einen Moment lang sah Tsuna sie nur überrascht an, dann schmunzelte er. »So offensichtlich?« Cat zuckte die Achseln. »Weibliche Intuition«, behauptete sie. »Ich wünsch dir viel Glück, Tsuna.« »Danke«, seufzte er. »Ich weiß noch nicht genau, wie ich das anstellen soll. Vorgestern hab ich versucht, ihn anzusprechen, aber das war auch alles andere als erfolgreich.« »Ach…«, machte Cat und gluckste. »Weißt du, als Xanxus eingefroren wurde, war er gerade sechzehn. Das bedeutet, ihm fehlen einige Jahre seiner Pubertät. Die muss er jetzt nachholen. Deshalb bockt er, und deshalb muss man ihm einfach Zeit geben, bis er auch mal einsieht, was besser für ihn ist.« Tsuna blickte sie an, dann den Boden, dann musste er lachen. »Ich lass ihn mal nicht wissen, dass du sowas über ihn sagst.« »Danke.« »Also, du meinst, wenn ich noch etwas abwarte, geht es irgendwann?« »Glaub mir, ich kenn mich mit Varia-Fritzen aus«, sagte Cat und winkte ab. »Wenn’s um sowas geht, sind die alle gleich. Im ersten Moment werden sie nie zugeben können, dass ein anderer Recht hat. Ist sicher ganz gut, dass er noch fast den ganzen Dezember hier ist. Irgendwann die Tage wird er schon draus lernen…« »Mh«, machte Tsuna skeptisch und kratzte sich im Nacken. »Und dann? Ich meine, ich kann mir kaum vorstellen, dass wir jemals zivilisierte Gespräche führen werden. Ich würde gerne, aber… Er…« »Wenn es wirklich sein muss, kann er das bestimmt auch«, sagte Cat vage. »Irgendwie… Na ja«, sie zuckte mit den Schultern, und mit einem Mal war sie ein ganzes Stück ernster als vorher, »wenn er sich irgendwann drauf einlässt, wird er sicher versuchen, an die Oberhand zu kommen. Da musst du höllisch aufpassen, Tsuna. Lass ihn sich nicht benehmen, als sei er der Boss.« Einen Augenblick lang schwieg er, dann sah er sie stirnrunzelnd von der Seite an. »Wie gut kennst du ihn?«, fragte er leise. Cat rümpfte die Nase. »Nicht gut genug«, antwortete sie. »Aber ich kenne Squalo. Und es gibt einen Haufen Dinge, in denen sich die beiden grundlegend unterscheiden. Aber wenn es darum geht, irgendjemandem, den sie als schwächer betrachten, ihre Macht zu beweisen, dann werden sie immer gleich sein. Kriegerstolz, weißt du?« Tsuna gluckste leise. »Verstehe… Und wahrscheinlich kann ich tun, was ich will, ich werde für ihn immer der Schwächling bleiben, hm?« »Das wird er zumindest behaupten«, sagte Cat mit einem schmalen Lächeln, auf das Tsuna nur fragend die Brauen hochziehen konnte. »Und gerade deshalb hab ich gemeint, dass du aufpassen musst. Er wird versuchen, dich in irgendwelche Machtkämpfe zu ziehen. Irgendwas, irgendwelche Spielchen, mit denen er dir zeigen kann, dass er der Bessere ist. Auf die darfst du dich nicht einlassen. Diese Kerle spielen link. Selbst, wenn du in Wahrheit stärker bist, wird er irgendeinen Weg finden, dir das Gegenteil zu zeigen. Sobald du merkst, dass er mit sowas anfängt, musst du abblocken. Geh darauf bloß nicht ein.« Sie sah ihm eindringlich ins Gesicht und er sah mit seinen Rehaugen zurück, sodass Cat für einen Moment dachte, sie habe ihm Angst gemacht. Dann schmunzelte er verstehend. »Squalo-Erfahrung?« Cat lachte. »Ja, so ziemlich. Ich hab bei seinen blöden Machtspielchen am Anfang mitgespielt. Und jetzt? Jetzt kann ich nicht einmal mehr entscheiden, ob ich die Hälfte der Nacht auf dem Bett, an der Wand, oder auf dem Schreibtisch verbringe.« Daraufhin liefen Tsunas Wangen rot an und Cat klopfte ihm glucksend auf die Schulter. »Wie auch immer, ich wollte dir nur sagen, dass du vorsichtig sein sollst, wenn du ihn auf deine Seite ziehst. Aber gib bloß nicht auf, klar?« »Klar«, sagte Tsuna und schenkte ihr sein bestes verlegenes Lächeln. »Und viel…« »JUUDAIME!« »…Erfolg.« »Sie ist furchtbar! Sie versucht die ganze Zeit, mir so eine verfluchte, hässliche Weihnachtsmütze anzudrehen!« »Die hat sie selbst gestrickt…«, bemerkte Tsuna, als Hayato wutschnaubend wieder bei ihnen ankam, und setzte ihn damit erst einmal außer Gefecht. »Was…?« »Was für eine harmonische Beziehung«, sagte Cat sarkastisch und zwinkerte ihnen zu. »Ich geh dann mal wieder sicherstellen, dass meine Mädchen euer Anwesen intakt lassen. Mach’s gut, Tsuna.« »E-Eh… M-Mach’s gut! Und… Und danke.« Cat ging und machte eine wegwerfende Handbewegung. Sie hatte schon so eine Ahnung, dass Tsuna sich sowieso nicht daran halten würde… Kapitel 13: Zwölfter Dezember ----------------------------- »Black Jack. Ich gewinne.« Kiki verdrehte die Augen und schob ihre überaus schlechten Karten so weit wie möglich von sich weg. »Weißt du, das wird langsam langweilig. Mit dir will niemand spielen, Blackie. Ich will was anderes.« Black Jack gluckste, warf einen Blick in die Runde, und als auch Cat und Al ihre Karten ihr zuschoben, sammelte sie sie ein und steckte sie wieder weg. »Na gut. Ihr seid bloß alle schlechte Verliererinnen.« »Falsch«, sagte Al und lehnte sich zurück. »Du bist einfach nur eine verdammte Schummlerin.«´ »Ich bin Illusionistin«, sagte Blackie schlicht. »Und ich heiße Black Jack. Demnach kann ich in diesem Spiel treiben, was ich will, richtig?« »Bestechende Logik«, meinte Cat trocken. »Und was tun wir, wenn wir kein Black Jack mehr spielen? Seit ich euch kenne, hab ich alle anderen Glücksspiele irgendwie verlernt…« »Zur Not veranstalten wir Wetten«, sagte Al. »Boxtier-Rennen oder so.« »Ich weiß was Besseres!« Kiki kramte in ihrer Hosentasche und knallte einen Zehn-Euro-Schein auf den Tisch. »Zehn Mäuse darauf, dass Sawada und Xanxus spätestens an Weihnachten eine illustre Bettbeziehung führen!« »Was?«, machten Al und Cat gleichzeitig – Black Jack lachte nur. »Scheiße, ich bin dabei!«, sagte sie und legte einen Zwanziger drauf. »Gesetzt dem Fall, dass wir unter einer Bettbeziehung auch verstehen können, dass… Na ja. Dass Xanxus ihn einfach hin und wieder mal vergewaltigt und Sawada nicht so viel dagegen hat, wie er eigentlich sollte. Zählt das?« »Natürlich zählt das«, sagte Kiki grinsend. »So gehört sich das ja wohl für anständiges Yaoi.« »What the motherfucking hell…«, begann Alaine, zog dann selbst einen Zwanziger aus ihrer Hosentasche und warf ihn auf den Tisch. »Ich halte dagegen. Ihr seid doch krank.« »Boss…?« Ihre Mädchen sahen Cat erwartungsvoll an, die schief auf ihrem Stuhl saß und nachdenklich den Geldstapel auf dem Tisch betrachtete. »Wow, schwere Entscheidung…«, sagte sie langsam. Al sah sie an, als sei sie einem Irrenhaus entlaufen. »Was ist daran eine schwere Entscheidung? Der Kerl wollte Tsuna umbringen. Wie sollen die –« »Hast du nicht auch mal versucht, mich umzubringen?«, fragte Cat nur und sah sie mit hochgezogenen Brauen an. »Äh, na ja, schon…« »Aber ihr habt doch nicht miteinander geschlafen«, sagte Black Jack. Als Cat und Alaine nicht antworteten, trat eine sekundenlange Stille ein, die von Kikis sich langsam weit öffnendem Mund gekrönt wurde. »Habt ihr…?« Cat gluckste. »Das ein oder andere Mal, ja…« »Ihr habt… Wieso weiß ich nicht…? Was… Was?« Cat glaubte nicht, dass sie jemals zuvor einen derart bösen Blick von ihrer Regenwächterin gesehen hatte. »Prima, Cat, jetzt hast du sie eifersüchtig gemacht«, seufzte Alaine. »Und ich dachte, Al sei asexuell!«, sagte Kiki laut. »Ich war mir so sicher! Hätte ich das gewusst…!« »Kiki, es gibt absolut überhaupt keine Möglichkeit, dass du und ich jemals im Bett landen werden«, sagte Al trocken. »Ach, aber du und Cat! Die hat genauso wenig Brust wie ich!« »Das ist nicht wahr«, protestierte Cat und verschränkte gespielt beleidigt die Arme. »Ich hab definitiv ein bisschen mehr als du Japse!« Empört holte Kiki Luft und blähte die Wangen auf, aber ihr schien nichts mehr einzufallen. Black Jack betrachtete ihre Kolleginnen mit hochgezogenen Brauen, sah schließlich fragend Cat an. »Weiß Squalo das?« Cat gluckste. »Spinnst du? Wenn der das wüsste, müssten Al und ich bestimmt dauernd irgendeine Nummer für ihn abziehen. Da schenk ich ihm lieber nen Porno oder so.« »Bitte keine Einzelheiten«, sagte Al hörbar angewidert. Ihr Unmut über Cats Beziehung mit dem Varia-Kommandanten war allen in der Foggia mehr als bekannt. »Beteiligst du dich nun an der Wette oder nicht…?« Wieder betrachtete Cat den Geldstapel, dann seufzte sie und kramte fünfzehn Euro aus ihrem Geldbeutel. »Yaoi-Klischee hin oder her«, sagte sie. »Ich bin auf Als Seite. Xanxus will doch nie und nimmer Tsunas Arsch.« Kapitel 14: Frösche! [X27-freier Sonntag - Adventsbonus] -------------------------------------------------------- Warnung: Fluff, Crack, Naito Longchamp. Nehmt diese Warnungen bitte ernst. Anmerkung: Weil es das beste Pairing der Welt ist und mir da sogar zustimmt! --- Jeden Tag ein bisschen mehr. Es hatte schon am dritten Dezember angefangen. Seitdem wurde es immer schlimmer, immer größer, immer unglaublicher. Dritter Zwölfter Es war kalt. Bel stand allein auf der Terrasse und es war kalt. Er trug nur das übliche schwarze Hemd mit dem eher dünnen Pullover darüber, der Wind pfiff ihm um die Ohren, sodass sie von außen bis tief hinein in seinen Kopf zu schmerzen schienen, seine Zehen waren taub und seine Finger fühlten sich an wie Eiszapfen, und es war kalt. Er konnte sich nicht wegbewegen. Er war wie festgefroren. Er starrte den großen Garten an und sah seinen Schatten vor sich flackern, weil in seinem Rücken warme Lichter vom Saal waren, er hörte instrumentale Weihnachtsmusik und lachende Leute, und er war allein. Weihnachten war ätzend. Am liebsten hätte er Xanxus gesagt, dass er ihn am Arsch lecken konnte und der Prinz in Italien blieb, dort, wo er hingehörte, aber er wusste sehr gut, dass das Selbstmord gewesen wäre. Wenn der Boss sagte, sie flogen alle nach Japan, um Weihnachten mit den Idioten hier zu feiern, dann flogen sie auch alle nach Japan, um Weihnachten mit den Idioten hier zu feiern. Es war wie früher. Belphegor war an einem Ort, an dem er nicht sein wollte, das Anwesen war riesig, der Garten auch, alle hatten Spaß und er stand hier und schob schlechte Laune. Es fehlte nur noch, dass sein Bruder angetanzt kam und sich über ihn lustig machte. So war es früher immer gewesen, als er noch klein gewesen war. Die Weihnachtsfeste hatten ein ähnliches Ausmaß gehabt wie das hier, und Bel hatte immer versucht, sich zu verkriechen. Alle möglichen Leute waren da gewesen, Belphegor hatte sie alle affig gefunden, und er hatte es auf die Dauer nicht ausgehalten, wie sie alle Rasiel, den vielversprechenden Thronfolger, angepriesen hatten. Also hatte er sich verzogen, irgendwohin, wo er Ruhe gehabt hatte. Aber die hatte nie lang gehalten, weil Siel immer irgendwann einfach aufgeploppt war, und dann war der ganze Ärger von vorn losgegangen. An ihrem Geburtstag, zwei Tage vor Weihnachten, war es immer am schlimmsten gewesen. Und spätestens an Heiligabend hatte Bel dann irgendetwas angestellt, was alle geärgert und ihn amüsiert hatte, und dafür bis zum Ende des Jahres Zimmerarrest aufgedrückt bekommen. Eigentlich waren ihm diese Geschichten mittlerweile egal, immerhin waren sie alle tot und immerhin war er in einer Organisation voller Auftragskiller, die alle einen Scheiß auf Weihnachten gaben (abgesehen von Lussuria vielleicht), deshalb waren diese Tage eigentlich jedes Jahr mehr als nur erträglich. Sie waren meistens sogar verdammt angenehm, weil er sich in einer Gesellschaft befand, die mit ihm Weihnachten verabscheute und beleidigte und sich aufregte. Aber nein, dieses Jahr mussten sie ja wegfahren, und das ausgerechnet an einen Ort, der ihn viel zu sehr an sein altes Elternhaus erinnerte. Lang atmete Bel aus, die Luft stieg als kleine Wölkchen auf in den dunklen Himmel, und rieb sich unter seinem Pony die Augen. War doch alles scheiße. Er wollte nicht daran denken. Vielleicht sollte er es ja so machen wie Xanxus und sich einfach betrinken. Und als er sich umdrehte, stand er da. Auf der anderen Seite der Terrassentür, innen, und sah hinaus zu ihm. Belphegor runzelte die Stirn, musterte ihn skeptisch und erinnerte sich schließlich, woher er ihn kannte. Bel lehnte rücklings am Terrassengeländer, dachte an Weihnachten und hatte schlechte Laune, und dann fing es an. Dann hob Naito Longchamp eine Hand, zeigte ihm das Victory-Zeichen und grinste ihn breit an. Und jetzt waren sie hier und es war seltsam, und Bel hätte nie gedacht, dass das passierte. Dass das passieren konnte. Dass das ihm passieren konnte. Es war auch nicht gerade logisch und er hatte das Gefühl, dass es seinen genialen Verstand überstieg. Weil es irgendwie alles andere als genial war. Es passte zu Longchamp. Aber nicht zu ihm. Belphegor glaubte, dass es ihm seltsam gut tat, einmal etwas zu tun, was nicht zu ihm passte. Vierter Zwölfter »HEY, HEEEY!« Im ersten Moment glaubte er, Squalo sei gerade auf die Terrasse getreten, auf der er, genau wie gestern, stand. Aber dann stellte er fest, dass die Stimme viel zu begeistert für den Kommandanten klang. Stirnrunzelnd sah er zur Seite. »Prince the Ripper, stimmt’s?« Bel zog eine Braue hoch. »Ja. Stimmt.« »COOL!« Belphegor hatte keine Ahnung, was daran so cool war. Die meisten reagierten entweder mit Spott, Furcht oder Respekt. Die letzten beiden waren ihm natürlich am liebsten, aber … das hier war ihm noch nie passiert. »Ich hab gehört, du bist der Typ, der immer überall grinst!« Oh. Ja. Davon hörten wohl viele. Prince the Ripper, der grinsende Psychopath, der austickte, wenn er sein Blut sah. Wussten mittlerweile die meisten, und eigentlich gefiel das Bel. Im Moment nur war ihm das Thema nicht ganz lieb. »Ja… Hör ich öfter«, antwortete er nur platt. »So siehst du gar nicht aus.« Belphegor seufzte. »Naito Longchamp, ja…?« »OH MEIN GOTT! JA, GENAU DER BIN ICH!« »Okay. Und was willst du von mir?« Einen Moment lang sah er ihn mit einem derartig unschuldigen Blick an, dass Bel seine schlechte Laune fast leid tat. »Ich weiß nicht! Ich hab dich nur gestern gesehen und du sahst so traurig aus und ich dachte, HEY, das kann doch nicht sein! Und na ja, wenn du sonst immer grinst, dann solltest du jetzt auch grinsen, und deshalb dachte ich, vielleicht frag dich einfach mal, wieso du nicht grinst und so. WIESO GRINST DU NICHT?