Tabu von Schneefeuer1117 (One Shots für Harry Potter RPGs) ================================================================================ Kapitel 12: 1956 II ------------------- Es war unser Abschlussabend. Ich war nervös, während ich an den Treppenstufen wartete, dem kritischen Blick ihres Vaters ausgeliefert. Joseph Goldstein war ein beeindruckender Mann, dessen Blick direkt unter die Haut ging. „Du bringst sie um zehn zurück.“ Seine Stimme glich einem Knurren. Ich wurde nervös, nickte jedoch gefasst. „Natürlich. Sir.“ „Und du sorgst dafür, dass sie sicher ist.“ „Selbstverständlich, Sir.“ „Und du rührst sie nicht an, hast du mich gehört?“ Er trat einen bedrohlichen Schritt auf mich zu und erst jetzt bemerkte ich, dass er eins, zwei Zentimeter kleiner war als ich. Ein Gedanke, der das Selbstbewusstsein aufbaute. Ich straffte meine Haltung. „Nein, Sir. Ich verspreche Ihnen, dass ich gut auf Ihre Tochter Acht gebe.“ „Das möchte ich doch hoffen“, erklang ihre Stimme vom Treppenansatz und gleichzeitig drehten wir uns zu ihr um. Ihr – Rhea Goldstein – der Glanz des kleinen Hauses, vollkommen in ihrem weißen Sommerkleid, das schmeichelhaft an der Taille anlag und an der Hüfte ausladend in blauer Spitze ausuferte. Mir fehlten für einen Moment die Worte. Rhea lachte und lief eilig die Treppen herunter, mir entgegen. Ganz automatisch öffnete ich die Arme und sie glitt in diese, ganz so, als habe ich nie jemand anderen gehalten. Der Geruch von frischem Parfum – Estée Lauders Youth Dew – umschmeichelte ihre Natürlichkeit und wie immer rochen ihre Haare nach dem Geschmack von Herbst. Ich konnte es nicht erklären – es war i h r Geruch. Sanft schob ich sie an den Schultern von mir, ließ sie sofort los und lächelte selig. „Du siehst wunderschön aus“, hauchte ich und abermals lachte sie glücklich und wandte sich wortlos zu ihrem Vater, um sein Urteil abzuwarten. Beinahe hätte ich geglaubt, dass Joseph verärgert darüber war, dass sie zuerst mir um den Hals gefallen war und nicht ihm. Ein unsinniger Gedanke. Und obwohl jene Überschwänglichkeit in unserer Gesellschaft nicht gerne gesehen war, lächelte Joseph breit. Liebevoll führte er Rhea in die kleine Wohnküche und vorsichtig folgte ich den beiden. Ich wollte den Moment der Zweisamkeit zwischen Tochter und Vater nicht zerstören. „Hier, Susi.“ Mit einer liebevollen Geste schloss er eine filigrane goldfarbene Kette im Nacken seiner Tochter und Rhea berührte das Medaillon ehrfürchtig. „Mums Kette…“ „Du siehst aus wie sie.“ Ich meinte, Tränen in Rheas Augen zu sehen, doch tapfer blinzelte sie diese weg und küsste ihren Vater auf die Wange, ehe sie sich zu mir umdrehte. „Können wir dann?“ In ihrer Stimme lag der unverkennbar drängende Tonfall – ihr Blick war immer aufrichtig in meine Augen gewendet, keine Scheu vor Blickkontakt lag darin verborgen. Sie war anders als alle Frauen dieser Zeit und dafür liebte ich sie. „Ja.“ Ich streckte die Hand nach ihr aus, nickte Joseph noch einmal zu und trat mit ihr vor die Tür. Die kühle Septemberluft fing uns ein und Rhea zog die hellblaue Strickjacke ein wenig enger um ihre Schultern. „Wenn du möchtest, kann ich dir meinen Mantel geben“, bot ich an, während unsere Hände sich ganz automatisch miteinander verschlangen. Sie blickte mit ihren warmen, aufmerksamen, neckischen Augen zu mir und stieß ihre Schulter spielerisch an meine, so, wie Jungs es machen würden. „Nicht nötig, Dorian, danke. Ich erfriere dir schon nicht. Ich bin viel zu gespannt, was der Abend heute mit sich bringt!“ Mein Herz begann zu klopfen. Hatte sie etwas bemerkt? Ich war nervöser als sonst, ganz und gar nicht so gefasst wie üblich. Und das schon seit den letzten zwei Abenden, die ich selbstverständlich mit ihr verbracht hatte. Unsicher spielte die freie Hand in meiner Jackentasche mit dem Kästchen. Wahrscheinlich spürte sie meine Nervosität. Deshalb versuchte ich zu lächeln und drückte meine Nase in ihr weiches blondes Haar, genoss den Geruch von Herbstlaub und Schokolade, während ich leise murmelte: „Das wird unser Abend.“ Rhea Goldstein war mir nicht immer so zugetan gewesen. Ehrlich gesagt … ich ihr auch nicht. In der neunten Klasse war sie mit einem ungehobelten Schläger in der Schule aufgetaucht – Jacob Bishop – und hatte behauptet, er sei ihr Freund und würde sie hier raus bringen. Natürlich war Bath im Süden Großbritanniens nicht die Welt und jeder träumte davon, Fuß in der großen Stadt London zu fassen, aber Bishop war ein ausgemachter Gauner gewesen und niemand hatte ihr geglaubt, als sie behauptete, dass sie auf seinem Motorrad in den Sonnenuntergang fahren würden. Eine Frau auf einem Motorrad? Und wie alt war Bishop, zwanzig? Dass er sich überhaupt getraut hatte, eine Sechzehnjährige zur Schule zu begleiten und sich als Freund hinstellen zu lassen … hatte vermutlich mit Rhea Goldsteins einnehmenden Wesen zu tun. Entweder man verfiel ihrer burschikosen, unangemessenen und vollkommen anmaßenden Art, oder aber genau jene stieß einem sauer auf. Ich war aus gutem Haus. Meiner Mutter gehörten einige der Ländereien rund um Bath und die Erträge der Landwirtschaft ließen uns gut leben. Außerdem war mein Vater ein anerkannter Polizist gewesen, ehe der Krieg sein Leben gefordert hatte. Seine Pension hielt meine Mutter gut über Wasser und so hätte sie mich sicherlich auch auf eine Privatschule schicken können, doch ihrer Meinung nach sollte ich das richtige Leben kennenlernen. Ich würde einmal das Familienunternehmen führen, da müsse ich mit Menschen umgehen können, das war ihre Devise. Zugegeben war ich daran gewöhnt, dass Frauen das Sagen hatten. In der Nachbarschaft warf man Lucrezia McAlistair verstohlene Blicke zu – angeekelt, ängstlich, aber auch bewundernd. Meine Mutter hielt die Zügel des Landwirtschaftsbetriebs fest in der Hand und hatte sich sogar mehrere Diener und Arbeiter leisten können. Einer von ihnen – Hector Legrand, ein schwarzer Südafrikaner mit herrlichem Humor – schien ihr besonders ans Herz gewachsen und manchmal wünschte ich mir, mein Schlafzimmer würde weiter weg von dem meiner Mutter liegen. Auch war ich also gewöhnt, dass Frauen durchaus sexuelle Bedürfnisse hatten, auch wenn mich diese Information überforderte, ging man doch davon aus, dass es falsch war, wenn Frauen sich sexuell anboten. Gefallen, gar Spaß daran hatten. Ich war also – was das weibliche Geschlecht anging – vorurteilsfreier, als der Großteil meiner Mitschüler und dennoch hatte ich so meine Probleme mit Rhea Goldstein. Vermutlich lag das daran, dass sie sich nicht kontrollieren ließ. Dass ihr Temperament und ihre Gefühle ihr Handeln bestimmten. Ich hatte schon früher gerne alles unter Kontrolle, hatte gerne die Übersicht und wann immer Rhea Goldstein auftauchte, wurde diese Übersicht im Keim erstickt. Mitschüler wurden plötzlich zu Rebellen, obwohl sie zuvor kultivierte Gespräche geführt hatten, meine damaligen Freunde begannen, mich zu schneiden, da ich mich offensichtlich nicht in die Reihe an Verehrern oder aber Verurteilern der Rhea Goldstein einfügen wollte. Um ganz ehrlich zu sein: wir hatten einen denkbar schlechten Start. Aber dann verschwand Jacob nach zwei Wochen und ließ eine am Boden zerstörte Rhea Goldstein zurück. Ich war als Gentleman erzogen worden. Es war also meine Pflicht, ihr in dieser Stunde beizustehen, in der alle anderen – allen voran Robin Simmonds, angeblich so etwas wie ein guter Freund, tatsächlich jedoch so ziemlich der schlechteste Mensch, den ich kenne – sich von ihr abwendeten. Gedankenverloren saß sie auf der Schaukel. Ihre Hände umklammerten fest die Seile. Ihr Kopf war leicht geneigt, die sonst so fröhlichen Augen waren gerötet. Sie hatte geweint. Vorsichtig näherte ich mich Rhea und reichte ihr mein Taschentuch, auf das die Initialen meines Vaters gestickt waren. „Ist hier noch frei?“ Ich deutete auf die zweite Schaukel und versuchte mich an einem Lächeln. Rhea schaute zu mir auf und nahm zögerlich, doch mit einem dankbaren Lächeln das Taschentuch an, tupfte sich die Augenwinkel trocken und nickte schließlich. „Nur zu. Es sind freie Schaukeln.