Götterhauch von Flordelis (Löwenherz Chroniken III) ================================================================================ Kapitel 4: Am Morgen -------------------- Vor lauter Aufregung über das Kommende, war Anthony am nächsten Morgen bereits eine Stunde zu früh aufgewacht. Diese zusätzliche Zeit war allerdings auch dringend nötig, denn es dauerte, bis er in seiner neuen Küche das Brot und die Messer gefunden hatte, um sich etwas zu essen zu machen. Auf eine Tasse verzichtete er allerdings, da ihm die Nerven fehlten, diese auch noch zu suchen. Stattdessen trank er die Milch direkt aus der Flasche, in der er sie im Kühlschrank gefunden hatte. Er vermied es tunlichst, daran zu denken, wie der Tag wohl ablaufen würde, sondern stellte sich lieber vor, was er gerade tun würde, wenn er noch im Heim wäre. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass sie höchstwahrscheinlich gerade alle damit beschäftigt wären, ihre Betten zu machen, eine der angenehmsten Dinge am Tag. Er blickte auf sein neues Bett, das immer noch so dalag, wie er es verlassen hatte. Allein das stellte schon ein aufregendes Stück Freiheit dar, die er bislang nie hatte kennenlernen dürfen. Kaum hatte er das Brot aufgegessen, machte er sich daran, sich anzuziehen und dann schließlich doch noch das Bett zu machen. Nach all den Jahren machte es ihn doch zunehmend nervös, wenn Decke und Kissen zerknüllt dalagen. Das Gefühl, dass seine Erzieher ihm im Nacken saßen, war immer noch allgegenwärtig – außerdem gab es auch die Möglichkeit, dass jemand von der Akademie vorbeikommen würde, während er nicht da war und ihm stand nicht der Sinn danach, sich in einem schlechten Licht zu präsentieren. Als er dabei an seinem Schrank vorbeikam, überlegte er, sich die Schuljacke anzuziehen, die sich darin befand. Doch ein kurzer Ausflug auf seinen Balkon riet ihm dagegen. Der warme Wind reichte vollkommen aus, alles Weitere wäre zu viel gewesen. Nervös blickte er auf die Uhr. Es war noch zu früh, loszugehen, aber wenn er die Treppe nehmen würde, wäre das mit Sicherheit in Ordnung – und außerdem war es besser, zu früh unten zu warten als zu spät zum Treffpunkt zu kommen. Mit seiner Schultasche in der Hand, in der sich allerlei Schreibuntensilien befanden, begab er sich schließlich auf den Weg nach unten. Im Gegensatz zum vorigen Tag waren an diesem Morgen überraschend viele Stimmen im Haus zu hören. Einige schienen aufgeregt, andere eher missmutig, aber bei allen drehte sich das Gesprächsthema um den heutigen Schultag. Selbst als er durch die Tür nach draußen trat, riss die Geräuschkulisse nicht ab. Freunde trafen sich offenbar auf dem Weg zur Schule, die meisten plauderten dabei vergnügt, selbst wenn es darum ging, dass man die Hausaufgaben vergessen hatte und mit Sicherheit wieder zum stellvertretenden Direktor geschickt werden würde deswegen. Ist er so beliebt, dass alle... Schülerinnen... zu ihm wollen? Tatsächlich waren es hauptsächlich Mädchen, die einem solchen Treffen äußerst positiv gegenüberstanden. Allerdings wurden sie allesamt negativ überrascht, sobald einer ihrer Freunde sie daran erinnerte, dass Mr. Chandler aktuell krank und deswegen nicht bei der Arbeit wäre. Unter all diesen Schülern erkannte Anthony den Jungen wieder, den er am Tag zuvor beim Angeln beobachtet hatte. Er lief mit vor der Brust verschränkten Armen neben einem braunhaarigen Mädchen her, beide wirkten ziemlich übel gelaunt, weswegen Anthony der Versuchung widerstand, die Hand zum Gruß zu heben, als