Götterhauch von Flordelis (Löwenherz Chroniken III) ================================================================================ Kapitel 22: Marcs Schulden -------------------------- Anthony genoss den Tag mit Rena und Marc ausgiebig. Nach der Buchhandlung – Rena war ohne Buch hinausgegangen, hatte aber für einen späteren Besuch eine Liste auf dem Tresen zurückgelassen – waren sie erst ins Einkaufszentrum gegangen, wo sie sich verschiedene Geschäfte angesehen hatten und dann gemeinsam in einem Fast Food Restaurant essen gewesen waren. Da alles besser schmeckte als das Essen im Heim, war von seiner Sicht aus nichts daran auszusetzen gewesen, während Rena und Marc sich darüber unterhielten, in welchem dieser Restaurants, die wohl zu einer Kette gehörten, man besser aß. Er stellte durchaus erleichtert fest, dass Rena sich nicht im Mindesten neugierig zeigte, was seine Vergangenheit anging, genau wie es bei Marc der Fall war. Fast schon schämte er sich dafür, dass er sich bei ihnen so neugierig fühlte und seinen Freund an diesem Tag derart bedrängt hatte. Auf dem Weg nach Hause verabschiedete Rena sich an einer Weggabelung von den beiden Freunden und ging in eine andere Richtung davon, die nicht zu den Wohnheimen führte. „Rena wohnt in einem sehr großen Hause mit Bediensteten“, erklärte Marc schmunzelnd, als Anthony ihn fragte, wo sie hingehen würde. „Also, ein Butler, ein Mädchen für die Küche und ein Gärtner.“ „Was ist mit ihren Eltern?“ „Mhm, darauf komme ich, wenn ich dir erzähle, was meine Schulden sind.“ Damit ließ Anthony das Thema erst einmal auf sich beruhen, während sie durch die Straßen liefen, dafür fand Marc ein anderes: „Warum hast du das Buch eigentlich nicht gekauft?“ Als er einen fragenden Blick von seinem Freund bekam, ergänzte er: „Das Märchenbuch.“ „Ah... ich weiß nicht. Wahrscheinlich, weil ich denke, dass die Antwort, die ich suche, nicht in diesem Buch steht.“ „Nun, ich weiß zwar nicht, was für eine Antwort du suchst, aber schau doch im Internet, da findet man eigentlich zu jedem Thema etwas.“ Da Anthony nicht im Mindesten verstand, was das bedeuten sollte, versprach Marc, ihm später zu zeigen, wie das funktionierte und was genau es eigentlich war. „Ich dachte immer, die Peligro Absolventen wären echt cool, aber ihr wisst ja ganz viele Sachen nicht, die für uns selbstverständlich sind.“ „Hast du denn schon welche getroffen?“ Marc nickte zustimmend. „Hin und wieder trifft man sie bei den Missionen auf die wir von der Schule geschickt werden. Einmal war da dieses rothaarige Mädchen, die hättest du sehen müssen, sie war mega-cool und-“ „Das kann nicht sein“, erwiderte Anthony und unterbrach ihn damit. „Es gibt keine Mädchen im Peligro Waisenhaus. Sie kann keine Absolventin gewesen sein.“ Auf diese Erwiderung hin neigte Marc ratlos den Kopf, beschloss aber offenbar, nicht mit jemandem darüber zu diskutieren, der es besser wissen musste und fuhr in einer etwas anderen Form fort: „Die zwei Kerle bei ihr waren aber sicher Absolventen und die haben ein riesiges Monster besiegt. Ganz allein, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne auch nur in Schweiß auszubrechen. Aber mit uns reden wollten sie nicht.