“ Ein kläglicher Scherzversuch, trotzdem lachte ich leise und setzte mich auf die Schaukel. „Weißt du? Ich wusste, dass er es nicht ernst meinte“, fing Rhea nach einigen Minuten des Schweigens stockend an zu erzählen, „immerhin hat mich mein Dad vor ihm gewarnt. Hat mir gesagt, er sei ein Nichtsnutz.“ Ein kurzes Lachen ihrerseits und ich blickte besorgt zu ihr. „Aber ich wollte nicht hören. Auch als du gesagt hast, dass er ein Gauner ist…“ „… das war unhöflich von mir. Entschuldige bitte …“ Dass sie sich daran erinnerte … „… Nein. Nein, du warst ehrlich mit mir.“ Sie schaute mich nun direkt an. Die letzten Sonnenstrahlen griffen nach ihr an diesem Sommerabend und sie lächelte. In diesem Moment verlor ich mein Herz. „Alle anderen haben hinter meinem Rücken über mich geredet. Selbst Robin hatte nicht den Mut, mir seine Meinung zu sagen. Oh, ich war so dumm! Alle haben es gesehen. Nur ich nicht.“ „Du warst verliebt. Ich nehme an, da sind Blindheit und Taubheit Nebenwirkungen.“ Für einen Moment schwieg Rhea, mich ungläubig anstarrend und schließlich brach sie in schrilles Lachen aus, das ich über die Jahre so lieben lernen sollte. Mir wurde warm ums Herz und vorsichtig fragte ich: „Ist alles in Ordnung?“ „Oh! Natürlich, Entschuldigung, ich … Hach. Ich habe gedacht, du seist der wohl langweiligste Mensch in England.“ Ehrliche Entrüstung machte sich auf meinem Gesicht breit. „Ich habe mich wohl getäuscht. Du kannst Witze machen. Und sorgst dich um mich.“ Kurzes Schweigen breitete sich zwischen uns aus in dem nur das Quietschen der Schaukeln in der Dämmerung zu hören war. Sie blickte auf das Taschentuch. „Ich werde das hier waschen. Ich kann es dir unmöglich so .. nass .. zurückgeben“, sprach sie noch während sie aufstand und automatisch stand auch ich auf, bereit, ihr zu helfen. Auch, wenn sie keinerlei Hilfe benötigte. Auch das würde ich über die Jahre lieben lernen. „Dankeschön, Dorian.“ Aufrichtig lächelte sie mir zu und ich beschloss, lieber nichts zu tun, außer zurückzulächeln. Sie winkte, als sie ging und ich stand lange dort, sah ihrer Silhouette beim Verschwinden zu und roch das erste Mal den unverkennbaren Duft von Rhea Goldstein. Der Duft von Aufregung und Herbst, von Neuanfang und Herzlichkeit, von Witz und Schokolade. Ich sollte nie wieder genug davon bekommen. Es war der Sommer 1949, der für uns beide eine Wende bedeuten würde. Wir hatten nach diesem Abend nicht mehr besonders viel miteinander gesprochen. Zwar winkten wir einander auf dem Schulhof zu, doch die verschiedenen Klassen machten es uns unmöglich, miteinander zu kommunizieren. Rhea war mit ihrer Freundin Katie öfter weg und sie alleine zu erwischen, war praktisch unmöglich. Ich musste mich in die Gesellschaft meiner Mutter fügen, wurde wichtigen Männern der Polizei vorgestellt, arbeitete nach der Schule auf den Feldern oder in der Buchhaltung des Betriebs und so verflog der Winter, in dem Rhea das Herz gebrochen worden war, ohne, dass ich etwas zum Heilungsprozess hätte beitragen können. Aus dem Kopf ging sie mir trotzdem nicht. Das helle Lachen, der gerade Blickkontakt, das aufrichtige Lächeln – all jene Merkmale, die Frauen zu dieser Zeit nicht hätten haben sollten, machten sie so spannend, so anders. Ich träumte nachts von Herbstlaub und Pralinen und meinte, ihren Geruch darin ausmachen zu können. Mein Taschentuch hatte sie behalten. Es kamen neue Wendungen ins Rollen. In meinem Umfeld verlobten sich die ersten meiner Freunde. Mit siebzehn wollte ich davon noch nicht viel hören, doch auch meine Mutter lag mir in den Ohren, dass sie Erben brauchte. Kinder, die das Landgut übernehmen konnten, wenn sie einmal nicht mehr war. Dass genau diese Aussage mir Angst machte, schien sie zu sehen, denn irgendwann unterließ sie solche Anmerkungen. Ich hatte meinen Dad an den Krieg verloren. Das war genug Verlust für ein Leben wie ich fand. Es war eine jener Familienfeiern, welche die gesamte Stadt Bath auf die Füße rief, auf der ich sie das erste Mal alleine wiedersah. Und auf der ich ihren Vater kennenlernte. „Dorian? Das ist Joseph Goldstein.“ Joseph musterte mich von Kopf bis Fuß und unsicher unter diesem durchleuchtenden Blick, reichte ich ihm meine Hand. „Erfreut, Sir. Ich höre nur Gutes von Ihrer Bäckerei.“ Kurz zögerte Joseph noch, dann schüttelte er meine Hand heftig und lange und als er mich losließ hatte ich das Gefühl, dass er meinen gesamten Körper geschüttelt hatte. „Hast deinen Jungen gut erzogen, Lucrezia“, wandte er sich ohne mich zu beachten an meine Mutter, die mit einem Lächeln eine Hand auf seinem Unterarm platzierte und ihn von der Menschentraube wegführte. Soweit ich wusste, belieferten wir Joseph Goldsteins Bäckerei mit Getreide und die beiden waren Geschäftspartner. Ich wollte mir nicht vorstellen, dass zwischen ihnen mehr als das laufen könnte. Und ich sollte Recht behalten, wie ich später herausfinden sollte: meine Mum hatte an diesem Abend besonderes Interesse daran, mir einige Zeit mit Rhea zu erkaufen, von der ich ihr natürlich erzählt hatte, und verwickelte den beschützenden Vater deshalb in ein berufliches Gespräch, das mehrere Stunden andauerte. „Deine Mum ist Lucrezia McAlistair?“, fragte Rhea überrascht, als sie sich neben mich stellte. In der Hand hatte sie ein Glas Rotwein, obwohl ich mir sicher war, dass sie sich das irgendwo stibitzt hatte. In der anderen Hand hielt sie ein zweites, das sie mir reichte. Kurz zögerte ich, dann nahm ich es an – nicht, dass ich nicht schon Alkohol getrunken hätte, aber es sah doch sehr unschicklich aus, wenn ein Mann das Getränk einer Frau annahm, nicht wahr? „Ja. Kennst du sie?“ „Du beliebst zu scherzen“, lachte Rhea und nippte an dem Rotwein, „jeder in Bath kennt deine Mutter. Sie ist die wohl berüchtigtste und einzige Geschäftsfrau. Es kursieren Gerüchte um sie, da wird einem schwindelig. Mir zumindest. Ich muss gestehen, dass ich sie bewundere.“ Rhea lächelte versonnen, während ihr Blick auf dem Rücken ihres Vaters lag. „Sie geht ihren Weg und tut das, was sonst nur ein Mann tun könnte. Sicherlich, die Umstände zwangen sie dazu, aber sie heiratete nicht noch einmal und nimmt alles selbst in die Hand. Ich finde das bemerkenswert.“ Überrascht musterte ich sie, selbst ein wenig von dem Rotwein trinkend. Sie schaute zu mir und musste abermals leise lachen. „Du wirkst so überrascht?“ „Für mich ist es ganz normal, dass meine Mum die Geschäfte regelt. Keiner von unseren Mitarbeitern könnte das so erledigen, wie sie das tut. Sie ist sehr geschickt im Umgang mit Zahlen und Menschen. Ich glaube nicht, dass ein Mann ihre Arbeit erledigen könnte.“ Ganz bewusst wählte ich diese Worte und Rhea schien einen Moment zu überlegen, ob ich das ernst meinte. Unsicher – das erste Mal, dass ich diesen Schimmer in ihren Augen sah und er gefiel mir – blickte sie zu Boden. Ich sah es als meine Verpflichtung, ihr beizukommen. „Aber das ist ein leidiges Thema für diesen Abend. Möchtest du tanzen?“, fragte ich und hielt ihr die freie Hand hin. Dieses Mal zögerte Rhea, doch mit einem Lächeln nahm sie meine Hand und wir gingen unter den wachen Blicken unserer Eltern auf die Tanzfläche zu, die Gläser hinter uns lassend. Meine Hand legte sich locker auf ihre Hüfte und alleine diese Berührung brannte auf der Haut. Ich schluckte. Ob es ihr genauso ging? Sanft fügten sich unsere Handflächen ineinander und ich spürte ihre Hand auf meiner Schulter. Warm. „Wo ist deine Mutter?“, fragte ich leise und ließ mich von der Klaviermusik leiten. Rhea brauchte eine Weile, ehe sie antwortete: „Sie ist früh gestorben. Die Deutschen … Sie war in London, als die Bombardierung anfing und kam nicht mehr zurück.“ Ich spürte, wie mein Herz sich zusammenzog. Ganz automatisch wurde mein Griff um ihre Hand fester und sie schaute mit einem weichen Lächeln zu mir auf. Ihre sonst so stürmischen Augen waren von einer tiefen Traurigkeit durchzogen, die in meinen Augen ihren Spiegel fand. „Es tut mir leid. Ich wollte keine schmerzlichen Erinnerungen wecken. Verzeih mir.