How to love you von Funhouse (- Wie man sich einen Psychopathen angelt.) ================================================================================ Prolog: Photograph ------------------ Es war ein ganz normaler Morgen über dem Atlantik. Die Sonne, die vom strahlend blauen Himmel herab lachte, zauberte Lichtreflexionen auf die Wellen. Nur eine leichte, kühle Brise wehte vom Meer her auf die Küste zu, entsprechend ruhig ging die See in jener Stunde. Möwenkreischen erfüllte dort, wo das Wasser das Land berührte, die Luft. Von all diesen Dingen jedoch bekam die Besatzung des riesigen Hightech-Unterseebootes, das den Namen Tuatha De Danann trug und hunderte Meter unter der Meeresoberfläche, kilometerweit vom Küstenstreifen entfernt durch den tiefblauen Ozean zog, denkbar wenig mit. Die Existenz eines U-Boots von solch gigantischen Ausmaßen entzog sich nicht nur dem Wissen, sondern auch dem Vorstellungsvermögen der meisten Leute. Genau genommen hätten die der Menschheit zum gegenwärtigen Zeitpunkt bekannten technischen Standards diese Konstruktion auch gar nicht hergegeben. Dennoch hatte jemand - genauer gesagt die international agierende Söldnerorganisation Mithril - besagtes U-Boot gebaut. Die Möglichkeit dazu war nur einem einzigen Umstand zu verdanken: dem Auftauchen der Whispered. Whispered, das sind im Grunde Menschen wie du und ich, zumindest äußerlich. Besonders an ihnen ist eigentlich nur das, was sich in ihrem Kopf befindet. Aus bis zum gegenbenen Zeitpunkt noch unbekannten Gründen hat ein jeder Whispered nämlich - meist ohne sich dessen bewusst zu sein - in seinem Gehirn Wissen über die "Schwarze Technologie" gespeichert. Unter dem Begriff der "Schwarzen Technologie" werden allerhand mathematische und physikalische Gesetzmäßigkeiten oder Modelle zusammengefasst, die ihrer Zeit um mindestens zehn Jahre voraus sind. Wie bereits angedeutet, war niemandem wirklich klar, wer die Whispered eigentlich waren und wie sie hatten entstehen können. Das lag unter anderem wohl daran, dass diese Fragen für die Welt, wie sie eben war, bestenfalls sekundäre Relevanz hatten. Besagte Welt befand sich schon seit Jahrzehnten im Zustand des kalten Krieges, gekennzeichnet durch ein ständiges Wettrüsten, dessen Erzeugnisse im Rahmen von Stellvertreterkriegen - meist als Bürgerkriege getarnt - in kleinen, unterentwickelten Ländern dem Feldtest unterzogen wurden. Entsprechend fokussierte das primäre Interesse der Supermächte an den Whispered sich eher auf die Frage, wie man die Schwarze Technologie kurzfristig und effizient aus ihren Köpfen heraus bekommen und für die neusten Waffen- und Verteidigungssysteme nutzbar machen konnte. Die Tatsache, dass die betreffenden Personen im Zuge der dazu notwendigen medizinischen Untersuchungen und Laborversuche meist starben oder zumindest vollkommen wahnsinnig wurden, tangierte die Verantwortlichen eher peripher. Es ging schließlich um viel Macht und noch viel mehr Geld. So ein Whispered war auf dem "freien Markt" in Konsequenz all dieser Fakten und Zusammenhänge einiges wert - die Rede ist von Beträgen in sechsstelliger Höhe. Natürlich unterzogen die Whispered sich den erwähnten Untersuchungen angesichts der drastischen persönlichen Folgen nicht freiwillig. Sie wussten selbst ja meist nicht einmal, dass es sich bei ihnen um Whispered handelte, oder auch nur, was so ein "Whispered" überhaupt ist, denn strenge Geheimhaltung solch sensibler Informationen versteht sich