der Junge zu ihm herübersah. Der Blonde sagte etwas zu dem Mädchen neben sich, worauf sie ebenfalls einen kurzen Blick zu ihm warf, sich aber sofort wieder abwandte. Unbewusst griff Anthony sich an sein Haar, seine Augen huschten zwischen den anderen Schülern umher, denen er aufgefallen war. Allerdings schien sich keiner von denen wirklich mit seinem Haar aufzuhalten. Von den Gesprächsfetzen, die er mitbekam, interessierte es alle wohl vielmehr, in welche Klasse er kommen würde. Er war so sehr in seine Gedanken vertieft gewesen, dass er Heather erst bemerkte, als sie ihm vorsichtig auf die Schulter tippte. Überrascht zuckte er zusammen, atmete jedoch erleichtert aus, als er sie erkannte. „Ah, du bist es. Guten Morgen.“ „Guten Morgen“, grüßte sie zurück. „Gut zu sehen, dass du schon hier bist – ich warte nur ungern.“ Das dachte ich mir. „Also komm.“ Sie winkte ihn mit sich. Der Schulweg führte durch ein Viertel mit allerlei kleineren Restaurants, Cafés, Snackbars, Bäckereien und auch dem ein oder anderen Kiosk. Da die Schüler viel Geld besaßen, wollte man diese wohl in die Geschäfte locken – und zumindest bei Anthony funktionierte es sogar. In der ein oder anderen Bäckerei wurde gerade gebacken, der herrliche Duft von Zimtbrötchen erfüllte die Luft in einigen Metern Umkreis. Am Liebsten hätte Anthony direkt innegehalten, um eines zu kaufen, doch Heather lief unbeeindruckt immer weiter und er traute sich nicht, sie darum zu bitten. Außerdem wusste er nicht, wie das mit der Geldkarte funktionierte und er wollte weder sich noch einer Verkäuferin am frühen Morgen schon so viel Stress aussetzen. Dass die Verkäufer in der Gegend Erfahrung im Umgang damit hatten, vergaß er in dem Moment völlig. Am Ende des Viertels erblickte er schließlich die Akademie, so wie sie auch auf dem Deckblatt der Broschüre zu sehen gewesen war. Jenseits einer hohen Mauer erstreckte sich ein riesiges Grundstück, auf dem ein burgähnliches Gebäude in die Höhe ragte. So alt wie es wirkte, passte das neue Haus direkt daneben so wie die Mauer davor absolut nicht ins Bild. Aus der Broschüre wusste Anthony, dass das neue Gebäude ein Wohnheim war – das musste für die jüngeren Schüler sein. Direkt gegenüber davon befand sich ein riesiges Gewächshaus, dessen Wände aus undurchsichtigem Milchglas bestanden, was Anthony ein wenig seltsam vorkam. Am Liebsten hätte er Heather danach gefragt, doch sein Mut reichte nicht aus, um sie anzusprechen und seine Neugier war noch lange nicht groß genug dafür, um die Differenz auszugleichen. Kaum betrat man die Burg durch den Haupteingang, kam man in eine Halle, von der aus zwei Gänge nach rechts und links abgingen, während eine breite Treppe nach oben führte. Helles Sonnenlicht fiel durch ein kunstvoll gestaltetes riesiges Fenster und erzeugte ein beeindruckendes Muster auf dem Boden. An den Wänden hingen die blauen Banner der Schule gemeinsam mit denen der Stadt Lanchest – in einer Ecke entdeckte Anthony sogar die gestreifte Flagge, die vor einigen hundert Jahren noch für das ganze Land genutzt worden war. Das Stück Stoff wirkte schwer mitgenommen, die Ränder waren ausgefranst, die Farben schwer verblasst, aber immerhin hatte sich jemand die Mühe gemacht, sie fein säuberlich mit einem Rahmen zu versehen und in der Halle aufzuhängen. Heather ergriff Anthonys Ärmel. „Deine Schranknummer...