Götterhauch von Flordelis (Löwenherz Chroniken III) ================================================================================ Kapitel 37: Du musst an dich glauben. ------------------------------------- Er hörte seinen Namen wie aus weiter Ferne an sein Ohr dringen. Aber eigentlich wollte er dem gar nicht zuhören, er fühlte sich viel zu wohl in dieser angenehm warmen Umarmung, die eigentlich keine solche war. Er spürte keine Arme um sich, aber dennoch hatte er das Gefühl, dass jemand ihn gerade sanft wiegte, damit er schlafen könne. Die Stimme, die an sein Ohr drang, war die von Marc, das konnte er erkennen. Aber dennoch war es ihm nicht möglich, auszumachen, was sein Freund sagte. Er klang nur so sorgenvoll, dass ihm die Brust eng wurde, während er ihm lauschte. Doch plötzlich schwand die bis dahin empfundene Wärme, die Umarmung wurde gelöst und wer immer ihm Trost und Halt gegeben hatte, war verschwunden. Er fragte sich, was er getan hatte, um das zu verdienen, warum er alleingelassen worden worden war. Doch noch in diesen Fragen versunken, spürte er plötzlich eine Hand an seiner Schulter, gefolgt von einer anderen Stimme, die er auch gut kannte: „Anthony, wach auf.“ Widerwillig öffnete er endlich die Augen und erblickte Kai, so wie er ihn damals – eigentlich erst vor kurzem und doch erschien es ihm gerade wie eine Ewigkeit – in seinem Traum gesehen hatte. Er wollte ihn fragen, was er hier machte, bekam dann aber das Gefühl, dass er viel eher fragen müsste, wo er überhaupt war. Sich umsehend erkannte er, dass sie sich auf einem scheinbar endlosen Feld befanden. Das knöchelhohe Gras wehte in einem nicht spürbaren Wind, die vereinzelten Bäume besaßen keinerlei Laub mehr, ihre kahlen Äste waren wie Finger, die sich hilfesuchend nach dem lavendelfarbenen Himmel ausstreckten, nur um ignoriert zu werden. Ein Anblick, der Anthony seltsamerweise mit Melancholie erfüllte, statt mit einem Gefühl von Furcht, wie es eigentlich sein sollte – glaubte er jedenfalls. „Du fragst dich bestimmt, wo du bist?“, kam Kai seiner Frage zuvor und half ihm dabei auf die Füße. „Das hier ist dein Unterbewusstsein. Schön hier, oder?“ Anthony wollte gerade zustimmen, als er hinter sich blickte und überrascht zurückwich. Ein Kokon, gesponnen aus silber-weißen, hauchzarten Fäden, befand sich an dieser Stelle. Er war verwurzelt in der Erde, während ein dicker Ast ihm als oberer Halt diente. Und er war aufgebrochen, als wäre etwas aus seinem Inneren herausgekommen. Aber er glaubte nicht, dass es sich dabei um einen Schmetterling handelte. „Was ist das denn?“, fragte er. „Ein Kokon“, antwortete Kai ruhig. „In dem hast du bis eben geschlafen. Ladon muss dich dort eingesperrt haben, damit er in Ruhe handeln kann.“ Anthony wandte sich ihm wieder zu, das Gesicht vollkommen farblos. Allein sich vorzustellen, dass er darin geschlafen hatte, dass die Wärme, die er bislang gespürt hatte, nur von diesem Kokon herrührte, erfüllte ihn mit einem Gefühl von Abneigung. Aber auch noch mit etwas anderem: Erkenntnis. Er wollte sich dafür entschuldigen, dabei versagt zu haben, den Gott weiter zu unterdrücken – was wohl seine Aufgabe gewesen war, wie er zu spüren glaubte – aber Kai schnitt ihm das Wort ab: „Wir müssen uns jetzt beeilen, um zu dem Ort zu kommen, wo er sich gerade aufhält.