Unerwünschte Gefühle von Snuggle ================================================================================ Kapitel 20: Let her go ---------------------- „You see her when you close your eyes Maybe one day you'll understand why Everything you touch surely dies But you only need the light when its burning low Only miss the sun when it starts to snow Only know you love her when you let her go And you let her go.“ Passenger – Let her go Nachdem Maron die Bombe hatte platzen lassen, saß der Schock zunächst noch tief. Kaiki kannte die Brünette zwar noch nicht lange, doch warum sie sich zu einem solch großen Schritt entschied, erschloss sich ihm einfach nicht. Auch Access musste bei ihren Worten im ersten Moment schwer schlucken. Sein Blick war sofort zu seinem besten Freund gewandert, der auf einmal kreidebleich wurde, als sei jegliches Leben aus ihm gewichen. Der Lilahaarige konnte nur hoffen, das die Brünette ihm damit die Augen öffnen konnte. Denn wenn er seinem Bauchgefühl vertrauen konnte, war der Blauhaarige der Einzige, der sie noch davon abhalten konnte, ihre Koffer zu packen und aus dem Land zu verschwinden. Niemand auf dieser Welt konnte ihm weismachen, dass Maron nichts mehr für ihn empfand. Der Blick, den sie ihm bei ihrem Geständnis zugeworfen hatte, war Beweis genug um zu wissen, dass sie sich nichts sehnlichster wünschte, als ihn an ihrer Seite. Und Chiaki, dieser Schweinehund, hatte ihm erzählt, dass sie ihm keine Chance mehr geben wollte, egal was geschehen würde. Bei Gelegenheit musste er seinen besten Freund auf jeden Fall zur Rede stellen. Es konnte einfach noch nicht zu spät sein! Chiaki hatten ihre Worte mit Abstand am schwersten getroffen. Sein Herz fühlte sich an, als wäre es im Bruchteil einer Sekunde in zwei Hälften gerissen worden. Durch die Trennung war es sowieso angebrochen gewesen, nun aber zu wissen, dass er sie bald für immer verlieren würde, brachte ihn innerlich fast um. Es schien fast so, als sei der einzige Gedanke, der ihn noch am Leben gehalten hatte, dabei, sich in Luft aufzulösen. Und zwar nicht wie eine Seifenblase, die von einem Moment zum anderen zerplatzte. Nein, eher wie ein brennendes Haus, das quälend langsam von den Flammen zerfressen wurde, bis es schließlich ganz in sich zusammenfiel. Die Vorstellung, sie nicht sehen zu können, sie nicht spüren zu können, nicht zu wissen, wie es ihr ging... Alles hätte er geduldet, wenn er sie nur in seiner Nähe wüsste. Ihre verletzten Blicke, die sie im zuwarf, ihren Schmerz, an den er immerzu denken musste, ja sogar einen anderen Mann, der sie irgendwann sein Eigen nennen durfte. Alles wäre besser, als dass sie fortging. Am liebsten wäre er sofort auf die Knie gefallen und hätte sie angefleht, ihre Worte zurückzunehmen. Doch wie hätte er das tun können, wenn er noch nicht einmal den Blick hatte deuten können, den sie ihm zugeworfen hatte? War er schmerzvoll? Sehnsüchtig? Hasserfüllt? Während der Rest der Anwesenden noch über die Situation nachdachte, lächelte Miyako unbemerkt in sich hinein. Ihr Plan war aufgefangen. Sie hätte zwar niemals gedacht, dass Maron geplant hatte, das Land zu verlassen, und doch zeigte ihr die Wendung der Dinge, dass die Brünette verstanden hatte, dass sie Chiaki niemals haben konnte. Er gehörte ihr selbst und niemandem sonst! Er würde niemals Marons Gefühle erwidern. Entgegen Miyakos Erwartungen hatte sie ohne Widerstand kapituliert, was ihr nur zu gut in die Karten spielte. Die Hochzeit verursachte ihr schon genug Stress, sie konnte also von Glück sagen, dass sie sich nicht noch mit einem kleinen Flittchen rumschlagen musste, das ein Auge auf ihren zukünftigen Mann geworfen hatte. Sie würde aus reiner Sicherheit schon natürlich nicht darauf verzichten, ihr ihre Niederlage immer und immer wieder klar zu machen, im Großen und Ganzen konnte sie aber auch schon sehr zufrieden mit