Götterhauch von Flordelis (Löwenherz Chroniken III) ================================================================================ Kapitel 27: Wie ein Gerücht entsteht ------------------------------------ Wasser. Das Geräusch davon war alles, was er in dem Moment identifizieren konnte, als er aufwachte, sich aber noch im Dämmerschlaf befand. Es klang ein wenig dumpf fast so als käme es aus einem anderen Raum. Aber das war doch unmöglich, oder? Er müsste eigentlich allein sein. Ein regelmäßiges und so früh am Morgen fast schon nervenzerfetzendes Klingeln war es, was ihn aber erst geweckt hatte. Mit nur leicht geöffneten Augen griff er nach dem auf dem Tisch liegenden Handy. Etwas daran war anders als sonst, aber in seinem Dämmerzustand konnte er nicht genau sagen, was, deswegen konnte er auch nicht lesen, was auf dem Display stand. Er nahm den Anruf an und begrüßte seinen ihm bislang nicht bekannten Gesprächspartner mit einem müden „Hm?“. Die panische Stimme, die ihm antwortete, hätte ihn beinahe von seinem Sofa – ihm war entfallen, warum er überhaupt auf diesem schlief – fallen lassen: „Heather!? Ist alles in Ordnung!? Wo bist du!?“ Heather? Ehe er antwortete, hielt er das Handy ein wenig von seinem Ohr weg, um es näher zu betrachten. Es war zwar genau dasselbe Modell wie seines und war genau wie dieses auch rot, aber an jenem, das er im Moment in der Hand hielt, war ein ihm unbekannter Anhänger befestigt. Unwillkürlich erinnerte er sich wieder an die letzte Nacht. Heather war plötzlich vor seiner Tür gestanden, sie hatten sich unterhalten, bis sie beide eingeschlafen waren – und dann musste sie auch diejenige sein, die gerade im Badezimmer duschte. Bei diesem Gedanken ertappte er sich dabei, wie er sich vorstellte, wie das wohl aussah, rief sich aber sofort selbst wieder in die Wirklichkeit zurück. Irgh, das ist alles die Schuld dieser Videos. „Heather!“ Raymond – Anthony hatte ihn trotz der ungewohnten Panik in der Stimme natürlich längst identifiziert – wiederholte ihren Namen erneut, worauf Anthony das Handy wieder näher an sein Ohr hielt. „Tut mir Leid, sie ist gerade nicht da.“ Er konnte regelrecht vor sich sehen, wie Raymond verdutzt schweigend ins Leere sah, während er darüber nachdachte, was das bedeuten sollte. Doch der Direktor fasste sich gewohnt schnell wieder, räusperte sich und fragte dann misstrauisch: „Was macht das Handy meiner Tochter bei dir?“ „Sie hat hier geschlafen und-“ „Sie hat bei dir geschlafen?“ Raymonds Stimme war überraschend kalt und jagte ihm einen Schauer nach dem anderen über den Rücken, er war nur froh, dass er ihm im Moment nicht gegenüberstand. Anthony war sich sicher, dass er etwas Falsches gesagt hatte oder er falsch verstanden worden war, weswegen er hastig noch etwas hinzufügte: „D-das ist nicht so wie Sie denken! Wir haben uns nur miteinander unterhalten.“ Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Anthony hoffte, dass Raymond ihm glauben würde, er konnte es sich immerhin nicht leisten, sich beim Direktor unbeliebt zu machen – nicht zuletzt, weil dieser ihm noch ein paar Antworten schuldete. Die Stille dauerte an, so dass Anthony bereits vor sich sah, wie er im hohen Bogen von der Schule fliegen würde – wenn er nicht vorher bei einer besonders schweren Mission, die ihm von dem Direktor zugeschustert werden würde, von einem Monster gefressen wurde. Doch noch während er sich fragte, ob riesige Ungetüme einem erst den Kopf abbissen oder einen leiden ließen, erklang Raymonds Stimme wieder, dieses Mal hörte es sich an als ob er sich wirklich beruhigt hätte. „Geht es ihr gut?