“ Wenn er schon sagte, dass sie sich beeilen müssten, wollte Anthony erst einmal nicht noch mehr Zeit verschwenden, also schloss er sich Kai ohne Umschweife an, als dieser sich in Bewegung setzte. Woher auch immer er wusste, in welche Richtung sie laufen mussten, denn für Anthony sah alles hier vollkommen gleich aus. Endlose Grasflächen, kahle Bäume, keine weiteren Kokons, aber Kais Richtung war absolut zielsicher, quasi als spüre er, wohin es gehen sollte, während es Anthony unmöglich war, das Gefühl ebenfalls zu spüren. Deswegen zweifelte er daran, dass sie sich wirklich auf dem richtigen Weg befanden. Doch je weiter sie liefen, desto mehr änderte sich die Umgebung. Der Himmel färbte sich golden, das Gras verschwand, wurde ersetzt durch Stahl und Messing und schon bald befanden sie sich im Inneren eines Uhrwerks. Zahlreiche riesige Zahnräder waren hier angebracht, drehten sich immerzu und griffen nahtlos ineinander. Er musste den Kopf in den Nacken legen, um eine Plattform in einiger Höhe zu entdecken. Wenn er sich nicht täuschte, befand sich ihr Ziel ganz dort oben – zumindest fühlte es sich so an, als würde eine Energie von dort oben herabströmen, stärker als alles, was er jemals zuvor gespürt hatte. „Was ist das denn hier?“, fragte Anthony irritiert. „Wer weiß?“, erwiderte Kai. „Vielleicht eine Versinnbildlichung des Verstandes, immerhin ist ein Uhrwerk gut dafür geeignet, wenn du mich fragst.“ Er lächelte ihm zu, doch Anthony stand nicht der Sinn danach, es zu erwidern. Also wandte Kai sich wieder ab und fort: „Aber nichtsdestotrotz sollten wir nach oben gehen. Er ist dort.“ „Was sollen wir denn tun, wenn wir ihn treffen?“ Anthony konnte nicht verhindern, dass er dabei ein wenig verzweifelt klang. Die Aussicht, einem Gott zu begegnen, erfüllte ihn nicht gerade mit Zuversicht, selbst wenn sie eigentlich ein Teil von eben diesem waren und damit im Grunde über dieselben oder zumindest ähnliche Kräfte verfügen müssten. Kai wandte sich ihm noch einmal zu, sah ihn aber nur schweigend an. Je länger er das tat, desto unangenehmer fühlte Anthony sich. Am liebsten hätte er sich direkt irgendwohin verkrochen, nur um diesem Blick ausweichen zu können. Rasch entschuldigte er sich daher bei ihm, worauf Kai sich zufriedengab und seinen Weg fortsetzte. Anthony folgte ihm wieder und betrachtete dann interessiert, wie geschickt es dem anderen gelang, die Zahnräder zu nutzen, um sich einen Weg nach oben zu bahnen. Dabei sprang er stets zwischen den zwei Gerüsten mit den Rädern hin und her, um nicht aus Versehen zerquetscht zu werden. Er selbst glaubte nicht, das wirklich schaffen zu können, er war bei weitem nicht derart elegant. Schon allein bei dem Anblick fühlte er sich unglaublich schwer und ungeschickt. Noch während er das dachte, hörte er plötzlich Kais Stimme, als stünde er noch immer neben ihm: „Das hier ist dein Innerstes. Wenn du denkst, dass du es nicht schaffst, wirst du es auch nicht. Du musst an dich glauben.“ Aber wie sollte er das, wenn er überzeugt war, untauglich hierfür zu sein? „Kannst du nicht einfach allein gehen?“, fragte Anthony. „Ich bin sicher, du kannst das auch allein.“ „Warum macht dich das so sicher?“ „Du hast schon viel mehr gekämpft als ich.