sich sein. Jetzt konnte sie auch diesen Abend genießen. Maron zitterte hingegen noch am ganzen Leib. Es fühlte sich an, als würde in ihr ein Vulkan ausbrechen. Und doch hatte sie mit ihrem Geständnis, einen großen Felsbrocken von ihrem Herzen verbannt. Ab jetzt gab es ein Geheimnis weniger, das sie immerzu mit sich herumschleppen musste, immer darauf bedacht, dass niemand von ihm erfährt. So schnell sie sich selbst gut zuredete, das Richtige getan zu haben, so kamen ihr doch genauso schnell die Fragen auf, warum sie damit herausgerückt war. Sie hätte die Frage abtun können, indem sie gesagt hätte, dass sie noch nicht wüsste, wohin sie ihr Weg bringen würde. Wollte sie einfach die Situation nutzen, um Chiaki noch einmal zu zeigen, wie sehr er sie verletzt hatte? Oder war es vielleicht doch ein Hilfeschrei, in der Hoffnung, ihr Ex-Geliebter würde sich noch anders entscheiden und sie anflehen, bei ihm zu bleiben? Sie konnte es nicht sagen. Doch was gesagt war, war gesagt. Wieder einmal gab es kein Zurück mehr. Das alles machte den ganzen Abend für sie noch unerträglicher. Wie gerne wäre sie jetzt alleine gewesen, einsam in ihrer Wohnung und hätte sich die Augen aus dem Kopf geheult... Nach Marons Aussage, hatte die komplette Stimmung einen Knacks bekommen. Sogar die Gäste, die Maron vorher noch nie gesehen hatten, spürten die Anspannung, die den ganzen Raum auszufüllen schien. Erst nach und nach kamen wieder andere Gespräche auf und auch die Atmosphäre wurde im Laufe des Abends wieder besser. Circa zwei Stunden später konnte man die Laune der Anwesenden wieder als geradezu ausgelassen bezeichnen. Der Champagner floss quasi in Strömen, eine größere Gruppe hatte sich bereits zusammengefunden, um gemeinsam zu der Musik zu tanzen, die aus den großen Boxen erklang. Maron und Rinako standen etwas abseits und betrachteten das Spektakel. Die Brünette war noch immer sehr geknickt und die Rothaarige wollte sie auf keinen Fall alleine lassen. Am Ende würde ihr das alles noch so zu Kopf steigen, dass sie ihr noch an Ort und Stelle umkippte. Und tatsächlich musste sich die Schwangere kurz an der kühlen Wand abstützen. "Maron, ist mit dir alles in Ordnung?", fragte Rinako deshalb besorgt. Als Antwort erhielt sie nur ein kurzes Nicken. "Ja, mir ist nur ein bisschen schwindelig. Vielleicht sollte ich kurz an die frische Luft." "Soll ich mit dir mitgehen?" "Nein, schon gut. Ich muss mal kurz alleine sein." Mit diesen Worten verschwand sie in Richtung der Terrasse, die direkt an den großen Garten angrenzte. Rinako war nicht begeistert, dass sie sie nicht im Auge behalten konnte, wollte ihren Wunsch aber dennoch akzeptieren. Sie warf einen letzten Blick zu der großen Glastür, bevor sie versuchte, sich unter die restlichen Gäste zu mischen. Fast schon genüsslich atmete die brünette Schönheit die angenehme Nachtluft ein. Ihr war garnicht aufgefallen, wie heiß es in dem großen Saal im Haus auf einmal geworden war. Der kalte Wind hinterließ eine Gänsehaut auf ihren Armen, aber das machte ihr nichts aus. Nach allem was an diesem Abend schon passiert war, gab es wohl nichts, das sich noch unangenehm anfühlen könnte. Außerdem war das Bild, das sich ihr ergab einfach unheimlich beruhigend: Alles war dunkel, der Garten war jedoch im warmen Mondschein erleuchtet. Ganz leicht konnte sie das Plätschern des Brunnens vernehmen, der sich ebenfalls auf diesem riesigen Gelände befinden musste. Das Geräusch hatte etwas Beruhigendes, fast Tröstliches. Entspannt schloss sie ihre braunen Augen und seufzte. Erst als sie Schritte neben sich hören konnte, bemerkte sie, dass sie nicht alleine war. Sie öffnete ihre Lider wieder und erkannte einen Mann mit lila Haar. Sie hatte ihn heute schon an ihrem Tisch gesehen. Sein Name war Access, wie sie glaubte, aus diversen Unterhaltungen herausgehört zu haben. Wenn sie richtig verstanden hatte, musste