“ „Ja, keine Sorge.“ Es sei denn, sie wäre in der Dusche gestürzt und würde nun langsam verbluten, während er sich am Telefon mit ihrem Vater unterhielt – aber das konnte er sich nicht vorstellen. Er konnte deutlich hören wie Raymond aufatmete. „Gut. Mhm... ich nehme an, dass sie dann gemeinsam mit dir zur Schule kommen wird, oder?“ „Ich denke schon.“ Auch ohne etwas mit ihr besprochen zu haben, war ihm nach einem Blick auf die Uhr bewusst, dass es sich für sie nicht lohnen würde, erst nach Hause zu gehen. „Sag ihr bitte, sie soll sich dann bei mir im Büro melden, ja?“ „Natürlich. Ah, Mr. Lionheart, ich-“ „Tut mir Leid“, unterbrach Raymond ihn abweisend. „Ich habe im Moment keine Zeit, ich bin ohnehin schon zu spät dran. Melde dich bitte bei meiner Sekretärin, wenn es wichtig ist.“ „Uhm, sicher...“ Er fragte lieber nicht, ob Alona ihm gesagt hatte, dass er ihm noch Antworten schuldete, immerhin fiel ihm wieder ein, dass Heather von einem Streit zwischen ihren Eltern erzählt hatte und er wollte Raymond nur ungern ebenfalls daran erinnern. So wichtig ihm Erklärungen auch waren, er wollte dafür nicht den einzigen verärgern, der ihm diese liefern könnte. Sie verabschiedeten sich knapp voneinander und legten beide auf. Erst wollte er das Handy wieder auf den Tisch legen, aber dann konnte er seine Neugier doch nicht zügeln. Nach einem kurzen Lauschen, ob das Wasser noch lief – was es auch tat – rief er ihr Telefonbuch auf. Weder sein Name noch seine Nummer allein war eingespeichert, was ihn aus ihm unerfindlichen Gründen ein wenig störte. Einem Impuls folgend nahm er sich die Freiheit heraus, seinen Namen und seine Nummer einzuspeichern, dann legte er es wirklich wieder auf den Tisch zurück und stand auf, um in die Küche zu gehen. Er war sich nicht sicher, ob er genug zum Frühstücken für sie beide hatte, er würde unbedingt einmal einkaufen gehen müssen, am besten wäre es, er nahm Marc mit, damit dieser ihm erklären könnte, wie das alles ablief. Er war noch in den Anblick seines fast vollständig leeren Kühlschranks vertieft, als das Geräusch von Wasser stoppte – und nur einen Moment später die Badezimmertür aufging. Zuerst widerstand er der Versuchung, nachzusehen, ob ihr die Zeit zwischen Abdrehen des Wassers und Verlassen des Raumes auch gereicht hatte, um sich wieder anzuziehen – aber dann hörte er bereits, wie sie ihn ansprach: „Guten Morgen, Anthony. Bist du endlich wach?“ Sein Sinn für Höflichkeit war wesentlich ausgeprägter als sein Vorhaben, sie nicht anzusehen, das in diesem Moment bereits vergessen schien, so dass er ihr den Blick zuwandte. „Guten Mor-“ Die Worte blieben ihm schlichtweg im Hals stecken, als er sie ansah. Sie war nicht vollkommen unbekleidet, aber das um ihren Körper geschlungene Handtuch ließ ihm nicht gerade viel Spielraum für seine Fantasie. Ihre Haut war noch nass, aber ihr Haar bis auf die feuchten Spitzen vollkommen trocken – und Anthony bereute in diesem Moment seine Recherchen von letzter Nacht. Früher wäre er niemals auf solche Gedanken gekommen wie in diesem Moment, in dem seine Ohren heiß zu werden begannen und er nur hoffen konnte, dass sie es nicht bemerkte. „Ist etwas?