« Vielleicht war hier ja irgendwo eine versteckte Kamera. Oder der Kerl war eine Illusion. Vielleicht wollte Mammon ihn wieder mal verarschen. Vielleicht drehte er auch endgültig durch und hatte eine Wahnvorstellung. Auf jeden Fall war das hier irgendwie nicht normal. Er war alles andere als darauf vorbereitet gewesen und deshalb wusste Bel nicht so recht, was er tun sollte. Und weil das spontan am leichtesten war, war er einfach ehrlich. »Ich hasse Weihnachten«, sagte er. Naito holte keuchend Luft. Er wirkte zu Tode erschrocken. »ABER WIESO?« »Weil ich es eben hasse. Und jetzt verzieh dich.« Am nächsten Tag hatte Bel nicht auf die Terrasse gehen wollen, weil er gedacht hatte, dass Naito dann bestimmt auch wieder aufkreuzen würde und er darauf keine Lust hatte. Der Abend war noch beschissener gewesen als die anderen und er hatte ein paar unschuldige Menschen töten müssen, um schlafen zu können. Also war er am Abend des sechsten Dezembers doch wieder auf die Terrasse gegangen. Naito war tatsächlich irgendwann aufgetaucht und hatte ihn gefragt, ob er Nikolaus auch hasste. Belphegor hatte Ja gesagt und Naito war schockiert wieder gegangen. Am Abend des siebten Dezembers hatte er ihn ein weiteres Mal gefragt, wie er so schöne Feste hassen konnte und Bel hatte ein weiteres Mal gesagt, dass das eben einfach so war. Am Abend des achten Dezembers hatte Naito nur da gestanden und ihn schweigend angesehen, als sei er ein gigantisches Rätsel. Und Bel hatte irgendwann gesagt, dass sein Bruder ihm sowas immer versaut hatte. Naito hatte gesagt, das sei ja fürchterlich. Am Abend des neunten Dezembers hatte Naito ihm eine große Tafel Schokolade in die Hand gedrückt und gesagt, er solle ihm erzählen, was sein Bruder getan hatte. Belphegor hatte ihn nur angesehen, gedacht, dass es wirklich noch gestörtere Leute gab als ihn, und war gegangen. Am Abend des zehnten Dezembers hatte Bel ein Viertel der Schokoladentafel abgebrochen und Naito wieder zurückgegeben. Den Rest hatte er gegessen und sich fast anderthalb Stunden Zeit genommen, um Naito alles aufzuzählen, was ihm Nikolaus, seinen Geburtstag, Weihnachten und Neujahr immer wieder unerträglich gemacht hatte. Naito hatte die Schokolade gegessen und geschwiegen. Wahrscheinlich hatte er etwas sagen wollen – aber Belphegor hatte in diesem Moment realisiert, dass er ihm viel zu viel über sich erzählt hatte und hatte die Terrasse deshalb ohne ein weiteres Wort verlassen. Elfter Zwölfter Er war schon wieder hier. Er hatte sich fest vorgenommen, diese Terrasse nicht mehr zu betreten, sich diesem schrägen Kerl um keinen Preis mehr zu zeigen, und doch war er schon wieder hier. Belphegor gab es nur ungern zu. Aber er kannte sich selbst – er wusste ganz genau, dass er auf ihn wartete. Dass er hier auf der Terrasse der Vongola-Residenz stand und auf Naito Longchamp wartete. Und es dauerte nicht lang. »WUHUUU! Du bist wieder da!« Bel presste die Zähne aufeinander und sah geradeaus und fragte sich, wieso er sich das antat. Er sagte nichts, wartete, bis er den knallroten, wirren Haarschopf in seinen Augenwinkeln sehen konnte. »Du warst gestern so schnell weg!«, sagte Naito und klang immer noch verwundert. Belphegor hatte keine Ahnung, wie dieser Mensch es fertigbrachte, Mafiaboss zu sein. »Ich konnte dir gar nicht mehr antworten!« Hatte er befürchtet. Dass er herkam und Naito doch nochmal über diesen Mist mit seiner Familie reden wollte. Belphegor wollte nicht hören, dass sie ihn bestimmt doch alle geliebt hatten. Belphegor wollte nicht hören, dass das jetzt ja vorbei war und er ein erfolgreiches Leben hatte. Was auch immer Naito zu sagen hatte, er wollte es nicht hören. Seufzend richtete er sich auf und drehte sich ihm zu. »Was hättest du denn geantwortet?«, fragte er tonlos. Doch Naito hatte nichts zu sagen. Es gab nichts, wofür Bel ihn hassen konnte, nichts, was er nicht hören wollte. Er schenkte ihm ein breites Grinsen, dann ging er einen Schritt auf ihn zu – und dann schloss er Belphegor in seine Arme. Sein erster Reflex war, ihn wegzudrücken, von sich zu treten und zu durchlöchern, bis er nur noch ein Haufen Hautfetzen war, bis er ausgeblutet war und kalt, einfach nur, weil er ihn angefasst hatte. Aber er rührte sich nicht. Er stand nur da und ließ sich umarmen, glotzte über Naitos Schulter wie ein Fisch auf dem Trockenen, bevor die Verspannung seines gesamten Oberkörpers langsam nachgab und er vorsichtig die Augen schloss. Belphegor hatte sich noch nie so zu Hause gefühlt. Heute war Belphegor nicht auf der Terrasse geblieben, er war über das Geländer geklettert und in den leeren Garten spaziert und hatte sich dann irgendwann einfach rücklings ins Gras gelegt. Und natürlich hatte es keine zehn Minuten gedauert, bis Naito auch aufgekreuzt war. Er hatte ein herzhaftes »YAHOOOOO!« zur Begrüßung in die Nacht geworfen, sich gefreut, dass Bel so »naturnah« war - ernsthaft, was für ein Blödsinn - und dann hatte er sich neben ihn gelegt. »Bist du noch traurig?«, fragte Naito, in einem Tonfall, als ginge es um Leben und Tod – und so laut, dass Belphegor sich automatisch fragen musste, ob er und Squalo sich hassen oder lieben würden, weil sie so ähnlich kommunizierten. Bel sah ihn von der Seite an, dann gluckste er. »Geht schon«, sagte er. »Hmm«, machte Naito und es war hörbar, dass er ihm nicht glaubte. Stirnrunzelnd blickte er ihn an. »Weißt du, was dir bestimmt helfen würde? Du solltest etwas sammeln! Sammeln heitert einen immer auf, egal, was du sammelst! Ich sammel zum Beispiel leere Soja-Soßen-Packungen, und diese kleinen Plastikdinger am Ende von Schnürsenkeln, die keinen Namen haben, und ich sammel komische Kopfbedeckungen, also, wenn du deine Krone irgendwann nicht mehr brauchst…« Belphegor trat ihm gegens Schienbein, nur halb so fest, wie er eigentlich gedacht hatte. »Meine Krone bleibt bei mir.« »Weil du ein Prinz bist!« »Weil ich ein Prinz bin.« »YAAAY! Ich kenne einen Prinzen!« Belphegor lag da und sah ihn an, während Naito sich freute, einfach nur freute. Er glaubte, dass er ihn mochte. Irgendwie. Jeden Tag ein bisschen mehr. Immer schlimmer. Immer größer. Immer unglaublicher. Scheiße, wieso? Er war naiv, unglaublich naiv. Er war das Gegenteil von Bel, er dachte überhaupt nicht nach, nie, er traute prinzipiell jedem und es ging ihm einfach nur darum, jeden glücklich zu machen. Er war ein Idiot. Und Belphegor hatte keine Ahnung, wie das passiert war. Aber er mochte ihn wirklich viel zu sehr. »Weißt du, was du noch sammeln könntest?« »Was denn?« »Frösche!« »Mh?« »Frösche! Weil du ein Prinz bist!« »Und was soll ich dann damit?« »Ist doch egal, darum geht’s beim Sammeln nicht. Hauptsache haben! Aber wenn du willst, könntest du sie ja küssen. Vielleicht werden sie dann auch zu Prinzen, dann hast du noch mehr von dir.« »Brauch ich nicht. Hatte schon mal ne Kopie von mir. Hat mir nicht gefallen.« Naito lachte lauthals über Bels trockene Bemerkung bezüglich des Mordes an seinem eigenen Bruder. Belphegor dachte, dass er ihn mindestens noch tausend Mal lachen hören wollte. Belphegor dachte, dass er irre sein musste, noch mehr als vorher. »Ich fände noch ein paar mehr von dir cool«, sagte Naito inbrünstig. »Weißt du was, Bel?« Er mochte es, wie er seinen Namen sagte. »Hm?« »ICH FIND DICH KLASSE!« Bel legte den Kopf auf die Seite und betrachtete Naitos kindliches Grinsen. Sein Bauch fühlte sich seltsam an. Er hatte Lust, zu lachen, einfach so, weil er hier war und Naito auch, und weil Naito ihn klasse fand. »Wie klasse?«, fragte er leise, ohne wirklich zu wissen, was für eine Antwort er hören wollte. Naito sah ihn mit großen Augen an, schien einen Moment zu überlegen, und warf dann die Arme in die Luft. »Unheimlich klasse! ICH LIEBE DICH!« Und das war der Moment, an dem Belphegor einfach freiwillig aufhörte, zu denken. Er drehte sich auf die Seite und grinste, so breit, wie er seit dem ersten Advent nicht mehr gegrinst hatte, und sagte: »Ich glaube, der Prinz liebt dich auch.« Kapitel 15: Dreizehnter Dezember -------------------------------- Ihr amerikanischer Freund war noch mit einem blauen Auge davongekommen. Squalo hatte ihn ordentlich bedroht und Xanxus hatte betont, wie er von Glück sagen konnte, dass sie so gnädige Menschen waren. In Wahrheit hatten sie nur festgestellt, dass sie den Deal mit ihm ganz gut gebrauchen konnten und er deshalb vielleicht doch überleben sollte, aber das musste der ja nicht wissen. Nun waren sie zurück in Japan und Xanxus hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Er hatte sich überlegen können, was Cat und Squalo ihm genau hatten mitteilen wollen, er hatte sich überlegen können, wozu er möglicherweise fähig war, und er hatte sich überlegen können, was die Vongola in Zukunft erreichen sollte. Es war später Abend, die letzte Mahlzeit war vorbei und der meiste Abschaum hatte sich auf das restliche Anwesen verteilt. Gokudera hatte schon den ganzen Tag Sawadas Schatten gespielt, hing nun aber endlich wieder bei dieser nervigen Schnepfe herum, und somit hatte Xanxus freie Bahn. Er war sich relativ sicher, dass Tsuna nicht bemerkt hatte, wie er sich durch den Saal bewegt hatte – und wurde durch seinen überaus überraschten Blick bestätigt, als Xanxus ein halbvolles Glas Rotwein vor ihm abstellte. Auch das andere stellte er auf den Tisch, ließ sich dann auf den Stuhl neben ihm fallen, streckte die Beine aus und sah ihn an. »Reden wir.« Tsuna brauchte einen Moment. »W-… Wirklich?« »Verspiel nicht die eine Chance, die ich dir gebe, Sawada…« »O-Okay!« Er warf dem Weinglas einen kurzen, irritierten Blick zu, dann richtete er sich etwas auf und räusperte sich. »Also… I-Ich dachte mir, wir sollten uns über unsere Zusammenarbeit unterhalten.« Xanxus nickte. »Das denken in letzter Zeit viele«, kommentierte er nur. Zu seinem eigenen Glück ließ sich Tsuna davon nicht irritieren, sondern schien langsam seinen Faden wiederzufinden. »Eigentlich gab es in letzter Zeit überhaupt keine. Also, Zusammenarbeit, meine ich. Das hat zwar bisher gut geklappt, aber wenn es irgendwann mal drauf ankommt, will ich mich nicht darauf verlassen müssen, dass es sich von allein regelt. Deshalb müssen wir irgendwie … auf einen Nenner kommen.« »Du willst die Unterstützung der Varia sicherhaben«, stellte Xanxus fest. Tsuna verzog das Gesicht. »Auch. Aber vor allem will ich einfach nur sicher sein, dass wir irgendwie miteinander leben können, ohne diese Feindesatmosphäre zwischen uns zu haben. Ich will nicht bei jedem Wort überlegen müssen, ob… na ja, ob du mich dafür töten wirst. Ganz buchstäblich.« Er hatte den Blick abgewandt, verdammter Feigling, und Xanxus seufzte. »Sawada«, sagte er, und die beiden schafften es, sich in die Augen zu sehen. »Ich habe keinerlei Interesse mehr daran, dich umzubringen. Kapiert? Kann ich dir versichern. Die Vongola braucht einen Boss, und wenn ich dir den Arsch aufreiße, hat sie keinen mehr. Ist das letzte, was ich will. Reicht dir das?« Es schien, als dauerte es einige Sekunden, bis Tsuna verstanden hatte, was er gerade überhaupt gesagt hatte. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, für das Xanxus ihm am liebsten die Zähne ausgeschlagen hätte. »Das klingt sehr gut«, meinte er leise. Na, prima. »Also, das heißt, du… Ähm… Du hast mich als…« »Ich erkenne dich als Vongola Decimo an«, vervollständigte Xanxus, weil er sich schon denken konnte, dass Sawada nicht den Mumm hatte, sowas auszusprechen. Tsuna wirkte unglaublich erleichtert. Xanxus nahm einen großen Schluck Wein. »Die Ringe gehören offensichtlich zu dir«, sagte er und betrachtete ruhig sein Glas. »Und die Varia gehört zu mir. Ende der Geschichte.« »Wow«, machte Tsuna leise. Er lächelte noch immer, betrachtete die Tischplatte, dann gluckste er und nippte vorsichtig an seinem Weinglas. Als er es wieder absetzte, atmete er lang durch und sah Xanxus ins Gesicht, mit diesem Blick eines zufriedenen Bosses, mit dem Xanxus jetzt wohl leben musste. »Das klingt, als könnten wir uns jetzt ernsthaft an eine Kooperation setzen.« Xanxus zog die Brauen hoch. »Und das klingt, als schwebe dir schon etwas vor.« Verlegen grinste Tsuna, kratzte sich im Nacken und schien es für nötig zu halten, noch einen Schluck Wein zu trinken. »Also…«, begann er und schielte kurz zwischen Xanxus und der Tischplatte hin und her. »Na ja, seit… Seit die neunte Generation komplett abgedankt hat, sind wir ja sozusagen auf uns allein gestellt, und… I-Ich meine, das klappt. Das klappt gut. Aber dennoch sind wir, meine Wächter und ich, letztendlich alle … Anfänger. Und deshalb hatte ich irgendwann gedacht, dass es mir lieb wäre, hätten wir auch irgendjemanden bei uns, der, na ja… Die Mafia schon länger kennt. Gut kennt, und schon seit einer Weile dabei ist, und … uns über die Schulter gucken kann.« Xanxus war heilfroh, dass Tsuna, dank seines großen Interesses an der Tischplatte, nicht sehen konnte, wie ungläubig er ihn in diesem Moment anblickte. Es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte er gelacht. Aber glücklicherweise konnte er sich noch gut zurückhalten. »Du willst«, sagte er langsam, »dass ich dir über die Schulter gucke. Versteh ich das richtig?« Er sah ihn verhalten an und nickte. Und das war der Moment, in dem er es schaffte: Xanxus grinste schmal. »Bist du dir da sicher?« Das war er ganz offenbar nicht – oder vielleicht war er es gewesen, bis er das Grinsen gesehen hatte. Doch auf jeden Fall schien Tsuna zu wissen, dass er jetzt keinen Rückzieher mehr machen konnte. Er setzte sich gerade auf seinen Stuhl, sah Xanxus an und brachte es tatsächlich ohne Stottern fertig: »Ja.« »Gut«, sagte Xanxus in seinem besten Geschäftsmann-Ton. »Dann können wir gleich anfangen. Wenn’s dir wichtig ist, kannst du mir morgen gleich die ersten Sachen mitbringen, die ich mir angucken soll. Und dann sehen wir, was ich davon halte – und was du daraus machst.