Der gelbe Pullover von Evilsmile ================================================================================ Der gelbe Pullover ------------------ In einer Stadt in Süddeutschland, da lebte ein junger Mann namens Simon. Vielleicht hieß er auch anders und wohnte wo anders, das soll jetzt nicht von Belang sein in dieser Erzählung. Morgens konnte er sich nur schwer entscheiden, was er anziehen sollte. Doch die Farbe war es nicht, über die er sich den Kopf zerbrach. Seine Garderobe war nämlich eintönig gehalten, von zartem Mausgrau über mittleres Anthrazit bis hin zu kräftigem Schwarz. Von Kindesbeinen an war er vom ruhigen Kaliber und mochte kein unnötiges Aufsehen erregen, daher verzichtete er auf bunte Kleidung. Der junge Mann hatte eine Freundin, mit der er mehr oder weniger glücklich war. Sie eher weniger, doch das ließ sie sich nicht anmerken. Und eine Cousine, mit der er sich prächtig verstand. Sie kannte ihn manchmal besser als er selbst, wusste Bescheid über die Dinge, die ihn bewegten. Und unser Simon schätzte ihre Meinung auch, aber dass sie ihm im Vertrauen sagte, dass seine Freundin ihn nicht liebte? Das wollte er ihr dann doch nicht so recht glauben. An einem nasskalten Herbsttag klapperte diese Cousine die ganze Stadt nach einem Geschenk für ihn ab, doch alles war ihr nicht gut genug für ihn, und eigentlich hatte er ja auch schon alles und brauchte nichts. Ist es nicht so, dass es umso schwerer fällt, einem Menschen das passende zu schenken, je näher man diesem Menschen steht? Jedenfalls ließ sie sich erst mal frustriert und erschöpft auf einer Sitzbank in der Fußgängerzone nieder. Vielleicht nicht weit entfernt von der, auf der ich gerade sitze und mir diese Geschichte ausdenke, weil mich das, was ich in der Zeitung gelesen habe, nicht mehr loslässt. Diese winzig kleine Boutique, die zwischen zwei Läden gequetscht war, hatte sie noch nie bewusst wahrgenommen. Auch diesen schicken Herrenpullover, der im Schaufenster ausgestellt war, sah sie jetzt zum allerersten Mal. Es war ein schöner Anblick, mit diesem kräftig leuchtenden Gelb wie die Sonne höchstpersönlich. Fett und unübersehbar prangte ein Smiley aus schwarzen Lines darauf. Schlagartig war ihre Sorge über das perfekte Geschenk vergessen. Diesen Pullover, bei dessen Anblick sie sofort gute Laune bekam, den würde sie nehmen. Der würde ihm gut stehen und Farbe in seinen tristen, grauen Alltag bringen. Sie stürmte regelrecht in den Laden und kaufte das einzige Exemplar davon. Hätte sie gewusst, wo dieser Pullover einmal enden würde, so hätte sie diesen Kauf vielleicht zweimal überdacht, aber da nun mal keiner von uns in die Zukunft sehen kann….Eigentlich war es ja im Grunde auch nicht die Schuld des Pullovers, aber mal weiter in der Geschichte. Unser Geburtstagskind wunderte sich sehr über das Geschenk seiner Cousine. Während seine Freundin einen boshaften Spruch losließ, der das Wort „Kindergarten“ beinhaltete, fragte er sich allen Ernstes, was sie sich dabei bloß gedacht hatte, ihm ein so knalliges Kleidungsstück zu schenken? Zwar passte er ihm von der Größe her wie angegossen, doch diese Farbe war überhaupt nicht sein Stil, das wusste sie doch! Er verbarg seine Enttäuschung und verbannte ihn in den hintersten Winkel seines Kleiderschrankes. Dort, zwischen all dem Grau, stach