Götterhauch von Flordelis (Löwenherz Chroniken III) ================================================================================ Kapitel 19: Mimikry ------------------- Es war sein erster richtiger freier Tag in seinem ganzen bisherigen Leben – und er empfand es als furchtbar langweilig. Inzwischen hatte er den gut versteckten Fernseher im Wohnzimmer gefunden und auch gelernt, wie man ihn anschaltete; seitdem hing er regelrecht auf dem Sofa gegenüber des Bildschirms und betrachtete desinteressiert das Fernsehprogramm. Während er zwischen den Programmen wechselte, von Zeichentrickfilmen zu Seifenopern zu Talkshows und wieder zurück zu Cartoons sprang, wanderten seine Gedanken erneut zu seiner Begegnung mit Raymond am Abend zuvor. Es sollte eigentlich keine sonderlich große Sache sein, das war ihm klar, jeder konnte einfach seine Brille abnehmen, wenn er wollte, aber dennoch kam es ihm einfach... falsch vor. Warum hatte er sie eigentlich nicht getragen? So sehr wie er in seine Gedanken vertieft war, dauerte es eine Weile, bis er bemerkte, dass dieses seltsame Klingeln, das ihn seit wenigen Sekunden nervte, nicht aus dem Fernseher kam. Da er es allerdings zum ersten Mal hörte, wusste er nicht, wo er es einordnen sollte. Schließlich erstarb es allerdings wieder, so dass er beschloss, seine Gedanken wieder anderen Dingen zuzuwenden – nur um direkt darauf zusammenzucken, als ein anderes Klingeln erklang. Dieses Geräusch kannte er allerdings, es war sein Handy. Da jeder Schüler eines brauchte, bekamen diejenigen, die keines besaßen, eines von der Schule gestellt, so wie er eben. Wie Anthony es auf dem Display las, war es Marc, der ihn anrief. Ihm blieb nicht einmal Zeit für einen Gruß, nachdem er den Anruf angenommen hatte, als er auch schon die bemüht gutgelaunte Stimme seines Freundes hörte: „Bist du nicht zu Hause, Tony?“ Er klang ein wenig besorgt, zumindest glaubte Anthony das. „Doch, warum?“ „Ich steh hier vor der Tür und klingele mir einen Wolf ab.“ Anthony überlegte, was das wohl bedeuten sollte, verwarf das allerdings sofort wieder, als Marc weitersprach: „Oder habe ich dich geweckt?“ „Nein, ich wusste nur nicht, wie es sich anhört, wenn es an meiner Tür klingelt.“ Er konnte ein erleichtertes Aufatmen am anderen Ende der Leitung hören. „Gut, kannst du mir dann jetzt aufmachen? Oder willst du gerade keinen Besuch?“ „Nein, schon gut.“ Sie verabschiedeten sich voneinander, Anthony ließ Marc ins Haus und wartete dann darauf, dass er die Wohnung erreichte. Nicht sonderlich interessiert blickte der Besucher sich im Inneren um. Da er selbst ein solches Apartment bewohnte, interessierte ihn wohl lediglich, wie Anthony sich eingerichtet hatte; allerdings gab es nicht wirklich viel zu entdecken, immerhin war er mit dem System des Individualismus immer noch nicht sonderlich vertraut. „Also, wie geht es dir?“, fragte Marc schließlich. „Ich war echt überrascht, als ich gehört habe, dass du nicht mehr im Krankenhaus bist. Was ist passiert?“ Anthony presste die Lippen aufeinander. Er glaubte, dass er seinem Freund vertrauen konnte, er wollte das glauben, aber er wusste nicht, wie er das mit Kai erklären sollte. Sicher, Marc hatte ihn in der Lagerhalle gesehen, als Kai den Drachen tötete, aber würde er ihm das danach Geschehene glauben? und falls ja, würde er sich dann nicht auch fürchten, so wie Leen? Wusste Marc eigentlich überhaupt etwas von den Geschehnissen dieses Krieges, um die Tragweite dieses Ereignisses zu begreifen? Es gab viel zu viele ungeklärte Fragen an dieser Stelle. „Mir geht es gut“, antwortete er daher nur teilweise. „Deswegen fand ich es überflüssig, im Krankenhaus zu bleiben.