Tabu von Schneefeuer1117 (One Shots für Harry Potter RPGs) ================================================================================ Kapitel 6: Torn --------------- Torn ~ Zerrissen by Robin Simmonds Ich habe schon immer nach etwas in meinem Leben gesucht, nach etwas verlangt. Oft dachte ich, dass es für einen Jungen in meinem Alter seltsam war, sich Fragen zu stellen wie „lebe ich wirklich?“ oder „lohnt es sich zu leben?“ und schlussendlich „was ist das Leben?“. Ich weiß heute, dass diese Fragen ein Resultat meiner inneren Leblosigkeit waren. Es stimmt. Bis zu dem Tag, an dem Licht meine hohle Hülle durchflutete, vergingen viele Jahre, die ich besser hätte nutzen können, als auf der Suche nach etwas, von dem ich erst heute weiß, was es ist. Damals wusste ich es nicht, konnte es gar nicht wissen. Ich fühlte mich leer, alleine, einsam, obwohl meine Eltern an sich keine schlechten Menschen waren. Weder fies, noch gewalttätig oder besonders streng – einfach ziemlich mittelmäßig. Sie … machen ihre Sache sogar selbst jetzt noch ziemlich gut, auch wenn ich nichts mit ihnen zu tun haben will. Dafür können sie im Endeffekt nicht einmal etwas. Aber eins nach dem anderen. Wie gesagt, ich fühlte mich leer. Aber 'leer' ist nicht die komplette Beschreibung für das Gefühl, das mich beschlich, denn Leere zeugt davon, das etwas einmal voll gewesen sein musste – ich jedoch war mir im Alter von acht Jahren absolut sicher, niemals richtig gelebt zu haben und es auch niemals zu können. Ich war … am Ende. Am Boden. Unvollständig. Immer fehlte etwas, um wirklich lebendig zu sein. Ob eine Emotion war, ein Gefühl oder auch nur eine Regung – eine Reaktion auf meine Umwelt, von der ich mich schon damals systematisch abgrenzte. Mache ich auch heute noch. Heute fällt es nur nicht mehr so sehr auf. Mit Acht war ich also schon ein Einzelgänger und hoffnungslos in meiner inneren Zerrissenheit gefangen. Und genau das beschreibt es perfekt: zerrissen. Obwohl ich noch keine Ahnung hatte, wie ich dieses Gefühl beschreiben sollte und meine Eltern alles versuchten, meine Lehrer mich anstachelten und mein Psychiater die wagemutigsten Versuche wagte – es half nichts. Keiner konnte mir helfen, weil sie nicht wussten, was mich bedrückte. Ich wusste es damals selber nicht. Ich hatte keine schlimme Kindheit, keinerlei Brutalität im Umfeld und das Fernsehen hatte keinen Einfluss auf mich. Ich hatte sogar einen Freund in der Nachbarschaft, war immer viel draußen, alleine und mit Nachbarkindern, meine Großeltern waren immer großherzig, meinen anderen Verwandten begegnete ich mit größter Höflichkeit. Jeder erfreute sich an meiner höflichen Ader, nannte mich ein freundliches Kind, einen guten Jungen. Hm. Würden sie mich heute sehen, würden sie staunen, was aus ihrem guten Jungen geworden ist. Im Grunde wusste ich es schon mit acht: ich war kein guter Junge, kein freundliches Kind. Ich machte mir nichts aus den Worten, die ich anderen sagte, pfiff auf ihre Sympathie und ihr Wohlwollen. Das änderte sich später, doch auch dazu mehr. Ich konzentrierte mich nur auf mich selbst und auf das, was in mir fehlte. Diese innere Zerrissenheit machte mich verrückt – dabei fiel ich nicht mehr auf, als jeder andere Achtjährige. Ich schmiss mit Steinen nach Katzen, riss Fliegen die Beine aus und flutete Ameisenhügel. In der Schule schrieb ich ab oder störte ab und an den Unterricht mit lautem Lachen, doch auch hier tat sich nichts Abnormales hervor. Und doch wusste ich mit acht Jahren: ich war nicht wie die anderen. Ich dachte nicht wie sie. Schon da dachten sie nur ans Küssen und wie sie die Mädchen am besten verarschen konnten. Mich interessierte das nicht. Weder die Mädchen, noch wie groß der Popel von einem Nachbarjungen war und erst recht nicht, wer die