er so etwas wie der beste Freund von Chiaki sein. Mehr wusste sie allerdings nicht über ihn. "Tut mir leid, ich wollte Sie nicht stören", entschuldigte er sich höflich. Langsam nahm er seine Zigarette aus dem Mund und drückte sie in dem dafür vorgesehenen Aschenbecher aus. "Das tun sie wirklich nicht. Ich musste nur mal raus aus dem ganzen Tumult. Das ist auf die Dauer echt anstrengend." "Wem sagen sie das. Es sind zwar ein paar nette Leute dabei, aber auf diese aufgeblasenen Medizinerheinis kann ich auch gut verzichten. Sind sowieso nur hinter dem Gratis-Champagner her." Maron musste ein bisschen kichern. Es tat gut, sich mit einem Menschen zu unterhalten, der nicht vorgeben musste, etwas Besseres zu sein. "Schön, dass sie wieder lachen können." Verwirrt musterte die Brünette ihren Gegenüber. "Wie meinen Sie das?" "Sie haben schon den ganzen Abend etwas traurig gewirkt und nach der Bombe, die sie vorhin haben platzen lassen, wurde das ja nicht gerade besser. Liegt das vielleicht an Chiaki?" Etwas belustigt beobachtete er, wie ihr Gesicht auf einmal käseweiß wurde und sie den Blick abwandte. Der Ausdruck in ihren Augen wurde fast panisch. "Ich weiß nicht, was das mit Chiaki zu tun haben sollte." "Ach tun sie doch nicht so. Sie lieben ihn!" Er hätte es nicht für möglich gehalten, doch Marons Gesichtsfarbe konnte noch blasser werden, als sie es davor schon war. Er sah ihr an, dass sie mit der ganzen Situation einfach völlig überfordert war und sie am liebsten geflüchtet wäre, wenn sie nur gewusst hätte, wohin. "Er hat also mit Ihnen gesprochen", murmelte sie leise. Access nickte. "Maron, ich weiß, dass ich mich in Angelegenheiten einmische, die mich vielleicht nichts angehen, aber es geht immerhin um meinen besten Freund, also hören Sie mir bitte zu: Zwischen Chiaki und Miyako gibt es schon lange Probleme. Chiaki hat mir gesagt, dass er Ihnen schon erzählt hat, was damals vorgefallen ist. Aber glauben sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass er Sie liebt! Ich habe ihn noch nie so glücklich erlebt wie mit Ihnen! Und jetzt sehen Sie ihn sich doch bitte an. Er ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Er schläft kaum noch, trinkt mehr als früher und beteuert immer wieder, dass er Sie so verletzt hat. Ich weiß nicht, wie sie zu alldem stehen, aber wenn es eine Frau auf diesem Planeten gibt, die ihn glücklich machen kann, dann sind Sie das Maron!" Mit einem flehenden Ausdruck wartete er auf eine Antwort. Doch die junge Frau schwieg. Stattdessen rollte ihr eine Träne die Wange hinunter. Minutenlang sagt niemand etwas. "Access, vielleicht mag all das stimmen, was Sie sagen, aber ich bin auch noch nach all diesen Rückschlägen eine Frau mit Stolz. Wie Sie schon sagten, hat er mich verlassen und nicht umgekehrt. Aber verlangen Sie nicht, dass ich auf Knien angekrochen komme und ihn wieder zur Vernunft bringe. Dafür ist es zu spät." Der Lilahaarige war trotz der harten Worte ein wenig beeindruckt, wie viel Würde sie besaß. Hätte er ein Wort für die brünette Schönheit finden müssen, dann hätte er wohl "anmutig" gewählt. Nach allem, was sie durchmachen musste, war sie noch immer so stark, sich ihr Gefühlschaos nicht anmerken zu lassen. "Ich sollte wieder reingehen", sprach die junge Frau noch, bevor sie wieder auf das Haus zusteuerte. "Bitte lassen Sie sich meine Worte durch den Kopf gehen." Anstatt einem Nicken oder einem Kopfschütteln, bekam er nur einen unergründlichen Blick zugeworfen, dann war sie auch in dem großen Gebäude verschwunden. Mit beschleunigtem Atem musste sich die 24-jährige an einer der Wände abstützen. Das Gespräch mit Access vor wenigen Minuten ließ alle ihre Gefühle durcheinander wirbeln. Seine Worte erschallten immer wieder in ihrem Kopf und ließen ihr keine Ruhe. °Wenn es eine Frau auf diesem Planeten gibt, die ihn glücklich machen kann, dann sind Sie das Maron!