Whiskey und Schokolade von SummoningIsis ================================================================================ Kapitel 7: Sommerregen ---------------------- Wasser. Ich brauche Wasser, viel, viel klares Wasser. Meine Augen geschlossen langt mein Arm zur Seite und tastet zunächst im Nichts, prallt dann gegen das Nachtschränkchen, das leise klappert, bis ich endlich die Glasflasche mit einem lauten Knall umstoße und mich nun, die Augen geöffnet, zur Seite aus dem Bett lehnen muss, um sie überhaupt noch aufheben zu können. Ich ächze, ich seufze und die klare Flüssigkeit scheint meinen Durst nicht zu stillen. Der Seitenblick auf die Digitalanzeige des Weckers verrät mir, dass es erst kurz vor 11 Uhr ist. Gerumpel aus der Küche erreicht mich. Ich höre Ben im Flur fluchen. Wie kann er denn jetzt schon auf den Beinen sein...? Auf dem Rücken liegend genieße ich noch einmal die Dunkelheit, die meine geschlossenen Augenlider mir erlauben. Ob ich will oder nicht, das scheint meinem Gedächtnis egal zu sein, es spielt die Szenen und Bilder des vergangenen Abends ab, ruft dieses schwerelose Gefühl in mir hervor, diesen berauschenden Trip auf Ethanol, der nun, vollkommen nüchtern und müde betrachtet, gar nicht mehr wie ein Höhenflug erscheint. Nicht, weil ich bereuen würde, was ich getan habe – das Tanzen, die Küsse ausgetauscht mit Elias. Grinse ich etwa? Vielleicht einige Sekunden lang. Weil dann schon wieder das Gesicht von Leon vor meinem inneren Auge erscheint, dieser durchaus kalte Blick von der Tanzfläche, kurz vor der Verabschiedung scheint mich erneut zu streifen. Ich weiß nicht genau, wieso ich es tue, aber ich quäle mich tatsächlich aus dem Bett und tapse hinüber zu meinem Rechner, starte das Chatprogramm. Leon ist nicht online. Auch nicht zehn Minuten später. Und so schleppe ich mich in die Küche, um mir Kaffee gleich am besten intravenös einflößen zu lassen. Sein Duft gelangt schon zu mir, als ich bloß die Zimmertür öffne. „Na, du Schnarchnase!“, begrüßt Ben mich und fischt direkt eine zweite Kaffeetasse aus dem oberen Schrank über der Küchenzeile. „Wer ist hier die Schnarchnase“, kontere ich grinsend, während ich mich auf einem der Küchenstühle niederlasse. Mein Haar ist völlig durcheinander und der Schlaf steht mir wahrscheinlich mehr als überdeutlich ins Gesicht geschrieben. Mein Mitbewohner hingegen trägt ein frisches, weißes T-Shirt, darüber ein hellblaues, dünnes offenes Hemd, eine olivgrüne Stoffhose, Flip-Flops. Eine Sonnenbrille blitzt auf in seinem Haar, als er sich mir gegenübersetzt und mir den Kaffee vor die Nase stellt. „Wo willst'n du hin?“, hake ich interessiert nach und Ben grinst. „Zum Brunchen mit Rüdiger!“, erklärt er strahlend. „Ach ja!“, rufe ich. „Da war ja was. O Gott, unfassbar, dass du schon so fit bist...“ Ich genieße den ersten Schluck des Kaffees. „Wie geht es dir denn?“, fragt Ben dann plötzlich. Ich zucke mit den Schultern. „Ich bin ganz schön im Arsch“, gebe ich letztendlich zu und Ben lacht. „Zu viel mit Elias die Hüften geschwungen, was?“, neckt er und ich strecke ihm schnell die Zunge raus. „Ja, ja...“, murmele ich und puste in meinen Kaffee, weil er doch etwas zu heiß ist für meinen Geschmack. „Ich finde Elias heiß“, sagt er schulterzuckend. „Wirst du ihn anrufen?“ „Mal sehen...“, sage ich verheißungsvoll. „Man munkelt, Elias sei eine Granate im Bett“, meint mein Mitbewohner im selben Ton. „So munkelt man, ja?“, wiederhole ich etwas säuerlich. „Nur eine Nummer auf seiner 'Flachlegliste' zu werden, beabsichtige ich eigentlich nicht“, füge ich murmelnd hinzu. „Flachlegliste“, wiederholt Ben nun mein Wort spöttisch. „Elias ist kein Player, das weißt du“, bemerkt er dann nur. „Ich muss jetzt los. Wie war dein Plan nochmal?“ „Freiluftkino, halb sechs“, sage ich. „Vielleicht bin ich bis dahin zurück. Vielleicht. Dann diskutieren wir weiter“, meint er und hebt die Hand zum Abschied, ich gähne und winke. Was gibt es denn da zu diskutieren? Ich mache mir einen Toast und Rührei und stochere irgendwie lustlos darin herum, während ich weiter darüber nachdenke. Wirklich, was gibt es da zu diskutieren? Ich weiß doch eh schon, was für Punkte Ben hervorheben, mir unter die Nase halten würde. Punkt 1: Elias sieht gut aus. Stimmt. Punkt 2: Du bist Single und hast alle Freiheiten, die du dir geben möchtest. Bin ich, hab ich. Punkt 3: Du könntest Leon damit ein wenig provozieren und ihm zeigen, dass du doch schon ein wenig weiter mit dem „Über-ihn-Hingwekommen“ bist. Check. Punkt 4: Du bist ausgehungert und Sex würde dir gut tun. Oh, ja. Punkt 5: Es wird Zeit, das Männerspektrum zu erweitern, du bist eigentlich ein unerfahrenes Lamm. ...nicht wirklich, weil Leon und ich eine Menge Sex hatten und Verschiedenes ausprobiert haben. Ab Punkt 5 wird mir klar, dass ich so etwas wie Selbstgespräche über meinem kalten Rührei führe und Ben Punkt 3 und Punkt 5 wahrscheinlich gar nicht mal anbringen würde. Seufzend lege ich mich noch einmal schlafen, doch ich wälze mich nur im Bett, schaffe es lediglich ein paar Minütchen zu dösen und erweitere dieses auf die Badewanne, mache mich hübsch, ziehe die neue schwarze Jeans an – jene, die nicht so verdammt tief sitzt wie das Exemplar von gestern Nacht. Dazu eines der neuen, tiefgrünen T-Shirts. Das Lederarmband findet erneut seinen Weg an mein rechtes Handgelenkt, meine Haare liegen gut, ich benutze den neu erstandenen, herben Herrenduft von dem Michi meinte er würde ihn „ganz