“, fragte sie verwundert. Er gestikulierte ein wenig hilflos. „W-warum hast du nichts an?“ Die offensichtliche Verwirrung auf ihrem Gesicht über seine Frage wandelte sich schon bald in ein amüsiertes Schmunzeln. „Ich habe geduscht – da ist es durchaus praktisch, keine Kleidung zu tragen.“ „U-und was ziehst du jetzt an?“ Nicht, dass es ihn gestört hätte, wenn sie den Rest des Tages so bei ihm herumgelaufen wäre, aber sie mussten immerhin auch in die Schule. „In deinen unausgepackten Kartons sind ein paar Kleidungsstücke, die dir wohl nicht mehr passen. Ich bediene mich daran, ist das okay?“ Er nickte nur hastig, obwohl er sich nicht entsinnen konnte, ob das wirklich so war und sah ihr hinterher, als sie ins Wohnzimmer ging. Zu seinem Erstaunen schaffte sie es, ihren eigenen Duft zu bewahren, obwohl sie sein Duschgel benutzt hatte. Ein geradezu verführerischer Geruch, der ihn dazu zu verleiten versuchte, sie in seine Arme zu ziehen und – So hastig wie er nur konnte, verdrängte er den Gedanken wieder und verfluchte noch einmal seine Recherche des letzten Abends. Warum muss sie auch so vor mir herumlaufen? Selbstverständlich erwartete er keine Antwort auf seine gedankliche Frage – und erschrak deswegen umso mehr, als er doch tatsächlich ein Seufzen in seinem Inneren hörte, gefolgt von Kais dezent genervter Stimmer: „Du bist so naiv, Junge. Das Mädchen vertraut dir, deswegen ist sie neben dir eingeschlafen und läuft jetzt auch so vor dir herum.“ Er sträubte sich gegen diese Erklärung. Immerhin kannten sie sich beide noch nicht sonderlich lange und Heather wirkte nicht wie jemand, der schnell Vertrauen fasste – und nachdem Leen ihm so viel Misstrauen entgegenbrachte, hätte er erwartet, dass ihre Zwillingsschwester sich dem aus Solidarität anschloss. „Es ist ungewöhnlich“, gab Kai zu. „Aber manche Menschen verlassen sich nicht auf die Einschätzung anderer, sondern bilden sich ihre eigene Meinung – oder sie überdenken diese nach dem ersten Eindruck. Du scheinst sie letzte Nacht beeindruckt zu haben.“ Anthony fragte sich, womit er sie wohl derart beeindruckt haben könnte, aber statt sich damit zu beschäftigen, wunderte er sich eher über Kai. Du scheinst heute wacher zu sein als sonst. „Morgens ist es für mich leichter, weil ich mich nachts nicht anstrengen muss.“ Er wollte fragen, was ihn so sehr anstrengte, aber da kam bereits Heather wieder in die Küche zurück, was seine Aufmerksamkeit sofort wieder auf sie lenkte. Die Jeans, die ihr nur bis an die Fußknöchel reichte und das kurzärmelige Kapuzenshirt – ihre neue Kleidung – hatte er zuletzt vor zwei oder drei Jahren getragen wie er sich erinnerte. Es war äußerst ungewohnt, beides nun an ihr zu sehen, aber es gefiel ihm, das musste er schon sagen. „Wer war denn eigentlich am Telefon?“ Ihre Frage riss ihn aus seinen Gedanken – nicht zuletzt deswegen, weil er sich fragte, ob sie das Handy in der Dusche gehört hatte oder ihr aufgefallen war, dass das Telefon anders auf dem Tisch lag als zuvor – aber zum Glück musste er gar nicht erst lange darüber nachdenken, das wäre sonst noch peinlicher geworden als sein ewiges Starren. „Dein Vater.“ „Oh... klang er besorgt?