“ Sein irritierter Blick traf ihren leicht gleichgültigen. Wären ihre braunen Augen nicht gewesen, hätte er in diesem Moment geglaubt, Leen vor sich zu haben. Aber vielleicht hatte sie nur schlecht geschlafen oder es störte sie, dass er den ganzen Weg über keinen Ton gesagt hatte. Er sagte ihr die Nummer, worauf sie wieder zu lächeln begann. „Das ist genau neben meinem.“ „Oh, wirklich?“, fragte er erfreut, wofür er sich am Liebsten direkt eine verpasst hätte. Was war das denn für eine Frage? Sie schmunzelte deutlich amüsiert, ehe sie wieder vorausging. Im Laufen erklärte sie ihm knapp wo sich die wichtigsten Orte in der Schule befanden, während sie gleichzeitig damit beschäftigt war, die Begrüßungen der anderen Schüler zu erwidern. Sie schien es ganz und gar nicht zu kümmern, dass einige von ihnen ihren Begleiter neugierig musterten – diesen irritierte es allerdings. Mit so viel realer Aufmerksamkeit war er bislang noch nie konfrontiert gewesen, wenn man von dem kurzen Moment im Bahnhof am Vortag absah, aber das war wesentlich schneller wieder abgeklungen. Eintönig graue Spinde reihten sich an der Wand entlang. Einige waren geöffnet, so dass Anthony sehen konnte, dass der entsprechende Schüler das Innere recht farbenfroh dekoriert hatte, während andere Bilder oder Zeitungsausschnitte angebracht hatten. Das ist so... individuell... vielleicht sollte ich das auch tun. Wobei Individualität bislang nie seine große Stärke gewesen war. An einem bestimmten Spind blieben sie wieder stehen. Heather klopfte auf die blecherne Tür. „Das hier ist deiner. Merk dir das gut, manchmal hast du nicht viel Zeit, um erst danach zu suchen.“ „Danke, Heather.“ Mit einem Lächeln machte sie sich an ihrem eigenen Spind zu schaffen, während Anthony zum ersten Mal seinen öffnete. Das Innere war steril und leer, genau wie sein bisheriges Leben. In einem der zwei Fächer lagen die von Raymond angekündigten Unterrichtsmaterialien; sechs Bücher, für sieben Unterrichtsfächer. Das siebte erforderte kein Buch, sondern nur das Schwert, das im Moment noch bei ihm zu Hause lag. „Oh ja“, sagte Heather plötzlich. „Diese Woche wird dein Stundenplan noch nicht so vollgepackt sein. Der Praxisunterricht fällt aus, weil Mr. Chandler krank ist.“ Er konnte das Augenrollen quasi aus ihren Worten heraushören, sie war wohl nicht sehr überzeugt von dieser Krankheit. „Aber vielleicht ist das auch ganz gut so. Hast du Erfahrung mit dem Kämpfen? Nein? Dann solltest du dir vielleicht von jemandem die Grundlagen beibringen lassen, bevor Mr. Chandler wiederkommt. Er kann manchmal ziemlich fies sein. Aber, mhm, wer wäre dafür geeignet?“ Nachdenklich neigte sie den Kopf, ihre Hände sortierten derweil automatisch die erforderlichen Dinge für den Unterricht, um diese in ihre Tasche zu packen. „Schwertkämpfer sind nicht unbedingt an der Tagesordnung, wir haben eher ausgefallene Waffen. Aber... meine kommt dem ziemlich nahe.“ Er sah sie fragend an, was sie wieder zum Lächeln brachte, als sie es bemerkte. „Ich kämpfe mit einem Schiavona, ein zweischneidiges Schwert, das eher an einen Degen erinnert.“ Da er sich nichts darunter vorstellen konnte, blieb sein Blick fragend. „Schon gut. Du wirst es sehen, wenn ich versuche, dir etwas beizubringen.“ „Du willst das wirklich tun?“, fragte er erfreut. Seine aufkommende Euphorie schien sie wieder abzuschrecken, ihr Gesicht verfinsterte sich, aber sie nickte dennoch. „Irgendjemand muss dir ja zeigen, wie das alles geht, wenn du es schon nicht selbst kannst.