“ Es war irgendwie surreal, eine Unterhaltung mit jemandem zu führen, der bereits ganz oben, in mindestens hundert Meter Höhe, auf der Plattform saß und nur noch zu ihm herabsah, sich dabei aber anhörte, als wäre er keine zwei Meter entfernt. „Und wenn ich dir sage, dass ich auch kaum gekämpft habe?“ Skeptisch zog Anthony die Brauen zusammen. Ganz offensichtlich konnte er das nicht glauben und wollte ihn das auch wissen lassen, auch wenn er daran zweifelte, dass Kai das sehen konnte. Doch er konnte es scheinbar, denn er neigte ein wenig den Kopf. „Warum glaubst du mir nicht? Du solltest wissen, dass es mir, gerade hier, nicht möglich ist, dich zu belügen. Ich sage die Wahrheit. In meinem Leben habe ich genausowenig gekämpft wie du. Es kommt nur darauf an, dass du an dich glaubst – und dass du weitermachst.“ Aber wie sollte er an sich glauben, wenn er sein ganzes Leben lang gelernt hatte, dass er es nicht tun sollte? Dass er schwach und hilflos war. Auch wenn er sich nicht an viel aus seiner Zeit im Waisenhaus erinnerte, so war ihm doch die Hilflosigkeit noch gut im Gedächtnis. Kai stand nicht auf, um ohne ihn weiterzugehen, und er schalt ihn auch nicht. Stattdessen nickte er sogar verstehend. „Wenn du nicht an dich selbst glauben kannst, musst du nur an jene denken, die an dich glauben. Es gibt mindestens eine solche Person hier ganz in der Nähe.“ Anthony nahm an, dass er von sich selbst sprach, aber da echote plötzlich eine ganz andere Stimme durch das Reich: „Ich glaube fest daran, dass Tony noch da ist und ich vertraue ihm. Er würde mir niemals etwas antun. Deswegen glaube ich nicht, dass du mich töten wirst.“ Es war Marc, ganz eindeutig. Anthony erkannte die Stimme sofort, auch weil er ihn zuvor im Kokon gehört hatte. Aber es war vollkommen unmöglich. Er hatte selbst gesehen, wie Marc gestorben war. Bildete er sich seine Stimme dann vielleicht nur ein? „Marc glaubt an dich“, sagte Kai. „Du kannst ihn jetzt nicht einfach im Stich lassen.“ Wieder wollte er erwidern, dass es sinnlos war, dass er niemandem helfen konnte, selbst wenn Marc an ihn glaubte. Aber da spürte er bereits ein warmes Gefühl in seinem Inneren. Wieder kam es ihm vor, als wäre er in eine Umarmung gehüllt worden, die ihn diesmal nicht mehr gehen lassen wollte. Er spürte die Gedanken zahlreicher Menschen in seinem Inneren. All jener, die ihn in dieses Gebilde begleitet hatten, jene von Raymond und Alona, die längst in Sicherheit waren, jene von Joel und Ethan, die in der Akademie waren und dort die Schüler beschützten, jene von Leen und Alexander, die versuchten die ehemaligen Peligro-Bewohner zu bändigen – und ganz besonders jene von Heather, die bei ihren Eltern saß und ihn darum bat, vorsichtig zu sein und bald zurückzukommen. Das warme Gefühl erfüllte seinen Körper und gab ihm die Illusion, so leicht zu sein, dass er es schaffen müsste, den Weg nach oben hinter sich zu bringen. Und wie eine Bestätigung erklang direkt neben seinem Ohr noch eine andere Stimme, die einer Frau, die er zuletzt in seinen Träumen gehört hatte: „Ich weiß, dass du das kannst, Tony. Du kannst alles schaffen, was du dir nur vornimmst.