Götterhauch von Flordelis (Löwenherz Chroniken III) ================================================================================ Kapitel 11: Unterwegs --------------------- Maryl schlief immer noch. Zusammengekauert saß sie mit hochgezogenen Beinen auf dem Sitz, zugedeckt mit Vincents Jackett, das dieser der Schlafenden zur Verfügung gestellt hatte. Russel fragte sich, wie lange sie das noch durchziehen würde und ob er sie, in Lanchest angekommen, noch in ein Hotel tragen müsste. Immerhin war Vincent inzwischen wieder wach, so dass die Zugfahrt nicht ganz so einsam war, doch sonderlich gesprächig war der Detektiv auch nicht – obwohl Russel es ohnehin lieber vermied, mit ihm zu sprechen. Worüber unterhielt man sich auch mit jemandem, den man nicht mochte? He, wir konnten uns noch nie ausstehen, aber erzähl doch mal von dir. Oder willst du lieber was von meinen vergangenen Eskapaden hören? Da war neulich eine tolle Party... Russel verwarf den Gedanken eilig wieder, überlegte stattdessen, ob er lieber über das Peligro-Waisenhaus und ihren Besuch dort sprechen sollte, aber... Ehe er dazu kam, zog Vincent, der bislang abwesend aus dem Fenster gestarrt hatte, sein Handy hervor. Es klingelte nicht, vibrierte nicht und leuchtete nicht einmal, also rief wohl niemand an. Dennoch betätigte er einige Tasten und hielt es sich anschließend ans Ohr. Von seinem Platz gegenüber konnte Russel nicht sonderlich viel von der weiblichen Stimme am anderen Ende verstehen, aber sie sprach ohne Punkt und Komma, aufgeregt als ob sie kurz davor stand zu weinen. Vincents Mimik wurde augenblicklich weicher, gleichzeitig schlich sich eine Sorgenfalte auf seine Stirn. Wer immer da sprach, musste also wirklich wichtig für ihn sein. „Wer ist sie?“ Es war nicht nur die Neugierde, die ihn dazu trieb, diese Frage zu stellen, Russel konnte deutlich spüren, dass Vincent sich Sorgen um diese Frau machte und dass er sich nun eine alte Nachricht von ihr anhörte, deutete darauf hin, dass er sie gerade im Moment sehr vermisste und auch wenn er diesen Mann nicht wirklich mochte, wollte er ihn dennoch nicht mit diesen Gefühlen allein lassen. Immerhin wusste er nur zu gut, wie sich das anfühlte. Der Detektiv runzelte seine Stirn, überlegte offenbar, ob er wirklich etwas sagen sollte und entschied sich schließlich dafür: „Sie ist der Grund, warum ich den Göttlichen überhaupt suche. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich mich niemals um all das gekümmert. Ich wollte keinen von euch je wiedersehen.“ Russel verkniff sich die sarkastische Erwiderung, die ihm bereits auf der Zunge lag, um Vincents plötzliches Mitteilungsbedürfnis nicht zu stören. „Eigentlich kann ich dich ja verstehen. Mir wäre es auch lieber gewesen, wenn nichts mehr in der Richtung passiert wäre.“ Dass sie wieder zusammentrafen und auch noch nach dem Göttlichen suchten, konnte immerhin nur bedeuten, dass genau wie vor fast hundert Jahren wieder eine Katastrophe bevorstand – und Russel dachte sich bereits, dass es etwas mit dem Direktor dieses Waisenhauses zu tun haben könnte. „Aber was hat sie dann getan, um dich neu entscheiden zu lassen?“, fragte er weiter. Vincent ließ das Handy sinken, steckte es aber nicht wieder ein, sondern blickte darauf als ob die Antwort auf dem Display stehen würde. „Sie hat nichts getan. Jemand hat sie gekidnappt und verlangt im Austausch gegen ihr Leben, dass ich Anthony Branch suche.“ „Du musst sie sehr lieben.“ Zum ersten Mal seit er diesen Mann kannte, egal ob in diesem oder dem letzten Leben, lächelte Vincent und lachte dann leise. „Das tue ich. Aber wohl anders als du denkst.“ „Sieht sie denn gut aus?“, fragte Russel ganz in seinem Element. Mit Frauen kannte er sich aus, studierte er sie doch schon seit Jahrhunderten und das Aussehen war immerhin meist das Erste, was man an einer solchen bemerkte. Obwohl er sich durchaus vorstellen konnte, dass man für einen Mann wie Vincent mehr brauchte als nur Schönheit – wenn er überhaupt auf derart viel Wert aus das Äußere legte. In seinem Leben hatte Russel einige Frauen kennengelernt und so manche hatte ihn allein durch ihren Charisma um den Finger gewickelt. Dennoch galt seine erste Frage immer dem Aussehen, es war einfach ein Reflex geworden. Zur Antwort hielt Vincent ihm sein Handy entgegen, Russel betrachtete das anzeigte