“ Ihr abwertender Ton ließ ihn seine Entscheidung bereits bereuen, aber er würde auch nicht mehr zurücktreten. Irritiert war er von ihren Stimmungsschwankungen dennoch – vielleicht hatte er aber auch nur zu wenig Erfahrung mit Mädchen, möglicherweise war das vollkommen normal bei ihnen. „Gut, dann gehen wir jetzt ins Klassenzimmer.“ Eilig schnappte er sich seine eigenen Bücher, ehe er den Spind wieder schloss und gemeinsam mit Heather weiterging. Sie führte ihn zu einer weiteren Treppe, die in den ersten Stock führte. An den Wänden waren Bilder angebracht, die ganz offensichtlich alte Absolventen der Akademie zeigten. Wie lange gibt es diese Akademie eigentlich schon? Das kann ich mir nie merken... Nach dem eher altertümlichen Ambiente der Schule, war er vom Anblick des Klassenzimmers durchaus überrascht. Die Pulte wirkten erstaunlich wuchtig, was – wie Anthony nach kurzem Umsehen herausfand – daran lag, dass man jeden einzelnen aufklappen konnte, so dass ein Monitor und eine Tastatur zum Vorschein kamen. „Wofür braucht man so etwas?“ Heather brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, was er meinte. „Das ist ein Computer. Im Idealfall hilft er einem bei der Arbeit. Du solltest auch einen zu Hause haben... irgendwo... Papa legt viel Wert darauf, dass die Schüler damit umgehen können.“ „Ah, verstehe...“ Im Heim war er nur selten mit Computern in Berührung gekommen, die Erzieher hatten es stets als überflüssig erachtet, dass ihre Schützlinge mit so etwas umgehen konnten. So viel, was ich lernen muss... Die anderen Schüler, die bereits da waren, blickten neugierig zu ihnen hinüber. Heather ignorierte das allerdings, ihr eigener Blick blieb auf ihn fixiert. „Normalerweise würde der Klassenlehrer dich bei Unterrichtsbeginn vorstellen, aber Mr. Chandler ist, wie ich erwähnte, nicht da. Mr. Oyuki übernimmt daher die erste Stunde, so dass wir nachher früher gehen können.“ „Das wäre... Geschichte, nicht wahr?“ Heather nickte zustimmend, sie seufzte. „Geschichte am frühen Morgen... was für ein Spaß... Jedenfalls...“ Prüfend blickte sie auf einige der noch unbesetzten Pulte, bis sie auf einen bestimmten zeigte. „Das hier ist dein Platz.“ Auf einer kleinen am Pult angebrachten Plakette stand tatsächlich sein Name. Er bedankte sich leise und setzte sich schließlich zum ersten Mal an diesen Platz. „Mein Pult ist weiter hinten“, sagte sie unaufgefordert. „Der Unterricht beginnt gleich, aber wenn es noch etwas gibt, kannst du mich fragen.“ Er nickte zustimmend, worauf sie davonging und ihn alleinließ, den neugierigen Blicken der anderen Schüler ausgesetzt. Inmitten all der anderen, die sich leise miteinander unterhielten, fühlte er sich plötzlich ungemein einsam, mehr als je zuvor. Würde er überhaupt je Anschluss finden? Vielleicht sollte er sich einfach zu einem der anderen setzen und mit ihnen sprechen, aber gleichzeitig fürchtete er sich über eine ablehnende Reaktion, gefolgt von der ewigen Isolation. Besser er blieb einfach sitzen und wartete darauf, dass der Unterricht anfing. Nach wenigen Minuten – die dem gelangweilten Anthony wie Stunden vorkamen – kam Leen gemeinsam mit einem Jungen herein. Er konnte nicht anders als diesen aufgrund seines Haars anzustarren. Es war vollkommen weiß, so wie Schnee, ohne jede graue oder andersfarbige Strähne, einfach... makellos, wie es ihm bislang noch nie untergekommen war. Missbilligend richteten sich die eisblauen Augen des Jungen auf ihn, er erwiderte Anthonys Blick über den Rand seiner Brillengläser – aber er sagte nichts, was die ganze Situation unwirklich erscheinen ließ. Anthony glaubte, etwas in den Augen des anderen sehen zu können, aber die Bilder