“ Anthony wusste nicht, von wem Marc sprach und es war auch unsinnig, nach Details zu fragen, da er sich kaum an jemand anderen erinnerte. Dennoch versank er bei dieser Erzählung in Gedanken, so dass sie den restlichen Weg zu Anthonys Wohnung schweigend hinter sich brachten. Ehe sie sich dem düsteren Thema zuwandten, setzte Marc sein Versprechen in die Tat um, zeigte seinem Freund nicht nur, wo er den Computer in der Wohnung fand, sondern auch wie man diesen bediente, insbesondere das Internet. Anthony war sichtlich überwältigt von all den Möglichkeiten, die es ihm bot, was Marc leise lachen ließ. „Ich habe gehört, früher, im 21. Jahrhundert, war es noch umfangreicher und vernetzter. Inzwischen ist es wesentlich eingeschränkter, aber man kann dennoch seinen Spaß damit haben.“ Dabei ging es Anthony nicht mal um Spaß, sondern nur um Antworten, aber das wollte er seinem Freund nicht unbedingt auf die Nase binden, stattdessen nickte er nur verstehend – und dann kam es endlich zu dem Thema, das ihn schon den ganzen Tag interessierte. Marcs Stimmung kippte wieder einmal, als er die Arme vor der Brust verschränkte und den Blick zu einem der Fenster wandern ließ als würde er weit in die Vergangenheit sehen. Erneut fühlte Anthony sich ein wenig schlecht, als er das beobachtete, aber als er seinem Freund anbot, das Thema einfach auf sich beruhen zu lassen, schüttelte er mit dem Kopf. „Nein, ist schon gut. Ich denke, das ist auch eines der Dinge, die du von mir wissen solltest.“ Da Ethan vermutet hatte, dass Marc ihm auch etwas schulden würde, war das selbst für Anthony logisch und das beruhigte sein schlechtes Gewissen. „Du weißt, dass ich der Sohn einer Familie bin, die zum organisierten Verbrechen gehört, ja? Inzwischen bin ich der einzige Erbe dieses Imperiums, aber früher hatte ich einen älteren Bruder.“ Er hielt einen Moment inne, als er an diesen dachte, aber sein Gesicht wirkte dabei nicht so entspannt und nostalgisch wie bei der Erinnerung an sein Kindermädchen. „Sein Name war Thomas, er war zwei Jahre älter und stand in der Erbfolge vor mir, was mir nur recht war, ich wollte ja nie das Oberhaupt der Familie werden. Um zu lernen, wie wie man Verhandlungen führt und Kontakte zu knüpfen, wurden wir eines Tages zu den Chessts nach Lanchest geschickt, die Bekannte unserer Familie waren...“ „Du hast die Ruhe weg, was?“ Ich hatte während des Wartens fast schon vergessen, dass Thomas ebenfalls da war, aber als er mich wieder an seine Anwesenheit erinnerte, sah ich zu ihm hinüber. Im Gegensatz zu mir schien er nervös, jedenfalls tippte er unruhig immer wieder mit seinem Fuß auf den Boden und schaffte es auch nicht, still sitzenzubleiben. Ich dagegen saß gemütlich auf dem Sofa im Empfangszimmer und genoss die neue Umgebung. „Ich sehe keinen Grund, nervös zu sein. Das ist doch nur eine nette Unterhaltung heute.“ Zumindest dachte ich das in diesem Moment noch, auch wenn ich die Zeichen hätte sehen müssen. Das Gespräch mit den Chessts an sich war sehr angenehm. Wir hatten die beiden bereits auf verschiedenen Anlässen kennengelernt, das war das erste Mal, dass wir länger als fünf Minuten mit ihnen sprachen und es ging keinerlei Bedrohung von ihnen aus – weswegen wir alle umso überraschter waren, als Thomas plötzlich seine Waffe zog. Wir führten natürlich immer versteckte Pistolen mit uns, aber wir benutzten sie nur in Notfällen. „Thomas, was ist los?“, fragte ich irritiert, im festen Glauben, dass er lediglich etwas gesehen hätte, was mir entgangen war oder dass er in seiner Nervosität etwas nur falsch interpretiert hatte. Aber kaum, dass er die Waffe gezogen hatte, schien genau diese Unruhe von ihm abgefallen zu sein, in seinen Augen war absolut keine Unsicherheit zu erkennen und mir kam der schreckliche Gedanke, dass er sogar nur wegen diesem Moment hergekommen war. Mr. Chesst stand auf und hob in einer beruhigenden Geste seine Hände. „Mein lieber Freund, beruhigen Sie sich. Wir wollen doch hier keinen Fehler machen, den wir bereuen könnten.