wuschig“ machen. Bei Elias hat es gestern ja scheinbar auch funktioniert. Ich muss kichern. Und plötzlich ist da so ein Funken Glücksgefühl. Ich habe tatsächlich mit einem anderen Mann geknutscht. Einfach so. Elias steht auf mich, begehrt mich, hat offen den Wunsch geäußert, mit mir schlafen zu wollen. Ich bin attraktiv. Und ich werde mich neu verlieben! Das sage ich jedenfalls meinem Spiegelbild. Ich beschließe, Elias gleich Morgen anzurufen. Eigentlich mag ich ihn ja auch, wir hatten uns in der Vergangenheit schon öfters unterhalten, wenn Leon nicht dabei war. Leon war wirklich immer ziemlich angefressen wegen Elias. Vielleicht ist ja dies auch einer der weniger heldenhaften und eher infantilen Gründe, weshalb der Gedanke an den Dunkelhaarigen ein Lächeln auf meine Lippen zaubert. Als ich zurück in mein Zimmer wandere und das Radio einschalte halte ich plötzlich inne. Leons Chatfenster steht offen. Er hat mich angeschrieben. Ich stürze regelrecht zum Schreibtisch. Vor einer Viertelstunde schon hat er den bis jetzt einseitigen Dialog eröffnet. „hey“ steht da einfach nur. Mehr nicht und wie mich das Programm informiert, ist er immer noch eingeloggt. „na“, tippe ich also, ebenso minimalistisch. Dieses Mal verschwindet mein Ex nicht einfach so, sondern antwortet umgehend. Das kleine Symbol eines Notizblocks mit Stift am Ende des Fensters informiert mich über seinen Akt des Schreibens. „gut nach hause gekommen?“, steht dann dort plötzlich. „klar, Ben hat gute arbeit geleistet ;)“ „:)“ Ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Wie geht es Martin? Will ich nicht wissen. Wie seid ihr nach Hause gekommen? Interessiert mich nicht. Was geht? Hat auch mit Martin zu tun. Wahrscheinlich sind die beiden eh noch gestern im Bett gelandet und... Ich will eigentlich gar nicht darüber nachdenken, weil ich mir einfach noch immer nicht vorstellen kann, dass Leon andere Männer so angefasst hat, wie er mich immerzu berührte und... „was machst du heute noch schönes?“, fragt er mich. Meine Finger liegen schon auf den Tasten. Am liebsten würde ich schreibe. 'Ich rufe später wohl noch Elias an, war ja gestern ganz nett', aber das ist selbst für mich zu kindisch und unangebracht. „job für SMACK“, antworte ich also. „was denn für einer?“ „freiluftkino, im großen park am see.“ „hab davon gehört.“ „da waren wir auch mal schon, vor drei jahren oder so“, bemerke ich schließlich doch. Das schöne an dieser virtuellen Kommunikation ist, dass das Gegenüber die Mimik gar nicht mitbekommt. Meine Miene ist säuerlich. Sicherlich steht auch Enttäuschung in meinem Gesicht. Erinnert sich Leon nicht daran? Als wie die Welt der Amelie unter freiem Himmel gesehen und dabei Eis gegessen haben? Und wie es dann anfing zu regnen und wir ganz nass wurden, weil wir mit dem Rad unterwegs waren? Wie wir zu uns nach Hause eilten und gemeinsam duschten und seine Hände einfach überall waren und er mich unter den warmen nassen Strahlen fest umarmte und er tief in.... Stopp. !!! Ich umfasse meinen Kopf. Meine Schläfen pochen regelrecht. Ich atme angestrengt und schließe für einen kurzen Moment die Augen, um mich zu beruhigen, weil diese Gedanken mich verletzten, während sie gleichzeitig dafür sorgen, dass eine leichte Welle der Erregung, verursacht durch diese viel zu lebendig wirkenden Erinnerungen, durch meinen Organismus rast. „ah, genau!“, schreibt er plötzlich. „Die Welt der Amelie...“ Er erinnert sich! „genau“, tippe ich als Bestätigung. „;)“ Ich hasse mein Herz für sein wildes, vollkommen unangebrachtes Pochen! Und dieses minimale Glücksgefühl, welches durch meine Venen fließt, wird schlagbar gedämmt, als Leon plötzlich schreibt: „wir sind mal eben frühstücken, nicht weglaufen.“ Wir. Wir sind mal eben frühstücken. Die gestrigen Bilder strömen wieder in einem reißenden Fluss in mein Bewusstsein und mein inneres Ich labt sich an ihnen, weil es mein äußeres Ich nicht physisch verletzen kann und es auf die hinterhältige, psychische Weise probiert. Martin, der gutaussehende, freundlich lächelnde, großgewachsene Mann, dessen Alter und Beruf mir nicht einmal bekannt sind, der Leon angrabscht und mit ihm frühstückt, wahrscheinlich auf den Tellern, auf denen wir früher zusammen gegessen haben; und ich, der zurückgelassene, Leon hinterher weinende Ex soll „nicht weglaufen“. Ich soll hier ausharren, wie ein braves Hündchen, das auf „Herrchen“ wartet und keine humane Selbstbestimmung besitzt, sondern immer nur folgt. Ich soll hier rumgammeln, während die beiden zusammen lachen, über die vergangene Nacht sprechen, Pläne für den Tag schmieden, sich berühren und vielleicht sogar sachte küssen. Lauf nicht weg, Manuel. Sei ein braver, trauernder, verbitterter Mann. Ich bin furchtbar wütend. So wütend, dass ich mich nach einer längeren Weile noch erboster frage, wieso ich tatsächlich immer noch vor diesem dummen Rechner sitze? Und dann ist es schon zu spät, denn ich erblicke wieder den kleinen Stift zusammen mit dem Notizblock und dann erscheint schon die nächste Nachricht: „bin wieder da :)“ Nicht 'WIR sind wieder da?', hallt es spöttisch durch meinen Kopf. Meine Finger liegen schon auf den feinen Tasten der schneeweißen Tastatur, doch ich halte inne. Möchte ich Leon wirklich verraten, ich habe hier ausgeharrt – wie das brave, fiktive Hündchen meiner Überlegungen? Fünf Minuten lasse ich verstreichen, bis ich schreibe: „ich auch“ Und dann sagen wir beide ganz lange nichts und ich laufe durchs Zimmer, checke mein Equipment, säubere die Speicherkarte, packe meine Objektive in die opulente Kameratasche, meinen Begleiter, der mich nicht enttäuschen kann. Als ich nach einer Weile wieder auf den Bildschirm gucke, hat Leon geschrieben: „musst du bald los?