der Pullover heraus wie Vogelkot auf einem schwarz lackierten Sportwagen. Niemals würde er so etwas Geschmackloses, Kindisches anziehen! Wochen, Monate vergingen. Als es Frühling wurde, betrog ihn seine Freundin mit einem einfältigen Schnösel, der absolut nichts hatte außer reichen Eltern. Untätig herumlungernd ließ er dem Liebeskummer in seiner kleinen Wohnung freien Lauf. Ich kann mir sein Gesicht nur zu gut vorstellen, oh ja, der Liebeskummer ist das stärkste Gift von allen, denn er ist ein persönlicher, intimer Kummer. Bis bald darauf seine Cousine in der Tür stand, erst mal alle Fenster weit aufriss und dann die größten Geschirrberge beseitigte. Sie redete ihm ins Gewissen, bis er einsah, dass es an der Zeit war, die Verflossene abzuhaken – sie hatte auch viel zu viele Macken gehabt, mit denen er nie klar gekommen war, wenn er ganz ehrlich war. Die Überbleibsel der Beziehung landeten im Mülleimer. Außerdem überlegte er, einen gründlichen Stilwechsel in der Kleidung vorzunehmen. Drei Tüten voll von Kleidung, die ihm nicht mehr gefiel – darin auch der Pullover, den er fast vergessen hatte – lieferte er im Second-Hand-Shop ab. Zusammen mit der Cousine, deren ehrliche Beratungen ihm eine große Hilfe waren, erneuerte er komplett seine Garderobe. Und das tat ihm gut. Damit fühlte er sich wie ein neuer Mensch. Er war glücklich und wieder voller Tatendrang. Das einzige, das ihm vielleicht fehlte, war eine neue Liebe. Die Tage wurden wieder kürzer und kälter, und mit der Kälte stahl sich auch ein wenig Melancholie in sein Gemüt. Die Cousine hatte leider keine Zeit an diesem Wochenende, also besuchte er das Kunstmuseum, das Aushängeschild seiner Stadt. Er hoffte darauf, dass ihn die Schönheit und Klarheit der alten Künstler über den schmerzlichen Gedanken hinweg trösteten, an Weihnachten alleine zu sein. Natürlich wäre er bei der Cousine und ihrem Freund nicht einsam, aber er würde niemanden an seiner Seite haben. Wieder draußen, war das trübe Großstadtgrau ein wahnsinniger Alptraum. Jetzt, nach den Gemälden, wirkte alles noch viel grauer als zuvor: Die Wolkenkratzer aus Beton. Der bewölkte Himmel. Die Mäntel der Menschen. Der Staub auf dem Asphalt. Der Schwarm Tauben, die nach Brotkrümeln suchten. Die Fassaden der Wohnhäuser. Der Titel des Buches, das im Schaufenster eines Buchladens lag. Die kalte graue Stadt schien ihn zu erdrücken. Wie hatte er selbst, vor noch gar nicht allzu langer Zeit, diese Farbe von Kopf bis Fuß tragen können?! Und dann sah er IHN. Knallig. Leuchtend. Warm. Um ein freches Grinsen nicht verlegen, strahlte ihn ein gelber Pullover an. Getragen wurde er von einem Mann, etwa in seinem Alter. Er bog ab in Richtung Busbahnhof. Ich kann euch nicht sagen, was Simon dazu veranlasste, ihm zu folgen, was er sich davon erhoffte. Aber er tat es einfach. Wenn der Kopf plötzlich wie leer gefegt ist, muss man eben seinem Gefühl trauen. Felix mit dem gelben Pullover saß auf der Bank der Bushaltestelle, und ihm war langweilig, weil er viel zu früh war. Der Kerl, der ihn so angestarrt hatte, setzte sich jetzt auch noch zu ihm auf die Bank, ganz ans andere Ende und nickte ihm dabei zu. Das fasste er als Aufforderung auf, etwas Smalltalk mit ihm zu führen um die Zeit totzuschlagen. Ihm fiel nichts Besseres ein, als ihn auf die ziemlich