Ist das Leben nicht schön? von Nifen ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Mai 1979 Der Angestellten-Waschraum war brechend voll. Es war 2:30 Uhr und vor wenigen Minuten war ein weiterer, geschäftiger Abend in dem angesagten Musikpub ‚Stainless’ zu Ende gegangen. Das ‚Stainless’ war zwar weder der heißeste Club der Stadt, noch der exklusivste Treff für alle, die ‚In’ sein wollten, aber die gute Musik, die gespielt wurde sowie ein Schwung junger, nett anzusehender Mädchen, die fleißig Bier und andere Drinks servierten, hoben den Laden von der üblichen Kneipe um die Ecke ab, wo sich die typisch Frustrierten allabendlich die Kehle vollaufen ließen. Darüber hinaus hatte der Besitzer des ‚Stainless’ eine Nachtclub-Lizenz, so dass es kein so deutliches ‚Last Orders’ wie in anderen Schankbetrieben gab, das einen Endspurt und einen absehbaren Feierabend für die Kellnerinnen bedeutet hätte, die ihr mageres Gehalt gerne scherzhaft als Kilometergeld bezeichneten. Stattdessen war mit Feierabend erst dann zu rechnen, wenn die Band endgültig zu spielen aufhörte. Doch für heute hatten sie es geschafft, und so drängten sich sechs junge Frauen in dem kleinen Raum, die meisten mit keinem dringenderem Wunsch als die hochhackigen Schuhe gegen flache Treter zu tauschen. Auch Petunia Evans taten nach dieser Spätschicht die Füße weh, doch statt es ihren Kolleginnen gleichzutun, richtete sie sich nur rasch vor dem Spiegel die Haare und griff sich dann ihre geräumige Umhängetasche. „Wohin zu eilig, Evans? Noch eine Verabredung?“, fragte eines der Mädchen neugierig. Petunia nickte stumm. „Mit wem? Sag schon!“, mischte sich eine andere ein. „Sag bloß nicht mit dem Dicken, der dir schon seit ein paar Tagen schöne Augen macht.“ Das Mädchen, das der Tür am nächsten stand, verzog verächtlich das Gesicht. Petunia antwortete nicht, sondern drängte sich an ihr vorbei nach draußen. Sollten die anderen ruhig tratschen und tuscheln, ihr Gerede würde sie jedenfalls nicht von ihrem Plan abbringen. Vor dem Hinterausgang sah sich Petunia kurz suchend um, dann entdeckte sie ihn. Lächelnd ging sie auf ihn zu. „Mr. Dursley! Sie haben tatsächlich auf mich gewartet!“ Wenige Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen, um ihm die Gelegenheit zu geben, sie im Licht der Straßenlaterne zu bewundern. Sie wusste, dass ihm gefiel, was er sah. Denn auch wenn die rote, ausgestellte Hose, die sie zu der stahlgrauen Kellnerinnen-Bluse trug, im Verhältnis sündhaft teuer gewesen war, war sie genau jetzt jeden Penny, den sie dafür ausgegeben hatte, wert. Der Stoff umschmeichelte ihre Kurven an den richtigen Stellen, ließ ihren Körper sexy aussehen, war jedoch nicht im Geringsten transparent, denn das hätte billig gewirkt. Es war eine Gratwanderung zwischen ‚Reize zeigen’ und ‚zu viel entblößen’, zwischen Gosse und Klasse. Viele ihrer Kolleginnen schlugen für die Aussicht auf ein höheres Trinkgeld eher den Weg ein, beinahe obszön viel Haut zu zeigen, und belächelten Petunia für ihr verhältnismäßig zugeknöpftes Aussehen, doch Petunia war schlicht weitsichtiger in ihrem Tun. Kurzfristig gesehen war ein höheres Trinkgeld zwar schön, aber es sicherte einem nicht die Zukunft. Jugend war vergänglich, ebenso Schönheit, und Petunia hatte nicht vor, mit vierzig immer noch Bier zu servieren. Oder in dieser, vom Niedergang begriffenen Stadt festzusitzen, am besten an einen dieser Versager gekettet, die heute noch gut aussahen, morgen aber vor den verriegelten Toren eines weiteren, geschlossenen Stahlwerkes standen und das Arbeitslosengeld lieber in Alkohol umsetzten, als Frau und Kinder damit zu ernähren. Nein, danke! Genau das war der Grund, warum Petunia jeden Flirtversuch der einheimischen Männer vehement abgeblockt hatte und sich aus der Gruppe Geschäftsreisender, die seit knapp einer Woche wegen irgendwelcher langwierigen Verhandlungen nach Sheffield gekommen waren und allabendlich das ‚Stainless’ besuchten, den augenscheinlich unattraktivsten Mann ausgesucht hatte. Mr. Dursley war wenigstens zehn Jahre älter als sie, hatte schon ein paar graue Haare und neigte zur Korpulenz, aber wen kümmerte das? Er war außerdem Abteilungsleiter in einer Firma für Industriebohrer in London und er war unverheiratet. Fakten, die viel gewichtiger waren als der kleine Bauch. Außerdem hieß es doch, dass Dicke zur Gemütlichkeit neigten. Ein solcher Mann würde seine Ehefrau sicher nicht betrügen. Und ein solcher Mann war sicher nicht die Aufmerksamkeit eines jungen, ansehnlichen Mädchens wie