“ „Du bist die Hoffnung, die viele Menschen schon aufgegeben haben“, stimmte eine andere, männliche Stimme, die er ebenfalls kannte, zu. Er wusste, würde er nachsehen, wäre nichts zu sehen, denn sie waren auch in seinem Kopf nicht wirklich da. Aber zu wissen, dass sie ihm Unterstützung gaben und ebenfalls an ihn glaubten, ließ seinen Körper derart leicht werden, dass er fast zu schweben glaubte. Seine Eltern lösten die Umarmung wieder, ohne ihm das Gefühl der Wärme zu nehmen. Nach einem leichten Stoß in den Rücken, den er, wie er glaubte, sicher seiner Mutter zu verdanken hatte, machte er sich auf den Weg nach oben. Genau wie Kai zuvor, sprang er leichtfüßig und behände von Zahnrad zu Zahnrad, ohne jedes Anzeichen von Furcht oder Versagensangst. Er wusste , dass er es schaffen konnte, also gab es keinerlei Grund, auch nur für eine einzige Sekunde zu zweifeln. Nicht einmal der Blick nach unten schaffte es, ihn glauben zu lassen, dass er das nicht könnte. Und nur wenige Sekunden nachdem er begonnen hatte, befand er sich bereits oben auf der Plattform, gemeinsam mit Kai. Dieser hatte sich inzwischen aufgerichtet und lächelte ihn anerkennend an. „Siehst du? Ich wusste doch, dass es geht.“ Statt etwas zu sagen, nickte Anthony nur lächelnd. Sein Blick wanderte über die Fläche, auf der sie sich befanden, hin zu einem großen, kreisförmigen Platz. In der Mitte desselben befand sich ein weiterer Kokon, dieser war aber noch nicht geöffnet. Die Außenhülle wirkte geradewegs perfekt und glitzerte in einem einfallenden Licht, dessen Ursprung Anthony unbekannt war, da es hier auch keinerlei Quelle dafür gab. Der Himmel jedenfalls verfügte über keine Sonne oder ähnliches. Die von dem Kokon ausgehende Energie war derart machtvoll, dass Anthony sich nur ehrfürchtig nähern konnte. „Ist er da drin?“ „Du kannst ihn doch spüren“, erwiderte Kai. „Wir sollten uns dem jetzt jedenfalls annehmen.“ Damit trat er bereits vor und ließ in derselben Bewegung eine blassgrüne Klinge aus Licht in seiner Hand entstehen. Mit dieser erschuf er in Sekundenschnelle einen Riss im Kokon, worauf sich eine Kaskade von blendender Helligkeit aus diesem ergoss. Anthony kniff die Augen zusammen und wartete darauf, dass es nachließ, doch bevor das geschehen konnte, hörte er noch einmal Marcs Stimme: „Hörst du, Tony?! Ich bin hier!“ Das entlockte ihm ein Lächeln und erfüllte ihn erneut mit Hoffnung und Kraft. Er ging ebenfalls näher an den Kokon heran, so dass er durch den Riss hineinsehen konnte. Ein Gesicht mit geschlossenen Augen war darin zu sehen, ein Mann, wenn er sich nicht täuschte. „Tony! Komm wieder zu dir!“, erklang Marcs Stimme erneut. „Wir brauchen dich hier! Tony!“ Kaum war seine Stimme verstummt, atmete Anthony tief durch – und im selben Moment schlug Ladon seine Augen auf. Mit einem erschrockenen Schrei fuhr Anthony wieder zurück. Auch Kai wich einen Schritt nach hinten, als der Kokon sich weiter öffnete, diesmal ohne Licht zu entlassen. Ladon stieg vorsichtig und gleichzeitig überraschend elegant heraus, so als hätte er bis eben nicht darin geschlafen. Der Gott sah aus wie Kai, nur mit zwei Ausnahmen: Sein Haar war vollkommen weiß und seine Augen silbern. Seine Kleidung bestand aus einer grauen Hose und einer ebenso grauen Robe, die im Schritt gespalten war, so dass sie an beiden Körperseiten herabfiel. „Was tut ihr hier?