“ Rheas Augen begannen zu funkeln und vorsichtig lehnte sie ihren Kopf an meine Schulter. „Du hast nur gefragt. Es ist nichts Verkehrtes daran zu fragen. Frag mich, was immer du willst.“ Und ich Tölpel fragte: „Hast du Jacob geküsst?“ Erschrocken trat sie mir auf den Fuß und ich biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Rhea starrte mich von unten herauf an – wir bewegten uns nur noch sporadisch zur Musik, um die anderen Paare um uns herum nicht zu aufmerksam auf uns zu machen. „Dorian. Das ist eine sehr persönliche Frage.“ Vielleicht hätte ich zurückgerudert, eingelenkt, wenn ich nicht so etwas wie Panik in ihren Augen gesehen hätte. Hatte sie mehr als nur Speichel mit Jacob ausgetauscht? Kurz zuckte Zorn in mir auf, der jedoch schnell erlosch und ich griff sanft wieder nach ihrer Hüfte, wiegte sie im Takt der Musik. „Du musst nicht antworten. Stattdessen gehst du nächstes Wochenende mit mir tanzen.“ Wieder erwischte ich sie auf kaltem Fuß, dieses Mal fiel sie jedoch nur aus dem Takt. Ich spürte ihren Blick auf mir, schaute sie jedoch nicht an. „Nun gut“, willigte sie schließlich leise ein und ich lächelte. Es war der Beginn einer Serie von Treffen, die im Sommer ihren Höhepunkt haben sollte. Während wir auf unseren Schulabschluss zustrebten, mussten wir uns beide Gedanken um unsere Zukunft machen. Rhea noch mehr als ich, denn mein Weg war klar: ich würde zur Armee gehen, drei Jahre dienen und schließlich als Mann zurückkehren und bei der Polizei anfangen. Wir hatten seit Monaten die Wochenenden zusammen verbracht. Wenn nicht nur wir zwei, beim Spazierengehen oder Essen oder Tanzen, dann zusammen mit ihrer Freundin Katie und meinem Freund Kieran. Die beiden Ks – so wurden sie allgemeinhin genannt – waren schon seit zwei Jahren ein Paar und strebten nun, da sie ebenfalls wie wir in diesem Jahr ihren Abschluss machen würden, einer frühen Hochzeit entgegen. Rhea und ich fühlten uns in ihrer Nähe immer ein wenig unwohl. Beinahe unter Druck. Eines Abends – als wir bei Rhea zu Hause einen Tee tranken, während ihr Vater im Nebenzimmer die letzten Kuchen für morgen vorbereitete – brachte ich das Thema endlich auf den Tisch. „Rhea … ich möchte nicht forsch erscheinen, aber … Ich fühle mich unwohl, wenn wir mit Kieran und Katie ausgehen.“ Ihre Aufmerksamkeit lag auf mir und sie nickte, um mir zu verstehen zu geben, dass sie mir zuhörte. „Sind wir ein Paar?“ Sie schien überlegen zu müssen und schenkte mir Tee nach, so, wie sie alles im Haushalt wie nebenbei zu erledigen schien. Als die einzige Frau im Haus war es ihre Aufgabe, alles in Ordnung zu halten und meiner Meinung nach erledigte sie das mit Bravour. Obwohl sie mit der Schule und den Abendkursen in Kunst schon genug zu tun hatte, schaffte sie auch das irgendwie. „Ich hoffe doch, dass wir mittlerweile darüber hinaus sind, dass wir einfach nur Freunde sind, die sich gut verstehen und sich hin und wieder treffen“, fing Rhea langsam an und nippte am Tee. Ich hatte das Gefühl, dass das noch nicht alles war und schwieg, den Blick aufmerksam auf sie gerichtet. „Aber ich bin mir nicht sicher, wie ernst du es mit mir meinst, Dorian.“ Ehrlichkeit. Ein weiterer Punkt, der unsere Beziehung so besonders machte. Sie sagte mir stets ehrlich die Meinung, war redegewandt, in Kultur und Geschichte bewandert, geradeheraus und interessierte sich für beinahe alles. Ihre Augen saugten neugierig alles Neue auf – die Landmaschinen meiner Mutter hatten sie besonders fasziniert – und auch das machte sie so anders, als alle anderen Frauen. Sie schämte sich nicht darum, anders zu sein. Die Blicke der Männer und Frauen argwöhnisch auf sich zu lenken. Natürlich störten die Blicke sie. Sie hatte mit ihnen zu kämpfen, doch sich um derentwillen verändern? Sie und ich teilten die gleiche, in uns ruhende Starrköpfigkeit, die uns weiter vorantrieb. Ich musste leise lachen. „Du bist dir nicht sicher, wie ernst ich es meine?“, hakte ich noch einmal nach und konnte nicht verhindern, dass ich amüsiert den Kopf schüttelte. Rhea war nicht ganz so amüsiert und stupste mit ihrem Fuß sacht gegen mein Schienbein, um mich zum Schweigen zu bringen. „Du hast mich noch nie geküsst“, beschwerte sie sich halblaut und ich hörte, wie Joseph in der Backstube in der Bewegung innehielt. Ein schiefes Lächeln auf den Lippen beugte ich mich zu ihr herüber. „Ich bin ein Gentleman.“ Sie beugte sich ebenfalls zu mir, nun auch lächelnd. „Und ich bin irgendwo sicherlich eine Lady. Aber auch Ladys möchten geküsst werden.“ Das konnte ich mir schlecht zweimal sagen lassen. Sanft berührten meine Lippen ihre. Unsere Augen fest verschlossen, schwebten unsere Oberkörper für wahnwitzige Sekunden über dem Küchentisch und erst ein tiefes Räuspern brachte uns dazu, die geröteten Lippen voneinander abzuwenden. Mit Unschuldsmine blickte Rhea zu ihrem Vater herauf, während ich vorsichtig schon einmal die Tasse von mir fort schob, um laufen zu können, wenn es nötig war. Joseph blickte zuerst Rhea, dann mich fest an. Sein Blick blieb auf mir liegen. Bohrend. „Und? Willst du sie nicht auch endlich fragen, ob sie mit dir zum Abschlusstanz geht?“ Sein warmer Tonfall überraschte mich und ich schaute zu Rhea. Vermutlich sprach sie genauso viel über mich daheim, wie ich über sie und sowohl Joseph, als auch Lucrezia warteten eigentlich nur noch darauf, dass wir endlich mal Nägel mit Köpfen machten. „Würdest du …“ Rhea unterbrach mich: „JA!“ Wir mussten lachen und erst als wir beide grinsend aufhörten, bemerkte ich, dass Joseph mitgelacht hatte. Er verschwand wieder in der Backstube und ich lehnte mich wieder zu Rhea, meiner Freundin, um ihr einen Kuss auf die Wange zu hauchen und meine Nase in ihren wundervollen Haaren zu vergraben. „Das sollten wir wiederholen“, murmelte ich und sie musste kichern. Es war das erste Mal, dass ich diesen Laut von ihr hörte. Ich sollte nie wieder genug davon bekommen. Die Wochen bis zum Abschluss verflogen wie im Flug. Dass wir nun ein Paar waren, machte schnell die Runde, aber wir fühlten uns nicht bereit, mit dem Abschluss der Schule einen weiteren Schritt zu wagen. Noch nicht. Wir wollten die Zweisamkeit genießen, die aufregenden Abenteuer, die wir in und um Bath herum erlebten, die Spaziergänge und Diskussionen über Frauenrechte und arbeitende Mütter, genossen die Museumsbesuche und die Ausflüge in die Geschichte und versprachen uns, irgendwann einen Urlaub in London zu machen und das Grab von Rheas Mutter zu besuchen. Und das Denkmal, das sie für jene Soldaten aufgestellt hatten, die im zweiten Weltkrieg gefallen waren. Der Tod unserer Elternteile hatte uns eng zusammengeschweißt. Wir verstanden den Schmerz des jeweilig anderen und wussten ihn zu lindern. Rhea holte nur das Beste aus mir heraus – ich lachte und hatte Spaß, war ernst und blieb erwachsen, tollte mit ihr durch das Schwimmbad und las schweigend mit ihr. Eines Nachmittags war meine Mutter auf Geschäftsreise in die umliegende Stadt gefahren und die Maschinen lagen stumm auf den Ländereien dar. Ich nahm Rhea an der Hand, während wir uns durch die hohen Getreidefelder schlichen. Der Weizen kratzte an meinen blanken Unterarmen und Rhea fluchte ein ums andere Mal leise, wenn das Getreide an der Haut kratzte. Eine der Landmaschinen – ein Mähdrescher – ragte stolz vor uns auf und ich wandte mich zu ihr. Ich sah das aufgeregte Funkeln in ihren sturmgrauen Augen und musste lachen. „Wenn du willst, können wir eine Runde fahren. Das Feld dort“, ich deutete auf das Feld, das nebenan lag, „ist schon abgemäht…“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, zog ich mich auf den Fahrersitz und streckte die Hand nach ihr aus. Nur kurz zögerte sie, dann ließ sie sich von mir hochziehen und fiel hinter mich auf den Sitz. „Es ist ganz schön hoch“, war das erste, was erstaunt ihre Lippen verließ und womit sie mich zum Lachen brachte. Ich drehte mich zu ihr um und bemerkte, dass sie rot auf den Wangen war. Es war ihr peinlich! Ich drehte meinen Oberkörper noch weiter in ihre Richtung und küsste sie sanft auf die Wange. „Du bist wundervoll“, raunte ich leise und sie klopfte mir mit einem beschämten Lachen auf den Oberarm. „Und du ein Trampel. Nun mach schon!