ihr gewöhnt. Sicher, mit ihrem Gesicht konnte sie keinen Blumentopf gewinnen, aber hässlich war es nun auch wieder nicht und der Rest konnte sich durchaus sehen lassen. Alles, was sie jetzt noch tun musste, war ihn erkennen zu lassen, dass sie mehr Klasse hatte als die anderen Mädchen, dass sie Ehefraumaterial war. Und dann, nun ja, mit der Zeit würde sie ihn sicher lieben lernen. Petunia Evans war nicht immer so berechnend gewesen. Früher hatte sie durchaus andere Ziele gehabt, von einem aufregenden Leben und einem echten Märchenprinzen geträumt, aber das Leben hatte ihr unnachgiebig einen Blick für die Realität aufgezwungen. Eine Realität, in der sie zwar einen exzellenten Handelsschulabschluss als Sekretärin hatte, in der aber in den Vorzimmer der Werksbüros noch immer die gleichen alten Schachteln Dienst taten, die schon während Petunias Kindheit die Telefonate durchgestellt und die anfallende Schreibarbeit erledigt hatten. Und bei der momentanen Situation war es sogar bei diesen Damen fragwürdig, ob sie nahtlos vom Berufsleben in den Ruhestand würden wechseln können oder ob auch sie den Umweg über die stetig um sich greifende Arbeitslosigkeit würden nehmen müssen. Vielleicht hätte Petunia noch die Winzigkeit einer Chance auf eine Anstellung in ihrem Fach gehabt, wären ihre Eltern nicht im vergangenen Winter bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Somit aber existierten die mageren Beziehungen ihres Vaters nicht mehr und Petunia war froh, immerhin den Job im ‚Stainless’ bekommen zu haben, um damit die Strom- und Lebensmittelrechnungen begleichen zu können. Wenigstens war das elterliche Haus abbezahlt, so dass sie sich nicht auch noch um die Miete sorgen musste, denn dafür hätte das Gehalt aus dem ‚Stainless’ nicht gereicht. Damit dieser finanzielle Albtraum aber nicht zum Dauerzustand ausartete, galt es jetzt geschickt zu agieren, Chancen zu erkennen und zu nutzen. „Aber natürlich habe ich auf Sie gewartet, Miss Evans. Ich kann doch nicht zulassen, dass ein so hübsches Mädchen wie Sie zu dieser späten Stunde alleine durch die Stadt geht“, gab sich Dursley galant. Dass es tatsächlich nur wenige Schritte bis zur gut beleuchteten Bushaltestelle waren, tat den ritterlichen Absichten ja keinerlei Abbruch. Und Petunia würde ihn auch ganz gewiss nicht auf die Abgedroschenheit seiner Worte hinweisen. Denn dem eifrigen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, meinte er die Worte vermutlich mehr als ernst und war sonst wohl eher ungeübt in leichten Flirtereien. Ein Punkt, der in Petunias Augen nur für ihn sprach, und so dankte sie ihm lächelnd. Während sie zur Bushaltestelle gingen, erkundigte sie sich interessiert nach den Fortschritten der Geschäfte, die Mr. Dursley nach Sheffield geführt hatten. „Ich hätte mich schon gerne eher danach erkundigt, denn das, was Sie gestern erzählten, klang so erfolgversprechend, dass ich es den ganzen Tag über nicht vergessen konnte, aber heute Abend war es so laut...“ Das klang zwar recht dick aufgetragen, aber Dursley schien es bereitwillig zu schlucken. Außerdem war es nicht einmal wirklich gelogen. Zwar interessierten Petunia die großen Bohrmaschinen, die den Vertragsgegenstand darstellten, nicht sonderlich, dafür aber die Verhandlungsstrategien um so mehr, ließen diese sich doch auf vielerlei Lebensbereiche übertragen: Handwerkerrechnungen, Vorstellungsgespräche, Heiratsambitionen... Dursley lächelte selbstzufrieden. „Heute haben wir sie etwas schmoren lassen. Wir haben die Verhandlungen unterbrochen, unter dem Vorwand, dass ein anderer Konzern bereit sei, unser Angebot zu den momentanen Konditionen ohne Wenn und Aber zu akzeptieren. Jetzt würden wir die Unterlagen prüfen, aber die Geschäftsleitung habe schon signalisiert, den Abschluss mit diesem anderen Konzern tätigen zu wollen.“ Petunia nickte wissend. Ihre Mutter hatte diese Strategie immer als ‚Willst du gelten, mach dich selten’ bezeichnet und immer wieder betont, dass man einen Mann nie in dem Glauben lassen sollte, man wäre ohne andere Optionen. Eine Abwandlung dieser Strategie, gepaart mit der Salamitaktik, bei der sie Dursley scheibchenweise mit kleinen, persönlichen Informationen über sich lockte, wandte sie selbst gerade an. „Und morgen werden wir dann durchsickern lassen, dass wir die Geschäftsleitung überzeugt hätten, ihnen hier noch eine Chance zu geben, wenn wir hier doch vielleicht den besseren Abschluss, die besseren Konditionen bekommen können.