in einer vom kalten Krieg geteilten Welt von selbst. Es mag im Lichte der damit verbundenen finanziellen Möglichkeiten aber nicht verwundern, dass sich innerhalb kürzester Zeit Leute fanden, die - allesamt mehr oder minder erfolgreich - Jagd auf die Whispered machten, um sie gewinnbringend zu verkaufen. Dazu gehörte, dass man die Whispered erstens aufspürte und zweifelsfrei als solche identifizierte, und sie zweitens entführte und gegen ihren Willen zu den geneigten Käufern brachte. Dennoch gab es, zum Glück der Whispered, auch andere, die dieses Vorgehen für moralisch höchst kritikwürdig befanden und deswegen Maßnahmen dagegen ergriffen. Selbstverständlich waren genannte Maßnahmen ebenfalls militärischer und somit gewalttätiger Art, wenngleich hier immerhin der Zweck nobler erscheint. Zu diesen anderen gehörte auch die besagte Söldnerorganisation Mithril, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die unter den weltweit tobenden Konflikten leidende Zivilbevölkerung im Allgemeinen und die Whispered im Besonderen zu schützen. Natürlich machte auch Mithril dabei zwangsweise von Schwarzer Technologie Gebrauch, denn ohne deren Anwendung wäre die durchaus als paramilitärisch anzusehende Gruppierung nicht in der Lage gewesen, ihre Interessen durchzusetzen. Entsprechend brauchte auch Mithril die Whispered. Allerdings nutzte die Organisation deren Fertigkeiten auf einer etwas anderen Kooperationsbasis: nämlich auf freiwilliger. Whispered haben, abgesehen von der Sache mit dem geheimen, mysteriösen Wissen in ihren Köpfen, schließlich noch weitere Vorzüge. Sie sind in allen Fällen, in denen sie nicht frühzeitig eines politisch motivierten Todes sterben oder in einem Irrenhaus landen, überdurchschnittlich intelligent und zu extremen geistigen Leistungen fähig, vor allem auf den Gebieten der Mathematik und Physik. Außerdem können sie telepathische Verbindung zueinander aufbauen lernen und einander somit erkennen sowie in Kontakt miteinander treten, aber dazu zu gegebener Zeit mehr. Das eingangs angesprochene Hightech-Unterseeboot, die Tuatha De Danann, war folgerichtig von einem oder besser gesagt einer im Dienst bei Mithril befindlichen Whispered entworfen worden. Konsequenterweise hatte man eben jene Whispered nach Fertigstellung zum Kapitän des U-Bootes ernannt - wobei dieser Umstand auch damit zusammenhängen konnte, dass sie eng blutsverwandt mit Leuten aus den oberen Führungsetagen der Organisation war. Sie trug den klangvollen Namen Tessa Testarossa. Trotz ihres zarten Alters - sie hatte die Kommandatur über das Boot mit Erlaubnis ihres Onkels noch vor Abschluss der Volljährigkeit übernommen - und ihrer eher schwächlichen körperlichen Konstitution kannte und beherrschte sie ihr Schiff im Schlaf. Genau dafür wurde sie von der großteils männlichen Besatzung als Führungsperson anerkannt, dank ihres resoluten Einsatzes für die Sache Mithrils respektiert. Dieser Einsatz rührte teils wohl von ihrem familiären Hintergrund her, teils von ihrem verantwortsvollen und pflichtbewussten Charakter sowie schlussendlich von der schicksalhaften Fügung, dass sie nun einmal selbst eine Whispered war, was sie dazu motivieren mochte, anderen ihrer Art ein qualvolles, menschenunwürdiges Ende zu ersparen. Eine große Portion Motivation brauchte sie auch, denn trotz der Achtung, die man Tessa als Kapitän entgegen brachte, blieb Mithril eine Söldnereinheit, deren Mitglieder nicht nur völlig unterschiedliche