“ Thomas lächelte kühl. „Keine Sorge, ich werde nichts bereuen.“ Im nächsten Moment feuerte er zwei Schüsse ab – und dann direkt noch einmal zwei. Ich bin mir nicht sicher, ob zwischen den Schüssen irgendetwas anderes geschah, mein Blick war auf die umstürzenden Körper der Chessts gerichtet, die erschreckend schnell auf den Boden fielen. In den Filmen erzählen sie dir immer was von Zeitlupe oder dass ein Moment dir im Nachhinein total langsam vorkam, aber ich hatte eher das Gefühl, dass alles viel zu schnell vor sich ging, ich war sogar überzeugt, dass es nicht real sein konnte. Mein Blick ging wieder zu Thomas zurück – und zu meinem Erschrecken stellte ich fest, dass er seine Waffe nun auf mich gerichtet hatte. „W-was tust du da!? Bist du wahnsinnig geworden!?“ „Nein, ich bin mir sogar vollkommen klar über das, was ich tue“, erwiderte er mir ruhig, viel zu ruhig, wie ich fand. Ehrlich gesagt hatte ich mein ganzes Leben mit solch einer Situation gerechnet, ich war von meinen Eltern darauf vorbereitet geworden, nicht zuletzt weil es bei meinem Vater und dessen Geschwistern genauso abgelaufen war, bis die letzten zwei Überlebenden einfach von allein auf das Erbe verzichtet hatten – etwas, was ich bis dahin nicht getan hatte und in jenem Moment bitter bereute. Aber klar, ich hatte zwar damit gerechnet, aber gleichzeitig auch gehofft, dass die Bindung zwischen meinem Bruder und mir stark genug wäre, dass uns das alles nicht kümmerte. So sehr konnte man sich in seiner Familie täuschen. „Thomas, komm schon, denk nochmal darüber nach.“ „Es ist schon zu spät, Marc. Was denkst du, wer denn die Schuld hierfür auf sich nehmen soll, wenn nicht du? Unsere Eltern werden nicht sehr erfreut sein, wenn sie hören, dass du ihre Geschäftspartner erledigt hast. Aber mit mir werden sie vollauf zufrieden sein, wenn sie hören, dass ich die Bestrafung direkt übernommen habe.“ Er lächelte so kalt wie ich es noch nie zuvor in meinem Leben bei ihm beobachten konnte. „Hattest du das alles hier geplant?“ „Vielleicht.“ Thomas zuckte mit den Schultern. „Das muss dich ja nicht mehr interessieren, meinst du nicht?“ Ich wagte kaum zu atmen oder gar den Blick von seinen Augen abzuwenden. Da lebte immer noch die Hoffnung in mir, dass er es sich anders überlegen würde, wenn ich nur lange genug nicht den Blickkontakt unterbrechen würde. Und reden, ich musste reden, Argumente, das war alles, was ich denken konnte. „Komm schon, du weißt doch, dass ich absolut kein Interesse am Erbe habe.“ Ich dachte, es würde etwas bringen, wenn ich ihm das noch einmal deutlich machte, aber er grinste nur. „Ich weiß – und ich stelle nur sicher, dass du dich nicht umentscheiden wirst und mir in den Rücken fällst.“ In diesem Moment war ich mir sicher, dass es nichts mehr gab, was ich tun konnte. Es war vorbei, endgültig, ich würde ein weiteres namenloses Opfer werden, das nicht einmal in die Familiengruft kam, weil ich durch Thomas' Plan als Verräter gelten würde. Ein Plan, den ich für erschreckend einfach befand und dennoch nicht vereiteln konnte. Ich schloss die Augen, um es ihm nicht noch schwerer zu machen, mich umzubringen. He, ich kann noch nicht einmal einem Kaninchen den Hals umdrehen, wenn es mich ansieht – und ja, das hab ich schon getan, ist so 'ne Tradition meiner Familie, aber darum geht es ja gerade nicht, tut mir Leid. Ich konnte nichts