“ Mit brüllendem Motor fuhren wir auf das gemähte Feld. Es war nicht schnell, aber dennoch war der Wind in der Sommerhitze erfrischend und Rhea lachte, die Arme weit von sich gestreckt. Ihre Lebensfreude wärmte mir das Herz und in diesem Moment wünschte ich mir, mein Leben würde nur noch hieraus bestehen: Treckerfahren mit Rhea, ihr Lachen und Juchzen zu hören, ihre Wärme in meinem Rücken zu spüren und das leichte Vibrieren der Maschine unter den Beinen, während die Sonne von oben auf uns herab schien, heiß und unnachgiebig. „Jetzt möchte ich fahren!“ Und ich ließ sie. Ich wusste, dass sie noch nie ein Auto oder dergleichen gefahren war – das schickte sich nicht – aber sie hatte ein Händchen für die große Maschine und fuhr sicherer, als ich erwartet hatte. Lachend streckte ich die Arme unter ihren hindurch und schaltete, als sie es vergaß, spürte ihre Lippen zart an meiner Wange, umschloss ihr Gesicht und zog es zu mir. Der Motor brummte, das Fahrzeug stand und Rhea drehte sich zu mir um, ihr Oberkörper an meinen gepresst, ihre Lippen auf meinen. Ich spürte ihre Brüste, die sich willig gegen mich wölbten und ertastete ihren Rücken. Ein ungehaltenes Raunen verließ meine Lippen und nur widerwillig löste ich mich von meiner Freundin, die mich so unverhohlen gierig anschaute. „Wir sollten heiraten“, hörte ich sie aus weiter Ferne sagen und musste lächeln. Liebevoll griff ich nach ihrem Gesicht, hielt es lange Zeit zwischen meinen Händen, Stirn an Stirn, sog Duft und Atem ein, genoss den warmen Herzschlag, den alleine ihre Anwesenheit auslöste. „Wir sollten noch viel mehr als das“, antwortete ich mich rauchiger Stimme und sie kicherte, schmiegte sich an mich und spielte mit den Knöpfen meines Hemdes, ohne sie zu öffnen. Voller Liebe küsste ich ihren Haarschopf und begnügte mich mit der Aussicht darauf, diese wundervolle Frau bald heiraten zu dürfen und sie dann zur glücklichsten Frau dieses Landes zu machen. Und sie mich hoffentlich auch zum glücklichsten Mann. Der Abend der Wahrheiten war also gekommen. Zufrieden führte ich Rhea durch die Hallen der Schule. Ich würde dieses Gebäude niemals wiedersehen, während Rhea hier ihre Ausbildung machen würde. Es passte zu ihr. Die junge, aufstrebende Frau, die arbeiten wollte und lehren wollte, die an allem interessiert war und so neugierig und aufgeschlossen, dass es schwer für sie war, als normal durchzugehen. Ich liebte sie umso mehr für ihren Entschluss, auf eigenen Beinen stehen zu wollen. Ich musste mir keine Gedanken machen, dass sie Probleme haben würde, während ich nach Deutschland ging, um dort die Besatzungszonen der Briten als Fußsoldat abzusichern. Dank meiner Mutter konnte ich einige Brocken Deutsch, mit denen ich mich verständigen können sollte und das hatte mich dafür qualifiziert. Nicht viele Briten sprachen Deutsch, verständlicherweise, war es doch die Sprache des Feindes. Rhea schwebte an meiner Hand durch die Tanzhalle. Natürlich gab es Frauen in unserem Jahrgang, die sehr viel weiblicher und femininer waren. Rachel Leroy oder Katie Dupont waren dafür nur Beispiele, doch sie waren langweilig und wenig spannend. Rhea stach aus der Menge hervor und jedem Mann ins Auge – wenn auch nur für die Sekunden, die sie den Blick erwiderte. Die meisten wandten sich dann schockiert, angeekelt oder belustigt ab. Sie rückte ein wenig näher an mich heran und ich legte meinen Arm um ihre Taille. Sie gehörte zu mir. Sie musste sich nicht schämen. Sie musste keine Angst haben. Sie gehörte hier her – an meine Seite, an diese Schule, zu diesen Menschen. Und doch war sie anders als sie alle und das machte sie so Besonders. Ich küsste sie sanft auf die Schläfe und sie entspannte sich. „Ich liebe dich“, flüsterte ich so leise, dass nur sie es hören konnte und spürte, wie ihr Lächeln auf meiner Brust sich formte. „Das … hast du noch nie gesagt.“ Sie blieb stehen und wir standen in der Mitte des schrecklich dekorierten Raumes, mit der schrecklich altmodischen Musik – nur Rhea und ihre wunderschönen Augen, der Duft nach Herbst und Schokolade, nach Liebe und Familie. Ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht und küsste sie liebevoll. „Ich liebe dich“, wiederholte ich und sprach diese Worte noch ein Dutzend Mal, leise geflüstert gegen ihre Lippen. Jedes Mal machte mein Herz einen Sprung, jedes Mal wollte es vor Freude bersten, jedes Mal sagte es nimm endlich den Ring! … Und jedes Mal war ich zu vertieft in das Gefühl, zu überzeugt davon, dass der Moment nicht perfekt genug war, dass ich mich nur wiederholte und spürte, wie Rhea mir immer näher kam. „Ich liebe dich“, war es nun ihre Stimme, die mein Ohr kitzelte, die es sanft liebkoste und ihre Augen suchten meine und wir versanken ineinander. Das war unser Abend. Aber die Schachtel blieb unbeachtet in meiner Manteltasche. Drei Wochen später musste ich England verlassen. Mein Dienst bei der Armee fing an. Mein Herz zog vor Heimweh, als ich am Bahnhof stand, meine Mutter ein letztes Mal umarmte und ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab. Flehend schaute sie mich an – der Blick einer Mutter, die ihren Sohn nicht gehenlassen wollte, weil sie wusste, was dort draußen lauerte – doch sie hielt mich nicht zurück. Stattdessen trat sie einen Schritt zurück und überließ mich Rhea es. Joseph war ebenfalls mitgekommen und da seine Tochter wie versteinert schien, ging er einen Schritt auf mich zu. „Pass auf dich auf, Junge“, sagte er und seine Stimme war voller Sorge. Es hätte mich überrascht, wäre ich nicht in den letzten Wochen zu dem Schluss gekommen, dass Joseph ein großes und gutes Herz hatte, das überquoll vor Liebe für seine Tochter und damit wohl auch für mich. Ich lächelte aufrichtig und schüttelte ihm die Hand. „Passen Sie auf Rhea auf, Sir“, bat ich ihn förmlich, „bis ich wieder zurück bin.“ Joseph war nicht in der Lage, mir zu antworten. Rhea schob sich in mein Sichtfeld und umarmte mich stürmisch. Es lag jene Verzweiflung in ihrer Umarmung, die einen an allem zweifeln ließ: tat ich wirklich das Richtige? Sollte ich nicht viel eher mit ihr weglaufen? Oder sie wenigstens nie wieder loslassen? Ich vergrub mein Gesicht in ihren Haaren, doch erlaubte mir nur eine kurze Umarmung, ehe ich sie sanft von mir schob. Sie verstand – vor meinen neuen Kameraden durfte ich keine zu große Schwäche zeigen. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und musste lachen. „Ich … ich habe was für dich …“ Und sie zog mein Taschentuch aus ihrer Tasche, was auch mich lachen ließ – neben den Initialen meines Vaters waren nun auch meine eingestickt und ein come home safely erstreckte sich über eine Ecke. Mir war zum Heulen zumute, doch ich lächelte und dankte ihr leise für ihre Worte. „Schreib mir, ja?“ „Jeden Abend.“ „Und komm bald zurück.“ „Sobald ich kann.“ „Pass auf dich auf, Dorian. Versprich mir, dass du zurück zu mir kommst.“ Ich beugte mich zu ihr und küsste sie. „Ich verspreche es.