“ „ich muss kurz vor fünf los“ „achso“ Wieder nichts und dann fragt Leon: „was für ein film wird eigentlich gezeigt?“ „inception“ „oh, cool. Den wollten wir uns auch noch irgendwann ansehen.“ Wir. Den wollten wir uns auch noch irgendwann ansehen. Versucht mein „bester Freund“ mich eigentlich zu provozieren? Will er es mir so sehr unter die Nase reiben? Dass er scheinbar glücklich vergeben ist, dass ich so alleine bin? Hat es ihn deswegen auch so angekotzt, dass ich mit Elias rumgeknutscht habe? Weil dieser Akt ihm suggeriert hat, dass ich vielleicht auch irgendwann wieder vergeben sein kann und er dann keinen, ihm nachweinenden Idioten mehr vorzuzeigen hat? „kommt doch mit“, steht da plötzlich geschrieben. Von mir. Leon sagt eine Minute gar nichts. Und dann tippt er wieder. Was herauskommt ist ein: „machen wir :) wo treffen wir uns?“ Wie dämlich kann man eigentlich sein? Ich glaube mittlerweile langsam, dass ich die dämlichste Person der ganzen Stadt bin. Ein infantiler kleiner Junge, der über seine Handlungen gar nicht nachdenkt, sondern einfach nur von seinem Trotz und verletztem Ego gesteuert wird. In sein eigenes Verderben. Aber so etwas merkt man vorzugsweise ja erst, wenn es schon zu spät ist. „17.15 am großen Tor bei der Eisdiele“, schreibe ich. „alles klar. bis dann, freu mich! muss vorher noch ein unitreffen über mich ergehen lassen. bye“ Wenigstens hat er nicht geschrieben „WIR freuen uns!“ Verdammt, wieso ist Ben nicht hier??? Ich schnappe mir das Telefon und rufe Karolina an. „Manu! Du rufst an! Welch Überraschung“, zieht sie mich hart auf und ich seufze laut. „Hey...“, sage ich einfach nur und meine Freundin ist sofort alarmiert. „Was ist los?“, fragt sie und ihr russischer Akzent kommt wieder heftiger durch. Ich erzähle ihr, wie dämlich ich bin und dass ich Leon und Martin zu meinem Job bestellt habe, obwohl ich eigentlich schon die Vorstellung, die beiden so schnell wieder zusammen zu sehen, nicht vertragen kann. Sie seufzt mitleidig. „Soll ich mitkommen?“, fragt sie letztendlich. „Ich würde dich sogar mit dem Auto abholen und wieder nach Hause fahren!“, werfe ich schnell ein, sodass meine Stimme sich fast überschlägt. „Okay, okay“, kommt es dann lachend von ihr. „Wann bis du hier?“ Und so kreuze ich gegen 16.30 Uhr vor ihrem Wohnhaus auf und meine russische Freundin wartet bereits auf der Straße auf mich, hüpft enthusiastisch in meinen Wagen. „Hallo, Carry“, begrüßt sie das Auto und zaubert damit ein Grinsen auf meine Lippen. Der Verkehr ist, wie an vielen Sonntagen, nicht besonders schlimm und wir sind sogar viel früher da, als ich gedacht hätte. Was aufgrund der Parksituation, die in der Nähe des Parks nicht die beste ist, wie sich nun erweist, durchaus vorteilhaft ist. Ich checke noch einmal mein Equipment. Haben wir im Wagen nur Smalltalk betrieben, so betrachtet mich Karolina nun mit einem leicht skeptischen Blick. „Reiß dich zusammen“, meint sie dann plötzlich ernst. „Ich weiß, das ist blöd, neuer Mann mit Leon und so. Aber du warst weg, ein Jahr!“ Sie gestikuliert mit ihren Armen. „Nur weil du schwul bist, musst du dich nicht gleich wie eine Lusche aufführen!“ Das sitzt und ich verziehe das Gesicht. Karolina verdreht die Augen und kommt auf mich zu. „Manuel, das war nicht böse gemeint, das sollte dich aufbauen.“ „Aha…“ „Ich dachte gestern, du hättest ersten Schritt gemacht nach vorn“, spricht sie mit etwas aufgebrachter Stimme weiter, während ich den Kofferraum abschließe. Ihr Satzbau kommt durch ihre Emotionen wieder leicht durcheinander. „Aber heute bist du wieder lahm und heulst rum, wieso?! Du weißt doch, dass Leon mit Martin ist, und du lädst sie doch ein! Reiß dich zusammen und trete wie ein Mann auf!“ Ich seufze und sie schlägt mir hart auf die Schulter. „Ich mag Martin auch nicht“, sagt sie plötzlich. „Baut dich das auf?“ Ich lächle und sie quittiert das mit einem harschen, osteuropäischen „gut.“ Ich höre aufgebrachtes Kindergeschrei, Musik, Gesprächsfetzen; überall sind Menschen und mir scheint es, als würden es immer mehr werden. Es gibt Popcornstände, Eisverkäufer und sogar HotDogs kann man sich plötzlich hier besorgen. Die Leinwand steht am Ende einer großen Wiese die sich über eine hügelige Anhöhe erstreckt, sodass sie wie ein natürlicher Kinosaal wirkt. Manche haben sich Klappstühle mitgebracht, andere breiten ihre Decken aus, packen ihre Picknickkörbe aus. Eine kleine Erinnerung an den Ausflug hier her damals mit Leon bahnt sich an. „Seid ihr gut nach Hause gekommen?“, frage ich deswegen Karolina, während wir uns von dem Trubel entfernen, zum abgesprochenen Treffpunkt gegenüber einem der Haupteingänge schlendern. „Die Taxifahrerin war ziemlich genervt von uns, weil wir die ganze Zeit dämlich gekichert haben. Und dann im Endeffekt die ganze Zeit rumgemacht haben“, antwortet sie frech und ich muss lachen. „Und ihr?“ „Also wir haben im Taxi nur gekuschelt...!“, schmunzele ich und Karolina schüttelt lachend den Kopf. „Na, wärst du mit Elias gefahren, wäre die Taxifahrt sicherlich anders verlaufen...“, meint sie dann nur und ich verschlucke mich fast. Das stimmt. Ja. Ich bin mir sicher, dass ich gleich morgen anrufen werde. „Wie geht’s weiter?