“ Er nickte nur knapp und richtete ihr aus, dass sie ihn im Direktorat aufsuchen sollte, wenn sie in der Schule ankämen, worauf der Anflug eines schlechten Gewissens auf ihrem Gesicht erschien. „Klar. Aber erst einmal habe ich Hunger.“ Sie lächelte wieder. „Was gibt es zum Frühstück?“ Raymond stürmte geradezu in das Café hinein, wobei er das Geschlossen-Schild am Eingang ignorierte. Er ging um den Tresen herum in den hinteren Bereich, wo er Ryu in einem kleinen Raum vorfand. Der Direktor hatte sich so schnell bewegt, dass er dem Kellner nicht einmal die Gelegenheit gelassen hatte, hinauszurufen, dass noch geschlossen war. „Ah, guten Morgen, Raymond. Was gibt es?“ Er atmete tief durch, in einem Versuch, sich zu beruhigen, aber er war noch immer viel zu aufgewühlt. „Ich muss wissen, was letzte Nacht in Anthonys Wohnung geschehen ist!“ Ryu runzelte die Stirn. „Seline hatte Dienst. Du solltest sie fragen – falls du dich traust, sie zu wecken, sie schläft erst seit ein paar Stunden.“ Normalerweise hätte Raymond bei dieser Aussicht lieber darauf verzichtet, aber es ging immerhin um eine für ihn sehr wichtige Frage, deswegen wandte er sich dankend ab und ging die Treppe hinauf. Als Jugendlicher hatte er viel Zeit in diesem Café verbracht, da Ryu über einige Ecken mit ihm verwandt war und er deswegen immer gern hier gewesen war, wenn er sich einsam gefühlt hatte oder es ihm nicht gut gegangen war, er aber nicht Joels Mutter hatte belasten wollen, die sich sonst liebend gern um ihn gekümmert hatte. Die Tür zu Selines Zimmer war, wie so oft, wenn sie tagsüber schlief, geöffnet, so dass Raymonds Blick direkt auf ihr Bett fiel. Seine Entschlossenheit schwand für einen Moment. Seline war nicht allein, neben ihr lag ein ihm unbekannter grünhaariger Mann, der einen Arm um sie gelegt hatte, während sie sich mit einem Lächeln im Schlaf an ihn schmiegte. Beide waren angezogen, hatten dafür aber auf jegliche Decke verzichtet, vermutlich waren sie todmüde ins Bett gefallen. Normalerweise war die Luft um Seline immer geladen, aufgeregt und in gewisser Weise sogar bedrohlich, weswegen Raymond nicht mehr Zeit als nötig mit ihr verbrachte, obwohl er sie und ihre fröhliche Art eigentlich mochte. Aber in diesem Augenblick war alles so angenehm friedlich und entspannt, dass Raymond sich liebend gern neben das Bett gesetzt hätte, um es zu genießen. Dafür war allerdings keine Zeit. Als er wieder an Heather zurückdachte, klopfte er laut gegen den Türrahmen. „He, Seline, wach auf.“ Er sprach nicht sonderlich laut, aber es wirkte dennoch. Seline gab ein leises Murren von sich, das weniger empört klang als wenn man sie sonst weckte. Sie setzte sich auf, gähnte herzhaft und rieb sich die Augen. „Was ist denn? Weißt du, wie früh es ist?“ „Was ist letzte Nacht in der Wohnung von Anthony geschehen?“, fragte er, ohne ihrer zweite Frage auch nur einen Gedanken zu widmen. Beim Nachdenken legte sie den Kopf leicht in den Nacken und ließ den Blick an die Decke schweifen. „Erst hat der Kleine irgendwas recherchiert, dann kam Heather vorbei und dann sprachen sie viele, viele Stunden lang, bis sie einschliefen.