Qualifikationen aufwiesen, sondern auch aus allen Ecken und Enden der Welt stammten. Die eine oder andere Differenz war da vorprogrammiert. Obwohl Kapitän Tessa Testarossa um alle Soldaten ihrer Einheit sowie um die restliche Besatzung gleichermaßen besorgt war, lag ihr an einigen besonders viel, denn mit jenen teilte sie nicht nur ihr U-Boot, sondern auch mehr oder minder enge persönliche Freundschaften. Dazu zählten der Scharfschütze Kurz Weber sowie von den Armslave-Piloten - also den Soldaten, die im Kampf gigantische, mit Hilfe von Schwarzer Technologie konstruierte Kampfroboter steuerten - Sergeant Major Melissa Mao sowie im Besonderen Sergeant Sousuke Sagara. Bei letzterem handelte es sich nicht nur um den mit Abstand talentiertesten AS-Piloten und Undercover-Agenten Mithrils, sondern auch um Kapitän Testarossas heimlichen Schwarm - jedenfalls hätten böse Zungen das behauptet. Hinzu kamen noch Tessas linke sowie rechte Hand an Bord der Tuatha De Danann, namhaft Commander Richard Mardukas und der aus Russland stammende Lieutenant Commander Andrei Kalinin. An diesem Morgen befand die junge Frau sich, wie der Zufall es so wollte, auch gerade auf dem Weg zu exakt jenem Lieutenant Commander. Man sah ihr an, dass sie noch nicht allzu lange wach war, sich vor kurzem erst die goldbraune Offiziersuniform angezogen hatte. Im Gehen beschäftigte sie sich noch damit, ihre weißblonden Haare zum üblichen, praktischen Zopf zu flechten. Der Tag hatte so ereignislos begonnen wie selten ein anderer im Dienst bei Mithril. Entsprechend war es Tessa möglich gewesen, das Kommando auf der Brücke noch für einige Zeit in der Hand der für diese Schicht eingeteilten Mindestbesetzung zu lassen und sich nach dem Aufstehen auf den Weg zu Kalinins Quartier zu machen. Erstens bereitete er hervorragenden Tee - solchen, wie sie ihn gerade nötig hatte, um die Augen nachhaltig auf zu bekommen - und zweitens unterhielt sie sich mit dem Mann, der vom Alter her ihr Großvater hätte sein können, recht gern. Sie mochte seine unerschüttlich ruhige, angenehm unaufdringliche Art. Nachdem sie angeklopft hatte und hereingebeten worden war, wurde Tessa Testarossa von dem grauhaarigen, hageren Andrei Kalinin mit einem Salut begrüßt. Sie hob abwehrend die Hand. "Ich bitte Sie, Lieutenant Commander - stehen Sie bequem. Sie sind nicht im Dienst", entgegnete seine Vorgesetzte hastig, die ihm bei näherer Betrachtung nur bis zur Schulter reichte, und fügte dann noch ein "Guten Morgen" an. Der Lieutenant Commander folgte ihrer Anweisung, ließ die Hand sinken und entspannte den durchgedrückten Rücken wieder. "Guten Morgen, Captain. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?", erwiderte er auf Tessas Worte. Diese nickte erfreut - genau darauf hatte sie es schließlich abgesehen gehabt. Während Kalinin den Tee zubereitete, bei dem es sich um diese Art Gebräu handelte, mit der man sprichwörtlich Tote wieder lebendig machen konnte, nahm der Kapitän schon am Tisch Platz. Der Blick ihrer graublauen Augen richtete sich zur Seite, gen des niedrigen Schranks, auf dem der Lieutenant Commander einige gerahmte Bilder stehen hatte. Vom größten, auffälligsten davon, das sie schon des öfteren betrachtet hatte, wenn sie auf Besuch in seinem Quartier gewesen war, blickte ihm Kalinins bereits seit Jahren verstorbene Frau entgegen. Gemäß allem, was Tessa über sie wusste, war sie eine furchtbare Xanthippe gewesen, aber ihr Ehemann hatte sie wohl entweder