“, fragt Karolina mich weiter. „Womit?“ Sie verdreht die Augen. „Mit Elias!“ „Ich ruf ihn morgen an und dann... Mal sehen“, entgegne ich und zucke locker mit dem Schultern. Karolina lächelt und ihre Lippen gleiten dann direkt in ein Grinsen. „Ich will alle schmutzigen Details!“ Nun verdrehe ich die Augen – während sich mein Mund ebenfalls zu einem Grinsen verzieht. Dieser Plan gefällt mir immer mehr. Irgendwie ist das ja aufregend, jemanden kennen zu lernen. Streng genommen habe ich diese Phase nie so richtig durchgemacht, jedenfalls nicht auf diese klassische Art; auf die Weise, die ich bei meinen ganzen Freunden und Kumpels beobachten konnte – während ich einfach „schon immer“ mit Leon zusammen war. Sich als Kinder kennen zu lernen und von Spielkameraden langsam in den Status von Liebhabern abzuwandern ist nicht unbedingt dasselbe, wie einen Mann als Erwachsener kennen zu lernen und sich mit ihm zu verabreden, um dann... oder vielleicht.... Weiter komme ich mit meinen Gedanken nicht, denn just als wir den Park verlassen, erblicken meine Augen auf der gegenüberliegenden Straßenseite drei Gestalten, direkt neben der Eisdiele: Leon, in weiter, hellbrauner Sommerhose und im legeren, weißen Leinenhemd, mit einer Sonnenbrille auf der Nase; Martin, in blauer Jeans und schwarzem Muskelshirt – und Gott, hat der Oberarme; und neben den beiden steht noch jemand, den ich erst beim zweiten Hinsehen „erkenne“ - Es ist Christian. Mr. Nachwuchsmodell trägt etwas längere, dunkelbraune Shorts im Bundeswehrstil, die ihm weit über die Knie reichen, schwarze Sneaker; ein schwarzes, enges T-Shirt spannt sich über seine doch recht ansehnliche Brust. Auch er trägt eine Sonnenbrille; mit verspiegelten Gläsern. „Das ist ja Mr. Engel“, sage ich zu Karolina, während wir stehen bleiben und Leon zuwinken, als dessen Blick uns streift. Das Dreiergespann setzt sich daraufhin in Bewegung, meine Freundin und mich anlächelnd, und Karolina ist immer noch verwirrt durch meine Äußerung; bis sie plötzlich leicht aufzuckt, so als würde ein Blitz der Erkenntnis durch ihren Körper fahren. „Ah!“, macht sie und sieht mir direkt in die Augen. „Das Nachwuchsmodell! Das ist ja witzig!“, fügt sie grinsend an. „Hey, na“, begrüßt Leon mich und bevor ich reagieren kann, umarmt er mich schon. „Hallo“, murmele ich und versuche, seinen Duft nicht einzuatmen. Martin gebe ich die Hand, während Leon und Karolina sich 'hallo' sagen. „So sieht man sich wieder“, murmelt Surferboy und lächelt etwas zaghaft. Meine Mundwinkel zucken minimal nach oben; ich entgegne nichts außer eines vagen „na“. Und dann schon grinst Christian mich an. „Hallöchen, Herr Fotograf!“, begrüßt er mich. Sein Händedruck ist stark, seine Handfläche warm. Er hebt seine Sonnenbrille an, lässt sie in sein Haupthaar wandern und unsere Augen treffen sich. Wow, so ein knalliges Grün hatte ich gar nicht mehr in Erinnerung. Trägt er etwa Kontaktlinsen? „Äh, ja. Hallo.“ „Du hast dich verändert“, meinte er dann noch grinsend, als er meine Haare ziemlich intensiv betrachtet. Ich sage nichts und er fährt selbstbewusst scherzend fort: „Hast nicht damit gerechnet mich zu sehen, was?“ „Es passiert schon öfter, dass ich Leuten über den Weg laufe, die ich schon mal fotografiert habe“, entgegne ich nun etwas kühl und Mr. Engel sagt daraufhin einfach mal gar nichts mehr. „Hi, ich bin Karolina, eine Freundin von Leon und Manu“, stellt sich daraufhin meine russische Begleiterin keck vor. Christian lässt seinen Blick an ihrer entzückenden Erscheinung auf und ab wandern. „Mamma, mia!“, ruft er dann aus, als er ihre Hand ergreift und nochmals demonstrativ seine Blick über ihren Körper wandern lässt. „Christian“, stellt er sich vor und sagt dann: „Leon hat mir schon von dir erzählt. Nur hat der Gute verschwiegen, wie wunderschön du eigentlich bist!“ Karolina lacht laut. Sie ist es gewohnt, Komplimente zu bekommen. Sie liebt es sogar. Ich verdrehe einfach nur die Augen. Zwar habe ich schon plumpere Sprüche gehört, aber dieser hier zählt auch nicht gerade zu der Kategorie „eloquent“ oder „kreativ“, geschweige denn „originell“. „Schwule Männer sind auch nicht gerade gut darin, eine scharfe Frau schmackhaft zu machen“, scherzt sie daraufhin. „Hey, das ist nicht wahr!“, mischt Leon sich lachend ein. „Wieso“, dreht Christian sich zu ihm um. „Du hast sie als 'total nette, verrückte und ziemlich gut aussehende Russin' beschrieben und nicht als 'wunderschöne, osteuropäische junge Frau mit langen Beinen und weiblichem Charme', oder?!“, hält er ihm vor und die beiden lachen. Martin schüttelt grinsend den Kopf. Unsere Augen treffen sich. Er lächelt mich an, umfasst Leons Hand. ...war das Absicht? „Oh, kann es sein, dass der gute Leon dir etwa auch verschwiegen hat, dass ich lesbisch bin?“, zieht Karolina das Nachwuchsmodell nun mit melodiöser Stimme auf und stemmt eine Hand in ihre rundliche Hüfte. „Nein“, antwortet Christian ihr frech und beugt sich etwas zu ihr. „...das macht die Sache nur noch heißer!“, meint er dann etwas leiser, aber immer noch so, dass wir alle es auch ja mitbekommen. Karolina verpasst ihm einen fast schon freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. „Unglaublich!“, ruft sie augenrollend aus – lacht dabei aber. Alle lachen. Außer mir. Weil ich mal wieder Mr. Griesgram bin. Auch wenn ich zugeben muss, dass es mir gefällt, dass Leon und Martin nicht mehr Händchen halten. „Ich hatte vorher noch ein Treffen mit meiner Projektgruppe und dieser Trottel hier hatte keine Lust, nach Hause zu gehen, deswegen haben wir ihn mitgenommen“, erklärt Leon dann letztendlich Christians Erscheinen. „Ich hoffe, ich störe nicht?