kalten, nassen Novembertage anzusprechen. Nun, vielleicht fiel ihm ja doch etwas Besseres ein, aber das würde er sich nicht auszusprechen getrauen, denn wie Menschen nun mal sind, reden sie lieber über oberflächliche Dinge, bei denen man sich nicht unbeliebt machen kann. Der andere ging darauf ein, verriet ihm, dass er den Frühling auch viel lieber mochte. Und betonte, dass es ihn aufmuntere, an Tagen wie diesen einen so kräftig gelben Pullover zu sehen. Sein Lächeln, dachte Simon. Fast wie der Pullover. Weil der Bus immer noch nicht kam, führten sie ihr Gespräch fort. Es stellte sich heraus, dass Felix zwei Jahre jünger und Kunst studierte. Dann kam der Bus, in den Simon nie hatte einsteigen wollen, weil ihm durchaus klar war, dass er in die gegensätzliche Richtung fuhr. Und so redete er sich heraus, schnell noch etwas einkaufen zu müssen. Nicht ohne ihm seine Telefonnummer gegeben zu haben, stieg Felix ein. Anrufen? Oder nicht? Jetzt lag es ganz in Simons Hand. Seine Cousine ermutigte ihn. Felix dagegen hatte seine Hoffnungen gar nicht so hoch geschraubt, weil ihm der andere ein bisschen abweisend vorgekommen war. Umso mehr freute er sich. Sie trafen sich in einem kleinen aber urgemütlichen Café in einer Seitenstraße der Fußgängerzone. Dort erzählte er Felix, dass er auch mal solch einen Pullover besessen hatte. Und Felix gab zu, ihn tatsächlich in jenem Second-Hand-Shop gekauft zu haben. Denn das Geld, das ihm als Student zur Verfügung stand, war zu knapp, um es für teure Klamotten aus dem Fenster zu werfen. Seit diesem Tag an trafen sie sich, wann immer es ihr Terminkalender gestattete, denn sie teilten viele gemeinsame Interessen. Simon gefiel der Pullover an ihm so sehr, dass er ihn am liebsten bitten würde, ihn öfter anzuziehen, doch das traute er sich irgendwie nicht. Felix mochte den Pullover jetzt noch viel mehr, weil er ihn mit Simon verband, deswegen trug er ihn öfter. Und Simon verstand. Sie standen an einem Wintermorgen auf einer verschneiten Holzbrücke, als Felix ihn küsste. Ein richtiger Kuss! So einer war er?!, dachte Simon und war erstmal fürchterlich erschrocken – über sich selbst vor allem. Weil es ihm gefiel. War er schwul geworden, weil es mit seiner Freundin nicht gut gelaufen war? Felix verstand ihn ohne Worte, sagte, es verhalte sich genau umgekehrt, das wusste er, weil er es selber hatte feststellen müssen. Eine Woche ließ er ihm Zeit, darüber nachzudenken. Und Simon dachte nach. Und traf eine Entscheidung. Von da an waren sie ein Liebespaar, bekamen von Simons Cousine ihren Segen. Sie erzählten es nicht von sich aus, aber sie stritten es auch nicht ab, wenn sie jemand darauf ansprach. Ihre Beziehung war voll von kleinen und großen Momenten des Glücks. Und der Pullover strahlte. Gelb wurde zu Simons Lieblingsfarbe, denn keine andere hatte ihm je soviel Glück beschert. Wann immer er etwas Neues für den Haushalt kaufte, sei es ein Handtuch, eine Zahnbürste oder eine Tasse, gelb musste sie sein. Gelbe Paprika statt rote, auch wenn ihm letztere eigentlich besser schmeckte. Gelb wie der Pullover, der sie beide zusammen geführt hatte, was er letztlich seiner Cousine zu verdanken hatte. Er war Zeuge ihrer gemeinsamen Nächte, lag mit ihnen im Bett und lauschte ihren Liebesschwüren, und wie sie Pläne für die Zukunft schmiedeten. Nirgendwo