Shortstories von LisanimeBluehawk ((Kurzgeschichten/Gedichte)) ================================================================================ Die große Freiheit ------------------ „Was willst du mit einem Leben anfangen, das dir nicht einmal gehört?“ Er starrte sie an. Sie senkte den Blick und fuhr damit fort, ihre kalten Finger an der Tasse in ihren Händen zu wärmen, aus der noch immer weißer Dampf aufstieg. Draußen vor dem Fenster gingen Leute vorbei, die Hände in den Taschen, die Gesichter mit Mützen und Schals verhüllt. Drinnen im Café war es warm, aber draußen musste man einen Mantel tragen. „Es ist ja nicht so als ob ich es jetzt sofort wegwerfen wollte...“, sagte sie und nahm den Löffel von ihrer Untertasse, „aber ich habe auch nicht darum gebeten.“ Sie drehte den Löffel in den Fingern, steckte ihn in die Tasse und rührte um. „Willst du mir damit sagen, dass es dir nichts bedeutet?“ Sie ließ sich Zeit mit der Antwort, um die richtigen Worte zu finden. Schließlich zog sie den Löffel aus ihrer Tasse, leckte ihn ab und legte ihn auf die kahle Tischplatte. Dann stellte sie die Tasse daneben, umschloss sie komplett mit beiden Händen und sah ihn an. Er, wie er da vor ihr saß, in seinem ordentlichen Hemd und dem maßgeschneiderten Mantel. Er, mit dem perfekten Gesicht und dem allseits gefeierten Lächeln. Er sah sie an, mit seinen kühlen blauen Augen, und erwartete, dass sie in der Konversation fortfuhr. Er hatte absolut keine Ahnung. Wie sollte er auch? Wie sollte jemand wie er sie verstehen? Jemand, der allem und jedem gegenüber so gleichgültig war? Vor allem sich selbst. „Dieses Leben, wie es vor mir liegt, mit einem durchschnittlichen Abitur, einem abgebrochenen Studium und einem schlecht bezahlten Teilzeitjob, dieses Leben bedeutet mir in der Tat nichts.“ Sie sah förmlich, wie sein Gesicht hart wurde. Wie seine Kiefer sich auf einander pressten. Wie eine Ader an seiner Schläfe hervortrat und sein Blick durchdringend und unerbittlich wurde. „Du willst mir also erzählen, dass du nicht mit deinem Dasein zufrieden bist, obwohl du alles hast, was man sich wünschen kann? Obwohl du das alles hast: Einen sicheren Job, eine schöne Wohnung und Freunde, die dich unterstützen, genau wie deine Familie.“ Sie hielt seinem Blick stand. Er war so ein guter Schauspieler. „Ja, genau das will ich dir damit sagen. Ich habe vieles und doch bin ich unzufrieden.“ Sie wusste, was jetzt kommen würde und machte sich darauf gefasst. Er begann zu reden, wie er es immer tat. Er hatte sich eine gut durchdachte Argumentation zurechtgelegt. Eine Argumentation, die völlig wasserfest war. Aber nur im rationalen Sinn. Ihr Herz blieb davon völlig unberührt, genau wie ihr Geist. Sie wusste, dass er sie als dumm bezeichnen könnte, weil sie sich nicht seiner Vernunft unterwarf, sondern nur ihren eigenen Wünschen gehorchte, doch es war ihr egal. Sie wusste, dass es für sie nur einen Weg gab, der zu ihrem Ziel führte. Und der war die Freiheit. Denn der Weg war das Ziel und ihr Ziel war eine Reise. Ihr Leben sollte eine Reise sein. Seine Stimme war inzwischen in den Hintergrund gerückt. Sie hörte ihn, doch seine Worte kamen bei ihr nicht mehr an, während sie aus dem Fenster blickte, das Kinn in die Hand gestützt. Sie wartete. Als die ersten Schneeflocken fielen, wusste sie, dass es so weit war. Jetzt war auch der letzte Rest seiner Existenz aus ihrem Bewusstsein verschwunden und ihre gesamte Aufmerksamkeit galt der Welt auf der anderen Seite des Glases. Sie spürte nichts, hörte nichts, sah nichts, roch nichts, sondern wartete. Und dann, als ihr Gegenüber in einen sanfteren Ton gewechselt war und seine Hand auf die ihre legte, sah sie ihn. Sie hätte ihn beinahe nicht bemerkt. Unsichtbar glitt er in seinem weißen Mantel durch den Schnee. Den Kopf mit dem zerschlissenen Hut darauf gesenkt, sodass niemand seine freundlichen, warmen Augen oder das schiefe Lächeln sehen konnte. Genau so wenig, wie die seit Tagen nicht mehr rasierten Wangen und die ungekämmten Haare. Sie spürte die fremde Hand nicht, die sich auf ihre gelegt hatte, sondern stand auf und schüttelte sie ab, ignorierte das Rufen und warf sich ihren Mantel über. Sie trat an die Tür, die sie trennte von ihm und von der Freiheit. Endlich war es so weit. Sie würde frei sein, würde in ihre Welt zurückkehren, die nicht aus Zahlen und Daten, sondern allein aus Farben, Klängen, Gefühlen und Gerüchen bestand. Sie trat nach draußen und es war, als täte sie gleichzeitig den ersten und den letzten Atemzug ihres Lebens. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)