“, kommt es von dem Mann mit dem strubbeligen Haar und er blickt in die Runde. Ich seufze laut und habe damit sofort die Aufmerksamkeit. Ohne jemandem in die Augen zu blicken öffne ich meine Kameratasche, die ich umgehängt trage, und fische meine Nikon heraus, entferne die Linsenkappe und baue mit wenigen Griffen das Blitzgerät an. „So, ich muss jetzt arbeiten“, verkünde ich dann simpel. „Ich will noch einige Bilder rein kriegen, bevor der Film losgeht, weil dann nur noch generelle Shots der Massen möglich sind und das generell langweilig ist...“, erkläre ich. „Auf ins Getümmel!“, meint Leon freudig und grinst mich an. Ich muss schon wieder an die Welt der Amelie denken, an den lauwarmen Sommerregen, an unser Gekicher, als wir zu uns nach hause liefen, nur um dann... Ich schlucke, lasse die plätschernden Gespräche der anderen über mich ergehen, höre nicht wirklich zu. Es ist seltsam zu wissen, dass Leon diesen Kerl, der nun neben ihm spaziert, küsst... Und dass er mit ihm... Und dass die beiden... zusammen sind. Dass Martin... meinen Platz eingenommen hat. Ich denke zurück an eine Konversation mit Ben; Martin ist schon Leons dritter Mann nach mir. Nach mir. Ich bin Vergangenheit. Meine Rolle als fester Freund, als Lebenspartner, als Geliebter habe ich nicht mehr. Ich klammere mich so daran, doch diese Position wurde mit entzogen. Nach mir... Leon ist bereits einen großen Schritt weiter als ich, hat unsere Zeit als Etappe hinter sich gelassen, uns zeitlich und physisch voneinander getrennt. Wieso nur kann ich diese Grenze nicht wie eine strahlende Linie wahrnehmen, wieso kann ich nicht meine Sicht der Dinge anpassen und endlich mit „nach Leon“ anfangen? Elias erscheint vor meinem inneren Auge. ...vielleicht habe ich schon mit der Zeit nach Leon begonnen und es nur noch nicht selbst realisiert? „Erde an Manuel!“, ertönte Leons Stimme direkt an meinem Ohr und ich zucke ein wenig zusammen, drehe ihm meinen Kopf schlagartig zu. „Was?“ Leon lacht. „Ich fragte dich, ob du auch was zu trinken willst“, sagt er und erst jetzt bemerke ich, dass wir schon tief im Park sind, dass wir an einem der aufgebauten, provisorischen Getränkestände stehen und Karolina gerade eine Bestellung aufgibt. „Nein“, entgegne ich schnell und schüttele auch den Kopf, als sie mir einen auffordernden Blick zuwirft. „Wir treffen uns in einer halben Stunde bei der großen Laterne auf der Wiese, ich lauf jetzt erst mal rum und mache meinen Job. Bis dann!“, meine ich und sehe Leon dabei nur kurz in die Augen. Er will protestieren, aber ich habe schon längst auf dem Absatz kehrt gemacht und stürze mich alleine ins Getümmel. Arbeit ist in der Tat eine effektive Ablenkung; die Leute willig, sich für SMACK fotografieren zu lassen. Sie lachen in die Linse, machen Fratzen oder posieren etwas ansehnlicher; ich fotografiere ein paar Inder mit rosa Zuckerwatte, eine Familie mit sechs Kindern, dessen schneeweiße T-Shirts durchnummeriert sind, eine Seniorenrunde mit einer 3-Liter-Flasche Sekt. „Ey, cool, kommen die auch online?“, lautet die Frage, die mir nach dem Knipsen jeder dritte stellt. Ich fühle mich sogar ein bisschen wichtig, muss ich zugeben. Glücklich. Ich habe Spaß. Dann laufe ich kurz vor Filmbeginn zu der großen Laterne, an der auch ein kleiner Getränkestand mit Softdrinks seinen Platz gefunden hat. Dort stehen sie und warten: Karolina und Christian. Doch wo sind Leon und Surferboy hin? „Da bist du ja“, grüßt meine Freundin mich. Mr. Engel grinst einfach nur. „Bist fertig?“, hakt sie nach und ich klicke mich durch die Bilder, die ich eingefangen habe. „Ich will gleich noch bei Filmbeginn ein paar Aufnahmen des großen Ganzen machen, wie die Leute sich auf dem Hügel verteilt haben und so, das sieht echt schick aus“, murmele ich. Karolina nickt. Ich sehe mich ein wenig um. Nein, Leon und Martin sind nicht einmal in der Nähe. „Leon und sein Anhang sind schon zur Wiese hin, nen Platz sichern“, informiert Christian mich plötzlich, dem mein suchender Blick scheinbar aufgefallen ist; er lächelt irgendwie verständnisvoll. Als würde er irgendetwas verstehen..., hallt es durch meinen Kopf und ich beiße mir kurz auf die Zunge, damit ich keinen säuerlichen Ex-Freund-Kommentar abgebe. Vor Christian will ich mich auf keinen Fall blamieren. Der Typ kotzt mich zu sehr an. Er ist nett anzusehen – und fotografieren würde ich ihn gerne auch ein weiteres Mal, verdammt gern auch wieder oben ohne – aber mehr auch nicht. Er ist ein Aufreißer. Nicht homophob, aber immer noch ein Aufreißer. „Kann ich dir vielleicht jetzt etwas zu trinken ausgeben?“, fragt er mich plötzlich. „Ich wollte mich eh noch bei dir bedanken“, fährt er fort, bevor ich mich dazu äußern kann. Fragend blicke ich ihn an. „Wegen der tollen Fotos!“, erklärt er direkt und grinst. „Ich hab die ja für ein Casting gebraucht! Die haben Models für so eine neue, lokale Kuppelplattform gesucht und ich wollte ja unbedingt mein Portfolio noch aufpeppen und das Casting war ja auch direkt am nächsten Tag, deswegen hatte ich dich ja auch gebeten, sie so schnell wie möglich fertig zu machen. Und, naja, rate mal! Die haben mich für den männlichen Hauptpart gewählt!