Götterhauch von Flordelis (Löwenherz Chroniken III) ================================================================================ Kapitel 34: Die Hexe und ihr Ritter ----------------------------------- Die schwarze Pyramide erschreckte Alona kaum. Sie kannte dieses Gebäude, auch wenn sie inzwischen keine guten Erinnerungen mehr damit verband. Es verwunderte sie nur, dass das Gebilde sich wirklich bewegen konnte und nun auch noch hier war, obwohl es das nicht sollte. Er muss das alles wirklich von sehr langer Hand vorbereitet haben. Und er muss sehr geduldig sein, wenn er derart lange warten konnte. Sie mühte sich erst gar nicht mit dem Vordereingang ab, sondern kletterte an der schwarzen Fassade hinauf, wobei ihr der Schal zur Hilfe kam, da er ihren Hals verließ und dann stets seine Form veränderte und es ihr dabei erlaubte, ihn als Fußstütze oder als Greifhilfe zu missbrauchen. Es war so lange her, dass sie diese Kleidung zuletzt gebraucht hatte und doch war ihr alles darüber noch äußerst gut im Gedächtnis, sie herrschte darüber, als wäre es nie anders gewesen – und als wäre nicht einst ihre Seele gerettet worden. Erst oben angekommen kehrte der Schal wieder an seinen Platz um ihren Hals zurück. Sie öffnete eines der Fenster und trat in das Gebäude hinein, wo sie sofort von einem Gefühl der Kälte ergriffen wurde. Es war als ob jegliche, positive Emotion direkt aus einem herausgezogen wurde, weswegen sie sogar zu zittern begann. In diesem Moment war ihr unbegreiflich, dass sie diesen Ort einst als ihr Zuhause bezeichnet hatte. Aber davon war ohnehin nicht mehr allzu viel übrig. Statt der Quartiere, in denen die GS-Mitglieder geschlafen hatten und die damals schon bar jeder Persönlichkeit gewesen waren, stand sie in einem Raum, in dem lediglich Maschinen standen, deren Zweck ihr unbekannt waren. Im Moment schienen sie aber auch nicht zu funktionieren, jedenfalls waren sie still und nicht erleuchtet. Aber egal in wie vielen Zimmern sie nachsah, überall war es dasselbe. Nach mir gab es wohl keine GS-Mitglieder mehr. Sie war selten auf der Website gewesen, daher wusste sie nicht, welche Mitglieder dort noch verzeichnet gewesen waren, aber außer ihr schien niemand anwesend zu sein. Dieser Ort war schon immer einsam gewesen, aber nun fühlte man sich hier wie der letzte Mensch auf Erden. Doch statt sich mit diesem deprimierenden Gedanken aufzuhalten, durchquerte sie den Gang, auf der Suche nach der Person, wegen der sie überhaupt gekommen war. Ihre Schritte hallten auf dem dunklen Marmorboden und kündigten jedem an, dass sie auf dem Weg war, was sie allerdings nicht im Mindesten störte. Wer sie erwartete, sollte ruhig auf ihren Zorn vorbereitet sein. Schließlich erreichte sie die Tür am Ende des Ganges und öffnete diese, worauf sie in einem wesentlich größeren Raum als denen zuvor landete, wovon der Großteil aber im Dunkeln lag. Er erinnerte an einen Thronsaal, ein dunkelblauer Teppich führte sogar zu einem Thron, auf dem eine Gestalt saß, die sie eigentlich nie mehr hatte sehen wollen. Der Großteil jener, die ihn kannten, bezeichneten ihn als Master, sie aber wusste davon nichts, sie kannte ihn nur als- „Garou ...“ Er lächelte amüsiert, wobei seine goldenen Augen geradewegs zu blitzen schienen. „Alona, es ist so lange her. Ich war richtig enttäuscht, als du beschlossen hast, uns zu verlassen. Aber noch viel mehr enttäuscht mich, dass du noch am Leben bist.“ „Ich verstehe das nicht.“ Er wedelte mit der Hand, als wolle er etwas verscheuchen. „Nicht weiter wichtig. Für dich ist nun wesentlich bedeutsamer, dass du diesen Ort nicht mehr verlassen wirst.