“ „Das klingt wirklich gut, Mr. Dursley“, sagte Petunia anerkennend. In diesem Moment bog der Bus um die Ecke. Mit einem leicht bedauernden Lächeln sagte sie: „Es war wirklich nett, dass Sie mit mir auf meinen Bus gewartet haben.“ Dursley nickte nur. „Sehe ich Sie morgen wieder? Ich meine, haben Sie morgen wieder Dienst im ‚Stainless’, Miss Evans?“ Ein wenig verlegen fuhr er sich durch das Haar. Petunia nickte. „Ja, mein freier Tag ist erst übermorgen.“ Die Türen des Busses öffneten sich schnaufend und sie erklomm die Stufen. Bevor der Fahrer aber das Signal zur Abfahrt geben konnte, wandte sie sich noch einmal zu Mr. Dursley um. „Und bitte, nennen Sie mich Petunia.“ Die Türen schlossen sich und durch das Glas des Fensters getrennt, hörte sie noch, wie er ihr hinterher rief, dass er Vernon hieße. Petunia konnte sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen, als sie sich im hinteren Teil des Busses einen Sitzplatz suchte. Vernon Dursley müsste schon stark mit Dummheit geschlagen sein, wenn er den Hinweis, dass sie übermorgen Abend Zeit für eine private Verabredung hatte, nicht erkannte. Gepaart mit dem Geschenk ihres Vornamens, müsste es schon mit dem Teufel zugehen, wenn er morgen nicht all seinen Mut zusammen nahm, um sie zu fragen, ob sie nicht Lust habe, am folgenden Abend mit ihm auszugehen. Vielleicht würde sie ihm auch erlauben, sie nach Hause zu bringen. Exakt bis zur Haustür, wo sie ihm für den schönen Abend – egal, wie der Abend tatsächlich gewesen war – danken und dann das Haus alleine betreten würde. Denn schließlich war sie ein anständiges Mädchen. Das hatte sie ihm gegenüber mehrfach wie nebenbei erwähnt und da würde es nicht angehen, so plötzlich alle eigenen Regeln über den Haufen zu werfen und sich Dursley gegenüber nicht besser als ihre Flittchenkolleginnen zu erweisen. Nicht, dass sie noch Jungfrau war, schließlich hatte jeder ein Anrecht auf die Jugendsünden einer ersten Liebe, aber sie hatte Klasse und ließ sich eben nicht mit jedem hübschen Hintern ein, der ihren Weg kreuzte. Und auch jene Männer mit Potenzial wie Vernon Dursley mussten sie erst für sich gewinnen. Dann aber verbannte Petunia rigoros alle Gedanken an Dursley und die Pläne, die sie mit ihm hatte. Sie hatte jetzt Feierabend, endgültig, und zu Hause wartete die neuste Folge von ‚Drei Engel für Charlie’ auf sie. Einmal mehr dankte sie ihrem Vater für seine Vernarrtheit in Bezug auf Technik, insbesondere elektronische Spielzeuge. Kurz vor seinem Tod hatte ihr Vater, sehr zum Verdruss ihrer Mutter, einen Videorekorder der neusten VHS-Generation mit nach Hause gebracht. Für stolze £ 700, mehr als ein Monatsgehalt ihres Vaters oder fast drei Monatslöhne Petunias. Angesichts dieser Summe hatte Petunia nur zu gut verstehen können, dass ihre Mutter den Vater daraufhin aus dem gemeinsamen Schlafzimmer auf das Sofa verbannt hatte, aber das war es ihrem Vater vermutlich wert gewesen. Und Petunia ermöglichte dieser Luxus, trotz Spätschicht keine Folge ihrer Lieblingsserie zu verpassen. Mit wachsender Vorfreude fragte sie sich jetzt, welchen Schurken Kelly, Sabrina und Co wohl dieses Mal zur Strecke brachten, während der Bus durch die nächtlich verlassenen Straßen der Stadt fuhr. Da an den wenigsten Haltestellen jemand ein- oder aussteigen wollte, dauerte die Fahrt zu dieser späten Stunde kaum länger als dreißig Minuten und tatsächlich sah sich der Fahrer an ein paar zentralen Stationen wie dem Bahnhof gezwungen zu warten, um seinem Plan nicht voraus zu sein. Petunia genoss die Stille im Bus und die Erholung, die das Sitzen ihren Füßen gewährte. Bis an der Kathedrale ein junger Mann einstieg und sich nur wenige Reihen vor ihr niederließ. Petunia hätte nicht genau sagen können, wieso, aber sie wusste augenblicklich, dass der junge Mann einer von ‚denen’ war: ein Zauberer, ein magiebefähigter Mensch wie ihre Schwester oder dieser Junge, dieser Snape. Widerwille keimte in ihr auf, als sie an diese beiden Geißeln ihrer Jugend dachte. Ihre ach so perfekte, so besondere Schwester und dieser Secondhand-Loser mit ihren ach so tollen Fähigkeiten und ihrer ach so bescheuerten Freakschule. Magie! Pah! Konnte man damit reich werden? Nein! Irgend so eine Camp-Regel erklärte eindeutig, dass es ebenso unmöglich war, Werte wie Geld oder Gold zu schaffen, wie Lebensmittel aus dem Nichts herbeizuzaubern. Weshalb also auch keine goldene Schnupftabaksdose, in die man als Hexe oder Zauberer eine unglückselige Mause verwandelt hatte, einer Prüfung durch einen Juwelier standhalten würde. Was das Erlernen dieses Zaubertricks in