Götterhauch von Flordelis (Löwenherz Chroniken III) ================================================================================ Kapitel 2: Ein neues Leben -------------------------- Ein wenig perplex schüttelte Anthony die Hand des Direktors. „Mich freut es auch.“ Er hätte nicht erwartet, dass der oberste Kopf der Akademie selbst ihn vom Bahnhof abholen würde. Schickte man normalerweise nicht einen... Handlanger für so etwas? Der Direktor wirkte nicht wie jemand, der aus Spaß an der Freude neue Schüler vom Bahnhof abholte. Eigentlich machte er mehr den Eindruck eines spießigen Büromenschen, der sich selbst überall als fehl am Platz einstufte, solange es nicht hinter einem riesigen Schreibtisch war. Raymonds Mundwinkel hoben sich leicht als ob er ahnen würde, was sein Gegenüber dachte. Doch sofort wurde sein Blick wieder ernst, er sah zu dem Wachmann. „Ist irgendetwas vorgefallen?“ „Oh, nichts Schlimmes, keine Sorge, Mr. Lionheart. Anthony hat einen Dieb zu Fall gebracht, das wollte ich Ihnen sagen.“ Raymond hob eine Augenbraue, dann nickte er. „Ich verstehe, vielen Dank.“ Der Wachmann salutierte noch einmal und ging davon. Raymond bedeutete Anthony, ihm zu folgen und lief in Richtung des Ausgangs. Der Jüngere folgte ihm sofort. Kaum dass sie aus der Bahnhofshalle traten, atmete er erleichtert aus. Die Verkehrsgeräusche waren erholsam leise im Vergleich zu dem Lärmpegel im Inneren des Bahnhofs. Raymond schien das ebenfalls als wesentlich angenehmer zu empfinden. „Gut, ich bringe dich zu deiner Wohnung. Sie ist nicht weit von hier.“ „Wohnung?“, hakte er perplex nach. Er nickte. „Ja. Alle internen Schüler leben ab ihrem vierzehnten Lebensjahr in einer eigenen, von der Schule gestellten, Wohnung. Das soll ihre Selbstständigkeit erhöhen. Also komm.“ Als er weiterlief, folgte Anthony ihm sofort, bis er gleichauf neben ihm herging. „Wie war die Reise?“, fragte Raymond, offensichtlich nur der Höflichkeit halber. „A-angenehm, danke.“ Interessanterweise fühlte Anthony sich in der Gegenwart des Direktors wesentlich wohler als in der aller anderen Personen, die er bislang getroffen hatte. Der Mann strahlte etwas ungemein Beruhigendes aus, was dafür sorgte, dass Anthony ihm auf Anhieb vertraute. „Ich weiß nicht, wieviel das Pflegeheim dir bislang von uns erzählt hat...“ „Um genau zu sein, gar nichts“, antwortete Anthony sofort, der endlich die Gelegenheit gekommen sah, seine Neugier über sein neues Leben zu stillen. Raymond seufzte leise. „Das dachte ich mir schon. Ich glaube, die wussten selbst nicht sonderlich viel über uns.“ Er räusperte sich, ehe er fortfuhr: „Du weißt, dass eine normale Militärakademie ihre Rekruten für den Einsatz im Militär ausbildet, oder? Daher auch der Name. In einer herkömmlichen Einrichtung erlernst du also hauptsächlich den Umgang mit Fernwaffen und das richtige Verhalten im Kriegsfall. Die Lanchest Akademie dagegen... nun, wir gehen sehr individuell auf die einzelnen Rekruten ein, jeder erlernt bei uns den Umgang mit der Waffe oder Kampftechnik, die ihm liegt – und nebenbei gibt es auch noch normalen Unterricht. Das Ziel unserer Einrichtung ist es, eine umfassende Ausbildung zu bieten, die unseren Absolventen jeden Weg offenhält.“ Es klang in Anthonys Ohren wie ein einstudierter Text einer Werbebroschüre, Raymond schien ihn recht häufig herunterzurattern – oder er hatte ihn einfach nur sehr oft gehört. „Vorrangig wollen wir aber Söldner ausbilden, die im Namen unserer Akademie dann auf verschiedene Missionen geschickt werden.“ „Söldner?