“ Diese Drohung erschreckte sie nicht, stattdessen ließ sie den Blick schweifen, soweit sie es konnte. „Wo ist Raymond?“ Sie würde nicht ohne ihn gehen, aber sobald sie ihn erst einmal hatte, könnte es nichts mehr geben, das sie an diesem Ort hielt. Nie mehr. Doch das neuerliche amüsierte Lachen von Master, verriet ihr, dass es nicht so einfach werden würde. Eigentlich hatte sie sie ihn noch nie leiden können, alles an ihm musste Menschen einfach abstoßen. Dass er die Garou Society gegründet und versucht hatte, Mimikry zu bekämpfen, war auch nicht förderlich für seinen Ruf, wenn er das mit derartig unmenschlichen Methoden umzusetzen versuchte. Inzwischen verstand Alona auch durchaus, weswegen Joy so viel Abscheu für diesen Mann empfand. „Rufst du nach deinem Ritter, Hexe? Das dürfte dir nichts bringen, er wird nämlich dein Untergang sein.“ Damit winkte er jemandem in der Dunkelheit zu. Es war tatsächlich Raymond, der, dieser Aufforderung folgend, ins Licht trat. Er trug noch immer dieselbe Uniform wie auch während seiner Kampfansage zuvor, dazu hing das Drachenschwert an seiner Hüfte – aber wirklich irritiert war sie von seinem rechten Auge, das nicht länger blau, sondern golden war. Im Grunde genommen wollte sie auf ihn zugehen, seine Hand ergreifen und ihn mit sich ziehen, um von hier zu verschwinden. Aber sie spürte, dass es eine schlechte Idee war. Raymonds Aura war immer ein wenig außergewöhnlich gewesen – oft hatte sie sich gewünscht, seine Fähigkeit zu besitzen, einfach nur, um sehen zu können, wie seine Aura aussah, statt sie nur zu spüren – doch nun war es, als wäre sie vollständig verschwunden. Er bewegte sich noch, er atmete noch, aber wenn man von seiner nicht mehr vorhandenen Ausstrahlung ausging, war er bereits tot. „Ray, du wirst nicht ...“ Ihr blieb keine Gelegenheit, diesen Satz zu beenden. Master schnippte mit den Fingern, worauf Raymond ohne jedes Wort das Schwert zog. Alona wich zurück, legte ihre Hand aber auf den Griff ihres eigenen Schwertes. Sie wollte nicht gegen ihn kämpfen – auch weil sie durchaus wusste, dass seine Fähigkeiten ihre bei weitem überstiegen – aber so wie es im Moment aussah, würde sie nicht darum herum kommen. „Enttäusche mich nicht länger, Raymond“, sagte Master. „Bring mir endlich das Herz dieser verdammten Hexe!“ Im selben Atemzug, in dem ihr Feind sich auf sie zubewegte, sprang Alona zurück. Sie verließ den Raum und bewegte sich rückwärts durch den Gang, um von Raymond fortzukommen. Er setzte ihr nach, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. Sie wusste, dass er nur darauf wartete, dass sie einen Fehler machte – und dass sie Zeit benötigte, um zu überlegen, was sie tun sollte. Sie streckte die freie Hand aus, worauf Wellen durch den Gang zu laufen schienen. Doch Raymond ließ sich davon nicht beirren, stattdessen erwiderte er mit einer eigenen Schockwelle, die ihre nicht nur negierte, sondern sie auch noch selbst zurückwarf. Irgendwie schaffte sie es, nicht zu stürzen und wieder auf den Füßen zu landen, aber für eine Sekunde war sie unfähig, Luft zu holen, was Raymond erlaubte, wieder zu ihr aufzuschließen. Sie wich seinem Schwert und dann auch seiner Hand aus, damit er sie nicht packen könnte. Noch zu gut erinnerte sie sich daran, wie mühelos er sie bei ihrem letzten Kampf, damals, vor gut zwanzig Jahren, hatte in die Luft heben können, diesmal wollte sie der Situation aber entgehen, denn sie wusste, er würde bei dieser Gelegenheit nicht zögern. Wieder wich sie zurück und zog nun doch ihr Katana, um sein Schwert abzufangen. In dem Augenblick, in dem sie in dieser Pattsituation waren, wagte sie es, ihn anzusprechen: „Ray! Hör endlich auf mit dem Unsinn! Dieser Kampf führt doch zu nichts!