sehen, lediglich hören – und in diesem Punkt haben die Filme wirklich recht: Wenn du dastehst und auf den Tod wartest, kommt es dir vor als würden Stunden vergehen, während in Wirklichkeit nur wenige Sekunden verrinnen. Als ich schließlich die Schüsse hörte, welche die eingetretene Stille durchbrachen, erwartete ich den Schmerz und den Verlust der Kontrolle über meinen Körper – aber stattdessen erklang nur ein dumpfer Schmerzenslaut von mir gegenüber und im nächsten Moment hörte ich, wie etwas zu Boden fiel. Da meine Neugier nun doch stärker war als der Gedanke an den bevorstehenden Tod, öffnete ich meine Augen wieder – und entdeckte ein braunhaariges Mädchen, das mir gegenüber stand. Sie hielt eine Pistole auf mich gerichtet, deren Lauf immer noch qualmte. Ein kurzer Blick nach unten bestätigte mir, dass sie auf Thomas geschossen hatte. Dieser war nun keine Bedrohung mehr für mich, sondern lag reglos in einer rasch größer werdenden Blutlache. Er war nicht mein erster Verwandter, den ich so sah und die ganze Atmosphäre war immer noch zu... angespannt, so dass ich in jenem Moment noch nicht wirklich dazu kam, in irgendeiner Art Trauer zu empfinden. Stattdessen sah ich wieder das Mädchen an, das noch immer unverändert dastand. Ich kramte ein wenig in meinem Gedächtnis und erinnerte mich auch wieder an ihren Namen: „Rena?“ Erst als ich sie ansprach, ließ sie die Waffe sinken. „Ist es in deiner Familie üblich, sich einfach erschießen zu lassen?“ Statt zu antworten konnte ich nur zu ihren Eltern hinübersehen, was sie wohl als Erwiderung deutete, zumindest wenn ich ihren weiteren Worten glauben konnte: „Oh komm schon, das war auch unfair von deinem Bruder, findest du nicht?“ Als Antwort sah ich auf ihn hinab, was sie erneut als Erwiderung empfand: „Ich hab ihn nur von hinten erschossen, weil er sich garantiert nicht umgedreht hätte. Er war total fixiert auf dich.“ „Warum hast du das getan?“ Ich sah noch immer auf meinen Bruder hinab und die Worte waren eigentlich auch an ihn gerichtet, aber sie glaubte wohl, dass ich mit ihr sprach, denn sie zuckte mit den Schultern. „Notwehr. Muss ja niemand wissen, dass er eigentlich vorhatte, dich umzubringen.“ Meine nächsten Worte galten dann tatsächlich ihr: „Wie kann dich das so kalt lassen?“ „Wie kann dich das so mitnehmen?“, erwiderte sie. „Dir wird doch dein Leben lang beigebracht, Menschen zu töten, oder?“ „Dir aber nicht, oder?“ „In gewisser Weise schon.“ Ich weiß nicht, was sie dazu bewog, aber sie erklärte mir, dass sie eine Ausbildung an der Lanchest-Akademie machte und man dort alle möglichen Sachen beigebracht bekam. Unter anderem auch, wie man am Effektivsten Menschen tötete – nur für den Fall der Fälle. „Der Kerl hier ist natürlich der erste und um ehrlich zu sein konnte ich ihn noch nie leiden.“ Sie schnitt eine Grimasse und runzelte gleich darauf die Stirn, als sie bemerkte, dass mir nicht nach Scherzen zumute war. „Hätte ich ihn dich lieber töten lassen sollen?“ Ich schüttelte mit dem Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber was soll ich jetzt tun? Ich kann nicht nach Hause.“ Egal, was ich sagen würde, wenn ich heimging, es würde darauf hinauslaufen, dass ich der Erbe des Imperiums werden würde, wenn ich nicht vorher als Verräter im Meer landen würde... so viele würdes im Satz. Jedenfalls gefiel mir keine der Alternativen, aber Rena wusste dafür bereits eine Lösung – ich konnte nicht anders als mich zu fragen, ob sie nicht etwas von den Plänen meines Bruders gewusst und dann eigene geschmiedet hatte. Fragte sich nur, wieso ich darin vorkam. „Du verlässt deine Familie einfach und fängst ebenfalls in der Lanchest-Akademie an“, sagte sie als wäre es das Einfachste der Welt. „Das geht aber nicht so leicht.