“ Seine Zuversicht schwand für einen kurzen Moment – doch als ihm die Möglichkeiten bewusst wurden, kehrte sie schlagartig wieder. Söldner zu sein war mit Sicherheit keine schlechte Idee, wenn man sonst keinerlei Perspektive in seinem Leben sah. Zwar war jede Mission mit Sicherheit etwas Unbekanntes und Neues, doch er musste sich dann im Vorfeld keine Gedanken darüber machen, welchen Beruf er ausüben sollte. Im Gegensatz zu allen anderen im Pflegeheim hatte er nie irgendwelche Träume oder Wunschvorstellungen gehabt – ihm war es immer nur wichtig gewesen, Geld zu verdienen, um sein Leben zu unterhalten. Also war das vielleicht die beste Methode, aber ob er überhaupt dafür geeignet war? „Nun, wir zwingen natürlich niemanden, nach dem Abschluss als Söldner bei uns zu bleiben“, erklärte Raymond sofort. „Die Ausbildung und die Arbeit ist hart – aber der Verdienst auch dementsprechend hoch. Nach bestandenem Abschluss hast du auch in anderen Branchen beste Zukunftsaussichten; besonders in Lanchest reißen sich die Firmen um unsere Absolventen, da sie für ihre hohe Belastbarkeit bekannt sind.“ Das klang in Anthonys Ohren nicht schlecht. Langsam wurde ihm diese Akademie tatsächlich schmackhaft. „Klingt ja fast zu gut, um wahr zu sein“, bemerkte er gedankenverloren. Raymond schmunzelte. „Oh, das sagst du jetzt noch. Du hast den Unterricht noch nicht erlebt.“ Er zögerte einen Moment, gab sich dann aber einen sichtlichen Ruck und fuhr fort: „Andererseits haben wir eine erstaunlich niedrige Durchfall-Quote. Ich habe deinen Notenschnitt gesehen, du dürftest das mit ein wenig Anstrengung auch schaffen.“ Daran zweifelte Anthony keine Sekunde. Er war nicht der beste Schüler, aber immerhin ein gesunder Durchschnitt und zu lernen war ihm noch nie wirklich schwer gefallen. Nein, er würde mit Sicherheit seinen Schnitt halten können, auch wenn der Unterricht hier anders war. „Die Kommunikation mit dem Heim war recht unangenehm“, bemerkte Raymond plötzlich, als Versuch, das Thema zu wechseln. Anthony war recht erleichtert, dass er nicht der einzige war, der mit den Leuten in dem Heim nicht zurechtkam. So wie der Direktor das Gesicht verzog, schienen ihm die Verantwortlichen dort auch nicht gefallen zu haben. „Aber ich kann dich auch persönlich fragen: Wie kommt es, dass du ins Heim gekommen bist?“ Die Frage, so sehr Anthony sie auch hasste, hatte er bereits erwartet. „Als ich vier Jahre alt war, wurden meine Eltern in einen Unfall verwickelt. Dabei starben sie beide und ich kam eben ins Heim.“ Normalerweise bekundeten sofort alle ihr Beileid, weswegen er sich berufen fühlte, direkt im Vorfeld abzuwehren: „Aber ich erinnere mich ohnehin nicht an meine Eltern oder mein Leben mit ihnen, von daher vermisse ich auch nichts davon.“ Das leise Lachen des Direktors überraschte Anthony. Fragend sah er wieder zu ihm hinüber. Raymond entschuldigte sich sofort. „Ich wollte nicht lachen, aber dein Verhalten erinnert mich an mich früher. Die Leute bekundeten immer, wie sehr ich ihnen Leid tue, sobald sie erfuhren, dass ich ohne Eltern aufwachse; irgendwann habe ich dann immer so etwas Ähnliches gesagt wie du, weil mir dieses falsche Mitleid auf die Nerven ging.“ Anthonys Miene hellte sich merklich auf. Womöglich spürte er deswegen diese Verbundenheit mit dem Direktor, sie teilten immerhin dasselbe Schicksal – so würde man es zumindest in einem kitschigen Groschenroman erklären. Anthony dagegen dachte sich, dass ihm dieser Mann von Anfang an so sympathisch gewesen war, weil er sich eben nicht gezwungen fühlte, Mitleid zu heucheln. Selbst die Erzieher im Pflegeheim hatten vor ihren Schützlingen immer so getan als wären sie besonders fürsorglich und an ihnen interessiert, nur um sich hinter ihren Rücken darüber zu beschweren, dass die Blagen ihnen die Freizeit stehlen würden und all die Arbeit nicht angemessen entlohnt werden würde. „Vermutlich wird es dir dann gefallen, allein zu leben.“ Anthony zuckte mit den Schultern. „Bislang macht es mir eher... Respekt.