“ Seine einzige Reaktion bestand darin, dass er noch mehr Kraft in seinen Schwertarm legte, weswegen sie nachgeben und wieder zurückweichen musste. Nachdem sie ein wenig Abstand zwischen sie beide gebracht hatte, schossen zahlreiche Wurzeln aus dem Boden und schafften damit eine Barriere, die ihr für kurze Zeit Schutz bieten könnte. „Ich weiß, dass du wütend bist, Ray“, versuchte sie es noch einmal. „Es tut mir auch leid, dass ich wegen dieser Sache ausgerastet bin. Also beruhige dich endlich.“ Es war lediglich Verzweiflung, die sie dazu bewog, es auf diese Weise zu versuchen, denn sie glaubte nicht, dass sie damit zu ihm durchdrang. Sein neutraler Blick änderte sich nicht im Mindesten, das goldene Auge, das einen Schauer in ihrem Inneren erzeugte, war unablässig auf sie gerichtet, er sagte nach wie vor kein Wort. Dafür begann er, mit dem Schwert auf die Wurzeln einzuschlagen, um die Barriere zu vernichten und endlich zu ihr zu kommen, um seine Tat zu vollenden. Darauf wollte sie aber nicht warten. Sie wirbelte herum und rannte weiter den Gang hinab, in der Hoffnung, dass ihr noch eine bessere Idee kommen würde. Das letzte Mal war er aus diesem seltsamen Zustand erwacht, weil er ohnmächtig geworden war. Aber damals war seine Aura ganz anders gewesen, damals war er noch Raymond gewesen, nun schien er niemand mehr zu sein, sie zweifelte daran, dass er nach einer Bewusstlosigkeit einfach wieder der alte sein würde. Allerdings war sie der festen Meinung, dass sie etwas tun musste. Sie konnte ihn nicht einfach sich selbst und seinem Schicksal überlassen, sie müsste nach jedem Strohhalm greifen, selbst wenn sie dafür gegen ihn kämpfen müsste. Sie hielt inne, als sie am Ende des Ganges angekommen war und sich vor einem offenen Schacht wiederfand, aus dem warme Luft strömte. Nichts in ihrer Erinnerung wies auf diesen hin, weswegen sie nicht wusste, was sie nun tun sollte. Sollte sie zurückgehen und riskieren noch einmal in eine Sackgasse zu laufen? Um hinabzublicken, beugte sie sich über den Schacht, aber sie konnte den Boden nicht erkennen, er verlor sich in der Dunkelheit, sie konnte nicht einmal feststellen, ob er überhaupt vorhanden war. In diesem Gebäude hätte es sie nicht im Mindesten überrascht, wenn der Schacht direkt in die Unterwelt führte. Schritte hinter ihr, sorgten dafür, dass sie sich wieder aufrecht hinstellte und sich umdrehte. Raymond lief, mit geduldigen Schritten, auf sie zu, offenbar im festen Glauben, dass es ohnehin keinen weiteren Fluchtweg für sie geben würde. Sie stand bereits so weit am Rand, dass sie nicht mehr zurückweichen konnte, nur ein Schritt und sie würde in den Schacht stürzen; sie wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Eine weitere Schockwelle auszusenden wagte sie nicht, denn sobald er mit einer eigenen kontern würde, wäre ihr Schicksal besiegelt. Aber wenn er sie angreifen würde ... Es war ihr nicht möglich, den Gedanken zu beenden, denn im selben Moment stürmte Raymond wieder auf sie zu, ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben. Sie hätte einfach ausweichen können, ihn in die Tiefe stürzen lassen, doch es gelang ihr nicht. Allein der Gedanke, ihn seinem Schicksal zu überlassen, fiel ihr so unendlich schwer, dass sie es nicht über sich bringen konnte, zur Seite zu treten. Stattdessen machte sie einen Schritt zurück – und war im nächsten Moment absolut schwerelos. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie tatsächlich, dass der warme Luftstrom verhinderte, dass sie fiel, doch schon einen Atemzug später, setzte die Schwerkraft ein und sie stürzte hinab. Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass Raymond ebenfalls in den Schacht gesprungen war und so wie er sie ansah, war er immer noch entschlossen, sie zu töten. Wie verdammt ungeduldig er manchmal sein kann – als ob ich das hier überleben könnte. Dennoch tat sie ihm den Gefallen und begab sich, mit einiger Mühe wieder in eine aufrechte Position. Somit schaffte sie es, seinem Schwert auszuweichen, aber nicht seiner folgenden Schockwelle, die sie direkt gegen die Wand schleuderte. Der Schal verformte sich und bildete einen Schutz, damit ihr Rücken nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Sie nutzte die Möglichkeit, um sich mit den Füßen von der Wand abzustoßen und Raymond nun selbst anzugreifen, doch er wehrte, selbst im Flug ihren Angriff noch mit Leichtigkeit ab, nur um sie erneut von sich zu schleudern. Aus Verzweiflung versuchte sie, einen Halt irgendwo im Schacht zu finden, doch die Wand war vollkommen glatt, er schien nicht einmal einen Zweck zu erfüllen, er existierte einfach nur. Raymond machte sich offenbar weniger Gedanken darum, er warf ihr nur eine neue Schockwelle entgegen, die sie dieses Mal nach unten drückte. Inzwischen konnte sie durchaus ein Licht ausmachen, das unter ihr immer heller wurde, also gab es durchaus ein Ende dieses Schachts. Auch der Schal konnte ihr in diesem Moment nicht mehr helfen und bildete erneut einen Schutz in ihrem Rücken, während sie sich auf den kommenden Aufprall vorbereitete. Raymond schien sich dagegen nicht einmal im Mindesten darum zu kümmern, dass er bald vollkommen schutzlos aufkommen würde und obwohl sie ihm helfen wollte, gelang es ihr während dieses Sturzes nicht einmal, einen klaren Gedanken für nur einen Zauber zu finden. Alona schloss die Augen, als das Licht noch heller wurde und hoffte, dass irgendein Wunder eintreten würde. Rena hatte recht behalten, die andere Gruppe, angeführt von Russel und Seline, war tatsächlich ebenfalls an der Pyramide eingetroffen. Das Gebäude selbst schwebte mehrere hundert Meter über dem Boden, aber eine durchsichtige, glitzernde Treppe, führte direkt zum Haupteingang hinauf. Vincents Blick war auf diesen gerichtet. „Ist es wirklich sicher, dort hineinzugehen?“ „Du kannst ja hier warten“, erwiderte Russel. „Wir brauchen dich ohnehin nicht.“ „Ich glaube nicht, dass er das kann“, sagte Maryl. „Spürst du das nicht?“ Anthony wollte sie fragen, ob sie dasselbe fühlen konnte, wie er, aber als er zu Heather hinübersah, bemerkte er, dass er keine Zeit dafür hatte. Ihr Fuß stand bereits auf der ersten Stufe, sie wollte unbedingt dort hinauf und warte, wie es aussah, rein aus Höflichkeit darauf, dass die anderen sich ihr anschlossen. Zu ihrem Glück blieb sie damit nicht allein, denn Ryu brachte schon die ersten drei Stufen hinter sich, dann blieb er wieder stehen und wandte sich ihnen zu. „Was auch immer es ist, wir müssen da rein. Immerhin geht es um Raymond ... und die ganze Stadt.“ Seline hatte den Arm in die Hüfte gestemmt und blickte mit gerunzelter Stirn ebenfalls hinauf. „Ich muss Vincent recht geben, ich habe kein gutes Gefühl bei dieser Sache. Aber wir müssen etwas unternehmen, das ist wahr.“ „Worauf warten wir dann noch?