Kirschkerne am weitesten spucken konnte. Natürlich bemerkte niemand etwas, doch ich wusste es einfach. Da war mehr. Es musste einfach mehr als das geben. Ich konnte nicht glauben, dass es hieß zu leben, wenn man Kirschkerne spuckte, Mädchen mit großen und kleinen Popeln ärgerte und Ameisen platt trat. Das war … Ich versuchte alles. Doch nichts füllte meine Leere, nichts vermochte mir zu zeigen, dass ich lebte. Bis der Brief kam. Als ich Elf wurde, hatte ich bereits jede Hoffnung auf Heilung aufgegeben. Niemand ahnte etwas davon, dass sich in meinem Inneren etwas angestaut hatte, eine Wut und Leere, die sich nicht in Worte fassen lässt. Obwohl ich mich normal weiterentwickelte, versuchte ich alles, nicht normal zu werden. Ich ließ mich mit den falschen Jungen ein, rauchte meine erste Zigarette mit zehn hinter den Mülltonnen und probierte mein erstes Bier mit zehn ein halb. Ich tat das, wovor mich meine Eltern gewarnt hatten und lernte aus den Fehlern, welche die Menschen im Fernsehen ständig machten: ich ließ mir meine Wandlung nicht anmerken, baute schon mit Zehn eine Fassade auf, die weder Eltern, noch Lehrer, noch mein Psychiater knacken konnten. Ich war noch immer der normale Junge, obwohl ich doch alles tat, um es nicht zu sein. Verrückt. Das dachte ich zumindest. Bis ich alles begriff. Ich erinnere mich noch immer glasklar an den Tag meines 11. Geburtstags. Er ist mir ins Hirn gebrannt, wie nur noch ein anderer Tag außer ihm. Ich stand früh auf, wie immer. Ich konnte nie gut schlafen, etwas hielt mich wie immer bis spät in die Nacht wach, meine Gedanken drehten sich alleine um meine Misere, ehe mich die Sonne am Horizont wach küsste, wann immer sie über die Hügel kroch. Ich rappelte mich also auf, tapste ins Bad, verrichtete mein Geschäft, putzte mir die Zähne und wusch mir das Gesicht. Dann zog ich mich an und trat vor die Haustür, um die Zeitung ins Haus zu holen. Das Datum stach mir ins Gesicht und ich lachte – aber irgendwie hatte ich mich nie auf meine Geburtstage gefreut. Als ich wieder ins Haus zurückkam, nahm meine Mutter mich in ihre Arme und drückte mir Küsse auf, gratulierte mir und reichte mich an meinen Vater weiter, der das gleiche Ritual vollzog. Ich ließ es über mich ergehen, obwohl ich schon im Alter von acht und auch jetzt noch einen gewissen Abscheu gegenüber dieser Überschwänglichkeit hege. Besonders, wenn sie von meinen Eltern ausgeht. Sie führten mich zum Tisch und ich durfte meine Geschenke auspacken. Ein Fußball. Ich interessierte mich kein Stück für diesen hirnrissigen Sport, beinahe noch weniger, als für Quidditch … Ein gerahmtes Bild von einem damals ziemlich berühmten Sänger, Robbie Williams. Ich mochte ihn, aber auch nur, weil seine Augen so eine gewisse Traurigkeit ausstrahlten. Nur wenige seiner Texte drückten genau das aus, was er wirklich sagen wollte. Zumindest glaubte ich fest daran. … Eine kleine Geldbörse mit zehn Pfund. Und einige Karten von Verwandten. Oma Hildegard hatte mir wie immer auf mein Konto Geld überwiesen, während Tante X und Onkel Y mir alles erdenklich Gute wünschten. … Ich fing an zu weinen. Meine Mutter fragte mich, ob alles in Ordnung war. … Nein, nichts war in Ordnung. Ich war zerrissen. Ich war komplett zerstört, kein bisschen Leben füllte diesen jungen Körper aus. Noch im Erblühen war ich verwelkt. Doch ich bejahte und in dem Moment, als mein Vater die Torte holen wollte, raschelte es im Kamin und ein vollkommen verrußter, schrecklich magerer Kauz rauschte in unser Wohnzimmer. Meine Eltern waren erschrocken, doch ich wusste, dass sich nun alles verändern würde. Meine kindliche Intuition riss mich vom Stuhl. Ich eilte zu dem Kauz, half ihm wieder auf seine braunen Füße und nahm ihm den Brief vom Fuß. Ehe ich mich versah, kreischte das Tier und ich