« Er stand auf und ließ Tsuna sprachlos zurück. Die Unterhaltung hatte ein jähes Ende genommen, und ein seltsames noch dazu, eines, was keiner der beiden erwartet hatte. Und dennoch waren beide, irgendwie, zufrieden. Und das war der Anfang. Kapitel 16: Vierzehnter Dezember -------------------------------- Als Bel gerade damit fertig war, die Krümel seines Frühstücksbrötchens über den halben Tisch zu verteilen, tauchte Sawada auf und legte eine Mappe auf den Tisch der Varia, die groß genug war, dass man einen der gestandenen Mafiosi hier problemlos damit hätte niederschlagen können. »Das sind die groben Pläne für das kommende Jahr«, sagte er und warf Xanxus einen Blick zu, in dem er glaubte, einen Hauch von Herausforderung erkennen zu können. »Lass dir Zeit.« Xanxus erklärte seinen Leuten kein Wort. Nicht einmal Squalo. Und die verstanden, dass das bedeutete, dass sie gefälligst auch nicht nachzufragen hatten. Er nahm die Mappe, verzog sich damit auf sein Zimmer und tat, was man ihm aufgetragen hatte: Er ließ sich Zeit. Und je mehr Zeit er sich ließ, desto mehr sank seine Laune. Das Gespräch gestern war gut gelaufen, ziemlich gut sogar, um Längen besser als er gedacht hätte. Er konnte es nicht leiden, wenn Sawada sich einschiss vor Angst, aber zu viel Selbstbewusstsein ging ihm genauso auf den Sack. Und gestern hatte Tsuna es irgendwie geschafft, genau diese Gratwanderung ganz gut hinzukriegen. Er hatte sich benommen wie ein Boss, aber es war verdammt gut spürbar gewesen, wie viel Respekt er dennoch vor Xanxus hatte. Und das war gut. Scheiße, das war verflucht gut. Und nun hatte er diese Akten vor sich und es war überhaupt nicht mehr verflucht gut. Verficktes, pazifistisches Pack. Er wusste, dass Timoteo deshalb so begeistert von Tsuna gewesen war, weil er gehofft hatte, mit ihm die »friedliche« Vongola wieder auferstehen zu lassen, wie sie vor vier Jahrhunderten mal gewesen war – als sie noch nicht direkt Mafia gewesen war, sondern ein Haufen Idioten, der anderen Idioten hatte helfen wollen. Und Xanxus sah ein, dass Tsuna zu etwas anderem kaum in der Lage sein würde. Er war kein typischer Mafiaboss, er war tatsächlich jemand, der einfach nur versuchte, irgendwelche bescheuerten Leute glücklich zu machen. Aber wenn er da nicht hin und wieder Grenzen zog, würde die Vongola innerhalb kürzester Zeit zu einer Lachnummer werden und damit wiederum war niemandem geholfen. Beim Mittagessen beeilte er sich, damit er sich nicht unnötig aufregen musste, dann gönnte er sich gegen Nachmittag ein sehr gutes Glas Bourbon, und zum Abendessen hatte er schließlich die Mappe durch. Ja, er hatte den ganzen verfluchten Tag damit verbracht, diesen beschissenen Haufen Unterlagen abzuarbeiten, weil er hatte wissen wollen, ob es irgendwann noch besser wurde, ob die Flachpfeifen gegen Ende vielleicht zur Vernunft gekommen waren, oder ob alles verloren war. Und es war definitiv alles verloren. Wenn er jetzt nicht einschritt. Das hatte Sawada ja offenbar gewollt, dann konnte er es auch haben. Nach dem Abendessen erhob sich Xanxus vom Tisch, ohne der restlichen Varia irgendetwas mitzuteilen. Mit der Mappe bewaffnet schlängelte er sich durch den Saal, blieb dann, ungeachtet des Publikums, am runden Tisch der zehnten Vongola-Generation stehen und ließ die dicke Mappe neben Tsunas leeren Teller fallen. »Ich hab alles durch«, sagte er leise. »Und es ist alles Bullshit.« Tsuna schaffte nur ein »E-Eh…?«, als er den Blick hob und ihn, bereits relativ entsetzt, ansah. »Nimm dir möglichst bald möglichst viel Zeit«, befahl Xanxus, in einem Ton, der keine Widerrede duldete, »und ich sag dir, warum mich eure nette Mappe von vorn bis hinten ankotzt. Für heute bin ich bedient.« In dem Moment, in dem Xanxus ging, wurde Tsuna klar, dass es genau das war, wovon Cat gesprochen hatte. Das war der Anfang einer Machtspielerei. Der Befehlston, die Abfälligkeit, die subtile Drohung. Sie hatte gesagt, er solle nicht zulassen, dass Xanxus sich benahm, als sei er der Boss. Das hieß, er müsste ihm widersprechen und ihn irgendwie in seine Schranken weisen. Tsuna verstand. Tsuna verstand das alles. Und doch konnte er einfach nichts anderes tun, als Xanxus noch am Abend eine Nachricht zukommen zu lassen, dass er morgen den ganzen Tag frei hätte, um sich von ihm anzuhören, wieso er und seine Wächter Idioten waren. Kapitel 17: Fünfzehnter Dezember -------------------------------- Sie trafen sich nach dem Frühstück in einem der unbenutzten, fast leeren Säle. Xanxus hatte an einem der Tische gesessen und gewartet, und als Tsuna den Raum betrat, glaubte er, seine Angst fast riechen zu können. Der Junge ahnte sicherlich, was ihm bevorstand. Und vielleicht hatte er Recht damit, hier zu zittern. Wahrscheinlich wäre es angenehmer für ihn geworden, von Xanxus vermöbelt zu werden, anstatt sich von einem gestandenen Mafioso die Meinung geigen zu lassen. Erneut landete die Mappe auf dem Tisch, dann ließ sich Tsuna ihm gegenüber auf einen Stuhl sinken und seufzte hörbar. »Gut«, meinte er leise. »Ich höre.« »Ihr seid zu friedlich«, sagte Xanxus unverblümt. Langsam zog Tsuna die Brauen zusammen, und Xanxus konnte den Widerspruch schon kommen sehen. »Wir sind nicht die Varia«, entgegnete er. »Das ist auch verdammt gut so«, meinte Xanxus nur trocken. »Aber das reicht nicht. Ich verlange nicht, dass ihr euch so benehmt wie wir. Wir sind nicht umsonst das Meuchelmordkommando, das überlasst ihr weiterhin schön uns. Aber ihr könnt euch trotzdem nicht benehmen wie irgendein beschissener Wohlfahrtsverein. Du bist Vongola Decimo, nicht Mutter Theresa.« »Die Vongola wurde gegründet, um Menschen in Not beizustehen…«, verteidigte sich Tsuna, und Xanxus fand, dass es schon jetzt eher halbherzig klang. »Und du hast dir gedacht, mit ein bisschen Speichellecken und Geld zum Fenster rausschmeißen kannst du Italien und Japan die Sonne aus dem Arsch scheinen lassen?«, fragte er kalt. »Funktioniert nicht. Kann ich dir sagen – vergiss es. Von mir aus kannst du mit deinen Leuten den Menschen so viel Gutes tun wie du willst, aber die Vongola ist deshalb eine Mafiafamilie, weil sie eingesehen hat, dass man auch das nicht erreichen kann, wenn man nicht zwischendurch ein bisschen von deinem hübschen kleinen rechten Weg abkommt. Du sollst keinen Völkermord begehen. Aber wenn du nicht an den richtigen Stellen hin und wieder den richtigen Leuten den Arsch aufreißt, machst du dich und deine kleinen Wächter nur lächerlich. Das will keiner von uns, also pass auf.« Er war gründlich. Xanxus verbrachte die vollen nächsten Minuten damit, ihm zu erklären, was in diesen Unterlagen alles schiefgelaufen war, und er hatte schon lang nicht mehr so viel Spaß an der Arbeit gehabt. Xanxus ließ den Mafioso raushängen. Der Job bestand nicht nur daraus, bösartig zu sein und hin und wieder Menschen zu töten. Im Gegenteil. Mafioso zu sein bedeutete um einiges mehr. Es war Politik. Es war Rhetorik. Und es war Taktik, es war verflucht viel Taktik. Die Mafia war wie ein Schachbrett, und wer nicht meilenweit vorausdachte, bevor er etwas tat, war sofort verloren. Und wenn man das alles beachtete, dann hatte man sich noch immer nicht um das Wichtigste gekümmert: den Ruf. Eine Famiglia war nichts ohne ihren Ruf. Höchstwahrscheinlich war Xanxus nicht der erste, der ihm all das sagte. Aber er war sicherlich der erste, der es ihm so sagte. Nein, er nahm kein Blatt vor den Mund, und ja, er übertrieb hin und wieder in seiner Wortwahl, aber ein zehnter Boss hatte sowas auszuhalten. Und wenn er ihn schon nicht vermöbeln durfte, dann wollte er ihn wenigstens zusammenstauchen. Tsuna saß ihm tapfer gegenüber, wurde jedoch immer kleiner. Und das machte es nur besser für Xanxus. Das war perfekt. Scheiße, das war viel zu perfekt, weil er es viel zu sehr genoss, ihn so zu sehen. Winzig. Eingeschüchtert. Gedemütigt. Und dann machte Sawada es noch schlimmer für sich selbst, weil er schlicht und ergreifend so verdammt unterwürfig war. Xanxus endete mit einem schroffen »Kapiert?« und Tsuna antwortete bloß mit einem Seufzen. Seine Schultern hingen herab, er blickte niedergeschlagen die Mappe an, schlug sie schließlich zu und stand auf. Xanxus war klar, dass der Junge hoffte, sie waren schon fertig. Aber dafür war die Situation viel zu genial. So schnell würde er ihn nicht aus dieser Sitzung befreien. »Ich will eine Antwort«, sagte Xanxus leise, blieb ruhig und zurückgelehnt sitzen. »Ob du kapiert hast.« Tsunas Augen huschten kurz hin und her, bis er ihm ins Gesicht blickte. »Ich habe verstanden, was du mir sagen wolltest«, sagte er langsam und Xanxus ahnte, dass er sich gerade noch tiefer in die Scheiße ritt. »Aber ich bin noch nicht sicher, was davon nun auch so umgesetzt wird. Ich hab meine Leute, ich kann nicht einfach so entscheiden…« Dass Xanxus aufgestanden war, hatte schon gereicht, um Tsuna zum Schweigen zu bringen. Rasch hatte er eine Hand ausgestreckt, und nun hielt er Tsuna am Kragen fest, die Tischkante bohrte sich wahrscheinlich höchst unangenehm in dessen Unterleib, und noch unangenehmer bohrten sich Xanxus‘ Augen in seine. »Du bist der Boss«, raunte er, und es war grotesk, dass er ihm das sagte, während nur der Tisch zwischen ihnen war und er offenbar die Oberhand hatte. »Also benimm dich auch so. Ich habe gut die Hälfte meines Lebens für diese Famiglia geopfert, Sawada, und wenn ich dir deinen verfickten Arsch bis zu den Ohren aufreißen muss, damit sie nicht verkümmert, dann werd ich das tun. Ich lass mich gerne auf Zusammenarbeiten ein. Aber dafür wirst du auf mich hören müssen, weil ich es bin, der hier jede verfluchte Ecke und jeden beschissenen Winkel kennt. Wenn du willst, dass noch etwas aus deiner Generation wird, dann tu, was ich dir rate. Also besorg dir ein paar Eier und lass die Welt wissen, dass du der verdammte Kopf der Mafia bist.« Die großen, braunen Rehaugen sahen ihn an und für einen Moment wirkte es fast, als würde er zusammenklappen. Dann beobachtete Xanxus, wie er die Zähne zusammenbiss und die Handflächen auf die Tischplatte drückte. »Lass mich los, Xanxus«, sagte er leise. Ein kurzes, flüchtiges Grinsen huschte über Xanxus‘ Gesicht. »Ich will erst hören, dass du verstanden hast, was ich gesagt habe«, erwiderte er, ohne sich die Mühe zu machen, seinen Genuss zu verstecken. »Jedes Wort«, brachte Tsuna hinter zusammengepressten Zähnen hervor, und Xanxus ließ ihn los. Der Junge rückte seinen Kragen zurecht und schnappte sich die Mappe, und dann machte er den Mund auf. Xanxus war sich absolut sicher, dass er irgendetwas sagen wollte, was ihn in die Schranken weisen sollte, irgendetwas wie Vergiss nicht, wo du stehst oder so. War ja auch logisch – wenn Xanxus wollte, dass er sich wie ein Boss verhielt, dann sollte er ihn im Gegenzug auch behandeln wie einer. Aber dazu war er leider überhaupt nicht motiviert. Stattdessen stand er hier und blickte Tsuna noch immer fest in die Augen, und es war allein dieser Blick, der reichte, um ihn dazu zu bringen, den Mund wieder zu schließen und sich kommentarlos abzuwenden. Xanxus ließ ihn gehen, und dann brauchte er noch ein paar Sekunden, bis er bemerkte, wie verdammt erregt er gerade war. Es war eindeutig Zeit für Quindicesima. Kapitel 18: Sechzehnter Dezember -------------------------------- Belphegor hatte ihm gegenüber mal erwähnt, er versuche, immer das Beste aus seiner Situation zu machen. Xanxus hatte dafür nur ein Schnauben übrig gehabt – so sah er aus, das dumm grinsende Genie. Das war vielleicht etwas, was man konnte, wenn man so offensichtlich wahnsinnig war wie Bel, aber für Xanxus hatte das einfach nur hirnrissig geklungen, weil man aus manchen Scheißhaufen einfach kein Gold machen konnte. Heute klang es ein ganzes Stück plausibler als sonst. Er war hier angekommen und war frustriert gewesen – von seinem Leben, vom Leben der anderen, von allem. Dann hatte er das getan, was er eigentlich immer tat, wenn er frustriert war – sich an Alkohol und Sex bedient – und hatte dafür Ärger bekommen. Unter anderem von seinem besten Freund. Xanxus war also gezwungen gewesen, sich zivilisiert zu benehmen, obwohl er keinerlei Lust darauf gehabt hatte und auch nur schwer hatte einsehen können, dass es eigentlich gesünder war. Aber gerade, weil er angefangen hatte, sich zu benehmen, war jetzt alles um einiges besser als vorher. Weil er sich auf Sawada und seine Gespräche eingelassen hatte. Nur deshalb. Weil er sich die Blöße gegeben hatte, mit dem Abschaum zu sprechen, weil er sich wirklich hingesetzt hatte und geduldig gewesen war. Und nun war es genial. Tsuna kuschte. Er tat nicht direkt, was Xanxus ihm sagte, aber das wäre ja auch langweilig. Wichtig war, dass er Sekunde für Sekunde beobachten konnte, wie der Junge mit sich rang. Weil er Angst vor ihm hatte, weil er wusste, wie gefährlich Xanxus für ihn sein konnte, und weil er doch irgendwie versuchen wollte, seine Autorität zu behalten. Was er natürlich nicht schaffte. Xanxus hatte nicht gelogen, er erkannte ihn als Vongola Decimo an. Das hieß aber lediglich, dass er sich nicht dagegen wehrte, dass Tsuna nun offiziell die Familie führte. Es hieß nicht, dass er sich ihm unterordnen würde. Nicht ohne Weiteres. Während des ganzen Gespräches gestern hatte er mit ansehen können, wie Tsuna kämpfte. Mit sich, mit der Verantwortung, mit der Angst. Und vor allem letzteres war omnipräsent gewesen. Die Furcht, der Respekt. Ein paar Minuten lang konnte Tsuna noch auf seiner Meinung beharren, aber auf kurz oder lang traute er sich nicht, Xanxus zu widersprechen. Genau das war es, was ihn nun in so delikate Genugtuung versetzte. Das alles. Es bedeutete schlicht und ergreifend, dass er die Oberhand hatte, egal, was sie taten. Xanxus hatte die Macht, über sich selbst, über das Geschehen, und über Sawada. So gehörte sich das. So war das gut. Und so war es nun einmal verdammt erregend für ihn. Ja, ja, Xanxus wusste, dass das nicht normal war, aber auch das gehörte zu den vielen Dingen, die seinen Erfolg in seinem Job ausmachten. Und eigentlich war es auch nicht einmal ein großes Geheimnis. Xanxus hatte die Psyche eines Amokläufers – und letztendlich war er ja auch einer, die Cradle-Affaire war nichts anderes gewesen. Er hatte sich gestern also aus der grauen Masse die erste Quindicesima