“ Marc nickte sofort verstehend und verschränkte die Arme vor der Brust, wie er es oft tat. Inzwischen glaubte Anthony nicht mehr, dass es bedeutete, dass er andere fernhalten wollte, es schien ihm eher als wolle Marc damit nur den Eindruck erwecken, dass er eine Barriere aufbaute, während er gleichzeitig erreichen wollte, dass jemand diese zu überwinden versuchte. Auch wenn Anthony nicht ganz verstand, warum jemand so einen Eindruck überhaupt erwecken sollte. „Du bist gekommen, weil du dir Sorgen um mich gemacht hast?“ „Natürlich.“ Marc lächelte herzlich, wurde aber überraschend schnell wieder ernst, was nicht ganz zu ihm passen wollte. „Aber nicht nur wegen dieser Sache im Lagerhaus, auch wenn das echt nicht gut aussah und ich froh bin, dass es dir gut geht, sondern auch, weil...“ Er fasste Anthony zusammen, was geschehen war, als er das Krankenhaus verlassen hatte, um nach Hause zu gehen. „Und ich denke, der Kerl wollte irgendwas von dir.“ Die Beschreibung dieses Mannes sagte ihm allerdings gar nichts. Er kannte so jemanden nicht, auch nicht aus dem Waisenhaus und er konnte sich nicht erinnern, jemals irgendwem etwas getan zu haben. Aber vielleicht war auch dieser Mann jemand aus seinem letzten Leben, den er von dort kennen sollte und den er auch erkennen würde, sobald er ihm gegenüberstand. „Sei also vorsichtig, wenn du wieder allein unterwegs bist.“ Er nickte bekräftigend und bot Marc etwas zu essen an, um das Thema auf etwas Angenehmeres zu lenken. Noch während die beiden in der Küche zusammensaßen und ihre belegten Brote aßen, wurde Anthony erneut nachdenklich. Vielleicht konnte sein Freund ja ein wenig Licht in seine vorige Frage bringen. „He, kann ich dich was fragen?“ Da er gerade am Kauen war, nickte Marc lediglich und Anthony fuhr fort: „Du weißt nicht zufällig, ob Mr. Lionheart auf seine Brille angewiesen ist, oder?“ Es gab ein Schulterzucken zur Antwort. „Keine Ahnung. Ich seh ihn meistens mit, lediglich, wenn er im Schulkeller herumhantiert, trägt er keine, soweit ich weiß.“ Anthony sprang sofort darauf an, neugierig, welches Geheimnis sich wohl noch in dieser Stadt befand: „Was ist denn im Keller?“ Marc zuckte noch einmal mit den Schultern. „Ich war noch nie dort unten. Alex aber schon – und he, er weiß vielleicht, warum Mr. Lionheart eine Brille braucht!“ „Alex?“ „Du weißt schon, Leens Freund Alexander. Er ist der Sohn des Schularztes und allgemein weiß er ziemlich viel.“ Er rief sich den weißhaarigen Jungen wieder ins Gedächtnis und erinnerte sich auch wieder an diesen seltsamen Blick, den er von ihm an seinem ersten Schultag bekommen hatte. Gleichzeitig wusste er, dass es keinen Zweifel daran gab, dass Alexander über mehr Wissen verfügte als sie. „Ich ruf ihn einfach mal an, vielleicht nimmt er uns ja in den Keller mit.“ Noch ehe Anthony überhaupt darauf reagieren konnte, zog Marc bereits sein Handy hervor, drückte auf einige der Tasten und hielt sich das Telefon dann ans Ohr. Sein Gastgeber konnte ihn nur irritiert ansehen, wagte aber nicht, etwas zu sagen, vor allem da jemand offenbar bereits am anderen Ende den Anruf annahm. „He, Alex! Ja, genau, hier ist Marc. Ich bin erstaunt, dass du mich so schnell erkannt hast. Nein, ich finde das nicht. Meine Stimme ist sehr angenehm, wenn du mich fragst.