“ Das beruhigte Raymond zumindest ein wenig. Also war Anthony seiner Tochter nicht zu nahe gekommen und er müsste ihm nicht den Hals umdrehen, wenn auch nur in Gedanken. Es war für ihn ja schon schlimm genug, dass er bei den Treffen von Alexander und Leen nicht Mäuschen spielen konnte. Aber den beiden traute er auch nicht wirklich zu, dass sie etwas taten, was ihn die Stirn runzeln lassen würde. Bei Anthony und Heather war er sich da nicht so sicher. Sie war zwar oberflächlich gesehen weniger emotional als andere Mädchen in ihrem Alter, aber er und Alona waren in ihrem Alter ebenfalls so gewesen – und er durfte ja am besten wissen, was sie damals alles getan hatten. Und Anthony war vielleicht naiv, aber im Endeffekt auch nur ein männlicher Jugendlicher. „Worüber haben sie gesprochen?“, fragte er weiter. Seline wirkte ein wenig verwirrt und stieß dann den noch immer schlafenden Mann neben ihr an. „He, Russ... worüber haben die Kinder gesprochen?“ „Ihre Eltern haben sich gestritten“, brummte er. „Sie war total deprimiert und dann hat er irgendwas von seiner Vergangenheit erzählt. Bla bla bla...“ Er murrte noch etwas Unverständliches, ehe er sich auf die Seite drehte und sich damit wieder aus dem Gespräch ausklinkte. Raymond entfuhr ein leises Stöhnen, als er an den Streit der letzten Nacht zurückdachte. Bislang hatte er sich nie Gedanken darum gemacht, wie seine Töchter darauf reagieren würden. Fortan, so beschloss er, würde er eher versuchen, Kompromisse mit Alona einzugehen und sich öfter einmal auf die Zunge zu beißen, damit sie nicht mehr so sehr streiten müssten – oder er würde ganz anders versuchen, ihre Konflikte zu lösen. Vorerst aber war ihm doch wichtiger, was bereits passiert war. „Also ist nichts geschehen?“ „Es wäre wesentlich aufregender gewesen, wenn irgendetwas vorgefallen wäre, glaub mir.“ Die ihn durchströmende Erleichterung erinnerte ihn wieder daran, dass er ein überaus ungebetener Gast an diesem Morgen war. Hastig entschuldigte er sich, sie geweckt zu haben und wandte sich ab, um nicht nur das Café zu verlassen, sondern auch endlich zur Akademie weiterzugehen, denn inzwischen war er wirklich zu spät dran, während Seline sich einfach wieder hinlegte und innerhalb kürzester Zeit wieder eingeschlafen war. „Hast du denn alles in deinem Spind, dass du keine Tasche brauchst?“ Heather nickte, während er die Tür hinter sich schloss. „Und das, was ich nicht habe, kann ich mir einfach von Leen borgen. Ein Vorteil, wenn man eine Zwillingsschwester hat. Aber ich glaube, bei Freunden kann man sich auch etwas ausleihen...“ Bei diesen Worten wirkte sie ein wenig nachdenklich. Sie hatte nicht sonderlich viele Freunde, darüber war Anthony sich sicher. Ihre Art trug wohl ihren Teil dazu bei, aber wenn man sie genauer kannte, ein wenig, so wie er nun, war sie gar nicht... so übel. Sie liefen gemeinsam den Gang hinunter, schweigend, wieder einmal. Auch das karge Frühstück hatten sie in aller Stille eingenommen, aber zumindest schien Heather es für nicht so schlimm zu befinden, dass es kaum etwas gab. Auf ihrem Gesicht war die ganze Mahlzeit hindurch ein Lächeln gewesen – so dass es für Anthony überraschend schwer gewesen war, selbst zu essen. Dieses Mal hielt das Schweigen aber nicht für lange, denn plötzlich konnte Anthony eine überraschte Stimme hinter sich hören: „Eh? Anthony und Heather?“ Keiner von ihnen musste sich umdrehen, um Ethan zu erkennen, der gleich darauf neben ihnen lief, die blauen Augen vor Überraschung geweitet, während er sie beide musterte. „Heather! Was hast du bei Anthony gemacht?