rausgepickt und sich mit ihr noch vor dem Mittagessen einen Quickie gegönnt. Er hatte die Energie einfach schnellstmöglich loswerden müssen. Sonst hätte er sich beim Mittagessen möglicherweise ein paar schiefe Blicke eingefangen. Und genau das hatte er also erfolgreich verhindert. Xanxus war ruhig und ausgeglichen zum Essen erschienen, hatte sich dann noch mit Squalo darüber unterhalten, dass Sawada ihn in seine Pläne schauen ließ und er da noch einiges zu tun hatte, und hatte auch den Rest des Tages mit seinem Kommandanten verbracht. Abends war Squalo dann losgezogen, um seine Freundin flachzulegen, und Xanxus hatte Terza Quarta wieder getroffen. Und sie war zur zweiten Quindicesima geworden. Und es war verdammt gut gewesen. Und jetzt, nachdem er einige Tage lang enthaltsam gewesen war, weil man es ja offenbar nicht mochte, wenn er jeden Abend wildfremde Frauen vögelte, war die Kacke natürlich wieder am Dampfen. Er lehnte an der Wand, noch immer mitten in dem Flur, in dem man ihn abgefangen hatte. Xanxus hatte die Hände in den Taschen seiner schwarzen Hose vergraben und den Kopf etwas zurückgelegt, sodass er Tsuna noch deutlicher von oben herab betrachten konnte. Xanxus war hier vor Minuten noch entlang geschlendert, als ihn plötzlich Gokudera Hayato von hinten angeblafft hatte, was ihm eigentlich einfiel, so mit dem Boss der Vongola umzugehen. Xanxus hatte sich umgedreht und hatte ihn nur angesehen und Gokudera war schon in diesem Moment etwas geschrumpft, hatte aber nicht kleinbeigegeben – bis Tsuna sich eingeschaltet hatte. Er war die ganze Zeit dabei gewesen, hatte aber gewirkt, als sei er lieber woanders. Schließlich hatte er Hayato gesagt, er solle sich bitte beruhigen und gehen. Er regele das alleine. Und hier waren sie. Und Tsuna regelte es allein. Seine Wächter seien nicht allzu begeistert vom neuen Kurs, hatte er gesagt. Und sie würden ihn hier und da vielleicht etwas modifizieren. Aber im Großen und Ganzen würde er wohl dem nachkommen, was Xanxus ihm gesagt hatte. Auf Xanxus‘ Gesicht schlich sich ein Grinsen und er versuchte nicht, es zu verstecken. Man hörte also auf ihn. Sehr schön. Tsuna schien das nicht ganz so schön zu finden, er stand vor ihm und hatte die Hände in die Seiten gestemmt und sah trotzig zu ihm hoch und Xanxus dachte, dass es das Ganze nur noch anziehender machte. Wäre Sawada eine Frau, stünde er längst nicht mehr einfach so da. »Ich werd mir trotzdem nicht jede Anmaßung einfach so bieten lassen«, behauptete er und Xanxus hätte fast gelacht. Dann schnaubte Tsuna ganz leise und begann, sich abzuwenden. »Und in Zukunft hörst du bitte auf, ständig mit meiner Sekretärin zu schlafen.« Für einen kurzen Moment schossen Xanxus‘ Augenbrauen in die Höhe. Er sollte… Oh. Terza war also Tsunas Sekretärin. Ja, das ergab irgendwie Sinn. Jetzt ging es also schon wieder los, dass man ihm einen Strick aus seinen Bettgeschichten drehte. Na schön… Tsuna hatte sich mittlerweile weggedreht und steuerte irgendeinen Saal an. Dass Xanxus ihm das letzte Wort lassen würde, konnte er vergessen. Er gluckste leise. »Wie ihr wünscht, Boss«, sagte er, gedämpft, doch so, dass Tsuna es noch deutlich hören konnte, und in einem Tonfall, als habe er ihn bis aufs Blut beleidigt. Der Junge ging ohne Reaktion weiter, und auch Xanxus wandte sich ab und schlenderte einfach in die entgegengesetzte Richtung weg. Wohin auch immer. Vielleicht würde er rausgehen und … jemanden aufgabeln. Scheiße, er war schon wieder so verdammt geil. Kapitel 19: Siebzehnter Dezember -------------------------------- Xanxus war der letzte Mensch, der abstreiten würde, dass er gestört war. Er wusste das selbst ganz gut. Immerhin hatte er so ziemlich alle psychosozialen Umstände in die Wiege gelegt bekommen, die man brauchte, um ein kranker kleiner Wichser zu werden. Außerdem war es wahrscheinlich, dass er ein paar nette Fehlstellungen von seiner Mutter geerbt hatte, die hatte da ja einiges zu vergeben. Und letztendlich hatte er sich nie wirklich bemüht, irgendetwas dagegen zu tun. Er hatte ein Aggressionsproblem, er hatte ein Trinkproblem, und ja, so wie es aussah, hatte er auch ein leicht gestörtes Sexualverhalten. Aber gerade in diesem Moment genoss Xanxus diese Umstände viel zu sehr, um irgendetwas daran zu ändern. Immerhin hatte er einen Ruf zu verlieren. Und immerhin hatte er gerade verdammt viel Spaß. Es war Freitagabend und eine Woche vor Weihnachten, deshalb hatte die Vongola wohl beschlossen, auf ihrem Fest-Marathon mal wieder eine größere Feier zu veranstalten. Und es hatte wenig von den öden Familienfeiern – viel mehr von einer Party für Anfang-Zwanziger. Normalerweise hätte Xanxus auf so eine Kinderkacke verzichtet, aber heute kam sie ihm ziemlich gelegen. Squalo war ebenfalls hier, irgendwo in einer ruhigen Ecke wahrscheinlich, weil Cat und ihre Mädchen noch eher in die Altersklasse hier passten und heute Abend wohl auf die Kacke hauen wollten. Wahrscheinlich war deshalb auch Belphegor hier (dass er jede Minute mit Naito Longchamp verbrachte, entging Xanxus natürlich). Lussuria und Mammon hatten verzichtet, und Levi saß deprimiert in seinem Zimmer, weil Xanxus ihm gesagt hatte, er solle sich gefälligst von ihm fernhalten. Und Tsuna bewegte sich stetig durch den Raum und trank. Xanxus konnte schon aus der Entfernung sagen, dass es zu viel war. Er war Asiate, die vertrugen generell wenig. Außerdem war der Junge alles andere als abgehärtet, was Alkohol anging. Wahrscheinlich war er ein bisschen durch den Wind und frustriert, weil Xanxus ihm die letzten Tage stressig gestaltet hatte. Deshalb achtete er vermutlich nicht so sehr darauf, wie viel er nun zu sich nahm – Xanxus konnte sich zumindest nicht vorstellen, dass sich ausgerechnet Sawada absichtlich betrank. Er war wohl einfach nur unvorsichtig. Und damit spielte er sich selbst in seine Hände. Es war lang her, dass Xanxus was mit einem Kerl gehabt hatte. Aber passiert war es durchaus schon. Xanxus gab so gut wie nichts auf Beziehungen, für ihn war Sex eigentlich nur dazu da, sich irgendwie auszutoben, ohne dabei jemanden umbringen zu müssen. Er musste Aggressionen, Energie und Lust loswerden. Das war alles. Und dann war ihm eigentlich egal, ob er das nun bei einer Frau oder bei einem Mann tat. Frauen boten sich ihm nur öfter an. Nur hatte man ihm ja in letzter Zeit ständig ans Bein gepisst, wenn er auch auf diese Angebote eingegangen war. Also hatte Xanxus nachgedacht. Das letzte Mal mit Tsunas Sekretärin hatte er eigentlich nur deshalb gehabt, weil er so verdammt aufgegeilt gewesen war. Und woher war das gekommen? Richtig – von seiner »Besprechung« mit Tsuna. Daraus folgte also letztendlich, dass Tsuna ihn irgendwie anmachte. Und wenn er das in Sex mit irgendeiner dahergelaufenen Schlampe kompensierte, war der Rest der Welt damit nicht einverstanden. Also lag es ja eigentlich nah, dass er es stattdessen einfach mit Sex mit dem Schuldigen kompensierte. Okay, das war abartig. Bis vor einer Weile hatte er Tsuna als seinen Todfeind angesehen. Mittlerweile hatten sie sich zusammengerauft und konnten in einem Raum sein, ohne dass die Luft vor Spannung zitterte. Aber das Verhältnis war immer noch kritisch. Scheiße, ja, Xanxus hatte ja auch versucht, ihn umzubringen. Wenn er jetzt versuchte, ihn flachzulegen, war das eigentlich einfach nur eine unlogische Wendung, die kein klar denkender Mensch vollführen würde. Aber Xanxus hatte ja schon längst eingesehen, dass er nicht normal war. Meistens konnte er selbst nicht so richtig erklären, was seine Libido mit ihm machte. Aber er hielt sie nicht auf. Wenn er jemanden vögeln wollte, dann wollte er diesen Jemand vögeln, fertig, aus. Gott, Tsuna schrie ja auch irgendwie danach. Klein, schmal, gigantische Augen und dieses Verhalten, das darum bettelte, dass man ihn unterwarf. Es gab nur zwei Dinge, die Xanxus mit solchen Menschen gern tat. Töten und ficken. Und die erste Möglichkeit hatte er ja schon ausprobiert, hatte nicht geklappt. Ach, er musste eigentlich auch gar nicht mehr darüber nachdenken, weil es schon längst feststand. Tsunas Verhalten machte ihn geil, und er würde dafür sorgen, dass er das kapierte. Punkt. Tsuna wusste ja wohl auch selbst ganz gut, dass er es hier mit einem Psychopathen zu tun hatte… Er gab ihm noch ein bisschen Zeit. Wartete, bis der Abend später wurde und Tsuna wirklich eindeutig zu viel intus hatte. War interessant, Sawada so zu erleben. Er war nicht einmal wirklich betrunken, aber er war angeheitert und es war offensichtlich, dass er nicht mehr so rational denken konnte wie er sollte. Dann verschwand Hayato bei Haru, und Takeshi beschäftigte sich damit, Squalo das Leben zur Hölle zu machen. Und Tsuna stand allein irgendwo an der Wand herum. Oh nein, wie klassisch. Ein Trottel, der sich auf einer Party zu viel Alkohol gönnte und der böse Kerl, der ihn sich gleich schnappen würde. Na, zum Glück würde das keiner sehen. Xanxus stellte sein Glas weg (der Rum hier war wirklich ekelhaft), schob die Hände in die Hosentaschen und bewegte sich völlig ruhig zu Tsuna in seine ruhige Ecke. »Bisschen zu viel gebechert, was?«, begann er die Konversation mit einem unverhohlenen, schmalen Grinsen. Tsuna sah zu ihm auf und verzog das Gesicht. »Irgendwie schon«, gab er zu. Er sprach leiser als sonst, aber noch recht klar. Musste sich wahrscheinlich zusammenreißen. »Ich geh sowieso gleich lieber ins Zimmer…« »Ach«, machte Xanxus amüsiert, sah kurz über die Schulter und beschloss dann, dass er ja auch so direkt sein konnte, wie er wollte. Er zog seine linke Hand aus der Hosentasche, lehnte sich nach vorn und stützte sie dicht neben Tsunas Kopf an der Wand ab, beugte sich nur etwas zu ihm hinab. »Mach das. Du wirst da nur nicht allein hingehen. Capisce?« Nein, natürlich verstand er das nicht. Tsuna war unter seiner Nähe etwas geschrumpft, blinzelte perplex zu ihm hoch. »E-Eh?« Xanxus gluckste leise. Jetzt, wo er darüber nachdachte, war es ja nicht einmal so unwahrscheinlich, dass der Trottel noch Jungfrau war. Wow, was für ein Jackpot. Oder auch nicht. Egal, er hatte genug Mittel und Wege, ihn zu überzeugen. »Du bist ein lausiger Boss«, raunte er ihm zu. »Weil du dich vor deinen eigenen Leuten fürchtest… Genauer gesagt vor mir. Und es wird Zeit, dass du lernst, dass du da vorsichtig sein solltest. Du hast mir viel zu viel von deiner Angst gezeigt, Sawada… Und jetzt solltest du mit den Folgen leben, nicht? Das machen Oberhäupter so.« Er konnte praktisch mit ansehen, wie Tsunas Gehirn arbeitete und ein paar Lösungen ausspuckte, die ihm wahrscheinlich alle nicht gefielen. Auch Tsunas Verstand schwankte jetzt wohl zwischen den Möglichkeiten Prügelei und Sex. Xanxus sandte dem Alkohol gedanklich einen Dank zu. »W-Was meinst du?«, fragte er dennoch nach, und Xanxus überlegte, ob er schon ahnte, dass er sich mit sowas nur immer tiefer in den Schlamassel schaffte. Er musste ein Lachen zurückhalten, und dann beugte er sich einfach noch weiter runter, sodass sein Mund neben Tsunas Ohr war und er spüren konnte, wie er, ganz leicht nur, zitterte. »Ich steh auf Leute, die Schiss vor mir haben«, erklärte er gedämpft, schielte zur Seite, konnte jedoch nicht viel mehr als dichtes braunes Haar erkennen. »Und deshalb werd ich dich gleich flachlegen. Ende der Diskussion. Klar?« Er hörte Tsuna schlucken. Und als er sich wieder aufrichtete, konnte er im diffusen Licht der Feier sehen, dass sein Gesicht dunkler war als es sein sollte. Und das reichte ihm. Wahrscheinlich sträubte sich in dem Jungen noch immer alles dagegen und wahrscheinlich würde es noch ein kleiner Kampf werden, bis er wirklich bekam, was er wollte – er stimmte nicht zu, aber er widersprach auch nicht. Und das war für den Anfang genug, um ihn wenigstens abzuschleppen. Im Wahrsten Sinne des Wortes. Xanxus nutzte seine durch den Alkohol verzögerte Reaktion, um ihn mit ein paar Handgriffen einfach über seine Schulter zu werfen. Wenn er in seinen exzessiven Lebensphasen etwas gelernt hatte, dann das: Es gab auf jeder Party einen unbeobachteten Hinterausgang. Kapitel 20: Achtzehnter Dezember -------------------------------- »Wa-Was machst du?« »Ich gehe.« »Das sehe ich! Aber wohin?« »Mh. Ich tu dir mal den Gefallen und gönn dir ein Bett unterm Arsch. Die Frage ist nur, ob wir deins nehmen oder… Ach.« Tsuna hatte keine Ahnung, woher Xanxus überhaupt gewusst hatte, wo sein Zimmer war. Aber er hatte jetzt wirklich andere Sorgen. »Xanxus… I-Ich weiß immer noch nicht, was… was…« »Was ich mache?« »M-Mhm…« »Bisschen begriffsstutzig, hm?« Die Kissen um ihn herum. Die Matratze in seinem Rücken. Der dumpfe Schleier des Rausches vor seinen Augen. Die Hitze. Und Xanxus. Eigentlich wusste er sehr wohl, was er tat. Aber er verstand es nicht. Er war nicht da. Tsuna lag allein in seinem viel zu großen Bett und wusste nicht, wo Xanxus war. Im ersten Moment hatte er versucht, sich zu sagen, dass er wahrscheinlich nur geträumt hatte. Aber sein Körper sagte irgendwie etwas anderes. Er biss ins Kissen und er klammerte sich am Laken fest und sein Schmerz kam in Form von erstickten, angestrengten Lauten aus ihm heraus, und er wollte, dass es aufhörte, und es hörte nicht auf, und er wollte, dass es weiterging. Tsuna wälzte sich auf den Bauch und drückte sein Gesicht ins Kissen. Direkt darauf, als habe der Bezug ihm einen Stromschlag verpasst, hob er den Kopf wieder. Es roch nach Xanxus. Das verdammte Kissen roch durch und durch nach Xanxus. Schweiß, Alkohol und ein bisschen Tabak – glaubte er. Beim Letzten war er sich nicht sicher. Es war schon falsch genug, dass er auch nur ansatzweise wusste, wie Xanxus roch. »He, Abschaum.« »Wa-… Was…?« Tsuna war sich nicht sicher, ob er jemals wieder ruhig würde atmen können. »Das hier gerade war nicht dein erstes Mal, oder?« »Mein… Ich… Eh…?« »Sag mir einfach, dass du wenigstens schon mal ‘ne Frau gevögelt hast.« »I-Ich… J-Ja.« »Na, immerhin. Wie auch immer du das geschafft hast.