“ Er wollte nicht sagen, dass er sich vor dem Ungewissen fürchtete, besonders nicht bei diesem Mann. Aber er schien es dennoch zu wissen, er schmunzelte leicht. „Es wird eine gewisse Umstellung mit sich bringen, aber bislang hat das noch jeder Schüler geschafft. Ich zweifle nicht daran, dass du das auch kannst.“ Die Worte beruhigten Anthony ein wenig. Raymonds nächste Frage verwunderte ihn allerdings: „Warum wollte dein Heim dich eigentlich unbedingt loswerden?“ Mit geneigtem Kopf sah er den Direktor an. Hatte etwa keiner etwas davon erzählt? Wahrscheinlich hatte man befürchtet, ihn doch nicht loszuwerden, wenn man erzählte, was er angeblich alles anstellen sollte. „Im Pflegeheim sind einige seltsame Dinge geschehen, die man mir untergeschoben hat.“ „Seltsame Dinge? Kannst du das näher definieren?“ Anthony versuchte, sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, was alles geschehen und mit ihm in Verbindung gebracht worden war. Es waren in den elf Jahren, die er dort verbracht hatte, doch einige Dinge gewesen, die ihm zur Last gelegt worden waren. Schließlich erzählte er Raymond von Einbrüchen ins Sekretariat, Lärmbelästigungen in der Nacht, dem Zerstören fremden Eigentums – und dem gleichzeitigen Klingeln aller Telefone im Gebäude. Es waren noch wesentlich mehr Dinge geschehen, aber diese behielt er wohlweislich für sich. An einiges davon wollte er nicht einmal mehr denken. „Warum machen sie dich für all das verantwortlich?“, hakte Raymond mit gerunzelter Stirn nach. „Wenn ich das wüsste... Vermutlich war ich immer zur falschen Zeit am falschen Ort.“ „Sagt man das so?“ Dieses Mal neigte der Direktor nachdenklich den Kopf. Anthony hob eine Augenbraue. Denkt er jetzt wirklich darüber nach, ob man das Sprichwort so sagt? „Na ja, wie auch immer“, meinte Raymond schließlich. „Nun bist du hier und wirst hoffentlich für keinen Ärger sorgen.“ Ich werde mich hüten. Noch einmal konnte er auf einen Umzug verzichten, so viel war sicher – außerdem war ihm der Direktor bislang sympathisch. Er führte Anthony in eine Hochhaussiedlung, dass dem Jungen ganz schwindelig wurde, als er den Kopf in den Nacken legte und versuchte, die Gebäude näher zu betrachten. Es waren nicht nur graue Betonklötze, wie jene in den Filmen, die sie im Heim gesehen hatten, stattdessen bestanden sie aus edlem Chrom und Glas, was sie schön anzusehen machte und sie schienen tatsächlich bis in den Himmel zu reichen. Es fiel Anthony schwer, den Blick wieder abzuwenden, um die Grünanlage und die Bänke zu bemerken. Alles wirkte teuer und gepflegt als ob es jemandem sehr wichtig war, dass alles perfekt aussah. Möglicherweise sogar Raymond selbst. So sehr er auch mit Staunen beschäftigt war, etwas störte Anthony doch an dem Anblick: „Wo sind denn alle?“ Eine beunruhigende Stille herrschte in der Siedlung, außer ihnen lief niemand auf den hellen Wegen, die alle Häuser miteinander verbanden. Fast schon bekam er den Eindruck, dass dies nur eine Mustersiedlung war, in der niemand lebte und auch die Pflanzen nur künstlich waren. „Heute ist Sonntag“, antwortete Raymond nachdenklich. „Vermutlich sind alle zu Hause oder auf dem Trainingsgelände... oder in der Bibliothek. Wie sagt man so schön? Der fleißige Vogel bekommt den Preis.“ Ich glaube nicht, dass man das so sagt. Doch Anthony widersprach ihm nicht, sondern folgte ihm stattdessen wortlos zu einem bestimmten Haus, vor dem sie wieder stehenblieben. Während Raymond etwas in seiner Tasche suchte, ließ Anthony seinen Blick über die unzählig erscheinenden Klingelschilder schweifen. Er versuchte, sich einige der Namen einzuprägen, doch da er keinen davon mit einem Gesicht in Verbindung bringen konnte, blieb keiner haften. Lediglich sein eigener Name stach ihm ins Auge, er schien fast schon glühend hervorzustehen, als ob jemand nur diesen einen Namen mit Leuchtmarker geschrieben hätte. Triumphierend zog Raymond eine Karte aus seiner Tasche hervor, mit der er die Tür öffnete. „Das ist ein schuleigener Universalschlüssel, damit ich bei Bedarf jederzeit in die Wohnungen kann.