“ Die Situation schien Anthony ein wenig abstrus, weswegen er leicht lächeln musste. Das Geplänkel zwischen Marc und Alexander ging ein wenig weiter, doch dann ging es endlich um die entscheidende Frage: „Weswegen ich eigentlich anrufe – nein, es nicht mein Ziel, dich zu nerven, ich hatte echt 'nen Grund. Ich bin grad bei Anthony und wir...“ Er hielt inne, offenbar sagte Alexander gerade etwas, was ihn überraschte, denn Marc blickte plötzlich verwundert. „Ja, genau. Aber woher weißt du...?“ Alexander unterbrach ihn wohl erneut, denn er verstummte wieder mitten im Satz und blinzelte. „Ja, okay. Wir kommen dann gleich vorbei. Ja...“ Kaum dass er aufgelegt hatte, blickte er Anthony an. „Er sagte, er will dir den Keller zeigen und ich soll dich deswegen zu ihm bringen.“ Marc wirkte deutlich überrascht darüber, dass Alexander das geplant hatte, aber Anthony wunderte sich nicht darüber. Mit Sicherheit war er von Leen über die Ereignisse der letzten Nacht unterrichtet worden. Dann musste sich im Keller etwas befinden, das damit zu tun hatte und er war reichlich gespannt, was es war. Es war ein ungewohnter Anblick, das Büro leer vorzufinden. Ratlos ließ Alona den Blick schweifen, aber Raymond war nicht zu entdecken und auch der ausgeschaltete Computer, an den sie prüfend eine Hand hielt, deutete darauf hin, dass er schon lange nicht mehr hier war und sie umsonst vorbeigekommen war, um ihn abzuholen. Da seine Sekretärin nicht da war, um diese zu fragen, wo er war, holte sie ihr Handy hervor und drückte die entsprechenden Kurzwahltasten, um Raymond anzurufen – doch egal wie lange sie es klingeln ließ, er hob nicht ab und in ihrem Inneren breitete sich ein überaus schlechtes Gefühl aus. Es war nicht üblich, dass er sein Handy ignorierte, meist warf er zumindest einen Blick darauf und nahm den Anruf dann an, wenn er sah, dass sie es war. Dieses Mal aber wartete sie vergebens. Seufzend gab sie auf und steckte ihr Telefon wieder ein. Sie fuhr herum und verließ das Büro. Als sie auf dem Gang stand, überlegte sie, wo sich Raymond nun aufhalten könnte, wenn er nun schon nicht hier war. Es gab eigentlich nicht sonderlich viele Orte, an denen er um diese Uhrzeit sein konnte und schon gar nicht, wenn er schon länger nicht mehr im Büro war. Mit einem flauen Gefühl im Magen lief sie los, um nach Hause zu gehen. Sie glaubte zwar nicht, dass er dort sein würde, aber es war eine gute Ausgangsposition, um mit dem richtigen Suchen anzufangen, wie sie fand. Während des Gehens angelte sie erneut ihr Handy aus der Tasche, um noch einmal bei Raymond anrufen zu können. Vielleicht würde er ja noch rangehen, damit ihre Sorgen sich in Luft auflösen könnten. Doch selbst als sie noch die Schule verließ, hatte sie ihn noch nicht erreicht. Das ungute Gefühl wuchs und wuchs, fand Nahrung an ihrer irrationalen Furcht und machte sich einen Spaß daraus, ihr in eindrucksvollen Bildern zu zeigen, was Raymond alles zugestoßen sein könnte. Zwar versuchte sie, diese Gedanken zu verscheuchen, doch klammerten sie sich mit aller Gewalt an sie und schienen dabei noch höhnisch über ihren vergeblichen Versuch zu lachen. Sie konnte nur mit dem verbliebenen Platz, der von der Furcht verschont worden war, hoffen, während sie die Straße entlang eilte und dabei dem unbarmherzigen Ton ihres Handys lauschen, der ihr sagte, dass niemand sich um ihren Anruf scherte. Anthony und Marc kamen währenddessen an der Schule an und betraten die Krankenstation, auf der Alexander sie erwarten wollte. Im Gegensatz zum Rest des Gebäudes wirkte die Station neu als ob sie erst nachträglich angebaut worden wäre. Die