“, fragte Heather ungeduldig. Anthony seufzte innerlich und beschloss dann, dem Drang nachzugeben, statt sich dagegen zu wehren. Er lief an ihr vorbei und griff dabei nach ihrer Hand, um sie mit sich zu ziehen. Sie wehrte sich nicht dagegen und folgte ihm stattdessen, vermutlich sogar noch glücklich darüber, dass endlich jemand das tat, was sie wollte. Er blickte sich nicht nach den anderen um, hörte aber schon kurz danach, dass sie ihm folgten, was seinen Schritten einiges an Sicherheit verlieh. Gleichzeitig versuchte er, Kai in seinem Inneren zu ertasten, doch der andere schwieg und meldete sich nicht. Im Moment machte er sich allerdings keine Sorgen darum, sondern ging einfach davon aus, dass er vom gestrigen Tag noch zu erschöpft war und deswegen schlief. So blieb ihm nur zu hoffen, dass dies heute wirklich der sicherste Ort der Stadt war, denn er würde sich bestimmt nicht verteidigen können. Als er den Eingang hinter sich ließ, trat er in eine großzügige Eingangshalle, die vollkommen in goldenen Farben gehalten war. Fremdartige, aber nicht laufende, Apparaturen waren an den Wänden angebracht und ließen Anthony sich fragen, welchen Zweck sie erfüllten. Viel mehr als diese Gerätschaften, deren Schläuche und Rohre sich in der Wand verloren, war im Moment nicht zu sehen, aber als er den Kopf hob, entdeckte er einen Schacht in der Decke. Direkt vor ihnen konnte er eine Treppe entdecken, die nach oben führte, im entsprechenden Gang herrschte ein bläuliches Licht, das einen Kontrast zu dem sonstigen Gold bildete. Es herrschte eine seltsame Form von Stille, die nicht einmal von den Schritten der Gruppe wirklich verdrängt werden konnte. Vielmehr war es so, als ob sie es nur schafften, dass die Geräuschlosigkeit beiseite huschte und sofort wieder an ihren alten Platz zurückkehrte, sobald sie weitergelaufen waren. Schließlich blieben sie allerdings stehen und schafften damit tatsächlich eine vollkommene Stille. „Alles hier ist von einer unheilvollen Aura umgeben.“ Maryls Stimme klang derart fremdartig an diesem Ort, dass Anthony unwillkürlich schaudern musste. „Geschmack hat er jedenfalls keinen“, stimmte Seline zu. Ein leises Geräusch lenkte die Blicke aller auf den Schacht zurück. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass etwas aus diesem herunterfiel und dann – mit einer hellen Lichtexplosion – auf dem Boden aufkam. Skeptisch blickte die Gruppe auf das dunkle Bündel, das sich gleich darauf zum Sitzen aufrichtete und enthüllte, dass es sich um einen Menschen handelte, der es allerdings nicht mehr schaffte, gänzlich aufzustehen und stattdessen sitzenblieb. Anthony glaubte, die Person erkennen zu müssen, aber Heather kam ihm bereits zuvor: „Mum!“ Sie löste ihre Hand von Anthonys und rannte auf Alona zu, musste jedoch sofort anhalten, als Vincent mit einem Sprint vor sie gelangte und den Schirm ausstreckte, um sie aufzuhalten. „Warte! Das ist gefährlich!“ Es schien, als wolle sie ihn anfauchen, aber im nächsten Moment baute sich ein Netz, bestehend aus unzähligen roten Splittern, vor ihnen auf und verhinderte, dass sie weitergehen könnten. Ein Funkenschlag zwischen zwei Splittern verriet, dass so etwas wie Elektrizität darauf lag. Erst als Heather wieder ein wenig zurückwich, ließ Vincent den Schirm sinken. „Was geht hier eigentlich vor?“ Sie hatte erwartet, Schmerz zu spüren, nachdem sie unten aufschlug – aber stattdessen war jegliches Gefühl in ihren Beinen verschwunden. Obwohl der Schal ihren Sturz gebremst hatte, war der Aufprall so heftig gewesen, dass sie nicht mehr aufstehen und deswegen nur zurück kriechen konnte, damit Raymond sie bei seiner Landung nicht einfach aufspießte. Derart konzentriert auf ihn, bemerkte sie nicht, dass sich außer ihr noch mehr Menschen hier befanden, genausowenig wie das Netz, gegen das sie fast geprallt wäre. Wie aus weiter Ferne glaubte sie, jemanden rufen zu hören, aber sie schob