“ „War schon oft Bedarf daran?“, fragte Anthony neugierig. Je länger er mit dem Direktor verbrachte desto leichter fiel es ihm, seinen eigenen Schatten zu überspringen und Fragen zu stellen, die ihm auf der Zunge brannten. Zuvor hatte er diese eher hinuntergeschluckt, aus Angst, dass der Gesprächspartner genervt reagieren würde, doch bei Raymond schien ihm die Gefahr um einiges geringer. „Hin und wieder, ja. Aber nichts Schlimmes, meist ging es nur darum, die Ordnung zu überprüfen. Wir wollen unsere Schüler nämlich auch dazu anhalten, sauber zu leben.“ Gut, damit habe ich kein Problem. Es fiel ihm nicht sonderlich schwer, für Ordnung zu sorgen, mit Sicherheit würde er das auch in einer eigenen Wohnung schaffen. Der scharfe Geruch eines Putzmittels biss ihm in die Nase, als er gemeinsam mit Raymond das Treppenhaus aus dunklem Marmor betrat. Der Direktor erklärte ihm, dass regelmäßig eine Putzkolonne für die Sauberkeit im Flur sorgte, so dass jeder Schüler nur für seine eigenen vier Wände verantwortlich war. Mit einem Aufzug fuhren sie in den siebten Stock hinauf. „In deiner Wohnung lebte bis vor kurzem ein anderer Absolvent“, erklärte Raymond auf dem Weg nach oben. „Die meisten der Möbel stammen noch von ihm, behandle sie also gut, wir kaufen dir keine neuen.“ Anthony nickte verstehend. Langsam irritierte es ihn, dass der Direktor immer von wir sprach. Gab es vielleicht doch noch mehr Leute in der Kopfposition der Schule? Oder sprach er im Namen anderer? Er fragte nicht danach, sondern tat es schließlich einfach als Eigenart oder Tradition ab. Im siebten Stock angekommen durchquerten sie den Flur und kamen dabei an vielen Türen vorbei, hinter denen nichts zu hören war. Möglicherweise war wirklich niemand da. Anthony überlegte, ob er sich seinen Nachbarn zumindest auf dieser Etage vorstellen sollte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. War es nicht schon genug, wenn er von seinen Mitschülern eventuell als Freak abgestempelt werden würde? Da konnte er es sich sparen, dass seine Nachbarn das auch tun würden. Am Besten war es wohl, wenn keiner von ihnen ihn kennenlernen würde. Raymond öffnete die Tür, an der Anthonys Name stand und bat ihn betont höflich hinein. Fast schon ehrfürchtig trat er in die Wohnung, die nun seine werden sollte. Allein schon der dunkelblaue Teppich – es war das erste Mal, dass er einen Teppich in einem Wohnzimmer sah – ließ ihn staunen. Am Liebsten hätte er sich auf den Boden gelegt, um festzustellen, ob er wirklich so weich war, wie er aussah. Rechts vom Eingang ging es direkt in die Küche, die groß genug war, um einer Kochzeile, einem Kühlschrank, einer Spülmaschine und einer Arbeitsplatte Platz zu bieten. Raymond öffnete den Kühlschrank und warf einen prüfenden Blick hinein. Noch ein wenig zurückhaltend strich Anthony über die Arbeitsplatte, so ganz konnte er noch nicht fassen, dass dies nun ihm gehören sollte. „Gut, sie haben den Strom angestellt, als sie die Lebensmittel gebracht haben.“ Anthony sah ebenfalls in den Kühlschrank. Abgepackte Wurst und Käse fielen ihm direkt ins Auge, genau wie eine Packung Milch – ansonsten war das Gerät leer. „Du kannst dir jederzeit selbst was kaufen“, erklärte Raymond, als er den Kühlschrank wieder schloss. „Monatlich bekommst du eine gewisse Summe überwiesen, von der erwartet wird, dass du sie dir einteilst – mehr bekommst du nicht.