“, erzählt er enthusiastisch und wirkt dabei ein wenig wie ein kleines Kind. Trotz Aufreißer-Stempels, den er mit dem „Kompliment“ an Karolina heute nur gefestigt hat – und man bedenke, dass er eigentlich mit dieser Asiatin zusammen ist – wirkt er in diesem Moment fast schon putzig; ich muss lachen. Christian hingegen verstummt kurz und blickt mich leicht verwirrt an. „Tschuldige“, murmele ich und beruhige mich wieder. „Herzlichen Glückwunsch auf jeden Fall! Ist echt cool.“ „Ja, finde ich auch. Das Shooting ist auch schon bald und nen kurzen Web-Clip wird’s auch noch geben“, erzählt er uns. „Gibt's nicht eigentlich schon genug Kuppelplattformen?“, mischt Karolina sich ein. „Ich glaube nicht so viele, wie es Singles gibt“, mein Christian nur. „Ich stelle mir das echt gruselig vor, jemanden im Netz kennen zu lernen. Wie viele heiße Weiber sind im Grunde genommen bierbäuchige Typen, also wirklich“, meint sie skeptisch und verschränkt die Arme vor ihrer Brust. „Also ich hab schon mal jemanden im Netz kennen gelernt, auf eben so einer Plattform, finde ich überhaupt nicht schlimm“, behauptet er hingegen. „Respekt!“, meine ich nur etwas grinsend – und eigentlich total sarkastisch. „Die kleine Asiatin?“, ziehe ich ihn auf. „Welche Asiatin?“, meint er plump. In der nächsten Sekunde fällt es ihm dann ein. „Ach!“, ruft er aus. „Du meinst Meilin! Oder?“ „Ich habe dich nur mit Meilin gesehen...“, merke ich etwas träge an und sehe, wie Karolina anfängt zu grinsen. Sie findet Christian wahrscheinlich ebenso... ulkig, wie ich. Unterdessen lacht Mr. Engel ziemlich laut. „Meilin, ha ha ha!“ Er schüttelt amüsiert den Kopf. „Meilin ist meine beste Freundin, eher Kumpel als alles andere. Sie mag vielleicht total weiblich und zierlich aussehen, aber die kann rülpsen wie ein Mann!“, erzählt er freudig. „Meilin, meine feste Freundin... Was für eine geile Vorstellung“, lacht er weiter und ich... weiß nicht so recht, was ich damit anfangen soll. „So, so“, kommt es von Karolina. „Vielleicht solltest du sie mir mal vorstellen.“ Natürlich springt sie darauf an. Das ist Karolina. Eigentlich trifft auf sie dieselbe Beschreibung zu, fällt mir in diesem Augenblick auf. Ich kann nicht anders, ich muss nun auch lachen, weil ich mich daran erinnere, wie laut Karolina mal total besoffen gerülpst hat, als wir im Park abgehangen haben; Ben, Leon, Michi, Karolina und ich; vorbeikommende Passanten konnten sich natürlich absolut nicht vorstellen, dass so eine wunderschöne Frau jemals laut rülpsen würde – statt ihrer bekamen wir diese abschätzigen Blicke zu spüren, während Karolina sich still ins Fäustchen lachte. Doch diese Geschichte werde ich hier natürlich nicht laut thematisieren, nicht vor Christian. „Also“, zieht Christian wieder meine Aufmerksamkeit auf sich. „Darf’s ein Bier sein? Oder doch eher ein Softdrink?“ „Ich muss noch fahren“, meine ich nur. „Ein Bier ist da doch drin.“ Ich zucke mit den Schultern. „N Kleines, wenn dann…“ „Super. Und die Dame?“, witzelt er, so als hätte er meine Gedanken zum Thema „Dame Karolina“ gehört… „Ich nehme auch ein Bier.“ Na, bitte… Während Christian sich in die kleine Schlange einreiht, flippe ich mich noch mal durch die bisher geschossenen Bilder. „Der ist witzig“, meint Karolina plötzlich. „Ja“, sage ich geistesabwesend. „Und du findest ihn verdammt heiß“, meint sie plötzlich. Ich halte inne und starre meine Freundin an, die mir ein saftiges Grinsen präsentiert. „Das meintest du doch gestern selbst“, fügt sie hinzu. „Hammer Body“, imitiert sie mich und ich verziehe leicht den Mund. „Hm“, mache ich dann und fühle mich irgendwie ertappt. „Hammer Body aber dumm wie Brot“, meine ich dann etwas gehässig und leiser, damit er es auch ja nicht hören kann – selbst wenn das sowieso unmöglich ist, weil er gerade bestellt und um uns herum einfach zu viel geredet wird. „Dumm fickt gut“, meint meine Freundin daraufhin trocken; muss dann allerdings ziemlich doll grinsen, fast schon lachen. „Boah, Karolina!“ Ein Lachen kann ich mir auch nicht mehr verkneifen. Ich liebe Karolina, ihre total trocken-vulgäre Art. „Ja, ja, ich weiß… Elias“, fährt sie dann in einer Art Sing-Sang fort. „Vielleicht ist er ja auch… dumm?“ „Du bist unglaublich…!“ Doch in der Tat wandern meine Gedanken jetzt zurück zur Tanzfläche, zu diesen warmen Lippen, die die meinigen berührt haben, die Art, wie wir geflirtet haben – dass ich überhaupt mit jemanden geflirtet habe! Geknutscht… wohl eher. Ich denke an seine kurzen, wuscheligen Haare, den ziemlich markant wirkenden Drei-Tage-Bart, der ihm unheimlich steht; diese schmalen, tiefbraunen Augen – und seinen ansehnlichen, schlanken Körper, der sich ziemlich ungehalten an mich gepresst hat. Erschaudere ich? Ein wenig. Bis Christian mir das kleine Bier in die Hand drückt und mich frech angrinst. „Der Film geht gleich los, Jungs!“, ruft Karolina, nachdem wir kurz unsere Plastikbecher symbolisch zum Anstoßen in die Luft gehalten haben. „Na, dann lasst uns die beiden mal suchen“, verkündet Mr. Engel. Wir laufen den gepflasterten Weg entlang und ich zücke noch drei Mal die Kamera, weil diese auf Picknickdecken ausgebreiteten Menschen sich wie für dein Bild posiert haben – der Bierbäuchige Opa mit einem 2-Liter-Glas Bier in seiner Hand und Weihnachtsmannbart ist vor allem sehr präsent in einer der Aufnahmen. Wir finden Leon und Martin recht schnell, da Leon am Rande der Wiese steht und uns zuwinkt. Verdammt... er sieht so gut aus..., schießt es mir durch den Kopf, als ich erneut seine Erscheinung in Betracht nehme, wie er da locker steht, mit einem ebenso lässigem Grinsen im Gesicht. Ich kann mich mal wieder nicht entscheiden: sah er besser mit kurzen Haaren aus, oder mit dieser angedeuteten Löwenmähne? Ich befürchte, ich finde beides äußerst ansehnlich. Ich befürchte, Leon könnte sich sogar die Haare kahl rasieren und ich würde ihn immer noch anbetungswürdig finden... Dieses imaginäre Bild der neuen Frisur schleicht sich vor mein inneres Auge und ich pruste beinahe los, muss ich zu meinem eigenen Glück erkennen, dass Leon – ich kann es nicht besser ausdrücken – wie ein Vollspast mit Glatze aussehen würde. „Alles klar?