wirklich abgöttisch geliebt oder aber huldigte dem alten Grundsatz, dass man über Tote nichts Schlechtes sagen sollte. Aus seinem Mund jedenfalls war nie ein einziges böses Wort über sie gekommen. Daneben standen verschiedene kleinere Bilder, manche noch Schwarz-Weiß-Fotografien. Bisher hatte der Kapitän sie eher flüchtig betrachtet, aber heute erregten sie Aufmerksamkeit durch den Umstand, dass es zwischenzeitlich mehr geworden zu sein schienen. Viele der Gesichter, die ihr neugieriger Blick auf den Fotos fand, konnte Tessa Testarossa nicht zuordnen. Das war auch nicht weiter verwunderlich, wenn sie bedachte, dass Kalinin ein vergleichsweise alter Mann war und für Mithril erst seit einigen Jahren arbeitete. Folgerichtig musste er ja ein Leben vor Dienstantritt bei der Söldnerorganisation gehabt haben. Doch dann bemerkte der Captain der Tuatha De Danann auf einem der Bilder ein Augenpaar, dessen Anblick an diesem Ort mehr als verstörend wirkte. Andrei Kalinin bog in exakt jenem Moment wieder in das kleine, aber hübsch eingerichtete Zimmer ein, das Tablett mit den beiden Teetassen und einer Schüssel mit Keksen auf dem Arm. "Lieutenant Commander Kalinin . . .", begann Tessa zögerlich, deutete hinüber zu den Bildern. "Seit wann . . . steht das da?", fragte sie dann. Der Mann folgte ihrem Blick. Er erriet schnell, welches der Bilder seine Vorgesetzte meinte. Eben jenes war in Schwarz-Weiß gehalten und zeigte zwei Männer, beide in einer Uniform, welche sie als Mitglieder des sowjetischen KGB auswies, beide das entsprechende Abzeichen an der Brust. Einer davon war Kalinin selbst, das lange Haar schon damals ergraut und zum Pferdeschwanz gebunden. Der andere hätte verschiedener von ihm nicht sein können, die Haare kurz und pechschwarz, die Haut braun - zu dunkel, als dass es sich um bloße Sonnenbräune hätte handeln können, in Kombination mit den schmalen Augen vielmehr zeugend von einer südasiatischen Abstammung. Zwischen den beiden stand ein Mädchen, offensichtlich noch in den Kinderschuhen, das mit seinem kurzen Sommerkleid, schmucklosen Sandalen sowie losen, offenen Haaren völlig deplatziert zwischen den beiden Soldaten wirkte, ihnen nicht einmal bis zur Brust reichte und sich mit einem breiten Grinsen im weich geschnittenen, kindlichen Gesicht leicht gegen den Südasiaten gelehnt hatte, dessen Namen sowohl Captain Testarossa als auch Andrei Kalinin allzu gut kannten. Er lautete Gauron. Niemand wusste, ob dies sein richtiger Name war, ob er so etwas wie einen richtigen Namen überhaupt hatte. Jedenfalls war dieser der einzig bekannte und einzig konstante, den er seit Jahren immer wieder benutzte. Tessa assoziierte rein gar nichts Gutes damit. Gauron war erstens ein Mitglied von Amalgam - einer anderen großen paramilitärischen Organisation, deren Ziele mit denen von Mithril nicht konform gingen - und zweitens ein Terrorist. Er selbst betrachtete sich zwar eher als freischaffender Geschäftsmann und verübte seine Verbrechen tatsächlich in den meisten Fällen nicht aus Überzeugung, sondern weil sich jemand fand, der ihn dafür bezahlte. Das änderte in Tessas Augen an der Natur seiner Taten allerdings denkbar wenig. Er gehörte nicht nur zu denen, die hinter den Whispered her waren, sondern hatte auch die ziemlich nervenaufreibende Angewohnheit, mit penetranter Zielstrebigkeit primär genau das in die Luft jagen zu wollen, was Mithril gerade zu schützen im Begriff war. Lieutenant Commander Kalinin stellte das