° °Er liebt Sie!° Das alles wollte sie doch überhaupt nicht hören! Warum verstand denn niemand, wie sehr sie diese Worte schmerzten? Wie ein dumpfer Bass konnte sie ihren eigenen Herzschlag vernehmen, der schneller war, als er sollte. Natürlich liebte sie Chiaki und daran würde sich auch nichts ändern, aber es war einfach alles zu spät! Sowohl er als auch sie hatten Entscheidungen getroffen, die eine gemeinsame Zukunft einfach nicht mehr möglich machten. Angefangen bei der Trennung, über die heimliche Schwangerschaft, bis hin zu ihren Plänen, Japan hinter sich zu lassen. Abgesehen davon hatte sie Access nicht angelogen, als sie davon sprach, dass auch ihr Stolz ihnen im Weg standen. Maron war keine Frau, die gerne der Ersatz für eine Andere war. Menschen treffen tagtäglich Entscheidungen und genau so hatten es auch sie selbst und Chiaki getan. Sie versuchte, sich einzureden, dass alles besser werden würde, wenn sie endlich von hier weg käme. Es würde ein kompletter Neuanfang werden. Niemand würde von ihrer Vergangenheit mit Chiaki erfahren, niemand würde mehr versuchen, sie umzustimmen und vor allem würde sie nicht mehr den stechenden Schmerz empfinden, der sie so plagte, wenn sie in seiner Nähe war. Es würde nur noch sie und ihr Kind geben. Sie würde schon alles auf die Reihe bekommen, redete sie sich ein. Alles würde sie auf sich nehmen, wenn sie das alles einfach vergessen konnte. Wenn sie ihn einfach vergessen könnte. Etwas hilflos sah sie sich in dem großen Raum nach ihrer Freundin Rinako um. Einige Minuten konnte sie sie nicht ausfindig machen, bis ihr Kopf plötzlich in der Menge auftauchte. Sie schien sich in einem erregten Gespräch mit einer jungen hübschen Frau mit kurzen, grünen Haaren zu befinden. Wenn sie das richtig aufgeschnappt hatte, war das wohl Fynn, Access' Freundin. Ihr war noch immer etwas schwindlig, obwohl sich ihr Puls langsam aber sicher wieder beruhigte. Plötzlich stand eine große Person mit blauen Haaren vor ihr. Sie glaubte schon, dass es Chiaki wäre, da erkannte sie aber Kaiki. Mit einem warmen Lächeln reichte er ihr ein Glas Wasser, dass die Schwangere dankend annahm. „Du siehst ein bisschen blass aus, geht es dir vielleicht nicht gut?, fragte er besorgt. Natürlich hatte er den Nagel voll auf den Kopf getroffen, dennoch schüttelte sie den Kopf. „Alles okay, es ist nur sehr warm hier drin. Dürfte ich vielleicht kurz das Bad benutzen?“ Der Ältere musste kurz auflachen, als Maron ihre Frage stellte. Als würde er ihr diesen Wunsch abschlagen. „Aber natürlich! Du musst nur die Treppe nach oben gehen. Das Bad befindet sich hinter der letzten Tür auf der linken Seite.“ Die junge Frau lächelte ihn noch kurz an und machte sich dann auf den Weg nach oben. Chiakis Vater blickte ihr noch besorgt nach, bevor er sich wieder den Gästen zuwandte. Maron war mehr als nur erleichtert, als sie endlich alleine war. Eilig drehte sie den Schlüssel im Schloss um und lehnte sich an die Tür. Dieser ganze Abend war einfach zu viel für sie. Seine Nähe, ihr Geständnis, das Gespräch mit Access. Ruhig versuchte sie durchzuatmen, doch sie konnte nicht verhindern, dass die Übelkeit die Oberhand hatte. Möglichst leise übergab sie sich in die Toilette. Mit einer Hand versuchte sie, die wenigen Locken zu bändigen, die sich gelöst hatten, die zweite Hand lag an ihrem Bauch. Immer öfter musste sie nun daran denken, was ihr ihre Frauenärztin gesagt hatte: Sie solle Stress vermeiden und sich viel Ruhe können. Das war allerdings nicht so einfach. Sie hätte auch gerne mehr Ruhe, alleine schon um des Kindes Willen. Immerhin war diese ständige Aufregung nicht ganz ungefährlich. Sie musste einfach weg. Weg von diesem Grundstück, weg von Chiaki, weg von Momokuri, weg von Japan... Nachdem sie sich übergeben hatte, fühlte sie sich schon etwas besser. Ihr Magen beruhigte sich etwas, der Geschmack