“ „Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Noverre“, erwiderte Heather kühl, ohne ihn weiter zu beachten. Da er bei ihr nicht weiterkam, wechselte Ethan an Anthonys Seite. „He, Mann, was hat sie bei dir gemacht? Sag mir nicht, du bist der Erste, der bei ihr nicht abgeblitzt ist.“ „Ich weiß nicht einmal, was das bedeuten soll“, bemerkte Anthony nur als Antwort. Deutlich genervt über diese Abweisung runzelte Ethan die Stirn und sah nun ebenfalls nach vorne, wich den beiden aber nicht von der Seite als ob er hoffte, dass sie vergaßen, dass er da war und sich verraten würden. Doch sie schwiegen selbst dann noch, als sie die Treppe hinunterliefen und auch von den anderen Schülern neugierig begutachtet wurden, denen Ethan sich dann um einiges lieber anschloss, um mit ihnen darüber zu sprechen. Anthony fühlte sich unter den Blicken der anderen ein wenig unwohl, es war immerhin eine Weile her, seit er zuletzt wegen irgendetwas angestarrt wurde. Dass selbst eine Freundin für einen solchen Effekt sorgen könnte, hätte er allerdings nicht gedacht. Marc und Rena, die bereits vor dem Haus warteten, zeigten sich nicht minder überrascht, als sie Anthony gemeinsam mit Heather aus der Tür traten sahen. Entgegen seiner Erwartung blieb sie sogar stehen, als er es tat, um seine Freunde zu begrüßen. Verdutzt erwiderten sie den Gruß, ehe sie sich Heather zuwandten. „W-was hast du hier gemacht?“, fragte Marc, immer noch perplex. „Geschlafen“, antwortete Heather. Er wollte noch etwas fragen, hatte sogar bereits den Mund dafür geöffnet, doch Rena ergriff hastig seinen Arm. „L-lass gut sein! Gehen wir lieber zur Schule.“ Marc stimmte zu und warf Anthony dann einen Blick zu, den dieser als „Erzähl es mir später“ auffasste – und im selben Moment wunderte er sich darüber, dass er das erkennen konnte. Ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, begaben sie sich in Richtung der Akademie, auch wenn Marc deutlich anzumerken war, dass er immer noch von der Neugier gequält wurde und auch Rena offenbar zu gern gewusst hätte, was los war. Anthony verstand nicht, was die Neugier sollte. War es normal, dass alle anderen immer alles so ganz genau wissen wollten? In der Eingangshalle verabschiedete Heather sich von ihnen, um das Direktorat aufzusuchen, Marc zog den verwirrten Anthony sofort beiseite. „Okay, ich will Details! Warum war sie bei dir? Was habt ihr gemacht?“ Der Befragte warf einen um Hilfe heischenden Blick zu Rena hinüber, aber sie sah ihn genauso neugierig und abwartend an, also gab er nach. „Wir haben gar nichts gemacht. Sie ist letzte Nacht zu mir gekommen und wir haben uns miteinander unterhalten.“ „Warum ist sie zu dir gegangen?“, hakte Rena nach. Anthony zuckte mit den Schultern. Er hatte Heather nicht gefragt, warum ihr Weg sie ausgerechnet zu ihm geführt hatte, aber genau wie alles andere, was sie getan hatte, wüsste sie wohl keine Antwort darauf. Er gab sich gar nicht erst der Illusion hin, dass sie im festen Vorsatz zu ihm gekommen war, vermutlich war es nur ein Zufall gewesen – ein guter aber, wie er fand. „Ihr habt also wirklich nur geredet?“ Misstrauisch kniff Marc die Augen zusammen. Anthony fand es ziemlich schwer, darunter nicht einzubrechen und seinem Freund zu erzählen, dass sie zufällig gerade gekommen war, nachdem er all diese seltsamen Sachen im Internet gesehen hatte und dass sie am Morgen nur mit einem Handtuch bekleidet durch seine Wohnung gelaufen war. Einerseits wollte er es ihm sagen, aber andererseits schien es ihm als wäre das eine Sache nur zwischen ihm und Heather, was niemand sonst erfahren musste. „Wirklich nur geredet“, bestätigte Anthony daher. Marc seufzte. „Wie enttäuschend. Ich hatte gehofft-“ „Warum sollte er dir überhaupt so etwas erzählen?