“, fragte er, mit einer Stimme, die Ehrfurcht verlangte. „Wir sind hier, um dich aufzuhalten“, erwiderte Kai, ohne ihm den Gefallen zu tun, ihm dieses Gefühl zu zeigen. Ladons Augen durchbohrten ihn, aber er gab nicht im Mindesten nach. Also widmete der Gott sich Anthony, der sich durchaus eingeschüchtert fühlte, aber nicht gewillt war, wirklich nachzugeben. Stattdessen erwiderte er den Blick von Ladon. „Ich stimme Kai zu. Wir werden verhindern, dass du etwas tust, das den Menschen schadet.“ „Warum interessierst du dich für die Menschen?“, fragte Ladon. „Du bist in einem Waisenhaus aufgewachsen, wenn ich mich recht erinnere. In dem dir dieser Kerl, der behauptet hat, ich zu sein, versucht hat, auszutreiben, Menschen zu mögen.“ „Das war wohl nicht sehr erfolgreich.“ Ladon runzelte die Stirn. „Wie kann es nur sein, dass ich in jemandem wie euch wiedergeboren werde? Alles, was ich will, ist, eine neue Ordnung zu schaffen, die allen Menschen zugute kommt.“ „Indem du alle anderen dafür opferst“, sagte Kai. „Genau das ist es, was wir nicht zulassen können.“ „Sentimentalität wird euch nirgendwohin führen. Aber bitte, wenn ich das Recht des Stärkeren erst durchsetzen muss ...“ Damit entstand in seiner Hand ebenfalls eine Klinge aus Licht, die allerdings silbern war. Anthony dagegen trat erneut einen Schritt zurück, um dem Kampf nicht im Weg zu stehen. Und bei der Geschwindigkeit, in der dieser stattfand, hätte er garantiert nicht helfen können. Es war ihm lediglich möglich, Lichtblitze zu sehen, die aufeinander trafen und wieder voneinander abprallten, nur um sich erneut gegenseitig anzuziehen. Aber einfach nur zuzusehen gefiel Anthony nicht, deswegen blickte er sich suchend um, in einem Versuch, herauszufinden, ob er auch irgendetwas tun könnte. Er durfte nicht zulassen, dass Ladon seinen Plan verwirklichte, auch wenn er diesen noch nicht verstand. Das hier war rechtmäßig sein Körper, also müsste es in seiner Macht stehen, etwas zu erschaffen, das Ladon auch in diesem einsperrte und ihn handlungsunfähig machte. Er konzentrierte sich, versuchte eine Lösung zu finden – und daraufhin entstand ein großes Tor mitten auf der Plattform. Es sah nicht so aus, als ob es irgendwohin führen und damit hilfreich sein würde, aber er wusste, dass es genau so war, weil er es wollte. Am Rand des Kampfplatzes, auf dem immer noch farbige Blitze gegeneinander zu kämpfen schienen, entlanglaufend, kam er bei dem Tor an, das er ohne Umschweife öffnete. Wie er sich erhofft hatte, war dahinter nicht mehr die Plattform zu sehen, sondern eine gänzlich andere Welt. Es mutete wie eine Höhle an, mit einem hellen Kristall ab der Decke, der für ausreichend Licht sorgte, dazu mehrere kleine Inseln aus schwarzem Sand im dunklen Wasser. Es wirkte wie ein geeignetes Gefängnis für einen Gott, der keine Macht mehr über einen haben sollte. Als ihm das bewusst wurde, fuhr er zu den beiden Kämpfenden herum. Da sie sich in einem Patt befanden, war es ihm sogar möglich, sie zu sehen. Ihre Waffen schienen regelrecht ineinander verhakt, so verbittert standen sie sich gegenüber. Ladon befand sich mit dem Rücken zu ihm und konnte das Tor daher nicht sehen. Anthony wollte Kai ein Zeichen geben, doch der andere verstand nach einem kurzen Blick auch so, was zu tun war. Seine weiteren Angriffe, mit wesentlich mehr Kraft durchgeführt als jene