Tablett vor dem Kapitän auf dem Tisch ab. Dann nahm er das Bild vom Schrank und platzierte es daneben, so dass seine Vorgesetzte es aus der Nähe begutachten konnte, ehe er sich zu ihr setzte. "Sie sind sicher darüber unterrichtet, dass ich - bevor ich zusammen mit Sergeant Sagara den Dienst bei Mithril antrat - für den KGB in Afghanistan gearbeitet habe, Captain", setzte er zu erklären an, was er Tessa mit einem Nicken quittieren ließ, ehe er fortsetzte: "Gauron unterstand damals auch dem KGB. Er hat als Ausbilder gearbeitet und war mitverantwortlich für die Leitung einer Operation gegen die Rebellen in den Bergen von Helmajistan." Die Augen des Lieutenant Commanders verengten sich leicht. "Wir gerieten mehrfach in Streit über seine Vorgehensweisen, was einer der Gründe war, die mich schließlich zum Desertieren trieben. Sie zu verleugnen ist keine gute Art, mit der Vergangenheit umzugehen, wenn Sie mich fragen", fügte er noch hinzu. Tessa Testarossa nickte erneut langsam. "Ich verstehe. Darum haben Sie das Bild also aufgehoben und hier aufgestellt. Aber sagen Sie, Lieutenant Commander - wer ist denn das?" Einer ihrer zarten Finger deutete auf das Mädchen, das auf dem Foto quietschvergnügt zwischen den beiden Soldaten stand. Kalinin runzelte die Stirn. "Ah, die Kleine meinen Sie?" Der Lieutenant Commander der Tutha De Danann blinzelte, hielt die Augen dann einen Moment länger als nötig geschlossen, während die Eindrücke vergangener Tage sich einen Weg zurück in sein Gedächtnis bahnten. - Die hastigen Schritte des kleinen Mädchens, das über den Truppenübungsplatz hüpfte, wirbelten Staub auf, der sich in Form einer wenig dekorativen Dreckschicht auf seinen weißen Sandalen und den blassen, schmalen Füßen darin festsetzte. Dieser Umstand schien sie jedoch nicht zu stören. Ebenso wenig wie jener, dass sie in ihrem hellen Sommerkleid zwischen den aufgestapelten Waffen und umhereilenden Soldaten und KGB-Wachmännern völlig deplatziert wirkte. Die etwas zerzausten, kastanienbraunen Locken mit dem deutlichen Rotstich flogen um ihre Schultern, fielen ihr ins weich gezeichnete Gesicht. Die großen, tiefgrünen Augen des Kindes weiteten sich, strahlten, als es sich dem Schießübungsplatz näherte. Das knallende Geräusch der Schüsse erschreckte die Kleine schon lange nicht mehr. Sie hatte sich daran gewöhnt. Und sie kannte die Männer, die dort fast täglich übten, mittlerweile. Natürlich hatte ihr Vater ihr verboten, sich hier herum zu treiben, aber das interessierte sie nicht. Er war eh den ganzen Tag über zu beschäftigt, um nachzuprüfen, wohin genau sie in seiner Abwesenheit ging. Die ganze Zeit in seiner langweiligen Offiziersbaracke zu hocken, das konnte er ja wohl kaum von ihr erwarten. "Onkel Ron! Onkel Andrei!", rief sie aufgeregt, als sie die beiden ihr wohlbekannten Herren am Rand des Platzes erspähte. Wie eigentlich immer waren sie gerade damit beschäftigt, miteinander in ziemlich barschem Tonfall zu diskutieren. "Das war eine vollkommen unnötige Aktion!", kritisierte Onkel Andrei - der ja eigentlich Herr Kalinin hieß - mit gerunzelter Stirn sein Gegenüber. Onkel Ron - zu dem die anderen im Lager Gauron sagten - machte eine saloppe, sein absolutes Desinteresse bezeugende und ziemlich herablassend anmutende Handbewegung. "Sei doch froh, dass ich dir helfe, das Ungeziefer zu dezimieren", entgegnete er. Andrei wollte gerade dazu ansetzen, etwas darauf zu erwidern, als er das nahende Mädchen bemerkte. Er