“ Deutschland war kaputt. Ich hatte es mir grausam vorgestellt, doch keine Ahnung davon gehabt, was der Krieg alles beschädigt hatte. Die wenigen Besuche in London hatten mir das Blut in den Adern gefrieren lassen, doch hier in der Hauptstadt des ehemaligen dritten Reichs, war die Zerstörung noch schlimmer. Nicht nur die der Straßen, Häuser und Kirchen – die Menschen gingen mit geduckten Köpfen und hielten nicht inne, ehe sie daheim oder bei der Arbeit ankamen. Ich fühlte mich vom ersten Moment an nicht wohl. Weder bei meiner Kompanie – zwölf Mann, stationiert in Charlottenburg in einer ehemaligen Kaserne der Nazis – noch in der Stadt an sich. Der britische Sektor war heiler, als andere Sektoren, doch alleine das Wissen, dass mein Vater irgendwo hier umgekommen war … irgendwo in diesem fremden Land, weit entfernt von zu Hause, von Frau und Kind … machte mich traurig. In meinen Kameraden fand ich mit der Zeit gute Freunde, mit denen ich noch heute hin und wieder Kontakt pflege. Aber mit keinem der Kompanie konnte ich so reden wie mit Rhea. Das erste halbe Jahr verging schnell. Der Drill war hart, obwohl kein Krieg war und wirklich bewachen mussten wir auch nichts. Ich freundete mich mit ein paar deutschen Arbeitern an, die an dem Schloss Charlottenburg arbeiteten und anfangs unterhielt mich jeden Morgen einige höfliche Minuten mit der Kellnerin in dem Restaurant, in dem wir häufig aßen. Schnell bemerkte ich, dass ich ihr damit Hoffnungen machte und unterließ es. Die belächelnden Kommentare meiner Kumpanen, dass ich mir etwas entgehen lassen würde, beachtete ich nicht. Ungefähr ein Jahr nachdem ich in Deutschland stationiert worden war, wurden mir drei Urlaubstage in die Heimat gewährleistet. Dummerweise war Rhea zu der Zeit auf Klassenfahrt mit ihren Schülern und so konnte ich nur meiner Mutter von meinen Erlebnissen erzählen, die bei weitem keine so gute Zuhörerin war, wie Rhea. Außerdem vermisste ich sie. Der Ring in meiner Manteltasche war noch immer da. Ein paar Monate später übten wir auf dem Gelände einer anderen britischen Einheit, in der Nähe des Bezirks Tiergarten, als ein befreundeter Soldat aus meiner Kompanie auf eine noch funktionierende Landmiene trat. Der Krach war ohrenbetäubend. Das Pfeifen hallte in meinen Ohren wieder, während wir alle – auf Geräusche wie diese gedrillt – unsere Waffen entsicherten und auf den Befehl unseres Obersts warteten. Zu hören waren jedoch nur die erbärmlichen Klagelaute von Smith. Seine Schreie gingen mir unter die Haut und ich hörte, wie jemand „Sanitäter!“ brüllte, was mit lautem Gemurmel einher ging, das für mich keinen Sinn ergab. Jemand wollte mich zurückhalten, doch ich lief zu den Klagelauten meines Freundes, der vermutlich in Stücke gerissen verbluten würde, würde ihm nicht jemand helfen. Es war Glück, dass Hadrian Wynshire an dem Tag der Sanitäter in Tiergarten war. Ein Ruck ging durch meinen Körper, als er mich umriss. Wir rollten über den Boden und wütend schlug ich mit der Waffe nach ihm. „Er stirbt!“, hörte ich mich selbst rufen, „er stirbt, wir müssen ihm helfen!“ Der fremde Soldat schlug mir hart ins Gesicht und zwang mich mit seinem Gewicht zu Boden. „Du Trottel stirbst, wenn du auch nur einen Schritt weiter in seine Richtung gehst“, zischte er mir entgegen. Ich war wenig überzeugt, hörte nur die Schreie meines Kameraden und sein bitterliches Flehen, sein Weinen und Jammern und schnappte nach den schmalen Schultern des aktuellen Feindes, um ihn von mir zu schubsen. „Wir können ihn so nicht liegenlassen! Er braucht Hilfe! SMITH!“ Abermals warf der Fremde sich mir entgegen und riss mich endgültig zu Boden. Ich wurde von solch blinder Wut gepackt, dass ich ihm einen Schlag gegen das Kinn verpasste, meine Stirn gegen seinen Kiefer donnerte und mit Tritten versuchte, mich von ihm zu befreien. Sekunden später hatte er meine Handgelenke in seinem sehr festen Griff und mit einem gezielten Tritt in meine Weichteile meine Rebellion niedergeworfen. „Ich sagte: liegen bleiben.“ Heftig atmend und noch immer wutentbrannt, wenn auch mit schmerzendem Unterleib und leisem Wimmern unterlegt, schaute ich zu dem Soldaten auf. Eisig blaue Augen. Ein rot verschmierter Mund. Ein markantes Gesicht mit hohen Wangenknochen und tiefen dunklen Augenringen. „Das Feld ist voller Mienen“, spuckte er das Blut aus seinem Mund neben mich auf den Boden und hielt mich mit seinem beeindruckenden Blick dort, wo ich gerade lag, „also: liegen bleiben. Verstanden?“ Ich nickte. Tapfer ließ ich die Standpauke meines Vorgesetzten über mich ergehen und erduldete die Strafe, zwei Wochen Latrinendienst zu verüben. Es war nur recht und billig, nachdem ich mein eigenes Leben leichtsinnig aufs Spiel gesetzt hatte und direkte Befehle ignoriert hatte. Dass ich diese aufgrund der Explosion nicht einmal gehört hatte, stand nicht zur Debatte. Smith würde nicht durchkommen. Der arme Teufel quälte sich noch die ganze Nacht, schrie und jammerte, ehe der Militärarzt Erbarmen hatte und die Dosis an Schmerzmitteln erhöhte, bis Smith nicht mehr atmete. Wynshire – mein Lebensretter, wie ich herausgefunden hatte – hatte die ganze Nacht bei Smith verbracht und versucht zu retten, was zu retten war. Seine Einheit war wohl auf solche Fälle trainiert und deshalb überraschte es mich, dass ich ihn kotzend vor dem Sanitätszelt wiederfand. Schweigend reichte ich ihm meine Feldflasche. Er lehnte sie dankend ab. „Ich brauche was Stärkeres“, brachte er hervor und ich nickte. Ohne darüber nachzudenken folgte ich ihm zu seiner Kompanie. Unser Oberst hatte angesichts der Umstände eine zweitägige Pause erwirkt, die wir zusammen mit der anderen Einheit in Tiergarten verbringen würden. Die Nähe zu dem Mienenfeld führte mir vor Augen, wie kurz das Leben war und ich sehnte mich nach Bath. Nach Rhea. Ich fand mich an diesem Abend mit Wynshire im verlassenen Aufenthaltsraum der Tiergartner wieder. „Sind alle ausgeflogen“, informierte mich mein Retter, als er sich die Jacke vom Oberkörper riss, die ersten Knöpfe des steifen Hemds auf zerrte und sich auf einen der Stühle fläzte, „ist wohl Tanznacht irgendwo hier. Keine Ahnung, ich halt nicht viel von den Deutschen. Oder von Tanznächten.“ Ein kurzes Grinsen zuckte über sein Gesicht und ich wusste nicht, woher der Eindruck rührte, aber ich hielt es für klüger, zu schweigen und mich, ebenfalls ohne Jacke, auf den Stuhl gegenüber zu setzen. „Ich wollte dir danken“, ging ich also dem Grund nach, warum ich hier war und Wynshire nickte. „Ja. Wie auch immer. Wo kommst du her?“ Ich zog die Augenbrauen zusammen und verspürte den gleichen Ärger, den ich zuvor verspürt hatte. „Wie auch immer?“, wiederholte ich seine Worte ungläubig und Wynshire seufzte gereizt. „Hör mal, McAlistair. Wir hatten alle einen harten Tag und ich habe keine Lust, Doktor zu spielen, in Ordnung? Also lass uns über was Schönes reden oder verschwinde.“ Ich verschwand. Dass mein Retter also eines jener ungehobelten und unerzogenen Wesen war, die nicht einmal im Ansatz Manieren aufwiesen, machte mir schwerer zu schaffen, als ich es mir selbst eingestehen wollte. Wie konnte jemand, der sein Leben dergleichen selbstlos aufs Spiel setzte, so wenig Anstand haben? Ich kehrte zu meinen Kameraden zurück, die alle in ähnlich verwirrter und ängstlicher Stimmung wie ich selbst waren. Wir hatten alle geglaubt, dass wir hier sicher waren. Dass, nachdem die Deutschen besiegt waren, keine Opfer mehr zu zählen sein müssten. Und nun beobachtete ich, wie mein Oberst die Zähne zusammenbiss und den Brief an die Familie Smiths verfasste, in der er ihnen mitteilen musste, dass ihr Sohn an einer wahllos gesetzten Landmiene verreckt war. Wütend donnerte ich meine Faust auf den Tisch. Meine Kameraden schauten mich verwirrt an, doch ich verließ die Kaserne wortlos wieder. Ich konnte es keine Minute länger da drin aushalten. Ich fühlte mich hilflos und wusste, dass ich das Gefühl nicht mochte. Es kam alles zurück – die Trauer über den Tod meines Vaters und die Hilflosigkeit. Ich wusste, dass ich nichts für Smith hatte tun können. Und dennoch … dennoch hatte ich meinen Vater da draußen sterben sehen. Ich hatte es zumindest versuchen müssen. Ein wenig später am selben Abend kam mir ein Gedanke, während ich mein Gewehr reinigte: hatte Wynshire nicht mit mir reden wollen, weil er selbst Angst hatte? Weil er sich ähnlich hilflos fühlte? Er hatte einen bescheidenden Tag gehabt, hatte mein Leben gerettet und war mit blutendem Kiefer davongekommen. Aber er hatte die Nacht über bei Smith verbringen müssen. Das war der erste Abend, an dem ich nicht Rhea schrieb, sondern zu Hadrian Wynshire ging. „Es tut mir leid“, begrüßte ich den Sanitäter, der mit einer angebrochenen Flasche Whiskey noch immer auf seinem Stuhl saß. Er schaute zu mir auf und grinste schief. „Setz dich“, erwiderte er und ich folgte seiner Einladung. Er schenkte mir ein und ich trank in einem Zug aus. Er schenkte mir ohne zu fragen oder zu zögern nach. Und auch ich fragte und zögerte nicht. „Es war auch ein harter Tag für dich. Ich hätte nicht so oberflächlich sein sollen. Ich möchte, dass du meine aufrichtige Entschuldigung annimmst.