« Er wusste nicht, wann er so geworden war. Wann er angefangen hatte, diese Abfälligkeiten zu vermissen. Den genauen Zeitpunkt konnte er nicht benennen. Aber es musste irgendwann nach Nonos Tod gewesen sein. Als auch der letzte Widerständler begonnen hatte, ihn als Boss anzuerkennen. Als sogar Reborn aufgehört hatte, ihn einen Loser zu nennen, weil er seitdem wirklich und wahrhaftig der Anführer der wichtigsten Mafiafamilie Italiens war. Irgendwann in dieser Zeit, in der alle begonnen hatten, ihn zu respektieren und anzupreisen, hatte er angefangen, sich wieder das Gegenteil zu wünschen. Tsuna konnte mit dem Ruhm nicht umgehen. Es war so viel einfacher, ein dummer kleiner Junge zu sein, der von nichts eine Ahnung hatte und alles in den Sand setzte. Und hier war die letzte Person, die ihn so behandelte. Die Balkontür ging auf, der dunkle Vorhang davor wurde kurz zur Seite geschoben und dann stand Xanxus einfach so wieder in seinem Zimmer. Voll angezogen, so wie immer, und Tsuna stellte fest, dass der Tabakgeruch im Kissen wohl tatsächlich auch von ihm kam. Oh Gott, hatte der Mann überhaupt keinen Kater? Tsuna lag noch immer auf dem Bauch, hatte seinen Oberkörper auf seinen Unterarmen abgestützt und sah regungslos zu Xanxus, weil er nichts anderes tun konnte, und auch nichts anderes wusste. Er hatte absolut keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen würde. Es gab tausend Möglichkeiten, von denen Tsuna nicht eine einzige fassen konnte. Auch Xanxus stand nur da und sah ihn an. Vielleicht ging es ihm ja tatsächlich ein einziges Mal ähnlich. Irgendetwas war noch nicht gesagt, irgendetwas wollte noch raus, bevor Xanxus ging. Tsuna wusste nicht, was das war, aber er wollte es einfach versuchen. Sein Kopf funktionierte sowieso nicht mehr so gut, also öffnete er einfach den Mund. »Xanxus«, war das einzige, was er herausbekam. Seine Stimme war heiser, er klang unglaublich verbraucht und überhaupt nicht mehr wie er selbst. Etwas in Xanxus‘ Mimik zuckte, und dann hob sich tatsächlich einer seiner Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen und er gab ein kurzes Schnauben von sich. »Gegen den Kopfschmerz helfen jetzt Wasser und Gurken«, bemerkte er, während er sich wieder auf den Weg zur Zimmertür machte. »Vom Rest hab ich keine Ahnung…« Und während Tsuna ihm noch mit ungläubig geöffnetem Mund hinterher sah, verließ Xanxus, ohne einen Blick zurück, Tsunas Zimmer. Kapitel 21: Neunzehnter Dezember [inkl. Fanservice-Bonus] --------------------------------------------------------- Seinen Ratschlag gegen den Kater-Kopfschmerz hatte Sawada wohl wahrgenommen (es ging wirklich nichts über Mineralwasser und Gurken gegen die Dehydration eines Rausches). Als er ihn gestern beim Mittagessen wiedergesehen hatte, hatte er relativ gesund gewirkt. Aber als Boss musste man sich ja auch gut verstellen können. Na ja, er hatte sich zumindest problemlos an den Tisch setzen und essen können, und er hatte sich mit seinen Leuten unterhalten. Danach hatte Xanxus ihn auch nicht weiter beobachtet. Der Junge hatte überlebt, er war offensichtlich etwas geschafft und ziemlich durcheinander, aber zumindest hatte Xanxus ihn nicht komplett zerstört und das war momentan eigentlich so ziemlich alles, was ihn interessierte. Wäre ja immerhin blöd, hätte er sich nichts mehr für später übrig gelassen. Oh, Scheiße, ja, er wollte mehr. Das würde kein One-Night-Stand bleiben. Das war definitiv keine einmalige Sache gewesen. Aber wenn er ihn sich das nächste Mal schnappte, würden sie zuerst einen Abstecher in Xanxus‘ Zimmer machen. Er hatte sich gedacht, dass der Abschaum eigentlich nichts Besonderes verdient hatte und das eigene Bett schon gut genug für ihn war. Und jetzt erst fiel ihm ein, dass das vielleicht ein bisschen unüberlegt gewesen war. Na ja, konnte ja mal passieren. Es war eigentlich klar, dass so jemand wie Sawada nicht einfach so etwas wie Gleitmittel in seinem Zimmer herumstehen hatte. Und Xanxus trug das Zeug nun auch nicht unbedingt in seiner Hosentasche spazieren. Er konnte sich jetzt natürlich auf die Reise durch dieses große, hässlich eingerichtete Zimmer machen, denn früher oder später würde sich sicherlich irgendetwas finden, was man stattdessen benutzen konnte. Gab genug Ausweichmöglichkeiten. Aber diese Möglichkeit hatte eben den fatalen Nachteil, dass er sich dann hier weg bewegen musste, und am Ende wahrscheinlich Tsuna auch noch eine Erklärung schuldig war, weil der nicht mal verstand, was er mit dem Zeug wollte. Ach, war doch auch egal. Würde er eben darauf hoffen, dass die minimale Nebenwirkung des Kondoms reichen würde – die wiederum trug er nämlich sehr wohl in seiner Hosentasche spazieren. Brauchte er immerhin viel öfter. Um Tsunas Arsch ging es ihm ja gar nicht wirklich. Eher um sich selbst. Aber war ja egal. Xanxus stand hier in diesem Zimmer, vor diesem Bett, auf dem dieser Junge lag, der ihn ansah, als bestünde er nur aus diesen riesigen, unschuldigen Augen, und wollte eigentlich nicht über Kondome nachdenken. Er hatte gezittert, die ganze Zeit. Xanxus konnte ihn fast immer noch unter seinen Händen spüren, wie Espenlaub, ängstlich, und doch so formbar. An diesem Abend hätte Xanxus alles mit ihm anstellen können. Jeder Faktor war auf seiner Seite gewesen – Tsuna war gleichzeitig zu betrunken, zu ängstlich und zu erregt gewesen, um sich irgendwie zu widersetzen. Xanxus war nicht sicher, wie sehr das alles letztendlich aufeinander beruht hatte. Ob Tsuna nur wegen des Alkohols so erregt gewesen war, oder ob mehr dahintersteckte – aber eigentlich war das auch ziemlich egal. Erregung war etwas Wiederkehrendes. Welche Umstände und Auslöser sie auch immer beim ersten Mal gehabt hatte, wenn sie einmal da gewesen war, konnte man sie immer wieder wecken. Zumindest, wenn man dahingehend ein solches Selbstbewusstsein wie Xanxus hatte. Mittlerweile war Sawada nackt (Xanxus selbst war irgendwann zwischendurch lediglich seine Hose losgeworden, für das Hemd war er, wie so oft, zu faul) und so, wie er da lag, wollte er sich wohl am liebsten in Embryonalhaltung zusammenrollen und wegdrehen. Konnte Xanxus verstehen. Der Junge war zu schmächtig für sein Alter, selbst für einen Japaner. Die Größe stimmte halbwegs, aber der Rest eben irgendwie nicht. Xanxus wusste, dass er sehr wohl trainierte, aber es schien, als habe sein Körper für ihn beschlossen, dass er irgendwo eben doch der ewige Loser bleiben würde. Er war schmal, mit dünnen Armen, einer Hühnerbrust und Rippen, auf denen man Klavierspielen konnte, und um seine Beine hätte ihn so manche Frau wahrscheinlich beneidet. Hier und da war mittlerweile die ein oder andere Narbe, Tsuna hatte nun auch schon einige Kämpfe hinter sich, aber gegen die bleiche, bebende Haut fielen die kaum auf. Xanxus hatte längst aufgehört, darüber nachzudenken, wie abartig das hier war. Scheiße, er war drauf und dran, Vongola Decimo zu vögeln, das sollte man in seiner Position eigentlich nicht unbedingt machen, schon gar nicht, wenn man gerade hatte versuchen wollen, ein Arbeitsverhältnis mit dem Idioten aufzubauen. Aber war ja nicht Xanxus‘ Schuld, wenn das nicht klappte. Er war hier nicht derjenige, der sich so gab, dass man sich als gestandener Mann irgendwelche Sekretärinnen suchen musste, um nicht den halben Tag mit einem Ständer rumzulaufen… Oder so ähnlich. Tsuna hatte die Augen zusammengekniffen und lag verkrampft auf dem Bett, auf dem Xanxus mittlerweile ebenfalls kniete. Er beugte sich hinab und aus heiterem Himmel verschwanden seine Zähne in Tsunas Schlüsselbein, und der Junge fuhr zusammen und gab einen Laut von sich, der fast wie ein Quieken klang, und Xanxus war lang nicht mehr so amüsiert gewesen. Er war eben nicht so der Typ fürs Sanftsein und Streicheln, bevor es zur Sache ging. Er war nicht einmal wirklich der Typ fürs Anfassen. Er hatte Tsuna noch ein paar Mal zum Zucken und Fiepen gebracht, als er sich wieder aufrichtete und ein weiteres Mal triumphierend über ihm kniete. »Umdrehen.« Wie auf Knopfdruck sprangen Tsunas Augen auf. Er öffnete den Mund, atmete tonlos aus, atmete wieder ein und schluckte hörbar. »W-Was?« Xanxus zog die Brauen hoch und erfreute sich ein weiteres Mal in seinem Leben daran, dass allein diese Bewegung schon als Drohgebärde reichte. »Ich wiederhol mich nur ungern.« Eine Sekunde noch lag Tsuna da und starrte ihn ungläubig an, dann schloss er den Mund wieder und handelte. Spätestens jetzt war zweifelsfrei sichtbar, dass er ein reines Nervenbündel war – er zitterte so stark, dass er Schwierigkeiten hatte, sich abzustützen, und brauchte fast doppelt so lang, wie man normalerweise brauchen sollte, um sich einfach nur auf den Bauch zu drehen. Und dann lag er wieder da. Auf dem Bauch. Trottel. Xanxus legte seine Hände links und rechts an sein Becken, und ein weiteres Mal war Tsuna unter ihm wie ein einziges Erdbeben, eine Erschütterung nach der anderen. Ja – Xanxus hatte kalte Hände. Immer. Aber das war auch nur eine Frage der Gewöhnung. Mit einem einfachen Ruck war Tsunas Unterleib angehoben und seine Knie wieder stützend auf der Matratze. Xanxus ließ ihn dennoch nicht los, und als er bemerkte, wie Tsuna ihm, nur kurz, über die Schulter hinweg einen mehr als nur zweifelnden Blick zuwarf, musste er grinsen. »So ist es bequemer für uns beide, glaub mir«, sagte er nur. Ob er ihm das wirklich glaubte oder nicht, erfuhr er nicht. War ihm aber sowieso ziemlich gleich. Xanxus‘ Finger glitten über seinen Rücken, Scheiße, er war viel zu klein, viel zu zart, schrie viel zu sehr danach, zerstört zu werden. Alles an ihm. Er vergrub seine Hand in Tsunas Haaren, die so dicht waren, dass man gar nicht anders konnte, als darin eine Faust zu ballen und zu ziehen und seinen kläglichen Protest zu ignorieren, weil es nichts Besseres gab, um sich die eigene Macht spüren zu lassen, nichts Besseres als das hier. Xanxus saß still hier in seinem Zimmer am Tisch, gegenüber von Squalo, der genauso still da saß, und sie mussten schreiben und nachprüfen und Pläne entwerfen, damit sie für die Idioten in Italien ihre Aufträge koordinieren konnten, weil weiterhin alles laufen musste, wenn die Chefs nicht im Haus waren. Und Xanxus schrieb und prüfte nach und entwarf und koordinierte, und obwohl er am Sonntagmittag ständig mit den Gedanken in Freitagnacht war, funktionierte es verdammt gut. Besser als sonst. Er war schlicht und einfach befriedigter denn je. Sawadas Proteste waren fließend in Zustimmungen übergegangen, Xanxus wusste, dass er ihm immer noch verdammt wehtat, und er hatte auch nicht vor, damit aufzuhören, aber der Junge schien sich erfolgreich damit abgefunden zu haben, denn es klang überhaupt nicht mehr, als wolle er irgendetwas stoppen. Xanxus‘ Finger umgriffen noch immer einerseits sein Haar und andererseits seine Hüfte, und ihm war warm, und es war anstrengend, und es ging Ruck für Ruck durch seinen Körper, wenn er sich und Tsuna und das ganze verdammte Bett nach vorn warf und ihre Becken gegeneinander prallten und es Sekunde für Sekunde klang, als würde die kleine Lunge unter ihm aufgeben und zusammenbrechen, und es war so scheiße gut. So scheiße gut. Und als er kam, riss er an Tsuna und zog seinen Oberkörper hoch, und seine andere Hand hielt nicht mehr nur seine Hüfte, sondern seinen ganzen Bauch und er biss in seinen Hals und schmeckte Blut und ballte die Faust und spürte lose Haare, und er hörte irgendjemanden aufschreien und keuchen und wimmern, bevor er sein Haar begnadigte und die Hand stattdessen auf Tsunas Mund drückte, weil er noch nicht fertig war. Weil er immer noch Kraft loszuwerden hatte. Weil es noch nicht reichte. Xanxus atmete leise durch. Er biss für einen kurzen Augenblick die Zähne zusammen, dann trank er einen Schluck und machte weiter. Squalo warf er nur einen flüchtigen Blick zu. Der war beschäftigt, und das war wahrscheinlich auch viel besser so. Es war lang her, dass eine Erinnerung an irgendetwas so lang so klar in seinem Kopf geblieben war. Das galt es auszukosten. Wie tot fiel Tsuna zurück auf die Matratze. Xanxus stützte seine Hände links und rechts von seinem Kopf auf dem Kissen ab, blieb noch einige Momente über ihm knien und atmete, atmete einfach nur und kühlte wieder runter und kam zur Ruhe. Dann erst rollte er sich zur Seite und ließ sich neben ihn fallen. Tsuna zitterte noch immer und er sah, wie er die Augen zusammengekniffen hatte und schwer und laut atmete. Xanxus wandte den Blick der Decke zu und grinste matt. Er stand auf diese beschissenen roten Wangen. Er stand auf diesen ganzen Mist. »Dir geht’s besser, hm?«, fragte Squalo, ohne aufzusehen. Auch Xanxus betrachtete weiterhin seine Papiere, als er sich ein breites, dämliches Schmunzeln gönnte, damit er nicht lauthals lachen musste. »Definitiv.