“, fragte Rena und unterbrach ihn damit. „Ihr seid Freunde, schätze ich mal, aber das ist doch ein wenig privat, oder?“ „Klar, aber...“ Marc seufzte noch einmal und weckte damit Anthonys Mitleid, aber Rena lief bereits weiter und gab ihnen den Rat, sich ebenfalls zu bewegen, wenn sie nicht zu spät kommen wollten. Nach einem letzten ausgetauschten Blick folgten sie ihr schließlich, der eine immer noch enttäuscht über die mageren Infos, der andere verwirrt über das vermehrte Interesse an der letzten Nacht. Dabei hatte er noch nicht einmal bemerkt, dass das Gerücht, dass er und Heather ein Paar wären, bereits die Runde in der Akademie machte. Sie atmete mehrmals tief durch, sah die Tür vor ihr an als hoffte sie, dass diese ein absolut unüberwindbares Hindernis darstellen und ihr somit den Weg zu ihrem Vater verwehren würde. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, was ihr Verschwinden anging, aber das bedeutete nicht, dass sie sich ihm erklären und sich von ihm sagen lassen wollte, was für Sorgen sie ihm bereitet hätte und dass sie das ja nie wieder tun sollte. Ihr blieb aber keine andere Wahl, also klopfte sie und betrat direkt danach das Büro. Raymond hob den Blick von den Unterlagen, an denen er bis dahin gearbeitet hatte und stand sofort auf, als er sie erkannte. Mit schnellen Schritten kam er um den Tisch herum und umarmte seine Tochter im nächsten Augenblick bereits. „Gott sei Dank, du bist wieder da. Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“ Sie erwiderte die Umarmung nicht, nuschelte aber eine Entschuldigung und wartete darauf, dass er sie fragte, warum sie verschwunden war. Doch zu ihrer Überraschung tat er das nicht. Er löste sich wieder von ihr und lächelte leicht. „Das nächste Mal schickst du mir aber bitte eine kurze Nachricht, wo du bist, ja?“ Heather nickte knapp, wollte ihn fragen, warum er nicht wissen wollte, warum sie verschwunden war oder was sie bei Anthony getan hatte – doch im selben Moment kam ihr der Gedanke, dass er ihr einfach vertraute und das freute sie. Sie wollte nicht fragen, ob das wirklich so war, aus Furcht, dass er es verneinen und ihr eine Erklärung liefern könnte, die sie wütend machen würde. Deswegen lächelte sie sofort darauf. „Aber natürlich, Papa. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.“ An seinem erleichterten Blick stellte sie fest, dass es genau das Richtige war, was sie hätte sagen können, doch gleich darauf wurde er wieder ernst. „Aber es wäre mir lieber, wenn du nicht wieder zu Anthony gehen würdest. Zumindest nicht allein.“ „Warum?“ Ihre Frage brachte ihn in Erklärungsnot, er suchte nach Wörtern – musste das aber nicht lange machen, denn als sein Gesicht von einem leichten Rotschimmer überzogen wurde, wusste Heather genau, was er sagen wollte: „Papa, was denkst du eigentlich? Wir sind nicht einmal Freunde.“ „Und dann schüttest du ihm dein Herz aus?“ Er hatte den Satz noch nicht ganz beendet, da zuckte er bereits ertappt zusammen. „Woher weißt du davon?