Petunias Augen zu einer selten dämlichen Zeitverschwendung werden ließ. Überhaupt hatte keines der Schulbücher ihrer Schwester auch nur ansatzweise etwas an Wissen enthalten, womit sich später gutes Geld verdienen ließ. Allenfalls vielleicht noch mit diesen Medizinzaubertränken oder Heiltränken, wie sie wohl hießen. Aber es konnten ja schlecht alle Zauberer und Hexen Apotheker werden, zumal es ihnen verboten war, diese Zaubertränke an normale Menschen wie Petunia zu verkaufen. Alles, was also an dieser Hogwash-Schule gelehrt wurde, zielte darauf ab, die Hexen und Zauberer in ihrer beschränkten, magischen Welt gefangen zu halten. Warum sich die Bewohner dieses so isolierten Zirkels dennoch für etwas Besseres hielten, war Petunia ein völliges Rätsel. Zu genau erinnerte sie sich noch an das herablassende Verhalten der drei jungen Zauberer, die Lily und ihren Verlobten bei der Beerdigung von Mr. und Mrs. Evans begleitet hatten. Zugegeben, der eine, Sirius, hatte gar nicht mal so übel ausgesehen. Eher im Gegenteil. Aber er war dermaßen arrogant gewesen – als wäre das Haus der Evans in dem gehobenen Arbeiterviertel Sheffields, einschließlich seines Muggelbewohners Petunia Evans, aber ganz weit unter seinem Niveau –, dass Petunia es tunlichst unterlassen hatte, sein übermäßig aufgeblasenes Ego auch noch damit zu streicheln, dass sie ihn merken ließ, dass sie ihn, rein vom physischen Standpunkt aus betrachtet, attraktiv fand. Und dann war da noch dieser unsägliche kleine Dicke gewesen. Der hatte doch tatsächlich den Nerv gehabt, sie mit den Worten, dass er wahrhaft magischen Trost spenden könnte, angemacht und ihr dabei so eindeutig auf die Oberweite gestiert, dass Petunia sich am liebsten übergeben hätte. Dachte dieser Widerling etwa allen Ernstes, dass sie, bloß weil er ein Zauberer war, sofort willens war, mit ihm ins Bett zu steigen? Und vermutlich hätte er hinterher auch noch Dankbarkeit erwartet, weil er sich dazu herabgelassen hatte, Sex mit ihr zu haben... Entsprechend distanziert war auch der Abschied von Lily am nächsten Tag ausgefallen, auch wenn sie vermutlich der Schwester wirklich dankbar sein musste, dass diese auf ihren Erbteil verzichtete und Petunia somit das elterliche Hause allein gehörte. Nein! Nach dem Vorfall mit Peter Pettigrew war Petunia ein für alle Mal mit der Zaubererwelt fertig! Dieser Entschluss hinderte sie jetzt aber keineswegs daran, den Zauberer, der in ihren Bus, ihre Welt eingedrungen war – denn genau als das, einen Eindringling, empfand sie ihn –, aus den Augenwinkeln zu beobachten, auch wenn sie ihn eigentlich ignorieren wollte. Vermutlich war es eine verständliche, natürliche Neugierde auf die Frage, was diesen jungen Mann dazu brachte, ausgerechnet zu dieser späten Stunde mit einem gewöhnlichen Stadtbus durch eine Stadt wie Sheffield zu fahren, eine Antwort finden zu wollen. Oder auch ein heimlicher Grad Paranoia, der Petunia wissen lassen wollte, wo der Fremde ausstieg, um sich dann in der Gewissheit zu sonnen, den Bus wieder für sich zu haben. Leider aber kam es genau so, wie sie es nicht hatte haben wollen: Der Zauberer stieg an der gleichen Haltestelle wie Petunia selbst aus. Schlimmer noch! Offenbar ortsunkundig und angesichts der Tatsache, dass außer ihnen niemand Weiteres ausgestiegen war, hatte der junge Mann nichts Besseres zu tun, als sie anzusprechen. „Entschuldigen Sie bitte, wissen Sie zufällig, in welche Richtung das Haus der Familie Snape liegt?“ Petunias Laune verfinsterte sich. War ja klar, dass ein Freak den anderen Freak besuchte. Aber wieso hatte der Typ hier nicht einfach Magie benutzt, um zu Snape zu kommen? Ihre Schwester samt Anhang hatte sich doch auch mit einem Knall in das Evans’sche Haus gezaubert. Doch diese Frage konnte sie ihm schlecht stellen, ohne dass er misstrauisch werden und sie mit weiteren Fragen seinerseits behelligen würde. Und so sagte sie nur: „Durch den Spielplatz da vorne und dann rechts. Die Straße heißt Spinner’s End, eine Sackgasse, kaum zu verfehlen. Ist aber nur noch der Sohn da, die Eltern sind vor ein paar Jahren gestorben.“ Natürlich wusste Petunia, wo die Snapes wohnten. Schließlich hatten ihre Eltern oft genug darauf bestanden, Severus bis vor die Haustür zu fahren, wenn sie ihn zusammen mit Lily zu den Sommerferien vom Bahnhof abgeholt hatten. Dem Fremden gegenüber tarnte sie die Informationen aber als allgemeines Nachbarschaftswissen. „Vielen Dank.