das erst einmal fort und blickte weiter auf den Schacht. In der nächsten Sekunde kam Raymond bereits herunter, aber statt aufzuschlagen, so wie sie, wechselte er die Position, so dass er mit den Beinen voraus fiel – und dann entstand unter ihm eine Schockwelle, die ihm eine sanfte Landung ermöglichte. Warum bin ich da nicht drauf gekommen? Gut, sie war wegen der ganzen Situation in Panik und Zweikämpfe waren, trotz ihrer Erziehung, ohnehin nie wirklich ihr Metier gewesen, da konnte sie natürlich nicht an alles denken. Er schien allerdings entschlossen, diesen Kampf sofort zu beenden und lief wieder auf sie zu. Sie hatte nicht darauf geachtet, was mit ihrem Katana geschehen war, weswegen sie keine Waffe mehr besaß, um sich gegen ihn zu verteidigen und auch ihre Magie könnte ihr nicht helfen, da diese inzwischen darauf konzentriert war, ihre Verletzungen zu heilen. Als er vor ihr wieder stehenblieb, blickte er noch immer mit unbewegter Miene auf sie hinab, aber zumindest glaubte sie, etwas in seinem goldenen Auge flackern zu sehen. Sie nutzte diesen Umstand sofort. „Ray! Das ging jetzt wirklich lang genug! Komm endlich zu dir!“ Er reagierte nicht darauf und wenn ihr Verdacht stimmte und seine Wut auf sie dazu beitrug, dass die Gehirnwäsche derart gut funktionierte, dann war dieser Ansatz vollkommen verkehrt. Nichts, was sie sich ausdenken konnte, würde erfolgreich sein. Sein Zorn war sicher berechtigt, in gewisser Weise und es war ihr nicht einmal möglich, ihm das übel zu nehmen. Dennoch gab es da Dinge, die sie ihm sagen musste, ehe es zu spät war. Also senkte sie den Blick, um ihn nicht länger ansehen zu müssen. „Ray ... kann ich wirklich verlangen, dass du es nicht tust? Wir haben uns nur kennen gelernt, weil ich versucht habe, dich umzubringen und du hast dich nie wirklich darüber beklagt. Das muss so lange an dir genagt haben.“ Ihre Stimme brach ein wenig ein, als sie das sagte, er rührte sich nicht. „Ich mag oft undankbar erschienen sein und das tut mir wirklich leid, aber ich möchte, dass du eines weißt.“ Auch während sie diese Pause machte, rührte er sich immer noch nicht, sie konnte sehen, dass das Schwert nach wie vor nach unten zeigte. Mit einem leisen Schluchzen hob sie den Kopf wieder, um ihn nun doch anzusehen, obwohl die plötzlich aufsteigenden Tränen alles vor ihr verschwimmen ließen. „Du hast mich endlich wieder träumen lassen.“ So lange war ihr das nicht möglich gewesen. Als Jägerin in der GS war sie ein halber Mimikry gewesen und das hatte es ihr unmöglich gemacht, zu träumen, das wusste nicht nur Anthony, sondern auch Raymond, weswegen er verstehen dürfte, was sich hinter ihren Sätzen verbarg, das, was sie eigentlich sagen wollte. Sein goldenes Auge flackerte wieder, aber dennoch hob er das Schwert. Mit einem leisen, entsetzten Laut, senkte sie den Blick wieder, um nicht sehen zu müssen, was er als nächstes tat. Ihr Herz zog sich bei der Vorstellung zusammen, dass sie absolut nichts erreicht hatte, dass sie ihm nun den Schmerz auflasten würde, sie zu töten und vor allem, dass sie ihre zwei Töchter damit am Ende allein ließen. Besonders der Gedanke an ihre Töchter ließ sie bereuen, derart unvorbereitet in diesen Kampf gestürmt zu sein. Sie spürte, wie er das Schwert schwang, hörte, wie es durch die Luft schnitt – und im nächsten Moment erklang ein lautes Geräusch hinter ihr. Dann war da nichts mehr. Nach ein wenig Wartezeit, ob nicht doch noch etwas geschehen würde, hob sie vorsichtig den Blick. Raymond stand, vornübergebeugt vor ihr, das Schwert immer noch in der Hand, doch die Klinge war in das Netz hinter ihr versenkt, statt in ihren Körper. Sie sah in Raymonds Gesicht und stellte erleichtert fest, dass es endlich wieder einen Ausdruck hatte, einen fassungslosen, besorgten zwar, aber immerhin war es keine Maske mehr. Sein rechtes Auge war endlich wieder blau. „Alona ...