“, fragt er mich jetzt noch mit milder Stimme. Die Erkenntnis kommt über mich, dass ich gerade ziemlich auffällig grinse. „Klar“, antworte ich und das ist sogar eine ehrliche Antwort. Leon mit Glatze. Ich beschließe mir von nun an immer jenes Bild vor Augen zu führen, sollte ich in schmerzhaften Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit schwelgen, oder sollte ich mich über seinen neuen Surferboy und die allgemeine Situation aufregen. Mr. Glatze – genau. Allerdings klappt das auf der Wiese dann doch nicht so recht. Weil es nämlich total seltsam ist, im trockenen Gras zwischen Christian auf meiner rechten und Karolina zu meiner linken mit dem Rest Bier im Becher zu hocken, während ich aus dem Augenwinkel betrachten kann, wie mein Leon von diesem Arsch umarmt wird und wie dieser Arsch ab und an seinen Kopf an dessen Schulter lehnt, Leons Hand ergreift und ihm ab und an etwas ins Ohr flüstert. Und Leon, die Diva, (denk an die Glatze, denk an die Glatze!) lässt das alles einfach geschehen. Ich verfluche mich, dass ich den Film schon kenne. Ich schaffe es nicht, mich auf dieses Meisterwerk zu konzentrieren. Glatze, Glatze, Glatze! „Bin gleich wieder da“, murmele ich und schnappe mir meine Kamera. Vielleicht wird ein weiteres Stückchen Arbeit mich wieder ablenken. „Wohin gehst du?“, fragt Karolina wispernd und hält mich am Arm fest. „Fotos machen“, erkläre ich. Vermutlich knipse ich zu lange, laufe orientierungslos vor mich hin, drehe eine Runde um den kleinen See. Nur, weil ich nicht in seiner Nähe verweilen will; weil ich Surferboy nicht sehen will. Weil ich allein sein will. Doch das ist auch nicht die ganze Wahrheit. Ich möchte nicht allein sein. Ich war lang genug allein unterwegs, getrennt von meinen Freunden. Und… auf diese andere Art war ich auch lang genug allein. Verräterisch gleiten meine Gedanken zurück zur gestrigen Nacht, in den leicht stickigen Club; zu meiner leicht verschwommenen Sicht, meinem zur Melodie zuckenden Körper. Meinen Lippen, die brüsk von Elias’ in Anspruch genommen wurden; diesem seichten, einnehmenden Schwindelgefühl, dem angenehm flauen Gefühl in der Magengegend. Einem Kribbeln? Vermutlich. Ein kleines Lächeln bahnt sich an. Genau in diesem Moment ertönt in der Ferne ein leichtes Brummen; wie das Geräusch eines anrollenden Zuges hört es sich an, ganz schwach. Ein Donnern. Den Blick zum Himmel richtend fallen mir die dunklen Wolken am Horizont auf. Ein Deja-Vu. Ich hasse es. Als ich zu den anderen zurückkehre, erfasst mich der erste kalte Hauch, ein Vorbote der düsteren Veränderung, die bald über uns treten wird. „Wo sind Leon und Martin hin?“, verlassen die Worte meinen Mund, noch bevor ich selbst realisieren kann, dass die beiden nicht mehr neben Karolina und Christian sitzen, die mir jetzt ihren Kopf zudrehen und mich beinahe gleichzeitig mit einem „Pst!“, ermahnen. Es sind die letzten Minuten des Films, die sich auf der Leinwand abspielen. Das große Finale, das seltsame Ende. Ich starre die Bäume in der Ferne an; die dunklen Wolken, die das seichte Rot am Horizont mit ihrem Grau verdrängt haben. Es dauert nicht lang. Ich kann den ersten Tropfen auf meiner Wange spüren. Meine Kamera ist längst verstaut und sicher. Kälte umfasst mich gemächlich. Als wir aufstehen, grollt es vom Himmel. Ein lautes Getöse, ein aufwallendes Donnern, begleitet von dem ersten Schauer, der von der Decke aus Grau und Schwarz niederprasselt. Wir laufen. Karolina und Christian lachen, veranstalten eine Art Wettrennen. „Wo musst du hin?“, fragt sie ihn, als wir an meinem Auto ankommen und ich nach meinen Schlüsseln suche. Er nennt ihr sein Viertel. Es liegt unweit von der Wohnung meiner Freundin. „Manuel nimmt dich mit!“, höre ich sie sagen, die Türen gehen auf. Wir schlüpfen hinein. „Danke, Mann!“, bedankt Christian sich, der auf den hinteren rechten Platz gerutscht ist. „…kein Problem.“ Sie reden über den Film, über DiCaprio über den Kreisel, das Ende, den Regen, das Bier und schließlich – warum auch immer – über Bruce Willis. Sie lachen. Ich fahre. Aus dem Radio dringt nur ein Rauschen. Plötzlich vibriert etwas in meiner rechten Hosentasche – mein Handy; eine SMS. Ich greife das Gerät, während ich Carry auf die heute leere Hauptstraße lenke. Die Nachricht ist von Leon, ich bekomme die Antwort auf meine ignorierte Frage. „Sorry, dass wir vorhin weg sind, aber die Mitfahrgelegenheit von Martin hatte spontan die Abfahrt geändert und er musste seine Sachen noch aus meiner Wohnung holen! LG, Leon“ „Ey, samma, bist du bescheuert, leg das Handy weg?!“, schreit Karolina mich plötzlich an und ich erschrecke so, dass ich den Wagen kurz aus der Spur bringe, weil ich aufzucke und das Lenkrad zu weit nach links drehe. Der entgegenkommende und nun vorbeirauschende Wagen hupt. Mein Herz schlägt mir fast bis zum Hals. „Alter!