verstand, ohne wirklich verstanden zu haben. Ich griff nach einem der Kekse auf dem Tisch und reichte ihn dem Vogel, der zuerst skeptisch den Kopf schräg legte, dann aber fröhlich Gurrend den Keks nahm und auf dem Weg ging, wie er erschienen war. Als der Vogel weg war, richtete sich meine gesamte Aufmerksamkeit auf den Brief und aufgeregt fingerte ich an dem Umschlag herum. Es lag Magie in der Luft, ich atmete, inhalierte sie, wusste, jetzt war ich am Ziel. Es veränderte sich alles: meine Finger zitterten, so, wie sie noch nie zuvor gezittert hatten. Mein Herz schlug Purzelbäume, wo es seit elf Jahren im Einklang geschlagen hatte und mir stand der Schweiß auf der Stirn, wo ich elf Jahre lang keine Regung auf etwas gezeigt hatte. Ich lachte wie im Wahn, während ich die Zeilen drei Mal, vier Mal, sogar ein fünftes Mal las und meine Eltern wollten schon den Psychiater anrufen, doch ich kreischte plötzlich vor Freude und sie sahen mich das erste und einzige Mal auf ihrem Wohnzimmertisch tanzen. Ich erlaubte mir diesen Überschwang kindlicher Freude. „Was ist nur mit ihm? Schatz? Robin? Liebling? Was hast du denn? Von wem ist der Brief?“, hörte ich sie fragen, doch scheinbar dachten sie, ich litt an einer ansteckenden Krankheit, denn sie kamen nicht näher. „Ich bin ein Zauberer!“ Ich höre meine Stimme noch immer überschwänglich purzeln und mein Lachen klingelt noch immer in meinen Erinnerungen nach. Es war das erste Mal in meinem Leben, in dem ich mich wirklich lebendig fühlte. Diesem wahnsinnigen Ereignis folgten Jahre der Unsicherheit, der Angst, des Misstrauen, des Versteckspielens. Ich wurde Zauberer. Mein wacher Geist, mein listiges Wesen und mein Wille, alles für ein Ziel zu tun, dass ich damals noch nicht kannte und das mir heute klarer denn je ist, verschlugen mich in das Haus der Schlange; Slytherin. Von da an veränderte ich mich noch einmal. Ich wusste es, doch ich hatte nicht vor, etwas dagegen zu unternehmen. Ich hatte das Gefühl, alles richtig zu machen, als ich versuchte, meine innere Zerrissenheit zu leugnen und zu kitten. Indem ich sie verbarg. Mein Leben änderte sich schlagartig. Ich war plötzlich ein Zauberer, konnte Dinge vollbringen, von denen ich zuvor nur geträumt hatte – ich musste die Steine nun nicht mehr auf Katzen schmeißen, ich konnte sie zielgerade auf die Schädel der Tiere niedersausen lassen, ohne auch nur mehr als ein Stück Holz zu bewegen. Ich musste Fliegen nicht mehr die Beine ausreißen, ich konnte sie mit einem einfachen Spruch in ihrer Bewegung erstarren lassen und ihnen schließlich langsam das Leben nehmen. Ameisenhügel musste ich nicht länger fluten, auch hier half mir das kleine Holz. Ich fühlte mich allmächtig, unbesiegbar. Mich konnte man gar nicht mehr aufhalten, denn ich wusste endlich, wohin ich gehörte und begann, mein Leben, Hogwarts und die Welt der Zauberer zu lieben. Nie, nie wieder wollte ich als Muggel leben. Und da fing das Problem an. Slytherin war dafür bekannt, nur Reinblüter und ehrenhafte Halbblüter in seine Reihen zu lassen. Nur wenige Ausnahmen waren 'Schlammblüter', wie sie von den Schlangen genannt worden – Menschen wie ich. Es schmerzt, noch heute. Und ich habe eine Mörderangst. Niemals war ich gleichzeitig so glücklich und gleichzeitig so zerrissen, wie in dem ersten Jahr auf Hogwarts. Ich suchte meine Mitte, eine Möglichkeit, irgendwie meine Herkunft und das zu vereinen, was ich gerne sein wollte. Keine Chance. Nicht damals und nicht heute. Entweder musste ich meinen großen Traum, Fuß in der Welt der Zauberer zu fassen, aufgeben, oder aber meine Familie. Die Wahl war mir damals nicht sehr schwergefallen und ich bereue sie keinen Moment in meinem Leben. Zu keinem Zeitpunkt glaubte ich, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Nie. Auch