« Kapitel 22: Zwanzigster Dezember -------------------------------- Ja, es ging ihm definitiv besser. Weil er ein abartiges Monster war und zum ersten Mal seit Langem wieder das Gefühl hatte, dass ihn das nicht irgendwann seinen Verstand kosten würde. Oder irgendetwas anderes. Gut, wenn es jemand bemerkte, der es nicht bemerken sollte, konnte es ihn sehr wohl einiges kosten. Allem voran: seinen Ruf. Aber die Chancen standen schlecht, dass sowas irgendjemandem auffiel, und dass diesem Jemand dann auch noch geglaubt wurde. Und sollten doch alle Stricke reißen, na ja, dann hätte er eben einen neuen Ruf. Nämlich den eines cholerischen Varia-Bosses, der nicht nur zu viel trank, sondern auch hin und wieder zehn Jahre jüngere »Vorgesetzte« flachlegte. Xanxus fand das eigentlich gar nicht so übel. Und das Beste war ja noch, dass er sich absolut sicher war, dass sich das Ganze tatsächlich noch ein paar Mal wiederholen würde. Einfach weil er Sawada jetzt geknackt hatte und das nicht mehr rückgängig zu machen war. Klar, in ein paar Tagen würde die Varia wieder nach Italien zurückkehren und die Vongola würde in Japan bleiben, aber das war sowieso besser so. Und immerhin hatten sie jetzt ja beschlossen, dass sie mehr zusammenarbeiten mussten. Die Chancen standen also gut, dass sie sich nun öfter über den Weg laufen würden. Und so gehörte sich das. Sie waren vor Lussuria geflüchtet, der die gesamte Varia mit seiner plötzlich um Längen verstärkten Weihnachtswut terrorisiert hatte. Xanxus hatte keine Ahnung, wie genau er das geschafft hatte, aber irgendwie hatte der Idiot wohl Miura Haru diese hässlichen, selbst gestrickten Weihnachtsmützen abgequatscht und versuchte nun, sie ihnen anzudrehen. Daraufhin hatte Belphegor sich eine geschnappt, die groß genug war, hatte Mammon komplett reingestopft und das Teil dann zugeknotet. Daraufhin wiederum hatte Mammon das hässliche Ding irgendwie von innen schmelzen gelassen und dann dafür gesorgt, dass die Überreste der Wolle mitten in Bels Gesicht explodierten. Scheiß Illusionisten. Die Folge davon war gewesen, dass Bel ziemlich starkes Nasenbluten bekommen hatte und ein kleines Bisschen ausgerastet war. Nicht so sehr wie sonst, aber trotzdem unerträglich, weil er offensichtlich auch noch riesigen Spaß daran gehabt hatte. Belphegor und Mammon hatten also angefangen, sich zu prügeln, Lussuria hatte versucht, sie wieder davon abzubringen und hatte scheinbar beschlossen, dass er dafür die Hände frei haben musste. Deshalb hatte er das Bündel Weihnachtsmützen Levi in die Hand gedrückt. Und als der dann den Blick gehoben hatte und mit diesem beschissenen Zeug in den Händen Xanxus angeglotzt hatte wie ein Schaf, war es ihm und Squalo zu viel geworden. Squalo hatte ihm noch halblaut vorgeschlagen, er solle Levi befehlen, die Dinger zu essen, weil er das höchstwahrscheinlich widerspruchslos tun würde, aber Xanxus hatte eigentlich keine große Lust, sich das auch noch anzusehen. Also waren er und Squalo einfach wortlos gegangen und hatten die vier Idioten ihrem Schicksal überlassen. Squalo hatte gesagt, dass er die Arbeit vermisste, und Xanxus hatte bemerkt, dass er auch schon lang niemanden mehr abgeknallt hatte, also waren sie weggefahren, irgendwohin auf leeres Terrain, und hatten sich geprügelt. Einfach so. Es war eigentlich nicht einmal wirkliches Training, weil sie sich nicht genug anstrengten, um den anderen auch nur halbwegs zu verletzen, aber es war zumindest ansatzweise wie zu Hause, und das konnte man sich kurz vor Weihnachten ja mal erlauben. Irgendwann hatten sie genug, weil Squalos Schwert voller Matsch war und Xanxus‘ Waffe genauso, was es ziemlich widerlich machte, sie festzuhalten. Sie saßen auf einem umgekippten Baumstamm - der irgendwann ihren Attacken zum Opfe gefallen war -, kamen wieder zu Atem und blickten in die Landschaft und Xanxus wünschte sich, er hätte Alkohol mitgenommen, weil ihm langsam kalt wurde. Er hasste es, wenn ihm kalt war. »Weißt du«, sagte Squalo nach einiger Zeit und schnipste einen Brocken mittlerweile gehärteten Schlamm von seiner Klinge. »Als ich angedeutet habe, dass du nicht dauernd mit irgendwelchen dahergelaufenen Frauen schlafen sollst, hab ich eigentlich nicht gemeint, dass du stattdessen mit Sawada schlafen sollst.« Xanxus sah den grauen Horizont an und blinzelte, überlegte kurz hin und her, ob er ihn vielleicht verarschte, und dann drehte er nur stirnrunzelnd den Kopf zur Seite. »Nicht?« Nun war es Squalo, der perplex war, aber auch nur für einen kurzen Moment. Dann gluckste er. »Nein, nicht wirklich. Voooi – aber ich müsste mir ja sowieso Sorgen machen, wenn du mal auf mich hören würdest.« »Richtig«, sagte Xanxus nur und sah wieder nach vorn. Schien gar kein großes Thema für Squalo zu sein. Wahrscheinlich hatte er es nur ausprobieren wollen. Wenn Xanxus kein Drama daraus machte, machte er auch keines daraus. Braver Trottel. »Woher…?« »Ich bin dein einziger Freund. Ich kenn dich einfach.« »Ich vergaß.« »War’s gut?«, fragte Squalo. »Was meinst du, wieso ich gestern und vorgestern so gut drauf war?«, fragte Xanxus. Squalo rieb sich mit der rechten Hand die Augen und schüttelte den Kopf. »Scheiße, bist du krank«, sagte er, und dass er so amüsiert dabei klang, machte es nur noch gestörter. Dann sah er auf und musterte Xanxus prüfend. »Sag mir einfach nur, dass daraus keine Katastrophe wird.« »Woher soll ich wissen, was daraus wird?« »Ach, du bist bescheuert«, meinte Squalo und trat ihm gegens Schienbein. Xanxus versenkte seinen Ellenbogen in seinem Brustkorb und Squalo musste flüchtig nach Luft japsen, bevor er fortfahren konnte. »Versprich mir einfach nur so viel: Du hast ihn nicht vergewaltigt. Du trennst diese eklige Bettgeschichte von der Arbeit. Und du machst, wenn du fertig bist, mit ihm nicht das gleiche wie das, was du mit dem Kerl damals angestellt hast…« Das saß – Xanxus musste lauthals lachen, drehte sich weg, hustete kurz – die Raucherlunge – und wandte sich dann grinsend wieder Squalo zu. »Ich hab ihn nicht vergewaltigt. Wenn ich ihn flachlege, hat das nichts mit der Famiglia zu tun. Und nein, ich werd ihn nicht irgendwann halbtot prügeln und im Mittelmeer versenken.« »Gut…«, sagte Squalo, der über diese Sache auch etwas amüsierter zu sein schien als man eigentlich sollte. »Dann mach, was du denkst. Ich geh jetzt zurück. Mich bei Cat aufwärmen.« »Ich wünsch dir, dass sie sich irgendwann verweigert.« »Ich find dich auch wahnsinnig sympathisch, Xanxus.« Es ging nichts über einen besten Freund, der einen vögeln ließ, wen man wollte. Kapitel 23: Einundzwanzigster Dezember -------------------------------------- Ein bisschen tat es immer noch weh. Tsuna stand in seinem Zimmer und starrte aus dem Fenster, und mittlerweile ging es, wenn er stand, wenn er saß, wenn er lag. Es war jetzt wieder in Ordnung. Aber er spürte es noch immer. Immerhin war es nirgends sichtbar. Die Bisswunde, die heute aus zwei blassblauen Linien bestand, war in seiner Halsbeuge und damit gut unter seinem Hemd zu verstecken. Die restlichen Hämatome, die ihm noch das Leben schwer machten, waren an Stellen, die sowieso niemand zu Gesicht bekam. Niemand außer Xanxus. Tsuna schloss die Augen, lehnte sich nach vorn und legte seine Stirn gegen das kalte Glas. Seine Hand umklammerte den Türgriff, und er wollte diese verfluchte Tür aufreißen und vom Balkon in den Garten springen, und von dort aus rennen, einfach nur rennen, egal, wohin, durch die kalte Dezemberluft und irgendwohin, wo er nachdenken konnte. Wo er nicht hier war. In diesen Zimmern fiel ihm die Decke auf den Kopf, er konnte sich nicht konzentrieren, er wusste nichts mehr. Er wusste nicht, was mit ihm los war. Er wusste nicht, was mit ihm nicht stimmte. Tsuna kniff die Augen zusammen, presste malmend seine Zähne aufeinander und öffnete schließlich die Lider wieder, starrte verkrampft die kahlen Bäume und das grotesk grüne Gras da draußen an. Was sollte das? Wieso hatte er sich nicht gewehrt? Wieso hatte er nichts getan? Wieso tat er nun noch immer nichts, wieso ging er nicht los, um Xanxus Konsequenzen spüren zu lassen, wieso holte er sich nicht Hilfe von irgendwem? Und wieso klangen diese Fragen so verflucht falsch, gleich von Anfang an? Es lag auf der Hand, wieso er sich nicht gewehrt hatte. Es lag auf der Hand, wieso er sich jetzt immer noch nicht wehrte. Tsuna hatte sich wirklich größte Mühe gegeben, das Ganze auf den Alkohol zu schieben. Er trank nicht oft, er vertrug kaum etwas, und ja, an diesem Abend hatte er übertrieben. Er hatte nicht auf sich geachtet, weil er mit den Gedanken woanders gewesen war – bei Xanxus, ironischerweise. Weil er sich Sorgen gemacht hatte um diese »Zusammenarbeit«, die so verflucht gefährlich wirkte und von der er nicht sicher war, ob sie nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Darüber hatte er sich Gedanken gemacht, und dann hatte er zu viel getrunken und dann war das passiert. Ein Fehltritt im Rausch. Sonst nichts. Hatte er versucht, sich zu sagen. Aber spätestens, als er sich sicher gewesen war, dass er wieder vollkommen nüchtern war, hatte das nicht mehr geklappt. Weil der bloße Gedanke daran ihm immer noch Konzentrationsprobleme bescherte. Weil er sich sicher war, dass er sich auch jetzt nicht wehren würde. Weil er das fürchterliche Gefühl hatte, dass ihm das alles irgendwie gefallen hatte. Und weil er das fürchterliche Verlangen danach hatte, es noch einmal zu erleben. Ohne Alkohol. Voll und ganz. Die Besprechung mit Xanxus heute hatte er sich natürlich nicht deshalb organisiert. Gott, er wusste doch, wie Xanxus tickte, was das betraf. Er hatte One-Night-Stands, kurze Affären, sonst nichts. Er wiederholte nicht. Für ihn war das wahrscheinlich etwas Einmaliges gewesen, nur eine kleine Spielerei mit einem betrunkenen Jungen. Hätte man Tsuna vorher gefragt, ob Xanxus auch was mit Kerlen anfing, hätte er wohl erschrocken reagiert und den Kopf geschüttelt. Jetzt, da er darüber nachdachte, überraschte es ihn eigentlich nicht. Eigentlich überraschte ihn bei diesem Menschen überhaupt nichts mehr. Er wollte nicht zu dieser Besprechung. Erneut kniff Tsuna die Augen zu, presste seine Stirn gegen das Glas und wünschte sich, er könne einfach in diesem Fenster verschwinden und nicht mehr da sein. Er musste mit Xanxus reden, weil sich die Zeit der Gäste in Japan langsam dem Ende zuneigte, aber er wollte ihm nicht unter die Augen treten. Die Gefahr war zu groß, dass er irgendetwas bemerkte. Tsuna wusste, wie leicht er zu durchschauen war. Deshalb hatte er Angst. Er hatte Angst, dass Xanxus bemerkte, wie sehr er ein zweites Mal wollte, oder – schlimmer noch – wie sehr er glaubte, dass er ihn brauchte. Diese letzte Person, die ihn nicht behandelte wie ein Boss. Diese letzte Person, bei der er Verantwortung und Kontrolle abgeben und sich einfach gehen lassen konnte. Irgendetwas stimmte wirklich nicht mit ihm. Lang atmete Tsuna aus, sodass die Scheibe vor seinem Gesicht beschlug und sich warm und feucht anfühlte, dann löste er sich endlich vom Fenster und drehte sich zur Tür. Eine zitternde Hand fuhr flüchtig durch sein wirres Haar, dann riss er sich zusammen und stürzte sich ins Gefecht. Er hatte damit gerechnet, dass Xanxus darüber sprechen würde. Wie auch immer. Dass er sich darüber lustig machen würde, oder direkt über ihn, oder dass er vielleicht anfing zu drohen, damit Tsuna niemandem davon erzählte. Er hatte erwartet, dass irgendetwas passierte. Er konnte doch nicht der einzige sein, der mit irgendwelchen Folgen leben musste, irgendetwas da draußen, außerhalb von ihm, musste sich doch auch tun. Mindestens bei Xanxus. Aber er war so undurchsichtig wie immer. Er saß nur da, mit ausgestreckten Beinen und gelangweiltem Gesichtsausdruck, und sprach mit ihm über die Arbeit. So, als sei gar nichts passiert. Sie würden sich um mehr Kontakt bemühen. Damit Xanxus weiterhin ein Mitspracherecht in den Plänen der Vongola hatte und es ihm weiterhin sagen konnte, wenn sie nicht ausreichend für die Mafiawelt waren. Sie würden mehr Schriftverkehr aufrecht erhalten. Und sie würden sich öfter treffen. Tsuna wurde schlecht von diesem Teil in ihm, der sich darüber freute. Tsuna wurde von allem schlecht. Tsuna hatte Angst, weil er wusste, dass er nichts gegen das unternehmen würde, was auf ihn zukam. Kapitel 24: Zweiundzwanzigster Dezember --------------------------------------- »Mädels. Es gibt schlechte Neuigkeiten.« Alarmiert sahen Alaine, Kiki und Black Jack auf zu ihrem Boss, die mit ernstem Gesicht die Tür hinter sich schloss und seufzte. »Was ist los?«, fragte Al leise. »Al«, sagte Cat, fuhr sich flüchtig durchs Haar und sah ihrer rechten Hand in die Augen. »Wir haben sie verloren. Die fünfunddreißig Euro.« Einen Augenblick lang war alles still. Und dann waren gleichzeitig Als und Black Jacks »Was?« und Kikis Lachen zu hören. Cat grinste, zuckte die Achseln und setzte sich zu den drei Grazien an den Tisch. »Ganz frische Info«, sagte sie und lehnte sich zurück. »Mein Informant hat mir eigentlich ans Herz gelegt, ich sollte das nicht ausplaudern, aber bei uns vieren sind Geheimnisse ja sicher und immerhin geht es um ein Vermögen. Kiki, Blackie, ihr müsst die fünfundsechzig Euro jetzt irgendwie unter euch aufteilen. Herzlichen Glückwunsch. Xanxus und Tsuna haben was miteinander.« »Heilige Scheiße«, sagte Alaine laut. »Jetzt sag mir nicht, Xanxus hat Squalo das erzählt«, meinte Black Jack, der natürlich klar war, woher Cat dieses Wissen hatte. Sie gluckste. »Nee, hat er wohl auch nicht. Squalo meinte, ihm ist das auch ohne Worte aufgefallen. Ich glaub ihm. Wenn es um Xanxus geht, bemerkt er sowas.« »Boah, die beiden sind so schwul«, sagte Kiki inbrünstig. »Kannst du jetzt vielleicht mal aufhören, Xanxus zu verkuppeln?«, fragte Alaine, die noch immer sichtlich geschockt war. »Ja, vor allem, wenn es dabei auch um meinen Freund geht«, gluckste Cat. »Sorry, Boss.« Cat nickte und dann war es still. Alaine konnte nicht aufhören, immer wieder den Kopf zu schütteln. Es war offensichtlich, dass sie sich ekelte. Blackie schien das Ganze eher kalt zu lassen, während Kiki sich einfach nur übermäßig freute – wieso auch immer. »Tja«, machte Black Jack irgendwann. »Wer hätte das gedacht.« Und damit war eigentlich alles gesagt. Belphegor war jetzt einundzwanzig Jahre alt. Naito hatte ihm das schiefste Geburtstagslied gesungen, das er je in seinem Leben gehört hatte, dann hatte er nachgefragt, ob auch wirklich wieder alles in Ordnung sei, weil seine kleine Kabbelei mit Mammon vorgestern doch ziemlich ausgeartet war, und dann hatte er ihm wirklich ein Geburtstagsgeschenk überreicht. Woher er überhaupt wusste, dass Bel Geburtstag hatte, wusste er nicht so recht. Er hatte ihn gefragt, und Naito hatte ihn nur schräg angesehen und gesagt, er sei schließlich ein Mafiaboss. Also lag die Vermutung nah, dass er ihn irgendwie … gestalkt und dadurch herausgefunden hatte, dass es heute war. Das war unheimlich. Aber so war Naito ja oft. Der Rest hatte es wahrscheinlich vergessen, aber das war nicht schlimm, weil es jeder jedes Jahr vergaß. Belphegor hatte auch keine Ahnung, wann seine Kollegen Geburtstag hatten. Er wusste es nur von Xanxus, erstens weil das Datum leicht zu merken war, und zweitens weil Levi an diesem Tag jedes Jahr aufs Neue ins Krankenhaus befördert wurde. Den Rest wusste er also nicht, und er war auch froh, dass Menschen wie Lussuria nichts von seinem Geburtstag wussten, denn Belphegor stand nicht so auf laute, große Feiern. Auch ein Überbleibsel von früher, aber egal. Jetzt stand Naito vor ihm und grinste ihn an wie ein Honigkuchenpferd und Belphegor hatte das Glas mit dem Frosch in der Hand und wusste nicht, ob er lachen oder schreien sollte. »Was … soll ich denn mit dem?