in ihrem Mund löste jedoch einen unbeschreiblichen Ekel in ihr aus. Intensiv wusch sie sich Hände und Gesicht. Zum Glück trug sie in den letzten Wochen immer eine kleine Reisezahnbürste mit etwas Zahnpasta bei sich. Sie war es ja mittlerweile gewöhnt, dass sie sich häufig übergeben musste, oft auch unterwegs. Es dauerte einige Minuten bis sie sich das unbehagliche Gefühl verflüchtigt hatte und sie sich wieder einigermaßen gut fühlen konnte. Am besten wäre wohl, wenn sie sich Rinako schnellstmöglich schnappen und mit ihr verschwinden würde. Sie war schon jetzt einige Stunden da und hatte Miyako zweifellos bewiesen, dass sie ihr ihren Verlobten nicht streitig machen würde, mehr konnte sie nicht von ihr verlangen. Zu Hause würde sie zwar noch eine ganze Zeit weinen, aber etwas Schlaf würde ihr auch gut tun. Morgen würde die Welt schon wieder ganz anders aussehen, hoffte sie zumindest. Leise schloss sie die Tür hinter sich und wollte schon wieder auf die Treppe zusteuern, da blieb ihr Blick an einer halbgeöffneten Tür gegenüber des Badezimmers hängen. Eigentlich war sie kein neugieriger Mensch, aber es kam ihr so vor, als würde sie der Raum magnetisch anziehen. Lautlos öffnete sie die Tür ein weiteres Stück und sah sich mit großen Augen in dem Zimmer um. Auf den ersten Blick war es nichts Besonderes. Blaue Wände, ein großes Bett, ein großer Schreibtisch, eine große Fensterfront mit dünnen Vorhängen. Leichtfüßig ging sie ein paar Schritte tiefer hinein und drehte sich langsam um die eigene Achse. Dabei blieb ihr Blick an einer Wand hängen, die sie von der Tür aus nicht direkt hatte sehen können. Sie war voller Fotos, die fast den kompletten Platz für sich einnahmen. Sie kam näher und besah sich die Photographien näher. Schnell erkannte sie, wo sie sich befand: Chiakis altes Zimmer! Auf fast jedem der Bilder war der Blauhaarige zu sehen. Egal ob als Kleinkind, als Schüler oder als Teenager. Man hätte fast meinen können, dass jemand sein ganzes bisheriges Leben dokumentieren wollte. Alle wichtigen Momente seines Lebens waren abgebildet. Er als Baby nach der Geburt, bei seiner Einschulung, bei sportlichen Erfolgen, als Student, mit seiner Familie und mit seinen Freunden... Fast liebevoll strich sie mit ihren Fingern über ein Foto, das nur ihn in Nahaufnahme zeigte. Lachend, mit diesem unverkennbaren Leuchten in seinen Augen, das sie immer so verzauberte. Allerdings musste sie zugeben, dass sie es schon lange nicht mehr gesehen hatte. Nicht mehr seit jenem Abend, an dem er sie verlassen hatte. Energisch schüttelte sie ihren Kopf, um jegliche Gedanken an diesen Tag loszuwerden. Vielleicht war es am Besten, sich nicht auch noch die ganzen Fotos von ihm anzusehen. Wie sollte sie ihn nur jemals vergessen können? Ein letzter Blick und sie konnte sich endlich loslösen. Anstatt aber nach draußen zu gehen, schlang sie ihre Arme um ihren Körper und ging auf das große Fenster zu, um einen verträumten Blick in den Garten zu werfen. Sie genoss die Ruhe, die sich in ihr breitmachte. Erneut verspürte sie das Gefühl, das sie durchströmte, als sie alleine auf der Terrasse gestanden hatte und dem tröstenden Rauschen des Brunnens gelauscht hatte. Am liebsten wäre sie hier ewig stehen geblieben und hätte die Stille ausgekostet. Sie war so sehr in ihren eigenen Gedanken versunken, dass sie nicht einmal mitbekam, wie jemand das Zimmer betrat und die Tür hinter sich schloss. All das wurde ihr erst bewusst, als sie zwei starke Arme spüren konnte, die sich um ihren zierlichen Körper schlangen. Sie wusste natürlich sofort, wer es war. Schon dieser unverwechselbare Geruch verriet es ihr, den sie tief einsog. Kurz überlegte sie, was sie nun tun sollte. Ob sie ihn nicht von sich stoßen sollte, doch sie entschied sich dagegen. Das würde natürlich nichts an ihrer Situation ändern, doch warum sollte sie ihm nicht noch einmal nah