Wände waren nicht aus dem bereits vertrauten Gestein, zumindest sahen sie nicht danach aus, sondern aus einem Material, an dem jeglicher Schmutz abzuprallen schien und dementsprechend sauber und weiß sahen sie auch aus; dennoch warfen sie das einfallende Sonnenlicht nicht zurück, stattdessen schienen sie es regelrecht zu verschlucken und dafür nur Kälte abzugeben. Dementsprechend fröstelte Anthony auch, als er sich ausgiebig umgesehen hatte. Erst auf den zweiten Blick entdeckte er Alexander, der an einem Tisch saß und dort offenbar Medikamente sortierte; er war derart in seine Arbeit vertieft, dass er die beiden Besucher erst bemerkte, als Marc ihn ansprach: „Na, wieder mal Arbeit für deinen Dad übernommen?“ Alexander hob den Kopf ein wenig und musterte ihn über den Rand seiner Brille hinweg. „Mein Vater hat viel zu tun, genau wie deiner.“ Marc verzog ein wenig das Gesicht, konterte aber dennoch: „He, mein Vater verschafft deinem seine Arbeit, du solltest ihm dankbar sein.“ „Mein Vater ist Arzt, kein Pathologe“, erwiderte Alexander kurzangebunden, worauf Marc zusammenzuckte und nichts weiter sagte. Die angespannte Atmosphäre weckte in Anthony den Wunsch, zu verschwinden und errichtete in ihm den Vorsatz, nie wieder mit den beiden zusammen etwas zu tun. Schließlich richtete Alexander seinen Blick auf ihn. „Dir scheint es wieder besser zu gehen.“ Er konnte lediglich nicken, das war aber offenbar genug für den Fragenden, der direkt danach aufstand. „Dich interessiert, was im Keller ist, ja?“ „U-und...“ Alexander blickte dieses Mal ihn über den Rand seiner Brille hinweg an. Auf Anthony wirkte es wie die Verkörperung der Arroganz, aber es schien ihm im Moment eher als würde er damit wortlos ausdrücken wollen, dass er genervt über eine Unterbrechung seiner sorgsam vorbereiteten Planung war. Vielleicht konnte er nicht gut mit Menschen umgehen und musste all seine Interaktionen mit ihnen im Vorfeld komplett durchdenken – da war jede Unterbrechung sicherlich extrem störend. Dennoch fuhr Anthony fort: „Weißt du vielleicht, weswegen Mr. Lionheart eine Brille trägt?“ „Du hast ihn ohne gesehen, hm?“ Zustimmendes Nicken, Alexander schob seine eigene Brille zurecht. „Ich erkläre es dir im Keller, dann wirst du es mit Sicherheit auch verstehen.“ Im Moment tat er das jedenfalls nicht, deswegen nickte er nur und folgte Alexander dann gemeinsam mit Marc. Der Keller schien jedenfalls gut geschützt. Es gab eine stählerne Tür in der Haupthalle, die mit einer Karte geöffnet werden musste, am Fuß der steinernen Treppe jenseits davon befand sich eine massive, hölzerne Tür. Das altmodische Messingschloss schüchterte Anthony ein wenig ein, immerhin gab es einem ein Gefühl von Sicherheit und es erweckte den Eindruck, sämtliche Geheimnisse zu schützen, die jenseits davon lagen. „Was wird hier denn so vor den Schülern geschützt?“, fragte Marc skeptisch. Alexander zog einen ebenso massiven Schlüssel hervor, der eindeutig zu dem Schloss gehörte. „Wer sagt denn, dass es nicht umgekehrt ist?“ Anthony und Marc warfen sich einen fragenden Blick zu, warteten jedoch darauf, bis sie eintreten konnten. Zuerst konnten sie dort nicht wirklich etwas sehen. Eine Computeranlage war an der Wand entlang aufgebaut, einige Lichter glühten auf der Anlage und verrieten, dass er sich im Stand-by-Modus zu befinden schien; gegenüber der Tür konnten sie eine Glaswand sehen, die den Raum in zwei Hälften teilte. Auf der anderen Seite der gläsernen Wand war aufgrund der Dunkelheit nichts zu sehen. „Was ist das hier?