sonst fand sich ein weiteres Exemplar dieses Pullovers, egal wo sie danach suchten. Als wäre er seit jeher ein Unikat. Aber wenn sie ganz ehrlich waren, wollten sie auch gar nicht, dass es ihn ein zweites Mal gab. Also tauschten sie ihn untereinander, mal war er beim einen zu Hause, mal beim anderen, spendete Trost in einsamen Nächten und roch nach dem Liebsten. So war er vom schlichten Kleidungsstück zu einem Symbol ihrer Beziehung geworden. Bald wurde Simon seiner Familie vorgestellt, weltoffenen Eltern und einem viel älteren Bruder, dessen Frau als Ärztin im Krankenhaus arbeitete. So verbrachten die beiden den Frühling, bis es zu warm war ihn zu tragen, dann den Sommer und den Herbst. Die Zeit verrann so schnell, wenn sie zusammen waren, doch erschien sie ihnen so erfüllt von Sinn zu sein wie niemals zuvor. Das linke aufgebügelte Auge ging zuerst ab. Nichts hält eben ewig. Damit sah der Pullover so aus, als würde er zwinkern. Zum Jahresende lud der Bruder die ganze Familie zu seiner Ferienwohnung im Süden ein. Seine Frau war es, die ihn überredete, den Freund seines kleinen Bruders auf keinen Fall auszuschließen. Der traumhafte Urlaub am Meer wurde eine unvergessliche Erinnerung in zweierlei Hinsicht. Ein ganzes Fotoalbum wurde gefüllt und Felix und Simon waren sehr glücklich. Allerdings übersahen sie in ihrer rosaroten Brille die Missgunst in den Augen des Bruders. Beim Rotweinausschenken geschah diesem ein scheinbarer Unfall: Das Glas kippte und ergoss den Wein über den Pullover. Den hatte Felix auf seinem Oberschenkel liegen, mit Simons Hand darauf, die die Seine fest umschlungen hielt. Natürlich blieb ein hässlicher Fleck auf dem Kleidungsstück zurück, den sie auch mit dem besten Waschmittel nicht rausbekamen. Doch sie trösteten sich, so etwas konnte eben mal passieren, was hatte das schon zu bedeuten? Simon erkannte, dass der Zeitpunkt gekommen war, Felix zu fragen, ob er im neuen Jahr bei ihm einziehen wollte. Und Felix willigte ein. Dann stießen sie an und hießen das neue Jahr willkommen. Da wussten sie noch nicht, dass es ihr letztes sein würde. Der Frühling kroch gerade gemächlich ins Land, als ihnen auffiel, wie sehr der Pullover gealtert war. Nachgelassen hatte sein kräftiges Strahlen durch das viele Waschen. Der Smiley war ganz abgegangen, Maschen hatten sich gelöst und verfilzt war die früher so kuschelige Wolle nun. All diese Spuren der Zeit verdeutlichten ihnen, wie lange sie sich bereits kannten und wie viel sie erlebt hatten. Und nahmen sich vor, ihn zu hegen und zu pflegen und aufzuheben bis zum allerletzten Fädchen, denn zum Fortschmeißen war er ihnen viel zu wertvoll. So wurden die Tage heißer und die Nächte kürzer und der Pullover gehütet wie einen Schatz. Felix begab sich für eine Woche auf eine Studienfahrt, da passierte es. Zu Besuch war Simons Cousine, die er durch ihren Umzug aufs Land, zu ihrem Verlobten, länger nicht mehr gesehen hatte. Ihren Hund hatte sie mitgebracht, einen kleinen Mischlingswelpen, der die Wohnung auf den Kopf stellte. Damit hätte Simon leben können und Felix sicher auch. Aber der Pullover war der Erkundungslust des Tieres leider ebenfalls zum Opfer gefallen. Nun war er wirklich ein hässlicher Fetzen. Wie tot, falls er je so etwas wie eine Seele besessen hatte. Das alles passierte an jenem