heute nicht. Ich kapselte mich von den anderen Slytherin ab, war in der ersten Klasse als Streber und Sonderling abgestempelt und wann immer jemand auf mich zukam, schmetterte ich ihn ab. Ich konnte niemandem trauen. Wenn auch nur einer herausfinden sollte, wer mich geboren hatte, welches Blut ich in mir trug … Nein. Nein, ich konnte keine Risiken eingehen. Im Übrigen war ich in meinem ersten Jahr noch der vollen Überzeugung gewesen, in der Schule zum Lernen und nicht um Freunde zu finden zu sein. Diese Einstellung änderte sich mit einem Schlag, als ich Neil kennenlernte. Neil ist so ein Mann vom Schlag Bester Freund. Den würde jeder gerne als solchen haben. Er ist nett, zuvorkommend und man kann alles mit ihm machen – eine lustig-charmante Fassade. Aber mehr als eine solche, war es auch nicht. Das wusste ich im ersten Moment, als wir uns sahen. Wir lernten uns kennen, als ich gerade versuchte, eine Tasse in eine Ratte zu verwandeln. Der Sinn dieser Übung entzog sich meinem Wissen, doch ich war erpicht darauf, alles zu tun, um einen Sinn zu finden und die Aufgabe zu erfüllen. Ich wollte ein Ziel erreichen. Ich hatte mir für meine Zwecke einen der leeren Kellerräume ausgesucht, als die Tür aufging und drei lachende Slytherin den Raum betraten. Das ist der zweite Moment, der mir ins Hirn gebrannt ist. Neil stutzte, als er mich sah. Er war nur ein Jahr älter und dennoch sah er mit seinen zwölf Jahren schon unglaublich erwachsen aus. Groß. Ich musste damals ganz schön zu ihm aufsehen. Das hat sich bis heute nicht geändert. Neil schoss bis zu zwei Meter in die Höhe und ich blieb auf halber Strecke bei meinen 175 cm liegen. Jedenfalls zog ich meine Masche ab, die ich immer abzog. Ich schnappte mir meine Sachen, warf den Anwesenden einen hoffentlich bitterbösen Blick zu und wollte aus dem Klassenzimmer flüchten, da legte sich unverhofft eine Hand auf meine Schulter; fest und unnachgiebig. „Na, Simmonds, wo geht es hin?“, höre ich Neil damals wie heute fragen. Ich wusste noch, dass ich mir beinahe vor Angst in die Hosen machte. Nicht nur, weil mein Geheimnis jeden Augenblick auffliegen konnte, nein, die beiden Typen, die Neil bei sich hatte, waren mindestens aus der Dritten und echte Hünen – aus der Sicht eines damals 135 cm kleinen Wichtes. Doch es kam ganz anders. Neil lachte abermals und zog mich unbarmherzig zurück in den Klassenraum, schloss die Tür vor der Nase der beiden Hünen und setzte sich mit mir zusammen auf einen der Tische. „Du bist Robin, oder? Aus der Ersten.“ „Jah.“ Ich weiß noch, wie furchtbar kratzig sich meine Stimme angefühlt hat. „Ich kenne dich. Glaube ich. Zumindest weiß ich, dass wir uns ziemlich ähnlich sind.“ „Aha?“ „Du bist wohl nicht sehr gesprächig?“ Damals wie heute bemühe ich mich, erst das Wesen meines Gegenüber herauszufinden, um dann die Antworten geben zu können, die er hören will. Das ist sicherer. Das verhindert unangenehme Fragen. Mit einem Schlag durchschaute ich die Fassade des für einen Slytherin verdächtig netten Jungen und sah einen verschlagenen Lügner vor mir, der vor Sarkasmus und Ironie nur so troff. Er machte sich nichts aus anderen Menschen, machte sich einen Spaß daraus, sie das Gegenteil glauben zu lassen und nur sein einnehmendes Wesen erlaubte ihm, genau das zu tun, was er tat: die Leute wurden abhängig von ihm. Und das war der Moment, an dem ich mir sagte, ich würde genauso werden. Meine Fassade würde ebenso wirksam sein wie die seine, meine wahren Motive weit unter ihrer Oberfläche verstecken und niemand würde jemals auf die Idee kommen, meine Motive zu hinterfragen, weil er von Anfang an glauben würde, ich hätte welche. Nur die falschen. Die Wahrheit würde niemals ans Tageslicht kommen. Ich würde dafür sorgen. Und Neil würde mir, ohne dass er es ahnte, helfen. „Doch. Aber