“ Der Fremde machte sogar die Andeutung einer Verbeugung, was einerseits altmodisch anmutete, andererseits aber irgendwie zu seiner ganzen Haltung passte. Dann überquerte er die Straße. Am Eingang zu dem Spielplatz drehte er sich noch einmal kurz zu Petunia um. „Rechts, richtig?“ Sie nickte stumm, denn jedes Wort, das sie auszusprechen versucht hätte, wäre ihr in diesem Moment mit Sicherheit im Hals stecken geblieben. Der junge Zauberer, den sie nun im Licht der Straßenbeleuchtung zum ersten Mal richtig sehen konnte, sah beinahe so aus wie Lilys Bekannter Sirius! Dasselbe dunkle Haar, beinahe die gleiche Statur, allerdings waren das Kinn und die Nase etwas anders. Und die Augen... Im Gegensatz zu der herablassenden Sorglosigkeit des anderen Zauberers lag in den Augen dieses Fremden ein Ausdruck der Verzweiflung. Energisch schob Petunia die Gedanken an den jungen Mann beiseite, die Frage, ob er wohl mit Sirius verwandte war, die tiefgründigen Augen, und überquerte ebenfalls die Straße, um, nach links gewandt, ihr eigenes Ziel anzusteuern. Doch sie kam nicht weit. Bereits nach wenigen Schritten hatten sie ihre Gedanken eingeholt, Gedanken, in denen geheime Sehnsüchte mitschwangen. Gedanken, die sich nicht so leicht niederringen ließen. Gedanken, die alles andere verdrängten. Vergessen war ‚Drei Engel für Charlie’. Vergessen der Wunsch nach einem erholsamen Fußbad. Ohne ihr Zutun schlugen ihre Füße einen anderen Weg als den nach Hause ein. Ein kleiner Fußgängerweg öffnete sich zwischen zwei Häuserreihen und diesem folgend erreichte Petunia kurz darauf einen Nebeneingang des Spielplatzes. Auf einer der nächtlich verlassenen Schaukeln setzte sie sich nieder und lauschte der Stille um sie herum und dem laut tosenden Wirbel der Gefühle in ihrem Inneren. Petunia wusste weit mehr über die Zauberwelt als sie nach außen erkennen ließ, mehr als ihre Schwester erahnte. Und Petunia war insgeheim doch ein wenig eifersüchtig auf all die aufregenden Möglichkeiten, die sich Lily durch die Magie boten. Aufregungen, Abenteuer, nach denen sie sich sehnte, die ihr als normalem Menschen aber verwehrt blieben. Denn ihr normales Leben, in dieser sterbenden Stadt, war geprägt von Routine und biederer Langeweile. Und, dessen wurde sich Petunia in diesem Moment bewusst, mit ihren Bestrebungen, Vernon Dursley auf sich aufmerksam zu machen, war sie dabei, sich auf immer in diesem Käfig der Spießigkeit einzusperren. Es würde zwar ein komfortabler, sicherer Käfig sein, aber ein Leben an Vernon Dursleys Seite würde gewiss bar jeder Abenteuer sein. Eine Welle lang unterdrückter Verzweiflung, gleich einem Echo dessen, was sie in den Augen des Fremden gesehen hatte, überrollte Petunia bei diesen Gedanken mit geballter Macht. Sie war erst 21 Jahre alt, war sie da schon bereit dergestalt mit dem Leben abzuschließen? All die Versuche, die sie unternommen hatte, Abenteuer in ihrem Leben zu erzwingen: Der Brief an Albus Dumbledore, den Schulleiter von Hogwarts, das geheime Studium von Lilys Schulbüchern, in dem Bestreben wenigstens von der Seitenlinie aus an der magischen Welt teilzuhaben, die Erkenntnis beim Anblick Sirius Blacks, dass sie auf mehr als nur einer Ebene bereit war, sich mit der Welt, in der ihre Schwester lebte, einzulassen – dass ein fester Freund, der Zauberer war, ihr diese Nähe zu einem aufregenderen Leben geben konnte. Gut, jemand wie dieser Peter Pettigrew wäre trotz seiner magischen Fähigkeiten nicht als Freund oder auch nur flüchtige Affäre in Frage gekommen und doch wusste Petunia, dass sie bei Sirius vermutlich nicht zweimal überlegt hätte. An diesem Punkt in ihren Gedanken angekommen, hörte sie auf einmal Schritte, die auf dem Kies der Wege knirschten, und als sie aufblickte, sah sie den Fremden von zuvor mit hängenden Schultern aus der Richtung kommen, die sie ihm gewiesen hatte. Petunia war überrascht, ihn so schnell, oder auch überhaupt wiederzusehen. Die Körperhaltung des jungen Mannes verriet ihr augenblicklich, dass er Severus Snape nicht angetroffen hatte. Noch hatte er sie nicht bemerkt, doch als er nur noch wenige Schritte von den Schaukeln entfernt war, konnte sie es sich nicht verkneifen, ihn leise anzusprechen: „Kein Glück?“ Für den ersten Moment erschrocken, wandelte sich der Blick des Fremden gleich darauf in Erkennen. „Nein, alles verschlossen. Verriegelt und verrammelt. Entweder war er nicht da oder er wollte nicht aufmachen. Beides gleich wahrscheinlich.“ „Und Sie waren nicht versucht, ein wenig mit Ihrem Zauberstab zu wedeln und ein paar Alohomoras zu probieren, um sich zu vergewissern, dass er wirklich nicht da ist?