beließ es bei einem bitterbösen Blick gen Onkel Ron und wandte sich dann dem Kind zu - denn ein Kind war sie zweifellos, sie reichte den Männern nicht einmal ganz bis zur Brust und ihr Körper hatte kaum den Ansatz weiblicher Form. "Aber Lena. Hat dein Vater dir nicht gesagt, dass er es nicht mag, wenn du uns hier draußen besuchst? Du solltest wieder zurück ins Feldlager gehen", tadelte Onkel Andrei sie in dem ihm zu eigenen ruhigen, aber ernsten Ton. Die kleine Lena war von dieser Feststellung alles andere als begeistert. Sie trat einen entschiedenen Schritt zurück und stampfte mit dem ohnehin schon schmutzigen Fuß auf den trockenen Boden auf, um ihr Missfallen zu bekunden. "Du bist eine totale Spaßbremse, Onkel Andrei! Im Lager ist es langweilig. Und ich will auch so was Tolles lernen wie ihr und nicht immer nur diese doofen Bücher lesen müssen", begann das Mädchen zu schimpfen. Das brachte ihr einen rügenden Blick Onkel Andreis ein. "Das sind Schulbücher, Lena. Da dein Vater dich nicht auf eine normale Schule schickt, ist es wichtig, dass du zumindest die Bücher liest", versuchte er zu argumentieren, doch Lena stellte sich bereits vollkommen taub, hatte die Arme vor der nicht vorhandenen Brust verschränkt und das Gesicht beleidigt vom Herrn Kalinin abgewandt, die Augen zugemacht, um zu demonstrieren, dass sie auch wirklich nicht zuhörte. Gaurons schallendes Lachen veranlasste sie, die Lider wieder zu heben und neugierig zu ihm aufzuschauen. "Da siehst du's, Kalinin. Selbst die Kleine hat schon kapiert, dass du ein Spießer bist", stichelte er grinsend. Dann richtete er den Blick auf Lena. Ihre grünen Augen - Katzenaugen nannten die Leute im Lager es immer - hoben sich, um einen Blick in seine zu erhaschen. Seine Art zu grinsen hatte ihr ein bisschen Angst gemacht, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, aber mittlerweile wusste sie, dass Onkel Ron eigentlich sehr nett war. Er hatte es sogar aufgegeben, dagegen zu protestieren, dass sie ihn Onkel Ron nannte. Er schimpfte sie nicht einmal mehr "freche Göre" deshalb. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte er damit in dem Moment aufgehört, in dem sie ihm recht darin gegeben hatte, dass Onkel Andrei langweilig war. "Onkel Ron? Du lässt mich doch bestimmt auch mal schießen!" Das Mädchen strahlte in freudiger Erwartung übers ganze Gesicht, während Gauron noch damit beschäftigt war, auf sie hinab zu blicken. Dann wandte er sich in Richtung des Übungsplatzes, auf dem einige Zielattrappen aufgestellt waren. "Wenn dein Gequängel danach aufhört, von mir aus. Komm mal mit, Kleine. Aber mach bloß nichts kaputt, sonst spielt dein Papa sich wieder auf", murmelte er missmutig. Lena jauchzte leise und tappste ihm hinterher. Ein leises Klicken ertönte, als er seine Waffe entsicherte. "Du richtest sie immer von dir weg. Und nicht dahin, wo Leute rumstehen, verstanden? Du zielst auf die Holzscheibe da." Das Mädchen nahm die Pistole entgegen, als er sie ihr nach unten reichte, nickte dabei eifrig. "Ja, wie du sagst, Onkel Ron!" Der Abzug der Waffe ging für eine Kinderhand vergleichsweise schwer. Der Ruck, der sich beim Abdrücken durch ihren Arm zog, ließ sie zusammenfahren. Ihr erster Schuss verfehlte die Zielscheibe um geschätzte zwei Meter und schlug irgendwo im Wald dahinter ein - der glücklicherweise auf Grund eben dieser Lage hinter dem Schießplatz Sperrgebiet war. Gauron murrte leise. "So geht das nicht, Kleine. Du musst schon