“ „Oh, es geht alles leicht, wenn du nur weißt, wie du es anstellen musst. Also stell dich nicht so an, langsam sollte ich nämlich jemanden kommen lassen, der hier aufräumt.“ „Na ja, sie kann manchmal sehr fordernd sein, ich konnte also nichts tun, als sie mich am nächsten Tag zu Mr. Chandler schleifte. Also, der Vater von Joel Chandler, der war zu dem Zeitpunkt noch Direktor an der Akademie. Ich war anfangs nicht sonderlich begeistert. Klar, ich wollte nicht das Imperium übernehmen, aber he, man lebt selbst als einfaches Mitglied sehr gut. Aber Rena, Mr. Chandler, Mrs. Chandler und Mr. Lionheart haben mich davon überzeugt, dass es besser ist, wenn ich mit meiner Familie abschließe. Und he, mir geht es jetzt schon viel besser, ich kann nachts endlich durchschlafen.“ Marc hielt einen kurzen Moment inne und dachte lächelnd zurück. Eine Pause, die Anthony nutzte, um die Erzählung zu verarbeiten. „Rena war so ruhig nach dem Tod ihrer Eltern?“ Das alles war zu glatt, zu problemlos, mit Sicherheit hatte Marc Dinge ausgelassen, die er nicht für weiter wichtig oder zu privat hielt. „Ja. Ich habe später erfahren, dass sie tatsächlich von Thomas' Plan wusste. Anscheinend hatte er sie darüber in Kenntnis gesetzt, um ihren Segen zu bekommen, weil er an ihr interessiert war... oder so. Sie meinte, er hätte sie tierisch genervt. Und sie hat die Gelegenheit genutzt, um nicht nur ihn, sondern auch ihre Eltern loszuwerden, organisiertes Verbrechen und so.“ Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass Renas Familie ebenfalls in solche Geschäfte verwickelt gewesen war, aber das erklärte immerhin, warum er sie auch nie mit anderen Personen sah. Dennoch verstörte ihn das alles ein wenig. „Das klingt so brutal...“ „Manche Menschen haben keine Eltern – und andere wären sie am Liebsten los“, erwiderte Marc ungerührt. „Das ist das Leben. Und he, Lanchest ist schon viel sicherer, seit Rena nun das Oberhaupt der Chesst-Familie ist“ Anthony wollte nicht weiter darüber sprechen. Einerseits kam es ihm vor als würden sie den Tod zu sehr bagatellisieren und andererseits wurde er das Gefühl nicht los, dass sie das Leben zu sehr wertschätzten. Dieser meist schlafende Teil in seinem Inneren, der auch bei seinem Training mit Heather erwacht war, sagte ihm das, erklärte ihm, dass das Leben ohnehin derart vergänglich war, dass man es erst gar nicht wertschätzen musste – und deswegen musste man auch kein Mitleid mit seinen Opfern haben. Hastig versuchte er, diese Stimme wieder zu ignorieren. „Und deine Schulden?“ „Mein Leben gehört Rena.“ Marc lachte leise. „Ohne sie wäre ich immerhin tot oder Erbe eines Imperiums, das mich nicht interessiert und das viele Menschenleben kostet. Also tue ich, was sie sagt – und es ist ja nicht so, dass sie schlimme Dinge von mir verlangen würde. Sie will nur, dass wir Zeit miteinander verbringen.“ Das kam Anthony wie eine seltsame Bitte vor. Aber vielleicht hatte sie ja in irgendeiner Art und Weise Interesse an Marc und ihn deswegen verschont, statt einfach abzuwarten, bis Thomas ihn erschossen hätte. Aber es brachte nichts, hier darüber zu spekulieren. „Deine Familie hat dich einfach gehen gelassen?“ „Wäre ich nicht der letzte Erbe, hätten sie mich wohl schon längst umgebracht, aber so versuchen sie nur, mich zurückzugewinnen. Aber ich habe absolut kein Interesse daran.