verschwanden immer viel zu schnell als dass er seinen Verdacht erhärten konnte. Vielleicht waren es auch nur durch die Brillengläser erzeugte Spiegelungen. Als die Stille schwer auf Anthonys Ohren zu lasten begann, bemerkte er, dass alle anderen Anwesenden verstummt waren und gebannt das Blickduell der beiden beobachteten. Sofort senkte Anthony das Gesicht und sah wieder auf seinen Pult hinunter. Leen zischte dem Jungen etwas zu, worauf das Leben auch wieder in die anderen Schüler zurückkehrte und die Gespräche erneut einsetzten. Ohne sich umzusehen wusste er, dass sowohl Heather als auch Leen und dieser Junge, die alle hinter ihm saßen, ihn ansahen. Er konnte ihre Blicke in seinem Rücken brennen spüren, doch er widerstand dem Impuls, sich umzudrehen und zu fragen, was sie wollten. Sie würden wohl ohnehin nicht antworten. Er versuchte, sich mit etwas anderem zu beschäftigen, doch seine Gedanken wandten sich nur trübseligen Themen zu, weswegen er umso erleichterter war, als eine Klingel zweimal wenige Minuten hintereinander erklang und sich das Klassenzimmer weiter füllte. Ein braunhaariges Mädchen, das kurz vor dem zweiten Klingeln hereinkam, erkannte er als jenes wieder, das vorher mit diesem blonden Jungen unterwegs gewesen war. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Das dringende Gefühl, sich für etwas Schlimmes entschuldigen zu müssen, überkam Anthony plötzlich. Er war sich sicher, sie an diesem Tag das erste Mal zu sehen, aber dennoch glaubte er, ihr etwas Schlimmes angetan zu haben. Doch bevor er das weiter erörtern konnte, wandte sie ihr Gesicht wieder ab, um sich zu setzen und das seltsame Gefühl verflog. Ging der blonde Junge nicht in diese Klasse? Der Gedanke enttäuschte ihn ein wenig, auch wenn er nicht genau wusste, weswegen. Er kannte den Jungen nicht einmal und möglicherweise war das gestrige Winken mehr eine spöttische denn eine freundliche Geste gewesen, aber Anthony hätte dennoch zumindest gern seinen Namen gewusst. Vielleicht sollte er irgendwann einfach dieses Mädchen fragen – sobald er wusste, wie sie hieß. Obwohl noch Plätze frei waren, kam kein Schüler mehr herein, dafür aber offenbar der Lehrer, ein verschlafen wirkender Mann mit blauem Haar, der wohl am Liebsten irgendwo anders gewesen wäre – nur nicht in diesem Klassenzimmer. Sofort verstummten alle Schüler. Als der Lehrer vorne an seinem eigenen Pult stand und einen Blick in die Runde warf, brachte er tatsächlich ein müdes Lächeln zustande. „Guten Morgen, meine Lieben. Herrlicher Tag, nicht wahr?“ Er sah müde umher, bis seine Augen sich auf Anthony hefteten. „Oh, du musst der Neue sein.“ Schlagartig wandten sich alle Blicke wieder ihm zu, worauf er ein wenig tiefer auf seinem Stuhl sank. „Ja, genau.“ Das Sprechen fiel ihm schwer, sein Mund war plötzlich ungewöhnlich trocken, am Liebsten hätte er etwas zu trinken gehabt, Brennnesseltee wenn es sein musste, Hauptsache, es reichte, um seine Kehle wieder zu befeuchten. „Hilf mir auf die Sprünge“, meinte der Lehrer. „Wie war dein Name nochmal?“ „Anthony Branch.“ Das Gesicht des Lehrers hellte sich schlagartig auf. „Ah, genau. Aus dem Peligro Waisenheim, nicht wahr?“ Ein erstauntes Raunen ging durch die Reihen der Schüler. Zwischen den gemurmelten Wörtern, die darauf folgten, konnte Anthony lediglich „Wie hart“ und „Armer Kerl“ heraushören. War das Heim hier etwa so berüchtigt? „Dann wirst du mit Sicherheit keine Probleme mit dem Unterricht hier haben – bei uns ist das alles viel leichter und die Lehrer sind auch um einiges netter.