“ Amüsiert lupfte er die hellen Augenbrauen und musterte mich ungeniert. „Angenommen.“ Ich lächelte erleichtert und nippte am Whiskey, während er sein Glas leerte. „Hätte nicht gedacht, dass du zurückkommst.“ Anfangs hatte ich das Nuscheln für seine Art des Sprechens gehalten, doch die lilafarbene Stelle am Kinn, belehrte mich eines Besseren. Ich biss mir auf die Unterlippe. „Ich hätte nicht gedacht, dass das so übel endet.“ Ich nickte auf die Blessur und leerte den Whiskey. Er schenkte nach. „Ah. Hab schon Schlimmeres überstanden. Also, McAlistair, wo kommst du her?“ „Bath. Im Süden Englands.“ „Hmhm, kenne ich. Komme auch aus Somerset, dachte mir doch, dass ich deinen Akzent erkenne.“ Ein schmales Grinsen folgte seinen Worten. „Wie ist Bath so? Wartet jemand auf dich?“ Sehnsüchtig lag mein Blick auf der goldbraunen Flüssigkeit. „Ich hoffe es. Ich habe eine Freundin in Bath, Rhea. Sie … bedeutet mir alles.“ Und einem Impuls folgend, den ich nicht deuten konnte, löste ich die kleine Schachtel mit dem Ring aus meiner Tasche und zeigte sie dem Sanitäter. Ein schiefes, was wohl auch seiner Blessur zu schulden war, Pfeifen war von ihm zu hören. „Donnerlittchen. Du willst die Kleine heiraten?“ Amüsement stand in Wort und Auge meines Retters und ich konnte nicht anders, als bei dem Gedanken an Rhea zu lächeln. Sie hielt mich wach, sie hielt mich am Leben hier draußen. Nun. Neben Hadrian Wynshire, der mir das Leben gerettet hatte. Hadrian drehte die Schachtel mit dem Ring und begutachtete das Schmuckstück von allen Seiten, ehe er mein Lächeln auffing. Ein Zucken ging durch sein Gesicht, ehe er mit die Schachtel zurückreichte. „Ja. Ich wollte sie schon vor der Abreise fragen, doch erschien mir das unpassend.“ „Weil sie dich eh für die nächstbeste Pfeife sitzenlässt?“ Ärger ließ meine Augenbrauen zusammenzucken, doch ich blieb ruhig. Statt sofort zu antworten, spülte ich den Ärger mit dem Whiskey herunter. „Nein. So ein Mädchen ist sie nicht. Aber …“ „Aber du bist dir nicht sicher, ob du nicht die nächste Dirne aus Berlin flachlegst?“ Ein wildes Grinsen zeichnete sich auf Hadrian Wynshires Zügen ab und ich war mir nicht sicher, ob ich es ihm am liebsten aus selbigen geschlagen hätte, oder ob ich es amüsant fand, was er hier sagte. Sofern es letzteres war, hatte ich bereits jeglichen Anstand verloren und würde es auf den billigen Alkohol schieben, den wir gemeinsam tranken. „Aber ich wollte ihr nicht die Gelegenheit nehmen, sich anders zu entscheiden. Auf jemanden zu warten, der vielleicht nie zurückkehrt, ist nicht besonders…“ „Anständig?“, unterbrach der Sanitäter mich mit einem schiefen Grinsen und füllte mein Glas nach und ich konnte nicht anders, als milde zu lächeln. „Ja. Anständig.“ Anständig leerten wir auch die Flasche Whiskey und als ich ging, saß Hadrian Wynshire noch immer an seinem Tisch. Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter. Die blauen Augen des Sanitäters wirkten nachdenklich. Sie waren in die Ferne gerichtet, nahmen ihre Umgebung nicht einmal richtig wahr. Unwillkürlich drängte sich einem der Eindruck auf, dass er selbst nicht Teil der Szenerie war, dass er nicht hineinpassen wollte – er schien wie ein junger Mann aus reichem Hause, mit aristokratischer Nase, stolzen Wangenknochen und unpassendem Humor. Aber auch wie ein gebrochener Mann. Seine Frotzeleien und sein mangelnder Anstand sollten über seine Unzulänglichkeit, sich öffnen zu können, hinwegtäuschen. Auf keine einzige Frage meinerseits hatte er geantwortet, sondern sie stets mit Gegenfragen beantwortet – welche Art von Mensch verschloss sich selbst so sehr anderen gegenüber? Ich ging ohne ein Wort des Abschieds und nahm das Bild des gebrochenen Mannes mit mir. Am nächsten Abend schrieb ich Rhea. All meine Liebe und Sehnsucht flossen in die Zeilen zu ihr und wehmütig schickte ich den Brief ab. Ich wusste, dass sie den Brief erst viel später erhalten würde und dennoch änderte das nichts daran, dass ich auch am Abend darauf und am Abend darauf einen Brief an sie verfasste. Ich vermisste sie. Jede Faser meines Körpers sehnte sich nach ihrem kecken Lächeln, ihrem unkonventionellen Witz, ihrem unbestechlichen Charme. Ich trug sie in meinem Herzen, wohin ich auch ging. Die Zusammenlegung der Lager wurde vorerst auf unbestimmte Zeit verlängert und so hatte ich das fragliche Vergnügen, den fünften Abend nach Smiths Ableben abermals im Lager der anderen Kompanie zu verbringen. Meine Wege führten mich automatisch zum Zelt des Sanitäters, dessen Verletzung mittlerweile verheilt war und nur eine kleine Schwellung erinnerte noch an seine Heldentat. Zumindest äußerlich: ich würde sie niemals vergessen. Ich schuldete ihm mein Leben. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich ihn auch nach diesem fünften Abend ein drittes und ein viertes Mal aufsuchte. Und warum ich all die Seitenhiebe und Sticheleien wortlos über mich ergehen ließ, mich ihm absolut öffnete und andersherum rein gar nichts über den Mann hinter dem Namen Hadrian Eskin Wynshire erfuhr. Erst beim fünften Treffen sollte ich etwas über ihn erfahren. Die Gemeinschaftsduschen lagen verlassen vor mir. Bewusst war ich eine Stunde früher aufgestanden als meine Kameraden, um die Einsamkeit zu genießen. Als ich das Wasser anstellen wollte, hörte ich vorsichtige Schritte hinter mir und einem Impuls folgend, hielt ich mich versteckt. „Nun komm schon“, erkannte ich die Stimme meines Retters, die dennoch seltsam fremd in meinen Ohren klingelte. „Sei kein Frosch. Du hast mich darum gebeten.“ „Das … daran erinnere ich mich aber anders“, war eine weitaus tiefere Stimme zu vernehmen und ich stockte, noch nicht begreifend, in was ich mich manövriert hatte. Das vertraute Geräusch von Wasser, das auf die kalten Fliesen prasselte, durchdrang den Raum kurz darauf, gefolgt von einem erstickten Keuchen aus der Nachbarskabine. „Wenn du schon mit mir spielen willst, dann spielen wir nach meinen Regeln.“ – Mein Retter. „W-Was … bist du nur für ein Untier?“ – Der Fremde. „Sagt der, der gerade einen geblasen bekommt, huh?“ – Mein Retter. Nun begriff auch ich endlich, in welch bescheidener Situation ich feststeckte. Das Blut schoss mir in den Kopf und ich blinzelte gegen die Decke. Mein Herzschlag beschleunigte sich. War es das, was ich zu hören gedacht hatte? Es war doch unmissverständlich gewesen, nicht wahr? Ich presste mich gegen die von der Nachbarkabine entfernte Duschwand, darum bemüht, möglichst keine Geräusche von mir zu geben. Oh, bei Gott … das durfte doch nicht wahr sein! Hadrian! Hadrian Wynshire! Du gottloser Bastard… „Ah … Komm hoch.“ – Der Fremde. Ich hörte Schritte, leises Quietschen und versuchte, mich aus der Kabine zu schleichen. Ich erkannte nackte Fersen von meiner Position aus, einen entblößten Männerhintern. Oh, bei Gott und allem was mir heilig war…! Ich bekam Panik. Das hier war kein anständiges Treffen, keine Diskussion auf Augenhöhe – mein Retter war eine Schwuchtel. „Dreh dich um.“ – Der Fremde. „Ah. Ah. Meine Regeln.“ – Mein Retter. Abermals wurde Gewicht verlagert und ich nutzte die Chance, um zu flüchten. Meine Gedanken rasten und der einzige, den ich fassen konnte war, so schnell es ging zu verschwinden. Es vergingen Tage, in denen ich mit dieser Erkenntnis zu kämpfen hatte. Ich hatte die andere Stimme als einen Scharfschützen meiner Kompanie enttarnen können und ging sowohl ihm, als auch Hadrian Wynshire seit dem fraglichen Zusammentreffen aus dem Weg. Diese Art der … Unzucht … war weithin als Krankheit und ansteckend verschrien. Ich wusste, dass dem nicht so war – es war Unsinn. Ausgemachter Unsinn. Und dennoch galt es in der Armee als Straftat, als Verstoß gegen Sitte und Ordnung, mit einem Mann Geschlechtsverkehr zu haben. Oder auch nur den Gedanken daran zu verschwenden! Rein biologisch betrachtet ergab es auch keinerlei Sinn, einen Mann einer Frau vorzuziehen. Rein praktisch gesehen, hatte die Armee allerdings nur Männer zu bieten. Ich war schon immer ein rational denkendes Wesen gewesen und obwohl mir alleine der Gedanke zuwider war, suchte ich zu Beginn der dritten Woche unserer gemeinsamen Stationierung Hadrian Wynshire auf. Oder vielmehr suchte er mich auf. Es war das erste und letzte Mal, dass er in mein Lager kam. Der Scharfschütze hatte ihn bei unseren Kameraden offensichtlich verpfiffen und noch bevor ich hätte einschreiten können, hatten meine Kameraden ihm einige heftige Hiebe versetzt. „Genug!