zuvor, dienten dazu, Ladon weiter zurückzudrängen. Der Gott, vollkommen eingenommen von seiner Hybris, bemerkte das nicht einmal und ließ daher sogar zu, dass dies geschehen könnte. Schließlich, nur noch wenige Meter vom Tor entfernt, ließ Kai seine Klinge verschwinden, packte Ladon an den Schultern und riss ihn mit sich in dieses neu erschaffene Gefängnis. Der Gott stieß einen wütenden Schrei aus und versuchte sich wieder loszureißen, doch Kais Griff blieb eisern. „Schließ das Tor, Anthony!“, befahl er stattdessen. Aber er zögerte. Wenn er das wirklich tat, wäre Kai mit Ladon eingeschlossen, möglicherweise für immer. Er wusste nicht, ob er das wirklich verantworten konnte, besonders wenn der Gott so wütend blieb, wie im Moment. Er tobte, schrie und ließ sogar Funken sprühen, die Kais Gesicht aufschnitten, als wären es Glassplitter. „Tu es!“, forderte er noch einmal. „Mach dir keine Sorgen um mich, ich schaffe das. Dafür wurde ich geboren, schon vergessen?“ Auch das wollte Anthony ablehnen, ihm sagen, dass es noch viel mehr Gründe gab, weswegen er bei ihm war, aber es gelang ihm nicht. Kais Blick war derart eindringlich, dass er nur noch nicken konnte. Dann begann er, das Tor, das plötzlich um so viel schwerer wirkte, wieder zu schließen. Kurz bevor es gänzlich geschlossen war, konnte er noch einen letzten Blick auf Kai erhaschen, der ihn anlächelte. „Lebe, Anthony.“ Dann fiel das Tor zu und verschwand so plötzlich, wie es gekommen war. Nun vollkommen allein, sah er sich um, fragte sich, was er tun sollte. Stück für Stück löste sich dann auch die restliche Umgebung auf, indem sich glitzernde Splitter von ihr ablösten und nach oben in den Himmel verschwanden. Schließlich stand er in weißen Nichts, umgeben von Nebel, der ihm jegliche Sicht nahm. Er legte den Kopf in den Nacken und stieß ein leises Seufzen aus. „Ich schätze, ich muss dann wohl ... einfach vertrauen.“ Anthonys Körper fiel zu Boden und blieb reglos liegen. Im selben Moment fielen die Fesseln von allen Gefangenen ab, die auch sofort wieder die Möglichkeit fanden, sich zu bewegen. Marc befand sich zuerst an Anthonys Seite und kniete sich neben ihn. Seline kümmerte sich derweil um Russel, der leise seufzte und seinen Nacken ein wenig lockerte. „Das war nicht unbedingt das, was ich unter einem guten Auftritt verstehe.“ Lächelnd klopfte sie ihm auf die Schulter. „Ich finde, du hast dich großartig geschlagen. Du hast eine ganze Weile länger durchgehalten als manch andere Person.“ Bei diesen Worten sah sie zu Ryu hinüber, der sich in einigem Abstand zu Anthony aufhielt und ihr daher keine Aufmerksamkeit widmete. Vincent stand neben ihm und beäugte den reglosen Körper ebenfalls misstrauisch, während Rena und Maryl sich bereits zu Marc begeben hatten. Ein leises Dröhnen fuhr durch das Gebäude, erschütterte es bis in die Grundfesten. Seline ließ den Blick ein wenig schweifen, aber obwohl nichts zu sehen war, wusste sie bereits, was das bedeutete: „Wir sollten gehen, dieses Ding ist nicht mehr sicher.“ Russel nickte ihr zu und sah dann zu den anderen. „Ist Anthony noch am Leben?“ Marc reagierte sofort: „Ja, ist er! Wir nehmen ihn doch mit, oder?“ „Natürlich“, sagte Rena, bevor einer der anderen antworten konnte. „Wir lassen Anthony doch nicht einfach hier. Was wären wir denn dann für Freunde?