nur bei den richtigen Leuten“, hatte ich ihm geantwortet und in dem Moment kopierte ich seine Fassade so hoffnungslos penibel, dass es ihm unmöglich werden sollte, in mir zu lesen. Jedenfalls glaubte ich das. Seitdem habe ich es mir angewöhnt, zu jedem gleich freundlich zu sein, gleich höflich und niemals über Persönliches zu sprechen. Natürlich verriet ich meine Motive ab und an, aber das war nötig, um die Menschen zu finden, die mir mittlerweile alles bedeuten. Ich weiß, wie gefährlich das sein kann. Und ich bin mir sicher: im entscheidenden Moment weiß ich, was wichtig sein wird – meine Wahrheit, oder die ihre. Meine Einstellung hing ich nie an die große Glocke; Neil schon. Und allein die Tatsache, dass wir seit dem Treffen unzertrennlich waren, zeigte, dass ich vollkommen mit ihm übereinstimmte: Schlammblüter raus. Dass mich das selbst mit einbezog, raubte mir zwar den Schlaf, aber nicht den Mut. Ich vertraute fest darauf, dass ich eine Lösung finden würde, mich beweisen würde und schlussendlich, wenn ich bereit war, die Wahrheit zu sagen, niemand mehr auf mich verzichten wollen würde. Naiv. Dumm. Absolut nicht überlebensfähig. Also ließ ich es. Ich erzählte niemandem von meiner Herkunft. Und obwohl ich glaubte, endlich angekommen zu sein, endlich meine Mitte gefunden zu haben und endlich die Leere füllen zu können, die seit meiner Ankunft auf Hogwarts nicht mehr da war, zerriss es mich innerlich. Herkunft – Stolz. Slytherin – Familie. Blut – Wert. Ich wusste nicht, ob all das richtig war, was ich propagierte; wenn auch inoffiziell. Ich wusste nicht, wie lange ich dieses Spiel spielen konnte. Ich wusste nicht, ob ich irgendwann daran zerbrechen würde. Ich wusste nur, dass ich mich auf verdammt dünnen Eis bewegte. Und dieses Wissen, dieses beschissene Wissen bringt mich noch heute um den Schlaf. Macht mich noch heute zu einer unkontrollierbaren Bestie. Nein, gut, so schlimm ist es dann nun auch wieder nicht. Aber ich glaube, dass ich diese Bürde nicht mehr lange tragen kann. Wenn ich daran denke, es ewig tun zu müssen – bis in meinen Tod … Dann wird meine Lüge auffliegen. Und man wird sich an Robin Simmonds mit den Worten 'das Leben einer großen Lüge' erinnern und nicht als stolzes Reinblut, das für seine Ideale gekämpft hat. Oder wenigstens als ein Schlammblut, das sich selbst für sein Blut verabscheut, das sich am liebsten die Adern aufschlitzen, alles Blut aus sich raus pumpen lassen und alles für ein Leben als Reinblut geben würde. Doch das zählt nicht. Es zählen nicht die Werte, für die man kämpft und einsteht, nein, in Slytherin zählt nur das Blut. Die Herkunft. Die Familie. Man schaue sich nur einmal den bemitleidenswerten Severus Snape zu seiner Schulzeit an. Keine Freunde, nur Feinde. Ich will nicht so enden wie er. Ich lernte schnell: ich musste lügen. Ohne meine Lüge kam ich nicht sehr weit. Nicht bei Neil, nicht bei den anderen Slytherin. Ich erinnere mich noch haargenau an die Reaktion, die Neil auf meine Frage zeigte. „Bist du denn vollkommen von Sinnen, so eine Frage zu stellen? Du bist ein Slytherin, damit solltest du dich gar nicht befassen! Ein Schlammblut … tche, niemals kann das ein würdiger Erbe Salazar Slytherins sein! Nicht einmal ein Halbblut könnte das. Wage es nie wieder, in meiner Gegenwart auch nur daran zu denken. Das ist ja … abartig.