Bild auf dem Display interessiert. Das Foto zeigte den Detektiv, wie er griesgrämig ins Objektiv sah, eine fröhlich aussehende junge Frau hatte ihren Arm um ihn gelegt und lachte im Gegensatz vergnügt in die Kamera, ihr ausgestreckter anderer Arm verriet, dass sie es war, die dieses Bild aufgenommen hatte. Die Ähnlichkeit mit Vincent war frappierend, glänzendes schwarzes Haar, bei ihr allerdings so lang, dass auf diesem Ausschnitt kein Ende zu sehen war und ihre stahlblauen Augen schienen einem geradezu in die Seele zu schauen – sogar die Gesichtszüge der beiden ähnelten sich. „Sie sieht aus als wäre sie mit dir verwandt“, bemerkte Russel im Scherz, blinzelte aber irritiert, als Vincent knapp nickte. „Sie ist meine...“ – er zögerte einen kurzen Moment – „Schwester. Wir haben gerade gemeinsam an einem Fall gearbeitet, als sie gekidnappt und ich erpresst wurde.“ „Klingt ernst. Aber für Geschwister würde man auch durch die Hölle gehen, was?“ Vincent nickte noch einmal und steckte sein Handy nach einem letzten Blick auf das Bild wieder ein. Erstaunt hob er eine Augenbraue, als ihm etwas bewusst zu werden schien. „Es wundert mich ein wenig, dass du mir nicht geraten hast, mich an die Polizei zu wenden.“ „Na ja, du bist eher einer von der korrekten Sorte... ich denke also, wenn du das hättest tun können, wärst du auch diesen Weg gegangen. Aber stattdessen tust du etwas, was du eigentlich nicht tun wolltest, das bedeutet also, dass die Kidnapper zu einflussreich sind oder ihr etwas Illegales getan habt, als sie von diesen Leuten geschnappt wurde – oder beides. Und dann liebst du sie tatsächlich zu sehr, um zu riskieren, dass die Behörden was vermasseln, was sie nämlich tun würden, wie ich sie kenne.“ Vincent lachte spöttisch durch die Nase. „Du bist gar nicht schlecht im Raten. Es stimmt, die Leute sind sehr einflussreich und meine Schwester wurde gefangen, als sie dort einbrach, um einige Beweise für mich zu aquirieren. Es ist also... auch meine Schuld, dass sie in diese Situation geriet, darum ist es allein meine Aufgabe, sie zu retten.“ Russel schmunzelte, als er diese Worte hörte. Langsam wurde dieser Vincent ihm wirklich sympathisch, eine solche Einstellung gefiel ihm äußerst gut – und sie widersprach dem sonstigen Verhaltensmuster des Detektivs, was noch einmal darauf hinwies, wie wichtig ihm diese Frau war. Man verzichtete immerhin nicht für jede x-beliebige Person auf seine eigenen Prinzipien. Plötzlich stutzte der Detektiv. „Wohin fahren wir eigentlich?“ „Sag mir nicht, du hast es wirklich vergessen.“ Nach dem Treffen mit dem Direktor hatten sie sich in diesen Zug gesetzt und im Anschluss waren sowohl Vincent als auch Maryl eingeschlafen. Die blonde Frau schlief immer noch, der Detektiv war irgendwann wieder aufgewacht, sein desorientierter Blick hatte in Russel aber schon eine derartige Ahnung geweckt. „Warum antwortest du mir nicht einfach? Es ist viel zu dunkel, um draußen etwas zu erkennen.“ „Wir fahren nach Lanchest. Der nette Herr Direktor hat uns verraten, dass Anthony dort ist.“ Und noch ein paar Dinge mehr... Die Verwirrung auf Vincents Gesicht war ungewohnt und unter anderen Umständen hätte Russel dieser Anblick durchaus gefallen, aber im Moment wäre es ihm lieber gewesen, wenn jemand sich gemeinsam mit ihm hätte Sorgen machen können. „Wir haben ihn... getroffen?“ Russel nickte bestätigend. „Du wirst dich nicht mehr daran erinnern, weil du ein Mensch bist und er nicht, aber -“ „Moment. Heißt das, du bist kein Mensch?“ Ertappt zuckte Russel zusammen und sank augenblicklich tiefer auf seinem Sitz, was für Vincent natürlich eine Bestätigung war. „Was bist du dann? Ein Drachenmensch?“ Prüfend huschte sein Blick über die grünen Haare und Augen seines Gegenübers, die diese These stützten, doch von ihm kam keine Antwort. Das brauchte Vincent allerdings nicht, er verwarf diese sofort selbst wieder. „Nein, das kann nicht sein. Etwas an dir passt nicht ganz dazu. So etwas wie dich habe ich noch nie getroffen, deswegen fällt es mir schwer, dich einzuschätzen.“ 'Etwas'... als ob ich ein Tier wäre. Früher hätte es so etwas nicht gegeben. „Du kannst ruhig ewig raten, du kommst ohnehin nie darauf. So schlau bist du auch nicht.“ Russel zwinkerte ihm zu, um zu verhindern, dass Vincent wütend wurde – und es funktionierte tatsächlich, der Detektiv schmunzelte. „Das wäre möglich. Du bist auf jeden Fall sehr außergewöhnlich, nicht wahr?