“ Anthony verspürte den Impuls, den Lehrer zu fragen, woher er das wissen wollte, aber erstens wäre das unhöflich gewesen und zweitens gab es mit Sicherheit einen Grund dafür. „Mein Name ist übrigens Mr. Oyuki – ich bin Geschichtslehrer.“ Plötzlich lachte er. „Natürlich ist mein Vorname nicht Mister, sondern Leon... aber das tut ja nichts zur Sache, nicht wahr?“ Warum erwähnst du es dann überhaupt? Anthony stellte die Frage nicht laut, die anderen Schüler seufzten leise und rollten mit den Augen – offenbar machte er solche Scherze öfter, so oft, dass die anderen inzwischen müde waren davon. Er konnte das nur allzugut nachvollziehen. „Gut, hätten wir die Vorstellung des Neuen abgehakt... und wo ist Marc?“ Leons Blick fiel auf den freien Platz direkt neben Anthony. „Er hat sich nicht krankgemeldet, oder?“ „Passiert vielleicht noch“, meinte das braunhaarige Mädchen, das am Morgen mit dem Blonden zur Schule gelaufen war. „Ich hab ihn auf die Krankenstation gebracht, weil er meinte, es geht ihm nicht gut.“ „Was ist es denn heute?“ Leons Seufzen und der resignierte Tonfall seiner Frage verrieten, dass so etwas wohl häufiger vorkam. Das Mädchen hob die Schultern, antwortete aber dennoch: „Wohl eine Magenverstimmung oder Lebensmittelvergiftung oder so was. Jedenfalls war ihm ziemlich übel.“ Der Lehrer schien etwas zu zählen. „Ist es schon wieder Monatsende?“ Anthony überlegte, was das damit zu tun haben könnte, dachte sich dann aber, dass es wohl mit dem Geld auf der Karte zusammenhing. Dieser Marc war wohl keiner von der sparsamen Sorte. „Na ja, dann fangen wir eben ohne ihn an.“ Leon zuckte mit den Schultern, dann griff er in seine Tasche und angelte zielsicher ein Buch hervor, das er direkt aufschlug. „Nun, beim letzten Mal blieben wir... bei der Gründung Drakanis stehen...“ Dra... was? Anthony hörte dieses Wort das erste Mal in seinem Leben. Der Geschichtsunterricht im Heim hatte an einer ganz anderen Stelle geendet... oder diese hier übersprungen... er wusste es nicht, da er das Wort nirgends einordnen konnte. Doch noch bevor er sich weiter damit beschäftigen musste oder gar von jemand erfahren konnte, wo es eingeordnet werden musste, öffnete sich erneut die Tür. Der blonde Junge kam herein, er wirkte blass und wenn man ihn aus der Nähe betrachtete, sah er sogar ein wenig zu mager aus, um als gesund durchzugehen. Allerdings war er auch recht groß, möglicherweise war das sein normaler Körperbau. Die Tasche, deren Gurt straff gespannt um seinen Hals hing, wirkte dadurch allerdings noch schwerer und wuchtiger, so dass Anthony sich spontan fragte, wie er damit sein Gleichgewicht halten konnte. „Tut mir Leid, dass ich zu spät bin“, sagte er mit einem angenehm humorvollen Ton in der Stimme, der verriet, dass er das alles nicht allzu ernst nahm. „Ich hab eine Bestätigung von Dr. Dumont, dass ich bei ihm war, falls-“ „Schon gut“, sagte Leon und winkte dabei ab. „Rena hat schon gesagt, dass du auf der Krankenstation warst. Setz dich endlich, Marc, damit wir anfangen können.“ Der Junge setzte sich neben Anthony, den er erst in diesem Moment wahrzunehmen schien. Er lächelte ihm freundlich entgegen, schwieg allerdings, da Leon bereits mit dem Unterricht fortfuhr. Doch Anthonys Gedanken waren ganz woanders, als er Marcs Lächeln erwiderte. Ihn überkam das Gefühl, endlich den notwendigen Mut aufbringen zu können, eine Freundschaft zu schließen – und das bei der erstbesten Gelegenheit. 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