“, fragte Marc. „Geh näher ran, Anthony.“ Alexanders Aufforderung ließ keinen Platz für Widerspruch, deswegen trat Anthony bis an die Glaswand und blickte auf die andere Seite. Er konnte nichts sehen, aber etwas in seinem Inneren reagierte auf das, was er nicht erkennen konnte. Er fühlte sich angespannt, bedroht, als müsste er vor etwas auf der Hut sein. Noch während er das Gefühl in Gedanken zu fassen versuchte, spürte er, wie er eine Gänsehaut bekam und sich das Haar auf seinem Nacken aufstellte. „Du kannst es nicht sehen, aber du spürst es“, schloss Alexander aus Anthonys Verhalten. „Ich werde ein wenig nachhelfen, wenn du erlaubst.“ Er wandte sich dem Computer zu, der mit einem leisen Geräusch ansprang. Zuerst ging nur das Licht im Keller an, so dass deutlich zu erkennen war, dass sich jenseits des Glases nichts befand – doch im nächsten Moment schien sich die Beschaffenheit der Scheibe zu ändern und es war etwas sehr deutlich zu erkennen. Unwillkürlich fuhr er zurück, um nicht mehr so nah an der Scheibe zu stehen. Marc wich ebenfalls zurück, musterte das Wesen aber mit ehrlicher Neugier. Die Ausstrahlung war dieselbe wie jene der Wesen, von denen Kai in der Nacht zuvor angegriffen worden war, aber es sah deutlich anders aus. Es war kein unförmiges Etwas, das sich kriechend mit den missgebildeten Armen vorwärtsbewegte, da ihm die Beine fehlten. Dieses Wesen, das sich da hinter der Scheibe befand war... er fand keine Worte dafür. Es war durchaus schön anzusehen, wenn man dabei ausblendete, dass es nichts Menschliches an sich hatte. Die Form der dunklen tintenblauen, fast schon schwarzen Masse glich für ihn der einer viel zu perfekten Frau, die sitzend an der Wand lehnte; im Brustbereich war undeutlich ein glitzerndes Fragment zu erkennen. Anthony schaffte es nicht, den Blick von diesem Wesen abzuwenden, Marc dagegen schon. Er sah zu Alexander hinüber. „Ist das eines von diesen Dingern?“ Der Arztsohn nickte zustimmend und setzte für Anthony zu weiteren Erklärungen an: „Wir nennen diese Wesen Mimikry, manchmal auch Seelenfresser. Sie suchen nachts manchmal diese Stadt heim, um sich an den Seelen von Menschen, besonders jenen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, zu laben. Da man sie normalerweise nicht sehen kann, bemerkt das auch kaum jemand. Die entstehenden Schmerzen beim Verlust eines Seelenfragments kann man immerhin auch mit vielen verschiedenen Dingen erklären, selbst wenn es nur Liebeskummer sein sollte.“ Er hielt einen kurzen Moment inne als würde er sich dieses Gefühl ins Gedächtnis rufen und es war überraschenderweise deutlich zu sehen, dass er es selbst einmal erlebt hatte und es nicht so geringschätzte, wie es sich in seinem Vortrag anhörte. „Haben sie sich genug Fragmente einverleibt, wandeln sie ihre Form und werden immer menschlicher. Sobald sie Menschen sind, werden sie wirklich gefährlich – die meisten Morde in Lanchest werden von ihnen begangen.“ Ein Schauer lief über Anthonys Rücken, als er sich vorstellte, dass ein Wesen, das über keinerlei Erziehung, Moral und menschliche Zuneigung verfügte, nachts durch die Stadt strich und Menschen tötete, die ihm dabei über den Weg liefen. Keinerlei Moral... und menschliche Zuneigung... genau wie die Leute im Pflegeheim... Bei dieser Parallele schauderte es ihm noch einmal, weswegen er lieber über etwas anderes nachdenken wollte. „Warum habt ihr so etwas hier im Keller?