Abend, als Felix mit seinen Kommilitonen in einer Kneipe saß und viel zu tief ins Glas schaute. Einer, der schon länger ein Auge auf ihn geworfen hatte, sah seine große Chance gekommen. Simon konnte das natürlich nicht wissen. Er hatte die Cousine in einem ersten Impuls aus dem Haus geworfen und fürchtete sich vor der Reaktion seines Freundes, wenn er zurück kam und den Pullover sehen würde. Als Felix heim kam, war er anders. Er hörte ihm nicht mehr richtig zu. Er stieß ihn von sich und ließ keine Zärtlichkeiten mehr zu. Er verwendete seinen Kosenamen nicht mehr. Er erkundigte sich kein einziges Mal nach dem Pullover. Er schien irgendwie immer abwesend und Simon suchte die Schuld bei sich selbst. Fast war der Sommer zu Ende, da suchte er das Gespräch mit ihm. Er beichtete Simon den Unfall mit dem Hund und zeigte ihm unter Tränen die kläglichen Überreste des Pullovers. Da weinte Felix auch. Und beichtete seinen Seitensprung. In seiner Wut befahl Simon ihm, seine Koffer zu packen und zu verschwinden. Das tat Felix auch. Wiederwillig. Und den Pullover nahm er mit. Simon wurde in den nächsten Wochen auf Knien um Vergebung angefleht. Kleine Aufmerksamkeiten bekam er, so viele wie noch nie in ihrer ganzen Beziehung. Sträuße voller roter Rosen. Ein selbstgekochtes Drei-Gänge-Menü. So sehr sich Felix anstrengte, sein Vertrauen wiederzugewinnen, Simon konnte ihm nicht verzeihen. Zu tief saß die Schmach, ein zweites Mal in seinem Leben betrogen worden zu sein. Aber irgendwie war es diesmal ein ganz anderer Schmerz als damals bei seiner Freundin. Jetzt überwog viel mehr die Sehnsucht als die Wut, wurde ihm klar. Er liebte ihn so sehr, dass er eine Chance für sie beide sah. Als er das überlegte, war er gerade am Spazierengehen und so sehr in Gedanken, dass er in ein Auto hineinlief. Sein Glück war es, dass sofort jemand zur Stelle war. So wurde er, nicht wirklich schwer verletzt, in das Krankenhaus gebracht, in dem seine Schwägerin arbeitete. Der große Bruder von seinem Ex sah des Anstandes halber nach ihm, als er seine Frau von der Arbeit abholte. Natürlich war er über die Trennung im Bilde, die er sich insgeheim gewünscht hatte. Auf seine Frage, ob er Felix schon benachrichtigt hätte, antwortete der Verletzte, es wäre bloß eine Lappalie und er wolle ihm unnötigen Kummer ersparen. Ja, es war ein bisschen dumm von ihm, könnte man hinterher sagen. Aber Simon wollte lieber bis nach der Entlassung warten, wo er Felix besuchen und sich mit ihm aussöhnen würde. Felix kam spätabends aus der Bibliothek und er konnte es nicht lassen, bei Simon vorbei zu schauen. Niemand war zu Hause, also rief er an und hinterließ eine Nachricht auf dem Band. Ich schätze, er war in Tränen ausgebrochen und hatte gesagt, dass er sehr verzweifelt war, und man hat zwischen den ganzen Schluchzern sicher die Hälfte nicht richtig verstanden. Aber das spielt keine Rolle, denn Simon würde diese Nachricht niemals abhören. Am nächsten Morgen erst meldete sich sein Bruder bei ihm und erzählte ihm von dem Unfall. Der Liebende ließ alles stehen und liegen und eilte mit seinem Pulloverfetzen in besagtes Klinikum, das sein Bruder erwähnt hatte. Dort erfuhr er die schreckliche Nachricht, dass Simon in der Nacht zuvor gestorben war! Und daraufhin, ich verstehe es nur zu gut, brannte bei ihm die