“ Wenn ich ihn damals gefragt hätte, ob er mir glauben würde, dass ich dieser schlammblütige Erbe Salazar Slytherins war … wäre sein Urteil genauso ausgefallen oder hatte er mich schon genug gemocht, um darüber hinweg zu sehen? Nein. Bestimmt nicht. Es war unmöglich sich einzufinden, wenn man so war, wie ich. Wenn man mit dem falschen Blut, mit den falschen Eltern gestraft war. Ich bin nie gottgläubig gewesen und das Schicksal kann mich mal kreuzweise, aber damals habe ich oft gebetet, alles sei nur ein Traum und ich würde bald wieder aufwachen. Tat ich natürlich nicht. Irgendwann hörte ich auf zu beten, verlor mein letztes bisschen Hoffnung und träumte nicht länger davon, jemand anderes zu sein, sondern war jemand anderes. Robin Simmonds, dreizehn Jahre, stolzes Reinblut und ein offizielles Arschloch. Kam ich aber gut mit klar und ich kann mich nicht beklagen; irgendwie klappte doch irgendwie bisher alles. Ich lernte Nikita kennen und hassen – er war all das, was ich immer hatte sein wollen. Erstens: er kam aus einer starken, reinblütigen Familie, die stolz und ungebrochen war. Zweitens: er hatte einen großen Bruder, der ihn zwar nicht scherte und den ich auch nicht besonders mochte, doch er hatte einen. Drittens: Nik sah selbst mit zwölf schon ziemlich gut aus und überragte mich schon um einen Kopf. Viertens: er war klug, intelligent und gerissen für sein Alter. Fünftens: er war, wie er war. Nein, Nikita verstellte sich nicht. Er hatte es nicht nötig, sich zu verstellen. Ohne es zu wissen und zu würdigen, hatte Nikita alles, was man sich nur wünschen konnte und ich hasste ihn so sehr für seine Ignoranz und seine Dummheit, dass ich einige dumme Fehler machte. Ich duellierte mich mehrere Male mit ihm, das letzte Mal wurden wir geschnappt. Wir mussten zusammen nachsitzen und so entwickelte sich eine verdrehte, seltsame, aber durchweg positive Freundschaft. Nikita und ich – bei weitem nicht das innige Vertrauen, das ich zu Neil hatte, aber es wuchs. Wie eine Knospe. Der Tag kam, an dem sie aufging und begann zu blühen. Felice Walker gesellte sich immer öfter zu Nikita und mir und bis zum Ende meines vierten Schuljahres hatte ich nicht nur einen, nein, ich hatte drei beste Freunde, für die ich zwar ohne zu zögern einen meiner Finger hergegeben hätte, aber niemals die Wahrheit. Die Wahrheit ist der Tod. Und mein Leben eine einzige Lüge. Dann trat Lilian in mein Leben. Sie war plötzlich einfach da. Lächelte, scherzte, lachte. Heute wie damals fesselt sie mich mit ihrem ganzen Sein. Ich kann es weder beschreiben, noch in Worte fassen. Ich habe das Gefühl, durch nur einen ihrer Blicke erhebt sie mich in einen Stand, der ihrem gerecht wird. Nein, ich würde niemals so weit gehen zu sagen, ich würde ihr gleichwertig werden. Das ist schier unmöglich. Aber ich riskierte alles, um sie an mich zu binden. Auf eine emotionale Art, wie ich es nie zuvor getan hatte. Ab ihrem vierten Jahr tanzten wir zusammen in der AG und jedes Mal wurde sie hübscher. Besser. Graziler. Schon mit 14 war sie eine junge Frau und es wert, mit einem längeren Blick bedacht zu werden, als es die zarte Freundschaft zwischen uns erlaubte. Ich war ein dummer pubertierender Vollidiot, als ich sie nach einer der Tanzstunden zur Seite nahm und zu einem Kaffee einlud. Ganz unverbindlich. Unter Freunden. Das sagte ich ihr mit einem linkischen Lächeln auf den Lippen, doch sie schien nur meine Worte zu hören, nicht die Geste dahinter. Sie wusste nicht, dass hinter meinen Worten immer etwas steckte, dass ich mich stets verstellte. Sie hatte niemals hinter meine Fassade geblickt – war es also wirklich eine gute Idee, ihr von meiner wahren Herkunft erzählen zu wollen? Ah, das Gewicht der Lüge drückte bereits damals so schwer auf mich, dass ich kaum eine Möglichkeit hatte, zu atmen. Und in Lilians Anwesenheit fiel mir das Atmen noch schwerer. Ich glaubte, wenn einer mich verstehen würde, dann war es sie. Wir saßen im Schülercafé. Ich saß ihr gegenüber, schaute die ganze Zeit über nur sie an, während sie mir mit Feuereifer erzählte, was sie vorhatte, wie sie die Zeit totschlug, dass sie vorhatte, Quidditch zu spielen, was sie zum Ball tragen würde, wie es ihr ging, dass sie Charlotte noch