“, fragte Petunia mit hochgezogenen Augebrauen. Eine Aussage, die sie im nächsten Moment bereute, als der Fremde mit gezücktem Zauberstab auf sie zielte. „Wer sind Sie und woher wissen Sie, dass ich ein Zauberer bin?“, kam es drohend von dem jungen Mann. Petunia schluckte. „Man sieht es, Ihre ganze Haltung. Sie ist anders als die normaler Menschen.“ Als sie sah, dass ihn das noch nicht überzeugt hatte, fügte sie hinzu: „Meine Schwester ist auch eine von euch. Und ihre idiotischen Freunde, oder vielleicht auch nur die idiotischen Freunde ihres Verlobten, strahlen das gleiche, arrogante Selbstbewusstsein aus wie Sie. Allerdings haben die nicht gleich den Zauberstab gezückt, um damit wehrlose Muggel zu erschrecken.“ Petunia wusste, dass sie ins Plappern geriet, aber solange sie damit die Aufmerksamkeit des jungen Mannes soweit fesseln konnte, dass er nicht daran dachte, seinen Zauberstab auch einzusetzen, sollte es ihr gleich sein. „Wenn Sie also bitte so gütig wären, Ihren Zauberstab wieder zu senken...“, forderte sie ihn schließlich auf. „Es sei denn natürlich, Sie gehören zum örtlichen Muggelterrorismusverband und müssen daher irgendwelchen obskuren Statuten folgen.“ Dieser leicht dahingesagte Satz hatte ungeahnte Folgen. Der Fremde erbleichte, schien in sich zusammenzusinken, umklammerte dabei aber beinahe panisch seinen Zauberstab, obgleich er ihn senkte. Petunia, die während des kurzen Besuchs ihrer Schwester anlässlich der Beerdigung genug geflüsterte Unterhaltungen bezüglich einer wachsenden Gefahr in der Zauberwelt mitbekommen hatte, zählte blitzschnell Eins und Eins zusammen. „Sie sind ein Todesser?“, fragte sie mit beinahe tonloser Stimme. „Und wollten Sie deshalb zu Severus Snape?“ Lily hatte sie vor ihrem Aufbruch vor Severus gewarnt und es bedurfte keines Meistergenies, die Zusammenhänge zu erkennen. Allerdings wusste Petunia auch, dass sie von Snape nichts zu befürchten hatte, dass aber ihre Schwester zu blind war, das zu erkennen. Zwar waren sie, Petunia, und Snape sich nie grün gewesen, aber jeder, der Severus auch nur ein wenig kannte, konnte sehen, dass er bis über beide Ohren in Lily verliebt war. Daran hatte sich auch nichts geändert, als die Freundschaft zwischen ihnen zerbrochen war. Und auch, wenn sie Snape länger nicht mehr gesehen hatte, schon gar nicht in Lilys Nähe, glaubte Petunia nicht, dass ein so verschlossener Typ, wie er es war, so schnell seine Gefühle änderte. Woraus folgte, dass er nach wie vor alles tun würde, um Lily Kummer zu ersparen und egal, wie entfremdet sich die Schwestern waren, würde es Lily schwer treffen, sollte Petunia etwas zustoßen. Besonders wenn es durch Zauberhand geschah. Nein, egal, in was für finstere Gesellschaft Severus Snape geraten war, sie war vor ihm sicher. Wie es allerdings mit anderen Todessern stand, wagte Petunia nicht einmal zu denken. Der Fremde nickte bedrückt und erwiderte: „Ja, zu beiden Fragen. Aber ich glaube nicht, dass ich Sie heute Nacht umbringe, bloß weil Sie erraten haben, was ich bin. Dem Lord würde das zwar sicher gefallen, aber...“ Sein Blick verdüsterte sich und er starrte trüb vor sich hin. „Aber...?“, echote Petunia. Unwillkürlich ahnte sie, dass an diesem Zauberer mehr war als an allen anderen Vertretern dieser Gesellschaft, die sie bislang kennengelernt hatte, und das machte sie neugierig, ließ sie wider besseren Wissens nachfragen. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich dem Lord überhaupt noch zu Gefallen sein möchte“, antwortete er schließlich nach einer halben Ewigkeit und ließ sich auf die zweite Schaukel sinken. „Wieso das? Was hat Ihre Meinung über ihn geändert? Schließlich, wenn Sie sich ihm angeschlossen haben, müssen Sie doch mal an ihn geglaubt haben, oder?“ Petunia war, fast gegen ihren Willen, fasziniert. „Nicht an ihn direkt, sondern an das, wofür er eintritt: Die Überlegenheit reinblütiger und somit mächtiger Zauberer. Wie könnte ich auch nicht, wo doch das Motto meiner Familie ‚Toujours pur’ lautet.“ Petunia zuckte zusammen. Dieses Motto hatte sie schon einmal gehört, allerdings in weit sarkastischerem Tonfall: aus dem Mund Sirius Blacks. „Sie sind nicht zufällig mit Sirius Black verwandt?“, konnte sie daher als Frage nicht unterdrücken, würde dies doch die frappierende Ähnlichkeit mit diesem arroganten Bastard erklären. „Sie kennen meinen Bruder?