“ Ich schritt ein. Die Waffe gezogen, einen Warnschuss in die Luft feuernd, war nun auch unser Ober auf Habachtstellung und rief unsere Leute zur Ordnung. Nachdem der Scharfschütze die Situation erklärt hatte – zu seinen eigenen Lasten, eigentlich war er ein anständiger Mann – musste ich mich für meinen Griff zur Waffe rechtfertigen. Auch das war schnell erledigt und der Ober entließ uns. Ich ging zu Hadrian Wynshire herüber, der sich das Blut aus dem Mundwinkel wischte und vollkommen unbeeindruckt von alldem schien. „Ich entschuldige mich aufrichtig für das Verhalten meiner Kameraden“, intonierte ich monton und meine Augenbrauen zogen sich besorgt zusammen. Die Waffe wieder weggesteckt, zog ich das bestickte Taschentuch hervor und bot es ihm an. Er lehnte mit einem Kopfschütteln ab. „Schon in Ordnung. Verbring lieber nicht zu viel Zeit mit mir, McAlistair. Ich bin ansteckend.“ Und mit einem Klopfen auf meine Schulter ging er. Einen Moment erwog ich, ihm nachzugehen und für diese unnötige Bemerkung zur Rechenschaft zu ziehen. Dann jedoch entschied ich mich dagegen. Stattdessen schloss ich schweigend zu ihm auf und drückte ihm das Tuch in die Hand. Hadrian Wynshire blieb stehen und einen Moment fiel die Fassade des unbeeindruckten, kühlen Aristokraten. Pures Unverständnis spiegelte sich in den hellen Augen und die Lippen waren zur Frage geöffnet, die niemals ausgesprochen werden sollte, sich jedoch in den verwirrten Zügen widerspiegelte: Warum? „Es ist ganz einfach: du hast mir das Leben gerettet. Nein. Kein Augenrollen.“ Ich gab ihm einen freundschaftlichen Hieb gegen die Schulter und kramte von irgendwoher ein bitteres Lächeln hervor, das er sofort spiegelte. „Du brauchst jemanden, der auf dich aufpasst.“ Ärger spielte sich auf seinen Zügen ab, doch bevor er widersprechen konnte, fuhr ich fort: „Gerade nach dem heutigen Ereignis. Ich halte dir den Rücken frei.“ Wortlos starrte er auf meine Hand, die ich ihm zum Schwur hingehalten hatte. Er nahm sein Taschenmesser hervor und ritzte die eigene Handinnenfläche an und ballte die Hand zur Faust, um keinen Tropfen zu verschwenden, ehe er mir das Messer überreichte. Ohne zu zögern tat ich es ihm gleich und wir tauschten unser Blut als Zeichen des Versprechens. Ein schiefes Grinsen hielt auf seinen Zügen Einzug. „Bist du dir sicher, dass du nicht lieber auf deine Heckseite in meiner Nähe aufpassen willst?“ Und da war wieder die beiläufige Intonation von Unanständigkeiten. Ich zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Ich bin mir sicher, dass ich auf nichts in deiner Nähe aufpassen muss, als auf dich.“ Er senkte kurz den Blick und ich hatte das Gefühl, dass er etwas sagen wollte. Etwas, das tief schürfte, dessen Bedeutung unheimlich wichtig für ihn war, doch kein Wort kam über seine Lippen. Mit einem Seufzen legte ich den Arm um seine Schultern und zog ihn in Richtung berlinerische Bar davon. Die Wochen verflogen, doch kein Ende der Stationierung war in Sicht. Ich schrieb Rhea so oft ich konnte und erzählte von den Abenteuern, die ich mit meinen Kameraden erlebte. Oft ging es dabei jedoch nicht um den Plural, sondern lediglich um Hadrian Wynshire und mich. Wir besuchten die prägnanten Orte in Berlin und freundeten uns in der langen Zeit mit vielen ansässigen Deutschen an. Die wachsende Offenheit der Menschen überraschte uns und ein ums andere Mal musste ich Hadrian davor bewahren, mit jemandem nach Hause zu gehen. Ich verschwieg Rhea, dass es sich dabei um Männer handelte und beschwor gleichzeitig meine unendliche Sehnsucht nach ihr. Wir besuchten einige Museen zusammen, die vom Krieg verschont geblieben waren und erfreuten uns an der Kunst und Kultur dieses Landes. Wir liefen zusammen um die Wette und schossen zusammen auf Bierdosen, die wir zuvor geleert hatten – unnötig zu erwähnen, dass ich der bessere Schütze war. Wir versorgten einander mit Geschichten aus unserer Kindheit und Jugend, mit Geschichten von der ersten großen Liebe. Und der letzten. Ich verschwieg auch hier, dass es sich bei Hadrians Geliebten ausschließlich um Männer handelte. Ich hingegen hatte nicht viele Geschichten zu erzählen, war doch die erste und einzige große Liebe sie, Rhea. Ich schrieb ihr, wie wir zusammen die Wälder erkundeten und Landmienen entdeckten und sie unschädlich machten – unnötig zu erwähnen, dass Hadrian wesentlich geschickter darin war, als ich. Und ich schrieb ihr, wie sehr ich sie vermisste und wie sehr ich dem Nachhausekommen entgegen fieberte. Was nur die halbe Wahrheit war. Ich schrieb ihr auch, dass ich nicht wissen würde, was ich ohne den guten Freund, den ich hier gefunden hatte, in Bath tun würde und dass ich ihn ihr unbedingt vorstellen müsse. Dass sie ihn wundervoll finden würde und dass wir zu dritt Trecker fahren mussten. Und dass ich sie liebte. Mehr als alles andere schrieb ich ihr, dass ich sie liebte. Das war die ganze Wahrheit. Der Winter zog vorbei und wir feierten Weihnachten in Deutschland. Einige der Zivilisten hatten uns Stollen gebacken und brachten uns warmen Wein. Nette Menschen. Ich schrieb Rhea und bat sie um Verzeihung, dass ich noch immer nicht heim kommen konnte. Aber es waren nur noch zwei Monate, nur noch acht Wochen. Der Februar rückte immer näher und damit auch die Heimreise. Das neue Jahr feierten wir nicht. Wir beklagten einen weiteren Verlust; Carl James war an einer Lungenentzündung verstorben. Mein Vorgesetzter hatte wieder seinen bitteren Gesichtsausdruck aufgesetzt, als er den Brief aufsetzte, um den Eltern den sinnlosen Tod des Sohnes zu übermitteln. Ich wollte nach Hause. Anfang Januar 1952 hatte eine Sole in der Nähe unseres Standorts eröffnet. Vermutlich nur für wenige Monate, die Nachfrage nach derlei Dingen war in dem Nachkriegsland noch nicht besonders hoch. Doch für uns war es eine willkommene Abwechslung. Hadrian und ich gingen außerhalb der Geschäftszeiten zum Gelände und schmuggelten uns über den Zaun in das kleine Gebäude. Ich hinterließ einige Markstücke auf dem Tresen, um mich für die Gastfreundschaft zu bedanken, während Hadrian schon vor zu den weitläufigen Becken voll mit heißem Wasser ging. „Komm schon, Dorian!“ Seine kindliche Freude wirkte ansteckend und ich folgte ihm, die Klamotten achtlos von mir werfend und lediglich mit der Unterhose bekleidet, ins heiße Wasser. Ein tiefes, entspanntes Seufzen entglitt mir, während ich immer tiefer ins Salzwasser eintauchte und bemerkte erst, als ich schon bis zur Hüfte eingetaucht war, dass Hadrian hinter mich getreten war. „Beweg dich jetzt nicht“, raunte er gegen mein Ohr und ich blieb wie vom Donner gerührt an Ort und Stelle. Was hatte er damals gesagt? Ich sollte auf meine Heckseite aufpassen? Seine Finger griffen bestimmt nach dem Saum meiner Unterhose und ich legte die Hände um seine Handgelenke. „Das solltest du nicht tun, Hadrian.“ „Nicht? Was meinst du, warum ich mit dir unbedingt außerhalb der Geschäftszeiten hier sein wollte?“, kitzelte sein Atem an meinem Ohr und schickte ein angenehmes Kribbeln durch meinen ganzen Körper, gefolgt von aufwallendem Ekel mir selbst gegenüber. Entschlossen entfernte ich die Hände von dem bisschen Stoff an meinem Körper und drehte mich zu Hadrian um, fest in die kühlen Augen blickend. „Ich verlange eine Erklärung.