etwas fragen musste und dass sie noch Briefe an ihre Familie schreiben musste. Ich fühlte mich deplatziert. Sie redete, ich hörte ihr zu. So war es schon immer gewesen, ich hatte mich schon immer vor ihr zurückgezogen, zurückgehalten. Immer das gleichbleibende höfliche Lächeln auf den Lippen, aber nie hatte sie bemerkt, was hinter diesem Lächeln steckte. Nie hatte sie meine Warmherzigkeit ihr gegenüber hinterfragt, niemals hatte sie auch nur eine Ahnung davon gehabt, was sich hinter meiner Fassade versteckte. Sie hatte kein Gespür für mich. War es dann wirklich richtig, sie einzuweihen? Ihre Augen fesselten die meinen. Und alles war vergessen. Damals wie heute. Die innere Leere war plötzlich ausgefüllt von einem derart warmen Gefühl, dass mir schlecht wurde und die innere Zerrissenheit fügte sich nahtlos zu einem Gestrüpp einer geplagten Seele zusammen. Ich verzog damals das Gesicht und sie bemerkte es nicht. Sie hatte keine Ahnung, was in mir vorging, wie es mir ging. Und mit einem Schlag war das warme Gefühl verschwunden, die Übelkeit vergangen und alles in mir zerriss wieder in tausend kleine Einzelstücke. Sie hatte keine Ahnung. Ich weiß heute nicht, was mich schwerer traf: die Erkenntnis, dass sie wirklich keine Ahnung hatte, oder die Tatsache, dass es sie auch kein bisschen interessierte. „Ach, Robin, danke fürs Zuhören. Das tat gut. Wir sehen uns dann nachher!“ Und weg war sie. Ich hatte ihr lange nachgeschaut, auf die Stelle gestarrt, an der sie gestanden hatte und die Leere, die in mir zurückblieb war stärker gewesen – und sie ist es noch immer – als jemals zuvor. Es war eine andere, vollkommen fremdartige Leere und ich konnte nichts damit anfangen. Selbst heute kann ich es noch nicht. Aber ich schwor mir, ihr irgendwann zu erzählen, woher ich kam, wer ich war und ich wusste, dass sie es verstehen würde. ... Sie musste es einfach. Wenn nicht sie, wer sonst? Aber Lilian blieb nicht weg, nein, sie kam wieder. Direkt in meine Arme. Man kann sich die geistige Verwirrung nicht vorstellen, die ich empfand, als ihre Lippen die meinen benetzten, ihre Haut die meine berührte und ihr Atem mit meinem verschmolz. Noch heute klopft das Herz, noch heute bin ich verwirrt, wenn ich an diese eine Nacht zurückdenke. Ich weiß nicht, weshalb sie es zugelassen hat, dass ich mich ihr auf diese Art nähere und ich weiß nicht, weshalb nichts Ernstes daraus geworden war, wie bei Aimee. Aber ich weiß, dass ich keine Sekunde dieser Nacht bereue und es jederzeit - auch mit Hinblick auf meine jetzige Beziehung - wiederholen würde. Allerdings hat mir Lilian recht schmerzlich klargemacht, dass sie es nicht so sieht. Eine einmalige Sache. Es kommt nie wieder vor. Nein, natürlich nicht, warum auch? Niederer Abschaum ... In ihren Augen war ich nichts weiter als niederer Abschaum, ganz sicher. Deshalb verstand ich nicht, dass es gar keinen Unterschied machen würde, ob ich es ihr die Wahrheit erzählen würde. Sie interessierte sich nicht in dem Ausmaß für mich, dass es sie tangieren würde. Dass ich wirklich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hätte. Ein Gelegenheitsfick: okay. Freundschaft: okay. Aber eine innige, wirklich ernsthafte Beziehung...dafür reichte die Aufmerksamkeit nicht. Und diese Aufmerksamkeit brauche ich. Ich brauche Bestätigung, Zusagen, Aufmerksamkeit. Ich geifere geradezu danach. Es ist so, als würde ich nur für das Lob anderer leben, um mich lebendig zu fühlen. Und wenn es nur ein einfaches „Danke fürs Zuhören“ ist. Auch das ist Lob. Ah, mein Psychiater würde nun sagen: „Mister Simmonds, Sie suchen die Bestätigung in anderen, weil Sie die in sich selbst nicht finden. Sie verleugnen sich selbst und wollen deshalb, dass andere Sie mit Leben ausfüllen. Sie versuchen, andere für Ihre Taten verantwortlich zu machen, doch das wird nicht funktionieren.