“, flüsterte er, ließ das Schwert sinken und kniete sich dann neben sie. Das Netz zerbrach derweil, ohne dass sie es weiter beachtete. Ihre Augen waren einzig und allein auf Raymond vor ihr gerichtet. Noch immer ungläubig, hob sie ihre Hände, um sie auf seine Wangen zu legen. Seine Haut fühlte sich warm an, in seinen Augen war keinerlei Feindseligkeit, sondern nur Sorge zu erkennen. Als sie derart festgestellt hatte, dass er wirklich wieder er selbst war, schlang sie hastig die Arme um ihn und vergrub ihr Gesicht in seiner Kleidung. Das Schwert fiel zu Boden, er zog sie ebenfalls in seine Arme und schwieg dabei, wofür sie ihm im Moment ziemlich dankbar war. Das hier wollte sie eigentlich nur im Stillen genießen – doch das endete bereits eine Sekunde später, als Schritte erklangen, die sich um sie herum versammelten. Sie glaubte bereits an weitere Feinde, aber dann spürte sie, wie jemand anderes sich neben sie kniete und nun auch die Arme um sie schlang. „Mum!“ Sie hörte Heathers Stimme, konnte es aber nicht so recht glauben. „Dad!“ Endlich hob Alona den Blick wieder und musterte die Anwesenden, wobei sie feststellte, dass es sich dabei um die gesamte Gruppe handelte, die sie auch am Tag zuvor im Café gesehen hatte. Eigentlich wollte sie fragen, was sie alle hier taten, aber ihr Interesse konzentrierte sich lediglich auf Heather, die sie immer noch umarmte. „Was tust du hier?“, fragte Alona. „Du solltest dich doch in Sicherheit bringen.“ Dabei warf sie einen vorwurfsvollen Blick zu Anthony, der allerdings die Schultern hob. „Es war nicht meine Idee.“ „Ich bleibe jetzt ja auch bei euch“, sagte Heather rasch. „Die anderen können machen, was sie wollen, ich bleibe hier.“ „Was wollen die anderen denn?“, fragte Raymond und blickte zu ihnen. Ryu deutete nach oben. „Wir gehen hoch und reden mit dem, der hier das Sagen hat. Da gibt es ein paar Fragen, die er uns noch zu beantworten hat.“ Alona hielt das für keine sonderlich gute Idee, aber vielleicht gab es nichts anderes, was sie tun könnten, um dieses ganze Gebäude wieder loszuwerden und die Situation beizulegen. „Wie sieht es draußen aus?“, fragte sie. „Alles bestens“, antwortete Marc. „Mr. Chandler hat die ganze Sache unter Kontrolle gebracht.“ Es erstaunte sie, dass Joel das wirklich zustandebekommen hatte – aber vielleicht zollte sie ihm tatsächlich weniger Anerkennung, als er eigentlich verdiente. Sie hoffte nur, dass sie diesen Gedanken später wieder vergessen hätte, damit er nichts davon erfuhr. „Dann geht endlich“, sagte Raymond plötzlich. „Er wartet bestimmt nicht ewig.“ Die Gruppe nickte und lief dann los, um die Treppe nach oben zu erreichen. Heather ließ Alona und Raymond derweil los und seufzte zufrieden. „Heißt das jetzt, ihr streitet euch nicht mehr?“ Das Ehepaar wechselte einen Blick miteinander und lächelte sich dann an. „Vorerst nicht mehr“, sagte Raymond. „Keine Sorge.“ Alona hoffte, dass dieses vorerst sehr lange anhalten würde und schmiegte sich dann wieder an ihren Mann, während der Heilzauber weiter seine Wirkung tat. Endlich waren sie wieder zusammen und nun würde sie nicht mehr zulassen, dass so etwas noch einmal geschah. Doch während sie zufrieden war, erklang irgendwo im Gebäude ein leises Rumoren, das verriet, dass gerade eine Maschine in Gang gesetzt wurde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)