«, fragte er schließlich. Naito zuckte die Achseln. »Weiß nicht! Kannst ihm eine Leiter hinstellen und dann zeigt er dir das Wetter an! Sagt man doch so! Oder du spielst mit ihm! Oder es wird einfach nur der erste deiner Sammlung!« Ja, wie auch immer. War Belphegor eigentlich egal, was er nun mit dem Frosch anstellen würde, er fand es einfach nur bemerkenswert, dass er überhaupt existierte. Das hier war sein erstes Geburtstagsgeschenk seit Jahren. Und vielleicht war es ja sogar irgendwie cool… Oh Gott, er war verknallt. Bel wusste nicht ganz, wieso, aber er würde den Frosch Fran nennen. Kapitel 25: Dreiundzwanzigster Dezember --------------------------------------- Es war ihm nicht entgangen. Die Blicke im Gespräch, das Händeringen, die Angst. Natürlich hatte er das bemerkt. Sawada hatte Schiss, dass es ihm auffiel, und das zurecht. Es war schwer zu übersehen gewesen, fand Xanxus. Der Junge hatte eindeutig Gefallen an ihm gefunden. Xanxus hatte angefangen, die Menschen zu analysieren, als sie Belphegor in die Varia gelassen hatten. Er und Squalo hatten damals Stunden damit verbracht, zu rätseln, was mit einem achtjährigen Massenmörder nicht stimmen konnte, und es war immer interessanter geworden. Xanxus hatte sich immer mehr damit beschäftigt, hatte Squalo und Levi und Lussuria analysiert und die Psychen seiner Gegner auswendig gelernt, bevor er ihnen entgegen getreten war. Nur von sich selbst hatte er stets abgesehen. Und jetzt Sawada. Es war logisch. Es war so herrlich logisch. Es fügte sich dermaßen perfekt zusammen, dass Xanxus womöglich besser gelaunt war als er es seit den Ringkonflikten je gewesen war. Er stand bei offener Tür auf seinem Balkon, es war kühl, aber das störte nicht. Xanxus hatte seine Hand verbunden und bewegte immer wieder vorsichtig seine Finger durch, damit die wieder voll funktionsfähig waren, wenn er zurück nach Italien kam. Die Brüche waren schon wieder fast verheilt, auch ohne Lussurias Hokuspokus. Wirklich gestört hatte es ihn eigentlich nicht, weil Xanxus sich ständig die Finger an irgendwelchen Wänden brach und man sich mit der Zeit daran gewöhnte, aber seit der Nacht mit Tsuna drückten sie wieder ein bisschen. Er hatte sie eben ein bisschen mehr und ein bisschen anders bewegt als sonst, deshalb musste der Verband sie jetzt doch noch stützen. Eigentlich gab er nicht viel auf Medizin, aber krumm verwachsen musste seine Hand ja nun auch nicht. Es klopfte. Xanxus neigte den Kopf auf die Seite und betrachtete stirnrunzelnd das Balkongeländer. Squalo würde nicht klopfen. Den Rest der Varia hätte er längst lauthals gehört. Blieben nicht mehr viele übrig. »Ist offen«, sagte er laut und drehte sich langsam um, als die Tür geöffnet wurde. Im ersten Moment sah Tsuna ihm noch in die Augen, so, als sei er fest entschlossen, das von nun an immer zu tun. Dann verzogen sich seine Mundwinkel und der Blick fiel, noch bevor er die Tür wieder geschlossen hatte. »Ich will mit dir reden«, erklärte er Xanxus‘ Schuhen. Xanxus zog eine Braue hoch, unterdrückte ein Schmunzeln und trat vom Balkon zurück ins Zimmer. Auch er schloss die Tür hinter sich, schob die nicht bandagierte Hand in die Hosentasche und beobachtete ihn aufmerksam. »Worüber?« Kurz schloss Tsuna die Augen, schaffte es dann zumindest, seinen Oberkörper anzusehen. »Über Freitagnacht.« »Wirklich?«, fragte Xanxus, ohne, dass es wirklich nach einer Frage klang. »Haben das Wasser und die Gurken geholfen?« Jetzt sah er ihn wieder an, aber erst, nachdem er gut sichtbar die Augen verdreht hatte. »Das meine ich nicht.« »Oh.« Er konnte ein Arschloch sein. Und er war es so gerne. »Sondern?« »Das… Xanxus, das weißt du doch ganz genau!« Natürlich wusste er das. Deshalb war er ja auch bereits jetzt so furchtbar amüsiert. »Sprich’s einfach aus, Sawada«, schlug er tonlos vor. Tsuna holte Luft, sah ihn an, sah wieder weg, atmete aus und verzog das Gesicht. Xanxus sah, wie sein Bick ihn kurz streifte, dann runzelte der Junge die Stirn. »Was… Was ist denn mit deiner Hand passiert?« Seine Hand. Xanxus gluckste. Okay, er konnte sich nicht einmal sicher sein, ob er das nun fragte, um vom Thema abzulenken, oder ob sich Tsuna tatsächlich um seine verbundenen Finger sorgte. Vielleicht war es ein bisschen von beidem. Xanxus sagte nichts, wies stattdessen nur mit eben dieser Hand über Tsunas Schulter, wo neben der Tür noch immer ein großes Loch in der Wand prangte. Tsuna folgte seinem Deut mit dem Blick und brachte ein leises »Oh.« heraus, dann schwieg er wieder. Er schämte sich. Er traute sich nicht. Er bekam einfach den Mund nicht auf. Ein weiteres Mal fragte sich Xanxus, ob Tsuna wusste, dass er sich mit genau diesem Verhalten noch mehr in Schwierigkeiten brachte. Aber am Ende konnte ja nicht jeder über seine verkorkste Psyche Bescheid wissen. »Du willst mit mir über Freitagnacht reden«, wiederholte Xanxus, der sich eigentlich von vornherein darüber bewusst gewesen war, dass Tsuna dazu nicht in der Lage sein würde. Langsam näherte er sich seinem Gegenüber, schmunzelte über den entsetzten Blick, der dafür kurz in sein Gesicht und direkt darauf wieder auf seine Schuhe huschte. »Ich nehme an, du wolltest mir sagen, dass es ungünstig für uns beide ist. Und nicht gesund. Und alles andere als vernünftig. Und dass wir es deshalb lieber nicht wiederholen sollten, wenn wir uns bald öfter sehen.« Erst, als Xanxus direkt vor ihm stand, legte Tsuna den Kopf etwas zurück und sah mit gigantischen Augen zu ihm hoch. Dann ging er rückwärts. Und Xanxus folgte ihm. »Und ich nehme an«, fuhr er fort, seine Stimme gesenkt und quälend belustigt, »du kannst mir nichts davon ins Gesicht sagen. Rede dir ruhig ein, dass es an der Angst vor mir liegt, Tsunayoshi. Rede dir ein, was du willst. Wir wissen beide, dass es nicht stimmt. Du kannst all das nur deshalb nicht aussprechen, weil du ein schlechter Lügner bist – und es nicht der Wahrheit entspricht.« Tsunas Rücken stieß gegen die Tür, er schluckte schwer. Jetzt schien er den Blick gar nicht mehr von Xanxus‘ gesenkten roten Augen abwenden zu können, und Xanxus genoss diesen Moment. Er sprach wenig und ungern, aber diesmal konnte er eine Ausnahme machen. Weil es darum ging, Sawada von innen auseinander zu nehmen, ihn zu analysieren und damit buchstäblich an die Wand zu argumentieren, und ihm zu zeigen, dass es jetzt keinen Ausweg mehr gab. »Du hast gehofft, dass das irgendwann passiert«, raunte Xanxus, den Kopf gesenkt und nunmehr ein schmales Grinsen auf den Lippen. »Wenn du es nicht sogar unterbewusst darauf angelegt hast – dass irgendjemand kommt und dich unterwirft. Dass es irgendjemand endlich wagt, zu nihilieren, was du in den letzten Jahren erreicht hast. Du wolltest diesen Job nie. Das weiß ich genauso gut wie es du und deine Wächter wissen. Du wolltest ihn nicht, aber du hast ihn angenommen und du meisterst ihn, du bist – zugegebenermaßen – nicht schlecht. Und jetzt? Jetzt fehlt dir etwas. Jemand.« Xanxus machte eine Pause, betrachtete die haselnussbraunen Augen, die das Unheil kommen sahen. Er kam noch näher, zwischen ihren Körpern flimmerte die fehlende Berührung, und als er weitersprach, war er noch leiser. »Ist nicht leicht, Boss zu sein, hm?«, sagte er mit einem unüberhörbaren Hauch von Spott in der Stimme. »Anstrengender Beruf. Gerade, wenn man es nicht gewohnt ist. Und wenn man ständig dieses hohe Maß an Kontrolle hat, kommt man irgendwann an den Punkt, an dem man wenigstens einen Teil davon abgeben will, nicht wahr? Du willst jemanden, der dir Entscheidungen abnimmt und dich nicht einmal fragt. Du willst jemanden, der vor dir läuft, statt dir hinterherzurennen, damit du dich wieder irgendwo orientieren kannst. Du willst jemanden, dem es am Arsch vorbeigeht, ob du die verfickte Vongola anführst oder nicht. Jemanden, der dich nicht halb so viel respektiert wie die anderen Idioten. Jemanden, der dich anführt.« Wieder landete seine gesunde Hand neben Tsunas Kopf an der Tür, als Xanxus den letzten Rest Distanz zwischen ihnen nahm und sich so weit hinab beugte, dass sein Atem Tsunas Ohr streifte und der Junge spürbar erschauderte. »Du brauchst mich und du wirst mir nie sagen können, dass ich aufhören soll«, hauchte er. »Weil du nicht willst, dass ich aufhöre. Du weißt selbst genau, wie sehr du dir diesen Kontrollverlust gewünscht hast. Du willst nicht, dass ich gehe. Du willst, dass ich genau da bleibe, wo ich bin, und dir weiterhin genau das nehme, wofür sie dich da draußen anpreisen.« Er konnte sein Herz hämmern hören, und seinen flachen Atem. Und er konnte spüren, wie er, ganz kurz, ganz zaghaft, den Kopf schütteln wollte. Und Xanxus schnaubte belustigt. »Du bist ungefähr zehn Zentimeter von der Türklinke entfernt, Sawada«, sagte er leise. »Du hättest die ganze Zeit gehen können. Wieso hast du es nicht getan?« Für einen Moment stand die Welt still. Nichts regte sich, niemand tat etwas, niemand sprach. Und dann löste sich Tsunas Körper aus der Verspannung, und sein Kopf fiel nach vorn, einfach so, als habe jemand eine Schraube gelockert. Seine Stirn berührte Xanxus‘ Schulter, und dann hoben sich seine dünnen Arme, zitternd, zögernd, bis sich seine Finger in den Stoff von Xanxus‘ Hemd krallten. Er sagte nichts. Aber das war auch nicht nötig. Ein triumphierendes Grinsen legte sich auf Xanxus‘ Lippen, als seine bandagierten Finger ein weiteres Mal fest um Tsunas Haare griffen und die andere Hand bereits langsam von seiner Schulter aus auf dem Weg abwärts war. Würde er sich heute eben doch nicht schonen. Kapitel 26: Vierundzwanzigster Dezember --------------------------------------- Er träumte davon, wie er auf dem Bett kniete und die Hand in seinem Haar seinen Kopf bewegte, weil er selbst kaum noch dazu in der Lage war, sich zu rühren. Er träumte davon, wie er würgte und schluckte und würgte und schluckte und auf die Seite fiel und zusammenbrach. Er träumte davon, wie die Finger von seinen Haaren abließen und stattdessen über seinen Nacken strichen. Er träumte davon, wie er das als stilles Lob verstand und erschauderte. Er träumte davon. Tsuna wachte nicht auf. Er kam zu sich. Die Welt um ihn herum musste sich erst wieder formen, musste erst wieder Sinn ergeben, und er musste erst wieder lernen, zu sehen, zu spüren, zu atmen. Er hörte ein entferntes Stöhnen und verstand kurz darauf, dass er das selbst gewesen war. Tsuna kniff die Augen zu, bevor er sie gänzlich öffnete und doch wieder gegen das helle Licht blinzeln musste. Wieder war da dieser Geruch nach Schweiß, Alkohol und Tabak. Und Sex. Diesmal roch es definitiv auch nach Sex. Er rieb sich die Augen und drehte sich auf den Rücken, und dann sah er ihn neben sich liegen. Xanxus war wach. Er lag rücklings da und sah an die Decke und war wach. Tsuna drehte sich wieder auf die Seite, nur diesmal auf die andere, sodass er ihn beobachten konnte. Er lag rechts von ihm und sah die Narben nicht und stellte zum ersten Mal fest, wie anders er von dieser Seite aussah. Einige Sekunden lang war es still und Tsuna überlegte schon, ob ihm vielleicht gar nicht aufgefallen war, dass er wach war, dann holte Xanxus Luft und begann zu sprechen. »Ich war seit fünf Jahren nicht mehr richtig ausgeschlafen«, sagte er, und Tsuna musste sich augenblicklich zusammenreißen, um ihm nicht sein Mitleid auszusprechen. »Ich bin seit fünf Jahren nicht mehr mit dem Gedanken aufgewacht, dass ich jetzt problemlos und ohne irgendwelche Wutanfälle aufstehen könnte.« Xanxus drehte den Kopf etwas auf die Seite und schielte zu ihm, und das Stirnrunzeln machte Tsuna Angst. »Heute schon. Erklär mir das.« Tsuna öffnete den Mund und schloss ihn wieder, sah ihn perplex an. Er wusste keine Erklärung. Er konnte sich gar nicht genug konzentrieren, um überhaupt über eine Erklärung nachzudenken. Das einzige, was ihm einfiel, war, dass diese fünf Jahre genau die Jahre nach Xanxus‘ Befreiung aus dem Eis waren und es ihm unglaublich leid tat, dass er deshalb offenbar nicht einmal mehr ruhig hatte schlafen können. Aber immerhin hatte er noch genug Selbsterhaltungstrieb, um das nicht auszusprechen. Xanxus gluckste nur kurz und drehte den Kopf dann wieder weg. »Ist ja auch egal«, sagte er leise. »Du solltest duschen…« Augenblicklich spürte Tsuna, wie sein gesamtes Gesicht heiß wurde und er rot anlief. Ja. Ja, wahrscheinlich sollte er wirklich duschen. Er sagte nichts, rollte sich nur vom Bett und stand auf – und wäre fast der Länge nach hingefallen. Die Schmerzen waren nicht ganz so schlimm wie vergangene Woche, aber sie waren zweifellos da. Wie sehr Xanxus das Ganze amüsierte, bekam er glücklicherweise nicht mit. Er bewegte sich bloß unsicher in Richtung Bad, schaffte es, auf dem Weg die wichtigsten seiner Klamotten aufzusammeln und verschwand schließlich mit einem hörbaren Seufzer hinter der Tür. Den Rest der Tag verbrachte er damit, sich in Arbeit zu stürzen. Das große Essen für den Abend musste vorbereitet werden, und selbstverständlich die Geschenke. Und natürlich hielt er sich die meiste Zeit bei seiner Famiglia auf, bei seinen Wächtern, die ihn alle misstrauisch beäugten. Tsuna kam sich schlecht vor, weil er ihnen nichts sagte. Aber das konnte er nicht, noch nicht. Hayato würde austicken, das wusste er. Und irgendwie wollte er erst abwarten, bis es eine Weile lief, damit er ihm sagen und zeigen konnte, dass es ihn auch auf die Dauer nicht tötete und ihm eigentlich sogar gut tat. Und irgendwie, ja, war er wirklich davon überzeugt, dass es so laufen würde. Er verschickte die Karten, die sie vorher zusammen vorbereitet hatten. Jeder einzelne Gast, der anwesend war, bekam einen Dank der Familie und die Einladung, jederzeit wiederzukommen. Das war alles, aber Tsuna wäre sich blöd vorgekommen, hätte er jedem hier ein Geschenk angedreht. Das wäre einfach nur unpersönlich geworden – er hätte höchstens Geld verschenken können, aber