“, schreie ich sie an und knalle das Handy demonstrativ in die Einkerbung in der Mittelkonsole. „Das kommt vom Handy beim Autofahren!“, schnauzt sie mich mit vorgehaltenem Finger an. „Das kommt von deinem Rumbrüllen!“, keife ich zurück. Viel lauter und aggressiver, als ich es hatte klingen lassen. Karolina sagt nichts. Und auch Christian ist plötzlich still. Ich kaue auf meiner Unterlippe. Glatze, Glatze, Glatze. Ich schiebe die Kassette in mein altes Autoradio ein. Queens of the Stone Age – Sick Sick Sick. Mittendrin. Sehr gut. Lauter. Karolina seufzt. „Ich mag nicht, wenn jemand bei Autofahren telefoniert“, meint sie noch. „Arme Carry“, meint sie dann und streicht über das Armaturenbrett. „Carry?“, schnappt Christian interessiert auf und beugt sich wieder nach vorn, sodass er besser mit Karolina sprechen kann. „Das Auto“, sagt sie amüsiert. „So nennt Manuel den Wagen.“ Ich bremse zu hart und meine Freundin wird hart gegen die Gurte gedrückt. Sie seufzt unzufrieden; wir stehen vor ihrem Wohnblock. „Hat Carry ihre Tage – oder du?“, scherzt sie, als sie sich abschnallt. „Danke, dass du heute mitgekommen bist“, meine ich nur – jenes meine ich allerdings ernst und ich äußere es auch nicht wütend, selbst wenn ich innerlich noch immer aufgewühlt bin. Es regnet noch immer; irgendwo sehe ich es blitzen. Karolina schaut mich etwas länger an und als ich ihr in die Augen blicke, lächelt sie leicht. „Ruf mich an… du weißt schon weswegen.“ Elias. Sie verabschiedet sich mit einem Schmatzer auf die Wange. Christian gibt sie kumpelhaft die Hand. „Bis demnächst“, sagt sie. Dann steigt sie aus und läuft davon. „Warte“, meint Christian und schnallt sich ebenfalls ab. „Ich komm nach vorn.“ Und so sitzen wir in meinem Wagen. Nebeneinader und ich lenke Carry durch die verregnete Stadt. Aus den Boxen läuft mittlerweile leise Come as you are von Nirvana. Den Song habe ich schon lang nicht mehr gehört. „Und du kanntest den Film schon, oder wie?“, versucht Mr. Engel ein Gespräch zu initiieren. „Jepp“, sage ich. „Aha.“ „Ja.“ „Stehst du auf Nirvana?“, fragt er. „Nicht auf alle Songs.“ „Bei mir genauso.“ „Ja?“ „Ja.“ „Mhm.“ „….jepp…“ „Am besten bei der nächsten Kreuzung gleich rechts abbiegen“, informiert er mich nach einer kleinen Weile. Mittlerweile läuft Schrei nach Liebe von Den Ärzten. „Okay“, sage ich. Es donnert. Der Regen ist krass. So wie damals. Als Leon und ich schon… „Sag mal, wie lange warst du noch mal mit Leon zusammen?“, fragt Christian mich plötzlich. „Äh… Sieben Jahre“, antworte ich ihm einfach. „Wieso?“ „Weil ich es krass finde, dass man so lange zusammen sein kann, sich dann trennt und irgendwie noch miteinander kann“, meint er dann. „Aha…“ Irgendwie noch miteinander kann… Glatze, Glatze, Glatze! „Respekt auf jeden Fall“, meint er, als ich halte. „Wir sind da“, verkünde ich. Christian blickt mich an und ich bin gezwungen, in seine grünen Augen zu sehen. „Danke, dass du mich mitgenommen hast“, sagt er und lächelt milde. „Kein Problem.“ „Willst du Spritgeld haben?“, fragt er nach und ich schüttele den Kopf. „Lass stecken. Du bist Student“, feixe ich und er grinst. Es ist ein schelmisches Grinsen. Das Grinsen von einigen Bildern unseres Shootings. Er klopft aufs Armaturenbrett. „Tschüß, Carry“, meint er und schnallt sich ab. Er öffnet die Beifahrertür einen Spalt, will aussteigen; hält dann aber doch inne, dreht sich wieder zu mir um. Unsere Blicke treffen sich. „Mein Seat heißt übrigens Tony“, meint er dann – und zwinkert mir zu. Dann ist er weg und ich blicke ihm nach, wie er die Hand über die Augen haltend, davonläuft. Es donnert. Dieser verflixte Regen will nicht abziehen. Ich schließe die Tür, bin klatschnass und schäle mich eilig aus meinen Klamotten, ziehe eine graue Jogginghose an, ein schwarzes T-Shirt. Ich laufe durch mein Zimmer. Ben ist nicht da und ich weiß nichts mit mir anzufangen, nachdem ich die Fotos sortiert, bearbeitet und abgeschickt habe. Ich kaue auf meiner Unterlippe und versuche erst gar nicht, meine Gedanken zu ordnen, die wie rastlose Geister durch meine Hirnwendungen huschen. Martin, Leon, „Die Welt der Amelie“, Karolina, Meilin, Leon, Martin, Christian, Tony, Carry, Leon. Martin, Martin, Martin. Leon, Leon, Leon. Ich greife nach meinem Handy. Ich habe keinen Plan. Nach dem ersten Freizeichen schon geht jemand ran. „Ja?“ „Hey, hier ist Manuel.“ Kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Manuel? Hey! Na, wie geht es dir?“, fragt Elias mich. Die Freude in seiner Stimme ist unverkennbar. „Mir ist langweilig, ich dachte, ich ruf mal an.“ „Ich bin der Doktor gegen Langeweile“, scherzt er schlecht und ich muss trotzdem grinsen. „Bock auf ne DVD?“, frage ich ihn plötzlich. „…na klar! Soll ich zu dir kommen oder kommst du zu mir?“ „Hast du einen Wagen?“, frage ich ihn. „In der Werkstatt“, entgegnet er. „Ich mache mich auf den Weg, sobald es etwas weniger regnet, Deal?“, schlage ich vor. „Deal!“, kommt es zufrieden von dem Mann, der mich gestern abgeknutscht hat. Dann sagt er mir noch seine Adresse. Dann legen wir auf. Und eine Viertelstunde später starte ich den Motor. Was mache ich? Carry sagt: Brrrrrruuummmm! Sonntag, 23. Juli Glatze, Glatze, Glatze. Wie ein Vollspast. Genau. Wie ein Vollspast… Und Elias? Elias ist… heiß. Manuel ------------------- PS: Vielen Dank für alle Kommentare und Favos! Habe momentan leider nicht die Zeit, persönlich auf Feedback einzugehen, bitte verzeiht! :C Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)