“, kam es verwundert zurück. „Einer der idiotischen Freunde im Gefolge meiner magischen Schwester“, erwiderte Petunia mit einem leichten Augenrollen. Zu ihrer Erleichterung entlockte ihm dies ein leises Auflachen. „Jetzt weiß ich wie Sie zu der Meinung über die Freunde Ihrer Schwester gelangt sind. Mein Bruder ist tatsächlich ein Idiot. Regulus Arcturus Black“, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. „Petunia Evans“, erwiderte sie und ergriff die dargebotene Hand. „Ah, Lily Evans’ Schwester.“ Petunia nickte nur, blieb aber sonst stumm, in der Hoffnung, er würde wieder den vorherigen Faden aufnehmen. Indirekt tat er das auch. „Seien Sie froh, dass ich derzeit meine Position dem Dunklen Lord gegenüber überdenke, sonst wäre allein Ihr Name Grund genug, Sie zu töten. Ihre Verwandtschaft zu einer schlammblütigen Hexe wie Lily Evans...“ „Schlammblütig?“ „Muggelgeboren. Nicht reinblütig. Ohne Verbindungen in unserer Welt, ein Fremdkörper, der in unseren Reihen nichts zu suchen hat. Niemand, mit dem sich ein Zauberer, der etwas auf seine Herkunft gibt, einlassen würde.“ Jetzt war es an Petunia leicht ungläubig, leicht belustigt aufzulachen. „Und wie gedenkt diese ach so erhabene, reinblütige Zauberergesellschaft, sich zu erhalten, ohne zu degenerieren, wenn nicht frisches Blut den Genpool anreichert? Binnen weniger Generationen wäre doch dann jeder mit jedem verwandt und Wahnsinn, Schwachsinn und andere Erbkrankheiten würden mehr und mehr um sich greifen.“ Blutstatus, das war doch vollkommener Blödsinn! Erbost sah Regulus sie an. Man konnte deutlich erkennen, dass ihm Petunias Worte missfielen, er zugleich aber einen gewissen Wahrheitsgehalt nicht leugnen konnte. Wie etwa seine irre, reinblütige Cousine Bellatrix einerseits und seine halbblütige Großcousine Nymphadora andererseits, bei der zum ersten Mal seit Generationen die Black’sche Gabe der Metamorphmagi wieder aufgetreten war. Dennoch schien er nicht bereit zu sein, aufgrund einer einzigen Aussage eines Muggels all seine anerzogenen Prinzipien über Bord zu werfen. „Gene mögen vielleicht das eine sein, aber Schlammblütern fehlt es einfach an Finesse. Das ist in etwa so als versuchte man mit einem Vorschlaghammer eine griechische Statue zu formen. Es sind die Reinblüter, die über die feinen Meißel verfügen, es in der Magie zu wahrer Meisterschaft bringen können und somit die überlegenen Zauberer und Hexen darstellen. Eine Wahrheit, welche die Schlammblüter aber nicht zu akzeptieren gewillt sind. Und der Dunkle Lord... nun ja, offiziell hat er sich das Ziel gesetzt, die Dominanz der Reinblüter wieder herzustellen.“ „Und inoffiziell?“, forschte Petunia nach. Sie hielt die meisten Aussagen Regulus’ für ausgemachten Unsinn, zumal das Gerede über reinblütig, halbblütig und schlammblütig in ihren Ohren mehr nach Viehzucht denn nach Menschen klang, aber sie wusste auch, dass sie als Muggel in seiner Vorstellung noch unter einem Schlammblut in der Hackordnung rangierte. Sogar Lilys angeblich so muggeltolerante Freunde hatten sie das deutlich spüren lassen. „Inoffiziell oder auch in Wirklichkeit geht es ihm nur um sich selbst, seine eigene Dominanz, seine eigene Herrlichkeit. Ich glaube, für ihn sind die reinblütigen Hexen und Zauberer, die er um sich geschart hat, nur Mittel zum Zweck. Sie haben Einfluss in der Gesellschaft, Reichtum und Macht. Aber er tritt unsere Traditionen mit Füßen.“ Waren die ersten Worte dieser Erklärung noch beinahe nachdenklich gewesen, klang aus den letzten Worten unüberhörbar Bitterkeit heraus. „Warum begehrt ihr nicht auf, wendet euch von ihm ab, wenn er nur seine eigenen Ziele verfolgt? Ohne Gefolgschaft wird er bald kapitulieren müssen. Wenn ihr euch zusammentut, wird euer gemeinsames Ziel wieder in den Vordergrund treten.“ Als Kind einer Industriestadt hatte Petunia zu viel von den Vorgehensweisen der Gewerkschaften miterlebt, um nicht wenigstens etwas dieses Gedankenguts verinnerlicht zu haben. „Meinen Sie nicht, dass wir Reinblüter nicht schon längst wieder die Oberhand in der Zaubererwelt hätten, wenn wir es ohne jemanden wie den Dunklen Lord schafften uns zu organisieren? Ohne eine Leitfigur will sich jeder nur möglichst viele Vorteile gegenüber den anderen sichern und keiner ist bereit, von seinen Ansprüchen abzurücken. Der Lord hingegen kann auf eine direkte Nachkommenschaft von Salazar Slytherin, einem der legendären vier Gründer, pochen, weshalb er von allen als überlegen akzeptiert wird.“ „Und doch halten Sie seine Vorgehensweise für falsch, oder zumindest in Teilen“, ergänzte Petunia Regulus’ Ausführungen. Dieser nickte. „Er...“ Der junge Mann zögerte. „Er glaubt nicht an unsere gemeinsame Sache. Er glaubt nicht an uns. Er glaubt nicht einmal an sich selbst.