“, fragte Heather skeptisch. Es war gut möglich, dass Anthony ihm am Telefon davon erzählt hatte, aber Raymonds Reaktion, als er sich verraten hatte, passte nicht dazu. Nein, es musste etwas anderes, ein Geheimnis, sein, das es ihm ermöglicht hatte, davon zu erfahren. Er versuchte, sich herauszuwinden, seine Nervosität wuchs deutlich sichtbar an und es war ihm nicht einmal mehr möglich, ihr in die Augen zu sehen. „Ähm, du solltest langsam in den Unterricht gehen. „Papa?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und gab damit deutlich zu verstehen, dass sie nicht vorhatte, sich auch nur einen Zentimeter zu rühren, ehe er ihre Frage nicht beantwortete. Das war schon immer sehr effektiv gewesen, weswegen Raymond auch in diesem Augenblick wieder zusammenbrach – nicht zuletzt, weil er wohl auch noch seelisch von dem Streit am Abend zuvor geschwächt war – und erzählte ihr in knappen Worten von einer Kamera in Anthonys Wohnung, um diesen ausgiebig zu beobachten, wenn er allein war. Er erklärte ihr zusätzlich, dass sie auch letzte Nacht belauscht worden war, nur um sicherzugehen, dass ihr nichts geschehen würde. „Du weißt doch, dass er unter Umständen gefährlich sein kann. Und dass er möglicherweise nicht immer allein in der Wohnung ist.“ Was sie aus alldem schloss, gefiel ihr nicht, ganz und gar nicht. Es zerstörte das schöne Gefühl, dass in ihr erwacht war, als sie geglaubt hatte, er würde ihr vertrauen und deswegen auf all die Fragen verzichten. „Dann hast du heute Morgen einfach jemanden gefragt, was wir letzte Nacht getan haben? Du hast mir nicht vertraut, dass ich dir eine ehrliche Antwort geben würde, wenn du mich selbst fragst?“ Er nickte reumütig, sie wusste, dass dieser Gesichtsausdruck, in dem sich sein gesamtes schlechtes Gewissen widerspiegelte nicht log und er im Moment innere Qualen durchlitt – aber das war ihr dennoch nicht genug als Strafe. „Die Beobachtung endet bei Sonnenaufgang?“ „Ja. Ab dem Zeitpunkt ist keine Gefahr mehr gegeben, denken wir.“ Ihre Lippen kräuselten sich zu einem schwachen Lächeln. „Gut, dann hat zumindest das Interessanteste niemand gesehen.“ Die Röte verschwand so schlagartig aus seinem Gesicht und hinterließ eine derart ungesunde Blässe, dass es so aussah als würde er jeden Augenblick in Ohnmacht fallen, was sie mit absoluter Genugtuung erfüllte. Was seine Töchter anging, war er eben doch ein Übervater, dem es am Liebsten wäre, sie würden bis zur Hochzeit nicht einmal mit dem anderen Geschlecht sprechen. „Was meinst du damit?“, fragte er plötzlich heiser. „Oh, das weißt du genau“, zwitscherte sie vergnügt als Replik, ehe sie sich wieder in Richtung Tür wandte. „Ich muss los, sonst komme ich zu spät zum Unterricht.“ „Was? Nein, Heather, warte!“ Ohne darauf zu hören, lief sie weiter zur Tür und verließ das Büro, um dann den Weg in ihr Klassenzimmer zurückzulegen und das alles mit einem ungewohnt breiten Grinsen auf dem Gesicht, das den ein oder anderen Schüler, der ihr entgegenkam zu irritieren schien. An dieser Aussage würde er noch eine Weile zu knabbern haben und sie fand das ganz gut so. Vielleicht würde er dann lernen, dass es besser war, seiner Familie zu vertrauen. Ungewohnt vergnügt lief sie weiter – und bemerkte dabei nicht, dass dieses Verhalten den bereits entstandenen Gerüchten neue Nahrung verschaffte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)