“ Seline musste unwillkürlich lächeln und auch Vincent schien dieser Beweis an Treue zu imponieren, denn er begab sich sofort neben Anthony, um diesen auf seinen Rücken zu nehmen. Als er sich wieder erhob, nickte er den anderen zu. „Wir können gehen.“ Mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht ging Seline voraus, um den Weg zu ebnen, sollte es noch eventuell vorhandene Feinde geben. Aber eigentlich war sie sich ziemlich sicher, dass der Rückweg wesentlich unkomplizierter verlaufen würde, als der Weg nach oben. Heather schlang die Decke ein wenig fester um ihren Körper, während sie betrachtete, wie das fremdartige Gebilde über der Stadt zu verschwinden begann. Stück für Stück lösten sich Teile, die dann in den Himmel schwebten und spurlos verschwanden. „Sie haben es wirklich geschafft“, stellte Raymond fest. Er saß auf einer Transportliege für Kranke, direkt neben dem dazugehörigen Wagen. Der Sanitäter kümmerte sich derweil um Alona, die sich eine Schnittwunde am Arm zugezogen hatte, obwohl sie darauf bestand, keine Behandlung zu benötigen. Sie saß auf dem Boden des Fahrzeugs, auf der Kante und bemerkte immer wieder, dass es vollkommen unnötig wäre, sich um sie zu kümmern. Der Mann besaß aber eine engelsgleiche Geduld und ließ sich davon nicht im Mindesten stören. „Das ist doch großartig, oder?“, fragte Heather. „Ich meine ... jetzt wird doch alles gut.“ Sie sah zu ihrem Vater hinüber, der noch immer die Stirn gerunzelt hatte. Aber anhand ihrer langen Erfahrung mit ihm, konnte sie sagen, dass er nicht skeptisch war, sondern nur darüber nachdachte, ob er dafür Belohnungen verteilen müsste und falls ja, in welchem Umfang. Schließlich erwiderte er ihren Blick allerdings. „Ja, ich denke, davon können wir ausgehen.“ Heather lächelte zufrieden. „Anthony hat dann wohl gute Arbeit geleistet.“ Und damit hatte er sogar ihre Erwartungen übertroffen. Hoffentlich würde er nun aber endlich einsehen, dass er nicht so schlecht war, wie er oft zu glauben schien. Raymond neigte den Kopf ein wenig. „Warum denkst du, dass es Anthony war?“ Sie wandte den Blick ab, sah wieder zu dem verschwindenden Gebäude hinüber und tippte sich an die Nase. „Nenn es weibliche Intuition, Dad~. Ich weiß es eben.“ An einem gänzlich anderen Ort, der von den Ereignissen unberührt schien, standen gläserne Särge mit Bildschirmen daneben, in einem mit Metall verkleideten Keller. Die Neonröhren flackerten und erhellten den Raum in einem hellen kalten Licht. Der Großteil der gut ein Dutzend Särge, die sich an die Wand reihten, war leer. Bei manchen von ihnen war das Glas gesplittert, was sie vollkommen unbrauchbar machte. Die Bildschirme dieser Särge waren deaktiviert. Lediglich einer war noch vollkommen intakt und mit einer grünen Flüssigkeit gefüllt, die keinerlei Blick hinein erlaubte. Der Bildschirm daneben zeigte funktionierende Vitalfunktionen. Ohne ersichtlichen Grund wurde dieses Motiv allerdings plötzlich durch die einfache Schrift Phase 2 eingeleitet ersetzt. Im selben Moment wurde die Flüssigkeit abgelassen, der Sarg öffnete sich. Und nur einen Atemzug später erschien eine Hand auf dem Rand des Sargs, gefolgt von einem leisen, röchelnden Husten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)