sein dürfen? Chiaki verwunderte es ein wenig, dass sie sich in seinen Armen entspannte. Er hatte mit einer weiteren Abweisungen gerechnet, aber er war unheimlich dankbar für die Nähe, die er zu ihr haben durfte. Voller Genuss sog er ihren betörenden Duft in sich ein, den er niemals mehr missen wollte, spürte die nackte Haut ihrer Arme auf den seinen, ließ ihre Wärme auf sich wirken, die er doch so lange nicht mehr hatte spüren können. Er wusste, dass er das nicht tun sollte, aber als er sie da so verloren am Fenster stehen sah, so zart, so anmutig, da war es nicht länger eine Entscheidung seines Kopfes gewesen, sondern seines Herzens. So wunderschön und kostbar dieser Moment auch war, so schmerzhaft brachte er aber auch die Gedanken zurück, die ihn schon den gesamten Abend plagten und verhinderten, dass er sich auf die wesentlichen Dinge konzentrieren konnte. Er durfte das nicht zulassen. Er wusste nur zu gut, dass er kein Recht dazu hatte, aber er würde es sein Leben lang bereuen, nicht wenigstens darum gekämpft zu haben, dass sie hier blieb. Dass er für immer dazu verdammt sein würde, sich zu fragen, wie es ihr ging, wo sie gerade war und was wohl passiert wäre, wenn er den Mut gehabt hätte, sich von Miyako zu trennen und mit Maron das Leben zu führen, das er ihr versprochen hatte, dessen war er sich nur zu bewusst. Besser als es gut für ihn war. Sie würde ihn niemals loslassen, egal ob sie bei ihm war oder nicht. Auch seine Träume würden weiterhin von einer einzigen Person beherrscht werden. Und ironischerweise war es nicht die Person, mit der er schon bald vor dem Traualtar stehen würde. Minutenlang standen beide nur da und genossen die Wärme des jeweils anderen, bis Chiaki fähig war, die bedrückende Stille zu durchbrechen. „Geh nicht.“ Die Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, aber Maron hatte sie nur allzu gut hören können. Wie schaffte er es nur immer wieder, sie so sehr aus der Fassung zu bringen? Die Schwangere hatte große Probleme, ihre Tränen zurückhalten, die am liebsten in Strömen aus ihren Augen fließen wollten. Doch sie musste stark bleiben. Und überhaupt: was wollte er von ihr hören? Dass sie sich all das nochmal durch den Kopf gehen lassen würde und hier in Japan blieb? Vielleicht sogar in Momokuri? „Chiaki...wir sollten uns nichts vormachen. Wir wissen doch beide, dass es so besser ist.“ Ihre Stimme war rau, leise. Chiaki aber konnte seinen Ohren nicht trauen. „Besser für wen, Maron? Du verlangst von mir, dass ich ehrlich zu mir bin, dabei bist du doch diejenige, die sich selbst belügt. Du willst garnicht von hier weg gehen, das kann ich nicht glauben.“ Er blieb weiterhin ruhig, obwohl er innerlich brodelte wie ein Vulkan. Alles, was ihn noch darin hinderte, nicht seine wahre Gefühlswelt zu offenbaren, war die Angst, diesen intimen Moment und vor allem die Bindung zwischen ihnen zu zerstören, die so bald nicht mehr zustande kommen würde. Auf diese Aussage hin drückte ihn die Brünette aber dennoch ein Stück von sich, um ihm in die Augen sehen zu können. „Hier geht es aber nicht darum, was ich will, sondern was ich tun muss. Ich wollte ein gemeinsames Leben mit dir beginnen, aber das ist jetzt nicht mehr wichtig. Und du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass die aktuelle Situation alles andere als einfach für mich ist! Aber das Schicksal hat mich nicht gefragt, deswegen musste ich dafür sorgen, dass ich damit bestmöglich klarkomme. Vielleicht hast du Recht und ich will eigentlich garnicht von hier weg, aber ich habe nunmal keine andere Wahl. Ich werde versuchen, einen Neuanfang zu starten und du kannst vergessen, was gewesen ist und dich endlich auf die Hochzeit konzentrieren.“ „Was ist, wenn ich es garnicht vergessen will?