“ „Oh, total.“ Der grünhaarige Schwertkämpfer lächelte stolz. „Aber irgendwann werde ich es dir schon verraten. Wenn der große Moment gekommen ist.“ Zu Russels großer Überraschung lachte Vincent leise und hielt sich dabei die Hand vor den Mund. „Du hast wohl zu viele Hollywoodfilme gesehen, hm?“ „Damals, als sie noch gut waren, ja. He, kann ich doch noch etwas fragen wegen deinem Auftrag?“ Die Antwort auf die Frage interessierte ihn natürlich, aber er wollte auch unbedingt das Thema wechseln, da er nicht wusste, wie er Vincent erklären sollte, was es mit diesem Direktor auf sich hatte. Der Detektiv nickte und warf ihm einen auffordernden Blick zu, worauf Russel die Frage stellte: „Was haben deine Auftraggeber mit dem Göttlichen vor? Was sollst du tun, wenn du ihn gefunden hast?“ „Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Sobald ich ihn gefunden habe, soll ich ein Foto machen, dieses an meine Auftraggeber schicken... und dann abwarten.“ „Ziemlich schwammige Aufgabe“, schloss Russel mit gerunzelter Stirn. Obwohl es eine vollkommen neutrale Feststellung gewesen war, schien Vincent sich davon angegriffen zu fühlen. Missbilligend verzog er sein Gesicht. „Ich habe mir das auch nicht ausgesucht – und ich würde es auch nicht tun, wenn Iras Leben nicht auf dem Spiel stehen würde.“ Entschuldigend hob Russel seine Hand und winkte ab. „Tut mir Leid, ich wollte dich nicht angreifen. Du kannst natürlich nichts dafür. Ich finde es sogar schön, dass du deine Schwester so sehr liebst, dass du das alles durchziehst. Das ist mal eine Seite an dir, die ich nicht kenne.“ „Du weißt, dass es mir ziemlich egal ist, ob du mich kennst oder gar magst?“ Trotz dieser Worte glaubte Russel tief in Vincents Innersten spüren zu können, dass es dem Mann doch nicht ganz egal war. Diese abweisende und unterkühlte Fassade war möglicherweise nur eine vorgeschobene Maske, weil er kein Vertrauen fassen wollte – zumindest erinnerte Russel sich gut daran, als er dieselbe Phase durchgemacht und sich genauso verhalten hatte. Inzwischen erschien ihm das schon so ewig her, dass es aus einem ganz anderen Leben sein musste. „Ich werde dir jedenfalls helfen“, beteuerte Russel. „Immerhin muss ich deine Schwester unbedingt kennenlernen.“ „Das werde ich zu verhindern wissen.“ Vincent schmunzelte wieder, was seinem Gegenüber sagte, dass er diese Worte nicht sehr ernst gemeint hatte – dennoch konnte er die unausgesprochene Drohung deutlich hören und entschied für sich selbst, doch lieber die Finger von ihr zu lassen. „In wenigen Minuten erreichen wir unser Ziel, den Hauptbahnhof von Lanchest“, erklang plötzlich eine Lautsprecherdurchsage. „Bitte denken Sie daran, Ihr Gepäck und Ihre Wertsachen mit sich zu nehmen. Vielen Dank, dass Sie mit Ven-Rail gereist sind.“ Russel wandte sich Maryl zu, um sie zu wecken, stellte jedoch überrascht fest, dass sie offenbar schon wach war und ihn verschlafen ansah. „Habe ich was verpasst?“ „Nichts Wichtiges“, erwiderte er. „Aber wir sind gleich da, es ist besser, wenn du dann wach bist.“ Sie nickte und gab Vincent sein Jackett zurück, während sie sich streckte, um vollständig wach zu werden. „Was wird uns in Lanchest erwarten, Russel?“ „Ich bin kein Wahrsager“, antwortete er. „Aber es könnte ziemlich heftig werden – wenn es zu schlimm wird, könnt ihr euch hinter mir verstecken.“ Er zwinkerte beiden zu, doch interessanterweise ließ sich nur Vincent davon beruhigen, Maryl schnaubte wütend und wandte sich ab. „Idiot.“ Zicke... Er verstand wirklich nicht, wie eine einstmals so bezaubernde Person, in die er sich damals verliebt hatte, sich derart verändern konnte, dass er sie am Liebsten im Wald ausgesetzt hätte. Doch wann immer seine Gedanken sich darum drehten, erinnerte sich auch wieder daran, wie sie bei ihrer ersten Begegnung gewesen waren – und dann fragte er sich nur noch, wie er auf ihren ganzen Charakterwandel hatte hereinfallen können. Immerhin hat sie mich auch satt und sobald das alles vorbei ist, werden wir uns nie wieder sehen. Auf diesen Tag freute er sich schon. Aber vorerst würden sie die weiteren Ereignisse abwarten und überleben müssen – Russel hoffte nur, dass es nicht zu verlustreich werden würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)