zielen - so hier." Das Mädchen zuckte im ersten Moment leicht, als er hinter ihr in die Knie ging und die Arme um sie legte, seine Hände sich um ihre schlossen, die die Waffe hielten. Er korrigierte ihren Schusswinkel um ein beträchtliches Stück. "Schieß jetzt noch mal." Lenas schmaler Finger betätigte langsam, ein wenig mühevoll den Abzug. Der ihr wohlbekannte Knall ertönte, wieder einhergehend mit dem Ruck. Gaurons Hände an ihren hielten sie diesmal jedoch davon ab, den Schuss zu verreißen. Sie blinzelte, als sie das Einschussloch inmitten der Holzscheibe erspähte. Onkel Ron nahm ihr die Waffe wieder ab, während sie damit beschäftigt war, aufgedreht hin und her wuseln, zu jubeln. "Getroffen, getroffen!", quietschte das Mädchen vergnügt. Dann wirbelte sie herum und ging zu Gauron zurück. Sie lächelte, als ihre grünen Augen wieder zu ihm hinauf lugten. "Danke, Onkel Ron. Du bist toll! Ich werde ganz viel üben, um genauso toll zu werden wie du, wenn ich groß bin!" - "Lieutenant Commander Kalinin?", murmelte Tessa unschlüssig mit schief gelegtem Kopf, was den deutlich älteren Mann dazu veranlasste, die Augen wieder zu öffnen, den Kopf leicht zu schütteln und ihr endlich zu antworten: "Verzeihen Sie, Captain. Das Mädchen hieß Lena Bolschakow. Sie war die Tochter des befehlshabenden Offiziers, er hatte sie mit ins Lager gebracht. Sie war damals elf oder zwölf Jahre alt, wenn ich mich recht entsinne. Ich schätze, sie war auch die einzige Person dort, die gut mit Gauron auskam - zu jung, um das alles zu begreifen, wenn Sie verstehen." Der Kapitän ließ ein leises Seufzen verlauten. "Ja, ich verstehe. Wissen Sie, was aus ihr geworden ist?", fragte sie weiter. Kalinin schwieg für die Dauer eines tiefen Atemzuges, ehe er langsam den Kopf schüttelte. "Es ist anzunehmen, Captain", hob er zu sprechen an, "dass sie nicht mehr lebt. Nachdem die Rebellen einen großen Teil des Lagers auf Grund verschiedener unglücklicher Umstände überrannt hatten, wurde die Leiche ihres Vaters gefunden. Erschossen. Offiziell waren es Rebellensoldaten, aber ich persönlich gehe von Gauron als Täter aus - Rache für die zahlreichen Auseinandersetzungen, die er mit dem Befehlshaber hatte. Wahrscheinlich hat er auch Lena getötet." Tessa Testarossa nickte leicht, betreten. Dann stand sie auf, um das gerahmte Foto wieder zurück auf seinen Platz auf dem Schrank zu stellen. "Ihr Tee wird kalt, Captain." - "Ich weiß. Verzeihen Sie." Sie nahm wieder Platz und hob die gefüllte Tasse vom Tablett vorsichtig an die Lippen, der Lieutenant Commander tat es ihr schweigend gleich. Andrei Kalinin war zweifelsohne ein kluger Mann. Doch es gab ein paar Dinge, die er nicht wusste, sowie ein paar Schlussfolgerungen, die er auf wackligem Fundament gezogen hatte. So war ihm beispielsweise nicht bekannt, dass weit entfernt vom gegenwärtigen Augenthaltsort der Tuatha De Danann, auf der anderen Seite der Welt, eine exakte Kopie des Fotos existierte, über das er sich gerade so angeregt mit Kapitän Testarossa unterhalten hatte . . . ~ [Schlussbemerkung des Autors: Ich hasse das Wort "Lieutenant". Ich hasse es wirklich. Bester Dank geht an meine beiden goldigen Betaleser. Sollte trotz unserer vereinten Bemühungen ein Tippfehler überlebt haben, nehme ich diesbezügliche Hinweise dankend entgegen. Bei Fragen und Anregungen darf man mir auch gerne eine ENS schreiben, ich beiße nicht - meistens jedenfalls.] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)