“ Er winkte Anthony mit sich ins Wohnzimmer, wo der Junge endlich seine Tasche und den Schwertkoffer ablegte. Auf einem Esstisch lag ein Umschlag auf einem Blatt Papier. Raymond hob beides hoch und machte sich an dem Umschlag zu schaffen. „Bevor du dich genauer umsiehst, erkläre ich dir hier noch einige Dinge. Das hier“ – er zog eine Karte hervor – „ist dein Schlüssel für das Haus und die Wohnung. Vergiss sie besser nicht. Sollte das doch mal passieren, kannst du einen Lehrer oder den Hausmeister bitten, dich wieder reinzulassen – aber mach das besser nicht zu oft, das wird alles vermerkt. Wenn du sie verlierst, kommst du zu mir, ich gebe dir eine Ersatzkarte und bestelle dir eine neue – das kostet dich dann aber eine gewisse Summe.“ Er reichte Anthony die Karte. Der Junge schluckte, als er sich das Plastik, auf dem sein Name und eine Nummer aufgedruckt war, ansah. Hoffentlich verliere ich sie wirklich nie, bislang hatte ich so etwas noch nicht. Raymond zog eine weitere Karte aus dem Umschlag. „Das hier wiederum ist deine Geldkarte. Damit kannst du in jedem Laden in Lanchest einkaufen und auch in Restaurants und Cafés bezahlen. Verlier sie besser nicht, diese Karte ist wesentlich teurer und es gibt keinen Ersatz, bis die neue Karte da ist – der einzige Schüler, dem das bislang geschehen ist, musste sich wochenlang bei seinen Mitschülern durchschnorren.“ Bei der Erinnerung daran rollte Raymond mit den Augen. Er übergab Anthony die Karte, wieder konnte der Junge sie nur ungläubig ansehen. Erneut fand er hier seinen Namen und diese Nummer vor, offenbar war es die Schülernummer von der dieser Wachmann gesprochen hatte. Es war eine absurd lange Zahlenfolge – wer sollte sich so etwas merken können? Als er merkte, dass Raymond darauf wartete, fortfahren zu können, steckte er die Karten hastig in sein Portmonee – sein erstes und einziges Geschenk seines Pflegeheims. Raymond gab ihm das Blatt Papier, das er noch in der Hand gehalten hatte. „Dies ist dein Stundenplan, halte dich so gut es geht daran. Solltest du einmal krank sein oder aus sonstigen Gründen nicht erscheinen können, ruf bitte im Sekretariat an und sag Bescheid. Die Nummer steht unter dem Plan – genau wie die Nummer deines Spinds in der Schule, so wie die Kombination dafür. Du findest deine Unterrichtsmaterialien in diesem Spind.“ Anthony nickte verstehend, Raymond wirkte darüber äußerst zufrieden. „Gut, dann mal weiter...“ Er machte eine ausholende Handbewegung, die das Wohnzimmer einschloss und dafür sorgte, dass der Junge sich weiter umsah. Vor einem Fernseher stand ein gemütlich aussehendes Sofa mit dunklem Polster, ein Schrank, ein Regal und ein Vorhang verbargen den direkten Blick auf ein Bett. Erleichtert stellte Anthony fest, dass dies kein billiges Bett aus Spanholz war wie im Pflegeheim, sondern tatsächlich aus teuer aussehendem und belastbaren Holz bestand. Als er sich wieder umdrehte, fiel sein Blick direkt auf eine Glastür, die auf einen kleinen Balkon hinausführte. Erstaunlicherweise konnte er direkt auf den Bahnhof sehen. Zuletzt machte Raymond ihn noch auf eine Tür aufmerksam, die in das kleine Bad führte – gut, es war eine kleine Nasszelle mit einem Waschbecken, einer Toilette und einer Dusche, aber für Anthony erschien es bereits wie ein Stück Himmel. Im Pflegeheim hatte es nur Gemeinschaftsduschen gegeben und selbst die Toiletten waren in einem großen Raum gewesen, nur durch Holzwände voneinander getrennt – man war nie wirklich allein gewesen. „Du siehst begeistert aus“, stellte Raymond zufrieden fest. „Bin ich, Sir“, bestätigte Anthony. Der Direktor lachte leise und amüsiert, als er wieder mit ihm zur Wohnungstür zurückging. Der Junge erkannte erst in dem Moment, dass ein weiteres Blatt an dieser hing. „Das ist die Hausordnung“, erklärte Raymond sofort. „Halte dich an sie, wenn du keinen Ärger bekommen willst. Die Hausmeister hier achten sehr genau auf die Einhaltung.