Sicherung durch. Was er nicht wusste: Der verstorbene Patient war ein Herzkranker mit demselben Namen wie Simon. Und: Sein Bruder hatte ihm in voller Absicht in die falsche Klinik geschickt. Es gibt nämlich zwei Kliniken in dieser Stadt, müsst ihr wissen. Wieso er das getan hatte? Nun, ich kann es mir nur damit erklären, dass es böse Menschen auf der Welt gibt, die ein Problem damit haben, wenn zwei Menschen glücklich verliebt sind, diese aber vom gleichen Geschlecht sind. Vielleicht gehörte der Bruder noch nicht mal zu jenen bösen Menschen, war sich aber im Klaren darüber, dass es sie gab und wollte seinen Bruder vor ihnen schützen, in dem er sie zu trennen versuchte? Aber wie auch immer, sehr edel war seine Tat natürlich nicht. Felix fühlte sich für den angeblichen Tod Simons verantwortlich. Wie man es drehte und wendete, sein Fremdgehen war letztlich schuld daran, fand er. Er irrte durch die Stadt wie in Trance, und mit jedem weiteren Schritt verließ ihn mehr und mehr der Lebensmut. Bis er an die Holzbrücke kam. An die Brücke ihres ersten Kusses. Da wusste er genau, was er zu tun hatte. Es erschien ihm als einzig wahre Lösung. Denn „Romeo und Julia“ fand er die schönste Liebesgeschichte überhaupt, nicht zuletzt wegen ihrem so romantischen Ende. Einen Hang zur Dramatik hatte er schon immer gehabt. Die Möwen schrien und wollten ihn damit vielleicht abhalten. Seine Liebe zu ihm war jedoch stärker als der Verstand. Und ich frage mich, wo ist ein Mensch, wenn man gerade einen braucht? Irgendein Mensch, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist und nicht wegschaut. Es muss noch nicht mal der richtige Mensch sein, ein falscher hätte auch genügt, um Felix wenigstens eine halbe Stunde hinzuhalten. Denn eine halbe Stunde später kam Simon an der Holzbrücke vorbei. Am Geländer hing ein merkwürdiger Lumpen, so verfärbt und zerrissen, flatterte er unheilvoll im Wind wie das Segel eines Piratenschiffes. Diesen Lumpen kannte er doch nur zu gut. Es war der Pullover. Das konnte nur eines bedeuten. Und er hoffte so sehr, ja, so sehr wie ich für ihn, dass es nicht so war, wie er dachte. Er rief Felix an. Und hinter sich hörte er das Klingeln, ganz dumpf und versteckt. Er blickte sich um, rief laut seinen Namen, immer wieder, rannte flussaufwärts und suchte nach ihm. Und dann fand er ihn. Ans Ufer gespült, genau unter der Brücke in einer blöden Ecke. Ganz nass und die Augen geschlossen als würde er schlafen. Simon war unfähig zu weinen. Stattdessen nahm er, fest entschlossen, den Fetzen in seine Hand, und das Handgelenk seines leblosen Geliebten. Ob er dabei gezittert hat? Oder ob seine Hand ganz still war, auf seinem Gesicht vielleicht ein friedliches Lächeln, weil er bald bei ihm sein würde? Mit seinem Freund durch den Pullover verbunden, dieses Mal im wahrsten Sinne des Wortes, ging er ins Wasser. Und tauchte nicht mehr auf. Der Bruder verlor von diesem Tag an seine Stimme. So sehr schämte er sich und bereute alles. Er sprach sein restliches Leben kein einziges Wort mehr und keiner konnte es sich erklären, nicht mal er selbst. Vielleicht ist es ja jener Mann, den ich gerade mit hängendem Kopf an mir vorbeigehen sehe. Schaffe ich es, ihn böse anzusehen? Nein. Er hat ja seine Lektion jetzt gelernt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)