“ Natürlich wird es das nicht. Das weiß ich. Und ich weiß auch, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis alles in sich zusammenfällt. Wie mit der netten Metapher vom Kartenhaus. Nur meine Version wird für eine Seite absolut tödlich ausgehen. Mein Glück ist damals wie heute, dass ich einen Menschen fand, dem ich uneingeschränkt vertrauen konnte: Aimee. Ohne es zu wissen, schenkte ich ihr mein Herz und sie mir das ihre. Ich weiß nicht genau, wann und wie es geschah, aber zwischen uns entwickelte sich etwas, was über die erste große Liebe weit hinaus ging. Ich glaubte, mit ihr das Mädchen gefunden zu haben, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte. Der großen Leere in mir zum Trotz, die erträglicher erschien, wenn sie bei mir war. Ich liebte sie so aufrichtig, wie ein Mann nur lieben kann, der sich selbst dermaßen verabscheut. Ja. Ich hasse mich. Ich verabscheue mich. Für all die Lügen, all die Niederträchtigkeiten, all die Fassaden. Für alles. Mein ganzes Sein ist eine einzige Farce, eine Tragikomödie mit schlechtem Ausgang. Ich glaube nicht mehr daran, dass ich lebendig aus der Sache rauskomme. Denn mit Aimee kam auch die Erkenntnis. Niemand würde mich je so akzeptieren, wie ich nun einmal war. Die Reinblüter nicht, weil ich nicht selbst einer war und die Muggelstämmigen nicht, weil ich sie verabscheute. Gegen sie kämpfte. Aber obwohl ich für die Reinblüter kämpfte, würden sie ein Schlammblut in ihren Reihen nicht dulden. Oder hätte ich von Beginn an ehrlich sein müssen, darauf bauen, dass meine Fähigkeiten mich weit bringen würden und ähnlich wie Severus Snape darauf vertrauen, dass mein Meister meinen Wert erkennen würde? Eric, würdest du meinen Wert erkennen, wenn ich Muggelstämmig wäre? Würdest du? Nein, ich bezweifele das stark. Aimee gab mir viel Kraft. Die Nächte mit ihr … Der Sex mit ihr ist unglaublich. Sie versteht mich besser, als ich mich selber und das macht mir Angst – weiß sie es wohlmöglich längst? Wenn sie Nachforschungen angestellt hat, dann weiß sie, dass ich mich auf dünnem Eis bewege. Dass es keine reinblütige Familie Simmonds aus dem verschneiten Island gibt, die vor zwei Jahrhunderten nach Großbritannien kam, um hier ein neues Leben zu beginnen, fernab von Tradition und Zwang. Würde sich nur einer die Mühe machen, meiner Geschichte auf den Grund zu gehen … Ob Eric sich die Mühe gemacht hatte? Nein, dann hätte er mich sicherlich nicht zu den Erben geladen. Dann wäre ich ihm jetzt nicht so nahe, dann würde er nicht zulassen, dass ich ihrer Verschwörung beiwohne. Oder? Aimee und ich sind ein gutes Paar. Sie verzeiht mir meine Art. Und dafür liebe ich sie. Rein. Unendlich. Unschuldig. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass es so etwas wie das Schicksal doch gibt und es mir in allem einen makaberen Strich durch die Rechnung machen würde. Aber, nun. Eigentlich sollte mich gar nichts mehr wundern. Ich bin ein Lügner, ein Schmarotzer, ein Identitätsdieb. Ich bin nicht Robin Simmonds. Ich bin nicht der Sohn, den meine Eltern aufzogen, die ich seit meinem 11. Geburtstag nie wieder sah. Ich bin nicht Aimees fester Freund. Ich bin nicht Nikitas und Felice' bester und erst recht nicht wie Neils Bruder. Ich bin nicht Erics Vertrauter, Olivers Neider und vor allem nicht Williams oder Brandons Freund. Nein. Nichts davon bin ich. Wer ich dann bin? Nichts. Eine leere Hülle ohne jegliches Gefühl, ohne jegliche Emotion, ohne jegliche Regung. Meine Zerrissenheit hat mich so weit getrieben, mein Lügengebilde mich so weit ausgehöhlt, dass ich keine Möglichkeit habe, jemals wieder etwas zu sein. Ich lebe. Das ist alles, was ich bin. Lebendig. Und das genügt mir. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)