“ Er verzog das Gesicht als erinnerte er sich daran, wie genau diese Hausmeister darauf achteten. Doch hastig schüttelte er den Kopf wieder. „Nicht so wichtig. Mhm, bevor ich gehe...“ Anthony seufzte innerlich, als er daran dachte, dass er gleich das erste Mal vollkommen allein sein würde, obwohl er sich gerade an die Anwesenheit des Mannes gewöhnt hatte. Die folgenden Worte schienen ihm allerdings extrem schwer zu fallen. „Im Namen meiner Frau... möchte ich dich heute bei uns zum Abendessen einladen. Sie möchte... dich unbedingt... kennenlernen.“ „Weswegen?“, fragte Anthony perplex. Er empfand sich selbst nicht unbedingt als unangenehmen Zeitgenossen, aber auch nicht als Person, die man unbedingt kennenlernen musste, weswegen es ihn brennend interessierte, wieso gerade die Frau des Direktors das wollte. Raymond schien nach den passenden Worten zu suchen. Je länger er mit der Antwort zögerte desto größer wurde der Verdacht in Anthony, dass der Direktor ihn nicht sonderlich mochte und ziemlich verärgert darüber war, dass seine Frau ihn zu so etwas drängte. „Ist schon okay, Mr. Lionheart“, sagte Anthony schließlich, um das zu beenden. „Sagen Sie Ihrer Frau doch einfach, es ginge mir nicht gut.“ Doch hatte er erwartet, dass Raymond davon erleichtert sein würde, wurde er davon enttäuscht: Der Direktor wurde lediglich blass um die Nase und schüttelte den Kopf. „Nein, nein, das ist schon in Ordnung, es stört mich nicht. Es könnte vielleicht eher dich stören, wenn du meine Töchter triffst.“ Er lächelte ein wenig verlegen, als Anthony den Kopf neigte. Er hat... Töchter? Gut, es überrascht mich schon, dass er eine Frau hat, aber auch noch Töchter? Sich räuspernd schob Raymond seine Brille zurück. „Jedenfalls will meine Frau dich kennenlernen, weil sie quasi jeden Schüler kennt. Sie ist Erzieherin bei den Kindergartenkindern – und nun von dem Gedanken besessen, dass sie auch jeden nachträglich dazugekommenen Schüler kennen müsste.“ Er lachte spöttisch, wobei Anthony das Gefühl überkam, dass es nur gespielt war. Aber möglicherweise redete er immer so über seine Familie, weil es ihm unangenehm war oder vielleicht mochte er sie auch nicht... Er konnte den Direktor schwer einschätzen. „Ähm, gut, unter den Umständen komme ich gern.“ Schon allein weil es sich nach einer guten Mahlzeit anhörte und genau das konnte er an seinem ersten Abend in dieser Stadt brauchen. Raymond lächelte deutlich erleichtert. „Gut, da wird sie sich freuen.“ Er reichte dem Jungen seine Visitenkarte und erklärte ihm, wie er am besten zu der angegebenen Adresse kommen würde, bevor er ihm die entsprechende Uhrzeit nannte. „Wenn du dann heute Abend kommst, erkläre ich dir, wie du morgen zur Schule kommst.“ „Vielen Dank, Sir.“ Der Direktor lächelte wieder amüsiert, offenbar gefiel es ihm, so respektvoll angesprochen zu werden. „Dann gewöhne dich ein wenig an deine neue Wohnung. Bis später.“ Als sich die Tür hinter ihm schloss, legte sich Stille auf Anthonys Ohren. Vollkommene, ungetrübte Stille, was ein Lächeln auf sein Gesicht zauberte. Er fuhr herum und schwebte geradezu ins Wohnzimmer hinüber. In einer Ecke konnte er zwei Kartons entdecken, in denen sich seine wenigen Habseligkeiten aus dem Heim befanden – sie waren immerhin bereits vor wenigen Tagen vorgeschickt worden und offenbar gut angekommen. Doch mehr als einen flüchtigen Blick warf er nicht darauf. Stattdessen ließ er sich auf das Sofa fallen und lehnte sich höchst zufrieden zurück. Dies war nun seine Wohnung – und das signalisierte den Beginn seines neuen Lebens. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)