“ Er grinste ein wenig als ob er sich darüber freuen würde, dass so viele Leute ihn auf ihre Seite ziehen wollten. Aber da war noch etwas anderes, was Anthony interessierte: „Du sagtest mal, dass du nie Geld hast, weil du es jemandem zurückzahlst... geht das auch an Rena?“ „Awww, das hast du dir gemerkt?“ Er lächelte glücklich bei dieser Frage. „Nein, Rena hat genug eigenes Geld. Ich gebe meines für verschiedene Opfervereine aus. Wenn meine Familie Leben nimmt, was ich noch nicht verhindern kann, will ich wenigstens den Hinterbliebenen irgendwas... wiedergeben. Und mein Gewissen beruhigen, nehme ich an.“ Die Art und Weise wie Marc über all das redete, gefiel Anthony nicht. Es kam ihm fast so vor als ob er über das Leben eines Fremden sprach, das ihm allerdings nahegegangen war, so distanziert von den Formulierungen und gleichzeitig doch mit Emotionalität beladen, war die Erzählung. Aber noch während er das dachte, fiel ihm auf, dass er genauso sprach, wenn es um seine Vergangenheit, zumindest die Teile, an die er sich erinnerte, ging. „Sonst noch Fragen?“ Da war noch eine, die für Anthony wichtig war und die in Verbindung mit dem stand, was Alexander ihnen gesagt hatte. Raymond hatte ihn angewiesen auch Marc den Keller zu zeigen – und offenbar war es kein Problem gewesen, Mr. Chandler davon zu überzeugen, den Jungen in die Schule aufzunehmen. Dann noch die Mühe, die sich die Lehrer um ihn gemacht hatten... Da musste mehr dahinterstecken. Wer würde denn einer Familie des organisierten Verbrechen den einzigen Erben abspenstig machen? Aber er glaubte nicht, dass Marc die Antwort kannte. Er schüttelte nur mit dem Kopf, worauf sein Freund ihn wieder ernst ansah. „Gut, dann weißt du jetzt, was meine Schulden sind – und dass meine Familie mich einfach nicht loslassen kann. Aber das solltest du nicht herumerzählen, nicht jeder weiß, wie es wirklich abgelaufen ist.“ „Ich tu einfach so als ob ich keine Ahnung habe.“ Darin fühlte er sich inzwischen richtig gut. Sofort lächelte Marc wieder. „Du bist ein echter Kumpel.“ Anthony erwiderte das Lächeln, aber eher etwas sagen konnte, griff sein Freund bereits in seine Tasche. „Ich hab gehofft, dass du so reagieren würdest und habe deswegen vorhin etwas gekauft.“ Triumphierend zog er schließlich zwei versilberte Ketten hervor, an deren Enden sich ovale Anhänger befanden. Das schwarze Gestein aus dem sie waren, schimmerte mysteriös im Licht und weckte sofort Anthonys Aufmerksamkeit. Marc reichte ihm eine der Ketten. „Hier. Man sagt, wenn zwei Freunde diese Ketten tragen und sich stets in gegenseitiger Nähe aufhalten, laden die Steine sich mit göttlicher Energie auf und bringen einem Glück.“ Er lachte. „Ich weiß natürlich nicht, ob das funktioniert, aber die Idee dahinter finde ich nett. Das wollte ich schon immer mal ausprobieren, aber bislang hatte ich ja noch keine Freunde außer Rena und mit einer Frau ist das nicht dasselbe.“ Als Anthony die Freude auf Marcs Gesicht sah, besonders das Glitzern in seinen Augen, war er erstmals richtig froh darüber, nicht auf die anfänglichen Warnungen gehört zu haben. Da war etwas, das ihm sagte, dass Marc ungeachtet seiner Herkunft ein guter Mensch war, der ein wenig Glück durchaus verdient hatte – und wenn er ihm das geben konnte, dann würde er das eben tun. Und in Anbetracht dieser Tatsache war es ihm ausnahmsweise sogar fast einmal egal, dass auch diese Antwort ihm wieder neue Fragen beschert hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)