“ Hadrian schnalzte mit der Zunge, doch anstatt Worte, ließ er Taten folgen. Heiß fanden seine Lippen Platz auf meinen – ich stieß ihn von mir. Das Wasser bot genug Wiederstand, als dass er nicht weit strauchelte und kaum zu Gleichgewicht gekommen, schloss er wieder nahe zu mir auf. Mit der Wand im Rücken hatte ich keinerlei Fluchtmöglichkeit. „Hadrian.“ Ich versuchte, warnend zu klingen. Ich versuchte, ihn davon abzuhalten. Doch er war wie eine Naturgewalt: einmal entfesselt bekam man ihn nicht mehr zu fassen. Er hielt mich mit den gefährlichen Augen genau dort, wo ich war und fasste mir in den Schritt. Ich holte aus und knallte ihm meine geballte Faust ins Gesicht. Noch im Fallen griff er nach meiner Hand, unbeeindruckt von der plötzlichen Gewalt und durch das Wasser im Vorteil, fiel ich mit ihm. Ich hatte keine Möglichkeit, ihm auszuweichen, als er ins Wasser eintauchte und mich mit sich zog, eine Hand in meinem Nacken und mir unter Wasser einen Kuss stahl. Salz, Wut und Unverständnis mischten sich miteinander. Ich wollte ihn wegstoßen, doch geschickt hatte er ein Bein um meine geschlungen und sich fest an mich gepresst. Er stahl mir den Atem mit seinem Kuss und das Salzwasser brannte in meinen Augen. Ich versuchte abermals, ihn mit Gewalt wegzuschieben, doch je mehr Druck ich ausübte, desto fester wurde der Kuss. Seine Zähne schnappten nach meiner Unterlippe und erschrocken wollte ich schreien – und entließ dabei die restliche Luft aus meinen Lungen. Darauf schien er nur gewartet zu haben: mit einer einzigen eleganten Bewegung presste er sich enger an mich und zwang meine Lippen offen zu bleiben, um nach der lebensnotwendigen Luft zu schnappen, die er mir soeben offerierte. Dass er dabei gleichzeitig mit seiner Zunge nach meiner schlug, war scheinbar nur ein netter Nebeneffekt. Ich wusste es besser. Nach wenigen schweren Herzschlägen tauchten wir auf. Ich funkelte ihn wütend an, noch zu atemlos, um irgendetwas zu sagen, doch ich kämpfte mich durch das Wasser an ihm vorbei zum Rand des Beckens. Er hielt mich zurück. „Geh nicht.“ Ich stockte. Seine Stimme kratzte ungewöhnlich rau an meinen Ohren und es lag jene Verletzlichkeit in ihnen, die einen gebrochenen Mann ausmachte. Sein Daumen strich unbeholfen über die Haut, die er zu fassen bekommen hatte und als ich mich umdrehte, wich er meinem Blick aus. Seine Augen voller Zweifel. Von Überlegenheit keine Spur. Nicht einmal der Hauch eines Grinsens auf seinen Lippen. Unschlüssig, was zu sagen war, verweilte er vor mir, den Blick fest auf meine Hand gerichtet, die von seiner umschlungen war. Dann verstand ich endlich. „Schon in Ordnung“, murmelte ich leise und ging auf ihn zu, schloss ihn in die Arme und störte mich nicht an der Erektion, die sich an meinen Oberschenkel drückte. Sanft legte ich eine Hand in seinen Nacken und presste seinen Kopf an meine Schulter, wissend, welches Bild das nun abgeben würde. Er hatte Angst. Angst vor den Gefühlen, die ihn übermannten. Angst davor, von ihnen verschlungen zu werden. Angst davor, wirklich zu ihnen zu stehen. Wie hart es sein musste, niemals geliebt zu werden. Sanft löste ich die Enge der Umarmung und fing sein Gesicht mit der anderen Hand ein, den Blick fragend in seine wankenden Augen gelegt. Er wollte schreien und toben, ausbrechen und lieben – und er wollte feixen und weinen, nie wieder ein Wort darüber verlieren. Aber allen voran wollte er geliebt werden. Und er hatte jedes Recht auf Liebe. Es muss nicht erwähnt werden, dass diese Nacht eine Nacht voller Wunder war. Ich hielt Hadrian lange im Arm, bis unsere Oberkörper zu frieren begannen, während unsere Lenden heiß waren. Er entschuldigte sich nicht für seine Taten, doch ich weiß, dass er es wollte. Und er zeigte mir, wie er sich zu entschuldigen pflegte. Erstaunlich, wie wenig ich von dieser Nacht noch in Erinnerung behalten habe. Das Wasser machte den Schmerz erträglich, doch nicht vergessen. Ich ließ zu, dass Hadrian sich entschuldigte, immer und immer wieder und ließ zu, dass er noch einen Schritt weiter ging – er brachte mich dazu, ihm meine Liebe zu zeigen. Und an diesem Abend realisierte ich, dass ich ihn wirklich und wahrhaftig zu lieben gelernt hatte. Es war absolut irrelevant, dass er ein Mann war und ich verliebt in Rhea. Es war absolut irrelevant, dass mein Körper ihm gehörte, immer und immer wieder, obwohl er so viel mehr verlangte. Es war absolut irrelevant, dass auch mein Herz ihm gehörte und ich es ihm sagte, immer und immer wieder und dass ich keinerlei verbale Antwort erhielt – seine Erwiderung war eine Erwiderung des Körpers, direkt aus dem Herzen gesprochen. Es folgten Taten. Er machte es so angenehm wie möglich. Er schaffte es, dass ich mich rettungslos in ihn verliebte. „Wir … wir müssen aufhören …“, flüsterte ich heiser. Schon lange waren wir aus dem Wasser getreten und er drückte mich soeben auf die Holzbank. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, war meines doch der Wand zugewandt, doch ich spürte seinen Atem auf meiner nackten Haut und seine Lippen, die federzart über meine Schultern fuhren. „Ich bin noch nicht mit dir fertig“, raunte Hadrian und ich spürte, wie er sich gewaltig in mir vorarbeitete. Es war eine Sünde - es war genau richtig. Es war nicht richtig, konnte gar nicht richtig sein - es war die süßeste Sünde, die man sich vorstellen konnte. Meine Liebesbekundung vermischte sich mit der seinen und ich konnte hören, wie er noch raunte: „Ich werde niemals fertig mit dir sein.“ Er fiel in den letzten Monaten unseres Einsatzes noch einige Male wie ein hungriger Wolf über mich her. Ich ließ es geschehen, wusste um die Sünde, wusste, dass es falsch war und dennoch … ergab ich mich ihm völlig. Ohne ihn schien ich nicht mehr ganz zu sein. Im Sommer 1952 kamen wir endlich zurück nach England und trotz dessen, dass ich ein Bild von ihr mit mir getragen hatte, war ich überwältigt von der Schönheit Rheas, von ihrer Wildheit und ihrer Leidenschaft, mit der sie mich umarmte. Ich war wieder zu Hause. Der Geruch von Aufregung, von Herbst und Schokolade umfing mich wie ein alter Freund und mein Herz flatterte vor Freude. In ihren Armen versunken fühlte ich mich wieder ganz. Ich liebte sie. „Du bist wieder da, du bist wieder da“, flüsterte sie mir immer wieder ins Ohr und nach der minutenlangen Umarmung, in der wir beide begonnen hatten zu weinen, versanken wir in einen innigen Kuss. Es war nicht die drängende Art eines Hadrian Wynshire – ich erschrak bei dem Gedanken und sie bemerkte es. „Ist alles in Ordnung? Dorian? Dorian!“ Ihre Sorge stach mir entgegen, rührte mich im Herzen und es quoll über vor Liebe und Glück. Ich ging vor ihr auf die Knie – alles um uns herum schien den Atem anzuhalten. Meine Kameraden begannen zu tuscheln und sogar Reisende und Passanten blieben stehen. Rheas Augen wurden groß, als ich aus der Hosentasche die abgegriffene Schachtel hervorzog und sie ihr mit pochendem Herzen hinhielt. „Rhea Goldstein. Ich hätte dich das schon vor Monaten fragen sollen. Ich liebe dich und nur dich. Der Rest meines Lebens soll dir gehören. Willst du meine Frau werden?“ Ihre Antwort ging in dem mädchenhaftesten Geräusch unter, das sie jemals von sich gegeben hatte und lachend fielen wir einander in die Arme, vom Jubel meiner Kameraden begleitet. In Wonne und Glück schwebend, erhaschte ich einen Blick auf meinen Freund Hadrian Wynshire, der mit einem schiefen Lächeln seine Glückwünsche bekundete. Doch seine Augen blieben davon unangetastet. Die kalten, gefährlichen, blauen Augen starrten mich an, betitelten mich einen Verräter und ich konnte nicht anders, als meinen Blick von ihm abzuwenden. Ich hatte Hoffnung in ihm aufkeimen sehen, Hoffnung, die ich nun vernichtete. Stattdessen schaute ich schuldbewusst zu Joseph, um dessen Erlaubnis ich nie gefragt hatte – doch als ich sah, dass auch er vor Freude weinte, machte ich mir keine Gedanken mehr darum. Ich war angekommen. Ich würde die Liebe meines Lebens heiraten und wir würden glücklich werden. Zur Not auch ohne Hadrian Wynshire. Hosted by Animexx e.V. 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