“ Er sah ihr ebenfalls tief in die Augen, hoffte inständig, sie doch noch zur Vernunft bringen zu können. „Das solltest du aber, und ich ebenso. Ich kann nicht weiter untätig daneben stehen, während mein Leben nach und nach zerfällt. Ich ertrage das einfach nicht mehr, Chiaki! Deine Nähe, Miyako, diese ständige Konfrontation damit, dass ich dich nicht bei mir haben kann. Ich muss hier weg. Mach es mir bitte nicht noch schwerer, als es sowieso schon für mich ist.“ Dem Blauhaarigen verschlug es die Sprache. Er konnte die Verzweiflung in ihrer Stimme hören und in ihrem flehenden Blick erkennen. Es war der Moment, in dem er ernsthaft überlegte, sie einfach gehen zu lassen. Auch er wollte nicht länger dabei zusehen, wie es ihr schlechter und schlechter ging. Auf einmal kam es ihm egoistisch vor, sie zu bitten zu bleiben. Doch war das etwas Schlechtes, wenn es um eine Person geht, die man über alles liebt? War es unfair ihr gegenüber, sie nicht kampflos ziehen zu lassen? „Es tut mir alles so leid, Maron.“ Schluchzend ließ sie sich wieder zurück in Chiakis Arme fallen, der ihr liebevoll einen Kuss auf den Kopf drückte und sie fest in die Arme nahm. Sie besaß einfach nicht mehr die Kraft, sich von ihm fernzuhalten. In diesem Moment gingen ihr so viele Dinge durch den Kopf. Doch der wichtigste Gedanke war das gemeinsame Kind, das sie unter ihrem Herzen trug. Wie oft hatte sie überlegt, ob sie alle Bedenken in den Wind schlagen und ihm doch die Wahrheit sagen sollte. Hatte er es nicht verdient, wenigstens zu wissen, dass er Vater werden würde wenn sie von immer von ihr fort ging? Vielleicht würde sich ihr eigenes Gewissen etwas beruhigen. Trotz allem Schmerz, den er ihr zugefügt hatte, konnte sie nicht mehr schlafen, bei dem Gedanken, ihn völlig im Dunkeln tappen zu lassen. Rinako hatte sie davon natürlich nie etwas erzählt, sie würde sich nur in dem bestätigt sehen, was sie Maron schon die ganze Zeit gesagt hatte: Dass sie mit Chiaki über das Baby sprechen und herausfinden sollte, ob es für sie beide nicht doch noch eine Chance gibt. Für Chiaki konnte der Moment einerseits nicht schöner, andererseits aber auch nicht schmerzhafter sein. Er war noch immer hin- und her gerissen, was er nun tun sollte. Doch eines war im völlig klar: Egal wie sehr er um sie kämpfte, die Entscheidung, zu bleiben oder zu gehen, lag ausschließlich bei Maron. Und er wusste auch, dass er kurz davor war, den Kampf unwiderruflich zu verlieren. Keiner von beiden wusste, wie lange sie da standen. Eng umschlungen in diesem engen Raum ohne jegliches Zeitgefühl. Irgendwann lösten sie sich ein kleines Stück voneinander, um sich intensiv in die Augen sehen zu können. Dabei kamen sie sich immer näher bis sie die eigene Stirn an die des anderen legen konnten. Ihre Lippen waren nur wenige Zentimenter voneinander entfernt. Nur wenige Bewegungen und sie hätten sich nach so langen Wochen wieder küssen können. Doch das durften sie nicht tun. Nicht jetzt. Nicht hier. Vielleicht sogar nie wieder. Trotz aller Bedenken tat Chiaki aber den entscheidenden Schritt und kam ihrem verführischen Mund immer näher. Maron hatte bereits ihre Augen geschlossen und erwartete die Gefühlsexplosion, die sie immer erlebte, wenn sie ihn so nah spüren konnte, da hörten sie auf einmal, dass jemand die Tür öffnete. Beschämt fuhren beide auseinander. Der Blauhaarige starrte nur unbeholfen im Zimmer umher, während die Brünette ihre Haare richtete. Wie sollten die beiden eine solche Situation nur erklären? Innerlich verfluchte der 26-jährige die Person, die die Dreistigkeit besaß, einfach in das Zimmer zu kommen und den gemeinsamen Moment zu zerstören. Als er sich in Richtung der Tür drehte, erkannte er, dass es seine Mutter war. Was suchte sie nur hier? Der Schwangeren war die Situation noch peinlicher, angesichts der Tatsache, dass diese wohl um ihre Gefühle für den Blauhaarigen wusste. Deshalb verlor sie auch keine Zeit, Chiaki noch einmal kurz zuzunicken und sich dann möglichst schnell an