“, fragte Anthony. „Ausgewählte Rekruten der Lanchest Akademie werden darin ausgebildet, diese Wesen zu töten,“, erklärte Alexander sofort als würde er das ständig tun, „um die Menschen zu schützen und dafür müssen sie erst einmal wissen, was sie da bekämpfen sollen.“ Ein Blick zu dem überraschten Marc verriet Anthony, dass er davon ebenfalls nichts gewusst hatte und nun versuchte, das alles zu verarbeiten. Alexander trat an die Scheibe. „Das ist auch die Antwort, was deine Frage wegen Mr. Lionheart angeht. Normale Menschen können diese Wesen nicht sehen, sie brauchen spezielle Brillen dafür. Nur bei Mr. Lionheart ist es anders. Er kann sie sehen und auch viele andere Dinge, deswegen braucht er seine Brille, um diese Eindrücke zu unterdrücken und ein normales Leben zu führen.“ „Als er sie gestern nicht getragen hat...“ „War es schon spät“, unterbrach Alexander ihn. „Da Mr. Lionheart ebenfalls zu den außergewöhnlichen Menschen gehört, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er unterwegs von den Mimikry angegriffen werden könnte; deswegen lief er ohne Brille durch die Stadt, um die Wesen sofort zu sehen.“ Anthony neigte verstehend den Kopf und sah wieder zu dem Wesen hinüber. Es bemerkte seine Beobachter nicht einmal, schien es, vermutlich war es eine Trickscheibe oder die Wesen waren blind und orientierten sich anhand anderer Dinge, die aber nicht durch das Glas drangen. Mittels eines anderen Schalters wandelte Alexander die Scheibe wieder in eine gewöhnliche, das Mimikry verschwand erneut aus ihrem Blickfeld. Schauer liefen über Anthonys Rücken, als er daran dachte, dass sich dort etwas befand, was er nicht sehen konnte, obwohl er wusste, dass es da war. „Sind damit alle Fragen beantwortet?“, hakte Alexander nach. „Schon...“, gab Anthony zu. Allerdings fühlte er sich nun nur noch müde und überfordert. Er wollte nach Hause, sich ins Bett legen und am besten bis zum Montag durchschlafen, bis er wieder in die Schule gehen müsste. „Durftest du uns das hier überhaupt zeigen?“, fragte Marc. „Kriegst du jetzt nicht vielleicht Ärger von Mr. Lionheart?“ „Seit wann kümmert dich so etwas?“ Doch nichtsdestotrotz zog Alexander einen Zettel hervor, auf dem in Raymonds unverkennbarer Handschrift tatsächlich eine Aufforderung zu sehen war, Branch und Campbell mit dem Keller vertraut zu machen. „Ich weiß nicht, weswegen er dich miteinbezog, Marc, aber er wird sich schon etwas dabei denken.“ Er wusste und verstand es offensichtlich auch nicht, sein verwirrter Gesichtsausdruck schwand einfach nicht. Aber es war deutlich, dass sie keine klärende Antwort von Alexander erwarten durfte – und er auch gar keine geben wollte, selbst wenn wenn er sie kennen würde. „Ich denke, das war alles“, sagte er stattdessen. „Ihr solltet nach Hause gehen, ich habe noch etwas zu tun, nachdem ihr mich gestört habt.“ Marc rollte mit den Augen und ging bereits voraus, um hinauszugehen. Anthony blieb allerdings noch einmal stehen, als er von Alexander angesprochen wurde. „Du hast gerade einen Vergleich zu deinem Pflegeheim gezogen, oder?“ „Woher...?“ „Mein Vater hat mir erzählt, dass es Mr. Lionheart ähnlich ging, als er das erste Mal von den Mimikry hörte. Da du länger dort warst, dachte ich mir, dass der Eindruck bei dir stärker sein muss.“ „Verstehe.