gerade vom Boss der Vongola hätte das wohl unnötig protzig gewirkt. Schließlich bereitete er noch die Geschenke für die Leute vor, die ihm näher standen. Für seine Wächter natürlich – aber auch alle Bosse, mit denen er verbündet war, bekamen etwas. Als er fertig war, brummte sein Kopf, er hatte sich mehrmals versehentlich mit der Schere geschnitten und an seinen Klamotten klebten überall Tesafilm und Geschenkpapier, aber es war geschafft und er konnte endlich in den Großen Saal, um das gigantische Weihnachtsessen zu eröffnen. Und damit war schließlich alles in Ordnung. Weihnachten tat seinen Dienst und sorgte dafür, dass sich um Tsuna herum alles zu beruhigen schien. Er saß beim Essen und sah immer wieder in die Runde und der Saal war voll und alle waren hier, all seine Freunde, seine Familie, seine Verbündeten – so ziemlich jeder, der zu seinem Leben gehörte. Alle saßen in diesem Raum und aßen und tranken und unterhielten sich und sahen glücklich aus. Und selbst seine Freunde ließen ihn nun einfach sein, sprachen stinknormal mit ihm und hatten die argwöhnischen Blicke abgelegt. Weil auch Tsuna glücklich aussah. Kapitel 27: Fünfundzwanzigster Dezember --------------------------------------- Er fühlte sich schon wieder ausgeschlafen. Das war nun also schon das zweite Mal in Folge. Und das war absolut neu. Aber er beschwerte sich nicht. Das Essen war verflucht gut gewesen. Sawada hatte ihnen allen einen Gefallen getan und sich an die italienischen Traditionen gehalten. Braver Junge. Das hieß also, heute früh würde es auch Geschenke geben, aber Xanxus rechnete mit nichts – abgesehen von dem üblichen Mist, den Levi ihm vor die Tür legen würde, aber der wusste ja, was er dafür im Gegenzug bekam. Er und Squalo hatten sich noch nie irgendwas geschenkt, sie gingen nur jedes Jahr irgendwann nach Silvester zusammen trinken und damit hatte sich die Sache dann auch erledigt. Als er gestern Abend müde und satt ins Bett gefallen war, hatte er den Idioten mit seiner vorlauten Freundin nebenan noch gehört. Und es war ihm unglaublich egal gewesen. Vielleicht hatte das an der Müdigkeit gelegen. Aber vielleicht hatte es auch daran gelegen, dass er nicht mehr halb so frustriert war wie zu Anfang dieses Monats. Er hatte ein Opfer gefunden. Xanxus hatte jemanden gefunden, mit dem er anstellen konnte, was er wollte, und er sprang ihm dazu auch noch regelrecht in die Arme. Jemand, der seine Art auch noch begrüßte. Jemand, zu dem seine ganze kranke Scheiße passte. Obwohl, eigentlich war ihm das ja ziemlich egal. Ob es Sawada nun passte oder nicht. Das war ein praktischer Nebeneffekt, aber nicht so wichtig. Die Bezeichnung Opfer passte definitiv besser. Xanxus stand auf und zog sich an und wollte eigentlich ohne Umschweife zum Frühstück gehen, doch als er seine Zimmertür öffnete, lagen da zwei Pakete. Das war eines zu viel. Das rechte war ungelenk verpackt, ein bisschen verbeult und hässlich beschriftet. Xanxus kickte es mit der Ferse in sein Zimmer, er würde sich später ansehen, was für einen Müll Levi ihm diesmal besorgt hatte, und ihn dann, wenn sie wieder in Italien waren, dafür vor versammelter Mannschaft in Grund und Boden stampfen. Das linke war einfach nur ein Karton – ein Karton, auf dem eine Flasche lag, und auf der wiederum haftete ein Zettel. Xanxus ging in die Hocke und nahm die Flasche in die Hand, betrachtete die klare Flüssigkeit darin einen Moment lang und schenkte seine Aufmerksamkeit dann dem etwas ungeschickt beschriebenen, weißen Blatt Papier, das mit Tesafilm daran befestigt worden war. Eigentlich hatte ich mir lange und viel Gedanken darum gemacht, was ich dir heute zukommen lassen könnte. Ich hätte dir gern etwas geschenkt, was gesund für dich ist. Zum Beispiel irgendetwas, woran du dich ohne Schaden abreagieren kannst, damit du keine Löcher mehr in die Wände fremder Häuser schlagen musst. Aber auch mir ist klar, dass du das sowieso nicht mehr tun wirst, wenn du zurück in deiner Heimat bist. Da wirst du wieder deine Rekruten und Mitglieder verschlagen und ich weiß, dass dich kein Boxsack der Welt davon abhalten könnte, Weihnachtsgeschenk hin oder her. Zumindest kann ich deshalb davon ausgehen, dass deine Finger sich, zurück in Italien, schnell wieder erholen werden, weil deine Leute sicherlich weicher sind als meine Wände. Also habe ich den Gedanken beiseitegelegt und mich darauf beschränkt, dir einfach etwas zu schenken, was dich hoffentlich freuen wird. Die Flasche, die du jetzt in der Hand hältst, ist gefüllt mit dem besten Sake, den man hierzulande in die Finger bekommen kann. Und der Karton vor dir ist mit noch mehr Flaschen gefüllt. Bitte tu mir einen einzigen Gefallen und mach ihn nicht sofort leer. Frohe Weihnachten, Xanxus. Tsunayoshi Xanxus zog die Brauen weit hoch und schmunzelte flüchtig. Wer hätte das gedacht. Wenn der Junge schrieb, hatte er also eine richtig große Klappe. Er faltete den Zettel und steckte ihn weg, schraubte die Flasche auf und roch daran, schraubte sie dann wieder zu und warf einen Blick in den Karton. Doch. Doch, ja, das war eindeutig ein ganzer Karton voller Sake. Dagegen konnte er nun nichts sagen, das musste er Sawada zwangsläufig lassen – das Weihnachtsgeschenk war ihm gelungen. Levi hatte ihm mehrere Paare unwahrscheinlich hässlicher Socken geschenkt. Vielleicht würde er ihn zwingen, die zu essen oder so. Mal sehen. Das ließ er dann auf sich zukommen. Squalo hatte außerordentlich gute Laune (wahrscheinlich hatte Cat ihm noch mehr Sex geschenkt oder sowas), der war an Weihnachten sowieso immer extrem seltsam drauf, und sie verbrachten den Großteil des Tages damit, mit den Varia-Offizieren und der Foggia-Elite im Anwesen herumzuhängen und über Feiertage, Winter, Japan, Frauen, Männer, Schnee und Kuba zu lästern, bis sich zum Mittagessen die Gruppe verlor. Er arbeitete noch ein bisschen, damit er, wenn sie bald zurück in die Varia-Residenz fliegen würden, kein vollkommenes Chaos vorfinden musste, und dann hatte er genug. Xanxus schnappte sich seine neue Flasche Sake, verließ sein Zimmer und machte sich auf die Suche nach Tsuna. Der sollte auch was von seinem Geschenk haben. Jemand in seinem Hinterkopf sagte ihm permanent, dass er viel zu sehr auf diesen kleinen Idioten stand. Aber genau dafür war so etwas wie Sake ja da – um diese Stimmen guten Mutes zu ertränken. Kapitel 28: Sechsundzwanzigster Dezember ---------------------------------------- Abreisetag. Dino und seine Leute waren schon weg. Naito glücklicherweise auch – Tsuna fand ihn immer noch unheimlich. Und nervig. Er war müde und ihm war schon den ganzen Tag schlecht. Tsuna fiel es schwer, sich stundenlang von allen möglichen Leuten zu verabschieden. Er fand es schade, dass sie alle gingen, aber auf der anderen Seite freute er sich auch darüber, dass der ganze Trubel nun vorbei war und er Silvester wieder im engeren Kreis seiner Freunde und Familie würde feiern können. Xanxus hätte er gern noch dabei gehabt. Aber das beruhte sicherlich nicht auf Gegenseitigkeit. Tsuna war sich ziemlich sicher, dass der Boss der Varia froh war, zu seinen Leuten zurückkehren zu können, und immerhin war es auch allgemein bekannt, dass Xanxus Japan nicht besonders mochte und Italien eindeutig vorzog. Er wollte trotzdem nicht, dass er ging. Tsuna hatte das Gefühl, dass er ihm noch unglaublich viel sagen musste. Bisher hatten sie eigentlich fast nur Sex gehabt, und wenn sie mal gesprochen hatten, dann über das Geschäft – abgesehen eben von diesem einen Mal, wo Tsuna alles hatte ansprechen wollen. Und das war dann darin ausgeartet, dass Xanxus ihm einfach so seine Psyche erklärt hatte. Tsuna hatte darüber nachgedacht und es stimmte, aber es fühlte sich trotzdem falsch an. Weil es eben Xanxus gewesen war, der ihm etwas über ihn erzählt hatte, und das war falschherum. Immerhin war Tsuna zu ihm gekommen, um ihm selbst zu sagen, wie er fühlte, und das war gründlich in die Hose gegangen. Und heute war seine letzte Chance, es noch einmal zu versuchen. Ohne zu stammeln und letztendlich doch den Mund nicht aufzubekommen. Und Tsuna wollte das schaffen, weil es einfach nicht richtig war, dass er nicht fähig schien, sich über seine eigenen Gedanken klar zu werden. Irgendwie wollte er Xanxus doch beweisen, dass er auch selbst auf sowas kommen konnte. Und deshalb stand er nun hier, und ihm war immer noch schlecht, und er versuchte, einfach nur zu atmen und sich Worte zurechtzulegen. Die Varia ließ sich Zeit mit ihrer Abreise. Belphegor hatte extrem lang geschlafen (Dass das daran lag, dass er sich schon am vorigen Abend von Naito verabschiedet hatte und nun dessen Weggang nicht mitbekommen wollte, wusste natürlich niemand.), Squalo und Cat waren auch noch eine Weile lang beschäftigt gewesen und der Rest hatte sich einfach daran erfreut, dass er noch etwas hatte essen können, was von den großen Festmahlen der letzten Tage übrig geblieben war. Nur Xanxus hatte sich den ganzen Tag noch nicht blicken lassen. Die Foggia war nun auch gegangen, Squalo war schlecht drauf (dabei würde er sie in ein paar Stunden wiedersehen – Tsuna musste sich zusammenreißen, um das nicht einfach unfair zu finden) und die Varia machte sich bereit. Um Xanxus schien sich niemand zu sorgen und auch als Tsuna nun vor seiner Tür stand, hörte er von innen Geräusche. Wahrscheinlich hatte er sich den ganzen Abschiedskram einfach nicht antun wollen. Er schloss die Augen, ging ein letztes Mal im Stillen durch, was er ihm alles sagen wollte, dann klopfte er. »Komm rein.« Wie es aussah, ahnte Xanxus, wer da vor seiner Tür stand. Tsuna verzog das Gesicht, holte tief Luft und trat schließlich ein. Das Zimmer war ordentlich, in der Ecke stand ein großer Koffer und Xanxus war gerade dabei, sich seinen Mantel über die Schultern zu werfen, als Tsuna die Tür schloss. Ruhig lagen die roten Augen auf ihm, er zog abwartend die Brauen hoch und Tsuna fühlte sich, als schrumpfe er in diesem Moment um die Hälfte seiner Körpergröße. »I-Ich…«, begann er stockend und hätte sich dafür am liebsten selbst geschlagen. »Ich wollte noch mit dir reden, be-…bevor du gehst.« Das schien Xanxus zu amüsieren. Und das war unheimlich. »Aha«, antwortete er. »Also?« Scheiße. Tsuna fluchte innerlich, richtete sich dann jedoch etwas auf und erinnerte sich daran, dass er sich ja extra Worte zurechtgelegt hatte, die beschrieben, was er Xanxus noch wissen lassen wollte. Gleich darauf jedoch kamen ihm genau diese Worte unnötig vor, weil Xanxus das alles sowieso schon wusste, und überhaupt konnte er das gar nicht aussprechen, und es war schon wieder so wie vorher, er stand schon wieder hier herum und bekam nichts über die Lippen, obwohl er es sich fest vorgenommen hatte. Xanxus stand da und beobachtete ihn stumm – Tsuna bemerkte kaum selbst, dass er es schaffte, den Blick in seine gefährlichen Augen aufrechtzuerhalten, während er auf seiner Unterlippe herumbiss und nicht wusste, was er nun hier mit sich anfangen sollte. Bis ihm alles doch ganz einfach vorkam. Er wollte Xanxus mitteilen, was mit ihm los war, er wollte ihn irgendwie spüren lassen, was ihm das bedeutete, was hier passiert war, und wenn er das nicht aussprechen konnte, dann musste er es eben anders regeln. Mit wenigen Schritten hatte er den Raum durchquert, er hatte noch ein paar Sekundenbruchteile Zeit, um sich über Xanxus‘ überraschten Blick zu amüsieren, bevor er die Hände auf dessen Schultern legte, sich auf die Zehenspitzen stellte und ihm einen Kuss auf die Lippen drückte. Ehe Xanxus ihn von sich werfen, treten oder vermöbeln konnte, nahm Tsuna wieder Abstand, ignorierte die unglaubliche Wärme in seinem Gesicht und schenkte Xanxus noch ein verhaltenes, aber breites Lächeln, bevor er sich umdrehte und wieder aus dem Zimmer eilte. Epilog: Im Kreis ---------------- Bei der »offiziellen« Verabschiedung der Varia hatte Xanxus sich nichts anmerken lassen. Auch nach ihrer Abreise war es zwischen ihm und Tsuna zunächst einmal still geblieben. Er hatte den üblichen Gruß zu Silvester per Post bekommen und weiter gelebt, wie er vorher auch gelebt hatte. Squalo war es egal und der Rest der Varia wusste selbstverständlich nichts darüber – dass Tsuna es in Japan seinen engen Freunden erzählte und sich dafür eine ganze Weile lang rechtfertigen musste, bekam er nicht mit, und selbst wenn, hätte es ihn nicht gekümmert. Xanxus hielt sich weiterhin mit One-Night-Stands über Wasser, die ihn nervten und frustrierten, aber na ja – besser als Enthaltsamkeit war es. Mit den verstreichenden Monaten fing das Leben wieder an, ihm auf den Sack zu gehen. Es gab schlicht und einfach keine Entscheidungen in der Famiglia, die wichtig genug waren, dass er und Tsuna sich treffen müssten, um sie zu fällen. Der Junge war zu feige und Xanxus war zu stolz, um vorzuschlagen, dass sie die Reise eben einfach so mal antraten, um sich zu sehen, weil sie das eben wollten. Sein Sake-Vorrat wurde kleiner, seine Laune wurde schlechter und seine Rekruten wurden wieder ängstlicher, bis im Frühjahr der nächste Brief eintraf. Mit der scheuen Überlegung Sawadas, ob die Varia nicht Lust hatte, die Osterzeit in Japan zu verbringen. Ende »Voooi, Cat! Ich hab gehört, du hattest mal was mit ‘ner Frau!« »Ich? Wer erzählt dir denn sowas?« »Hab Black Jack bei Luigi’s getroffen. Sie war betrunken.« »Und dann erzählt sie also solche Sachen über ihren Boss. Und wann soll das gewesen sein?« »Bevor du wieder nach Italien gekommen bist.« »Mhm… Du weißt ja, wo ich in der Zeit vor Italien war, richtig?« »Finnland. Stimmt die Geschichte etwa?« »Jap.« »Voooi –« »Denk mal genauer drüber nach, Squalo. Welche Frauen kamen in Finnland denn so für mich in Frage?« »…« »Genau. Eine ziemlich alte Finnin, eine flachbrüstige, vorlaute Japanerin und Alaine.« »Die… Wer… Du…« »Alaine.« »Ernsth-…? Scheiße!« »Na, immer noch geil?« »VOOI! Nein!« »Wunderbar. Eine freie Nacht für mich. Ich sag Blackie, dass der Plan aufgegangen ist…« »Ich hasse dich und deine ganze verdammte Zickentruppe.« »Keine Sorge, Squalo. Sie hassen dich auch.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)