Hanna vorbeizudrücken und wieder nach unten zu verschwinden. Der junge Arzt sah noch für einige Sekunden zur Tür, wo noch immer seine Mutter stand, dann wandte er seinen Blick wieder zum Fenster, aus dem er gedankenverloren blickte. Auch für Hanna war die Situation mehr als unangenehm. Eigentlich war sie nur nach oben gekommen, um Chiaki zu suchen, nachdem er schon länger nicht mehr bei den Gästen gewesen war. Als sie aber Maron bei ihm fand wurde ihr so einiges klar. Sie hatte bei dem Bankett geglaubt, dass es allein Maron war, die einseitige Gefühle für Chiaki hegte. Nun aber wurde ihr bewusst, dass auch ihr Sohn sein Herz an die brünette Schönheit verloren hatte. Doch warum blieb er dann immer noch bei Miyako? Hana wusste ganz genau, dass er schon immer ein leidenschaftlicher Mensch gewesen war, der mehr seinen Bauch als seinen Kopf entscheiden ließ. War es möglich, dass er sich so sehr verändert hatte? Trug sie selbst vielleicht sogar eine Mitschuld, weil sie Miyako von ihrem Verdacht erzählt hatte? Oder weil sie Maron darum gebeten hatte, sich von Chiaki fernzuhalten? Es zerbrach ihr fast das Herz, Chiaki so zu sehen. Auch wenn sie beide es nie einfach hatten, so liebte sie ihn doch wie sonst nichts auf dieser Welt. Sie war der festen Überzeugung, dass er nur bei Miyako glücklich werden konnte, doch da hatte sie sich wohl geirrt. In diesem Moment wünschte sie sich, einmal den Mund gehalten zu haben, um von ihm zu hören, was er sich vom Glück erhoffte. Doch stattdessen handelte er danach, was andere von ihm erwarteten. Sie konnte nur hoffen, dass es noch nicht zu spät war, um Chiaki darum zu bitten, selbst zu entscheiden, welche Frau er an seiner Seite haben wollte. Durch das dunkle Zimmer hindurch ging sie auf ihren Sohn zu und legte eine Hand auf seine Schulter. „Chiaki...,“ weiter kam sie nicht, da er sich langsam zu ihr umdrehte und sie mit trüben Augen ansah. „Schon gut, Mutter, ich gehe sofort wieder nach unten.“ Ohne einen weiteren Blick schritt er an ihr vorbei und verließ das Zimmer. Nun war es Hanna, die alleine zurückblieb und ihren trüben Gedanken nachhing. Fast panisch machte sich Maron auf die Suche nach Rinako. Letztendlich wurde sie an der Bar fündig, wo sich ihre rothaarige Freundin nach wie vor angeregt mit Fynn unterhielt. Das Gespräch wurde jedoch abrupt beendet, als Maron dazutrat. Rinako fiel sofort auf, dass etwas vorgefallen sein musste. Die Brünette sah völlig aufgelöst aus, ihr Atem ging unregelmäßig und ihre Augen sahen aus, als würde sie augenblicklich anfangen zu weinen. „Kö-Können wir gehen?“ Die junge Frau nickte und verabschiedete sich umgehend von Fynn. Dann hakte sie sich bei der Schwangeren unter und steuerte mit ihr direkt auf die Tür zu. Doch auf einmal wurden sie aufgehalten. Miyako hatte sich ihnen in den Weg gestellt. „Ihr wollt schon gehen?“ Das Lächeln auf ihren Lippen konnte falscher nicht sein. Sie wusste, dass Maron unter der Situation litt – genau wie die Lilahaarige es wollte. „Ja, es ist schon spät und wir sollten langsam gehen“, antwortete Rinako für Maron. Die Brünette würde wohl keinen Ton mehr herausbringen, ohne in Tränen auszubrechen. „Dann kommt mal gut nach Hause.“ Sie waren schon fast aus der Tür heraus, da rief Miyako noch einmal nach der Brünetten: „Ach Maron, es freut mich, dass du gekommen bist. Glaub mir, es war richtig so.“ Damit verschwand sie wieder zwischen den Gästen. Für Maron gab es damit nur noch eines, das sie wollte: Sie wollte nach Hause und weinen. Sie wollte all das, was sich die ganze Zeit in ihr angestaut hatte nach draußen lassen. Sie hatte alles verloren: Ihren Job, ihr Zuhause, den Vater ihres Kindes. Sie hatte nicht mehr die Kraft, stark zu sein. Sie fühlte sich schwach und es ist okay, schwach zu sein. Es ist okay, zu trauern. Und das würde sie auch tun. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)