“ Was er immer noch nicht verstand, war der Grund, warum jemand Menschen erzog so zu sein. Die Mimikry waren bösartige Dämonen, wie es schien, sie dachten nicht über Dinge wie Moral nach und waren nicht an das ethische Konstrukt der Menschen gebunden. Aber warum erzog man Kinder so zu sein wie diese Wesen? „Ich kann dir keine Antworten auf deine Fragen geben“, sagte Alexander mit einem tatsächlich bedauernden Tonfall in der Stimme. „Aber ich kann dir nur das raten, was Mr. Lionheart uns immer wieder in seinen Reden predigt: Glaube an dich, so kitschig das auch klingen mag. Du bist nicht wie die anderen Heimbewohner, das kann sogar ich sagen. Irgendwann kommt vielleicht der Tag, an dem dir jemand anderes einreden will, aber das darfst du nicht glauben. Verstanden?“ So ganz tat er das nicht, es kam ihm vor als würden alle etwas wissen, das ihm verwehrt geblieben war, aber er war zu müde, um darüber nachzudenken, deswegen nickte er lediglich und folgte dann Marc, der bereits in der Eingangshalle wartete. Glücklicherweise schien er nicht in der Stimmung, über das eben Gesehene zu sprechen. „He, Tony, wie sieht's aus? Wollen wir es heute mal ruhig angehen lassen und uns ein paar Filme ansehen?“ Er lachte nervös. „Ich möchte nicht unbedingt allein sein, sonst denke ich viel zu viel nach und du hast ein paar Filme nachzuholen, die du in deinem Leben verpasst hast.“ Anthony musste zugeben, dass er dankbar und glücklich über dieses Angebot war, immerhin wollte er auch nur ungern allein sein im Moment. Also machte er sich gemeinsam mit Marc wieder auf den Rückweg, um den Abend mit ablenkenden Filmen zu verbringen. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie beinahe den Schlüssel fallenließ, ehe sie aufschließen konnte. Doch als sie die Tür endlich aufwerfen konnte, ließ sie den Schlüssel einfach stecken und die Tür weit geöffnet. Aus dem oberen Schlafzimmer war das unverkennbare Klingeln von Raymonds Handy zu hören. Sie hastete die Treppe hinauf und stürmte direkt in das Zimmer. Das Handy lag auf dem Nachttisch und klingelte ununterbrochen empört vor sich hin, aber der Besitzer blieb ignorant auf dem Bett liegen – und schlief einfach weiter. So tief und fest, dass Alona im ersten Moment das Schlimmste befürchtete. Doch als sie sich neben ihn auf das Bett setzte, drehte er sich von der Seite auf den Rücken und blinzelte sie irritiert an. „Mhm... hab ich verschlafen?“ „Wir haben Nachmittag“, sagte sie deutlich erleichtert. Mühevoll schluckte sie die Tränen hinunter, die aus ihr hervorbrechen wollten, um den Stress, die Angst und die Panik der letzten Minuten fortzuspülen. Er bemerkte das allerdings dennoch und setzte sich aufrecht hin. „Was ist los? Warum weinst du?“ „Tue ich gar nicht“, erwiderte sie und fuhr sich hastig über die Augen. „Aber mach das ja nie wieder, verstanden!?“ „Was?“, fragte er ehrlich verwundert. „Schlafen?“ Leicht verärgert nahm sie eines der Kissen und schlug es ohne viel Kraft auf seinen Kopf. „Oh, du Idiot! Du weißt doch genau, was ich meine! Weißt du, wieviel Angst du mir gemacht hast?! Ruf mich das nächste Mal an, wenn du früher nach Hause gehst, um zu schlafen!“ Sie schluchzte und brach nun doch in Tränen aus, worauf er sie in seine Arme zog, um sie zu trösten, obwohl er nicht verstand, was ihr Problem war. Er konnte nicht wissen, was sie tief im Inneren befürchtete und sie war nicht in der Lage, es ihm zu erklären, zu sehr fürchtete sie sich vor dem, was geschehen könnte, wenn er davon erfuhr. Zumindest im Moment war es ihr gelungen, ihn wiederzufinden, aber tief in ihrem Inneren fürchtete sie sich vor dem Tag, an dem ihre Suche erfolglos bleiben würde – und sie wusste, dass das über kurz oder lang eintreten würde. Ihr blieb nur zu hoffen, dass es kein Ereignis in der nahen Zukunft wäre. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)