“ Der letzte Satz war kaum mehr als ein Flüstern, als wage der Zauberer nicht, die Wahrheit auszusprechen. „Täte er es, würde er den Tod nicht fürchten. Dann würde er das Vertrauen haben, dass sein Wirken seinen Tod überdauert.“ „Aber, ist es nicht natürlich, den Tod zu fürchten, weil er etwas Unbekanntes darstellt? Es liegt doch in der menschlichen Natur, das Unbekannte zu fürchten“, widersprach Petunia. „Vielleicht“, gab Regulus zu. „Aber zum Tod gehört auch die Akzeptanz, dass er unausweichlich ist. Wenn man jedoch alles in seiner Macht Stehende tut, dem Tod zu entgehen, in dem Versuch unsterblich zu werden, bereit ist alles zu opfern...“ „Gibt es in der Zauberwelt denn Mittel und Wege, dies zu erreichen?“ „Wenn man bereit ist, seine Seele zu opfern“, erklärte Regulus mit einer Ruhe, welche die Ungeheuerlichkeit seiner Worte Lügen strafte. Petunia schüttelte ein wenig angewidert den Kopf. „Irgendwie erinnert das ein wenig an unsere Märchen, wo man für Reichtum, Macht oder auch ein ewiges Leben seine Seele dem Teufel verkauft.“ „Durchaus möglich, dass diese Märchen in schwarzmagischen Praktiken ihren Ursprung haben.“ Regulus zuckte mit den Schultern. „Schwarze Magie, auch wenn sie von vielen als durch und durch schlecht verdammt wird, hat durchaus ihren Nutzen. Ja, richtig eingesetzt kann sie sogar Gutes bewirken, genauso wie weiße Magie sich als fürchterliche Waffe erweisen kann. Deswegen wäre es mir wohl letztlich egal, ob der Dunkle Lord seine Seele zerstört oder nicht – ich weiß es zwar nicht mit Sicherheit, aber alle Fakten sprechen dafür –, würde sich dieses Handeln nur auf ihn selbst beschränken.“ Petunia, die merkte, wie die Gefühle in dem jungen Mann neben ihr widerstritten, schwieg. Ihr war bewusst, dass er durch seine Erklärungen weit mehr von sich offenbart hatte, als er wohl je vorgehabt hatte. Petunia schlussfolgerte, dass er in einer Familie aufgewachsen war, in der Reinblütigkeit und Schwarze Magie gegebene Traditionen waren, eine gewisse Distanziertheit gelebt wurde, man aber nicht ganz ohne Mitgefühl für diejenigen war, die einem nahestanden. Und offenbar hatte dieser Lord jemandem geschadet, an dem Regulus etwas lag, und das aus ganz eigennützigen Gründen, die nichts mit dem Großen Ganzen zu tun hatten, wegen dessen sich Regulus dem Lord angeschlossen hatte. Weshalb der junge Mann jetzt mit sich haderte und scheinbar zum ersten Mal auch die anderen Handlungen des Lords kritisch betrachtete. „Wollten Sie darüber mit Severus Snape sprechen?“, wagte sie schließlich zu fragen. Der Zauberer nickte auf seiner Schaukel. „Er gehört zu den wenigen Todessern, die nicht den Eindruck machen, als hätten sie ihr Denkvermögen gegen das Dunkle Mal eingetauscht. Die meisten sind so von der Vision des Dunklen Lords verblendet, dass sie ihren ganzen Stolz vergessen, ja, sich sogar soweit versteigen, Folter durch seine Hand als Gnade, als Belohnung anzusehen.“ „Er foltert seine eigenen Leute?“, keuchte Petunia ungläubig. „Versagen hat keinen Platz in der Welt des Dunklen Lords und wer durch Fehler oder Unfähigkeit dazu beiträgt, dass seine Pläne scheitern, muss mit Konsequenzen rechnen. Allerdings...“ Er brach ab und holte tief Luft als müsse er sich für die furchtbare Wahrheit, die auszusprechen er im Begriff war, sammeln. „Allerdings wird er immer maßloser in seinen Bestrafungen. Immer häufiger trifft seine Wut auch diejenigen, die nichts mit den Fehlschlägen zu tun hatten. Ich frage mich, ob es damit zusammenhängt, dass er in seinem Streben nach Unsterblichkeit seine Seele zerreißt und somit mehr und mehr an Menschlichkeit einbüßt. Vielleicht hätte Snape mir diese Frage beantworten können. Denn auch wenn er über keine solche Bibliothek verfügt, wie sie mir in meinem Elternhaus offen steht, hat er doch ein erstaunlich tiefes Wissen über Schwarze Magie, und was wichtiger ist, einen wissenschaftlichen Geist, der bereit ist, auch andere Szenarien als die althergebrachten in Betracht zu ziehen. Anders als meine Eltern, die zu sehr in ihren Traditionen und Ansichten verhaftet sind, so dass jede kritische Diskussion mit ihnen sinnlos wäre.“ Bei der Beschreibung Snapes als wissenschaftlich aufgeschlossene Person, hatte Petunia spöttisch-skeptisch die Augenbrauen hochgezogen, passte es doch so gar nicht zu ihrem Bild des Jugendfreundes ihrer Schwester. Doch dann sagte sie sich, dass sie nichts über sein Verhalten, sein Auftreten in Hogwarts wusste und beschloss die Aussage einfach zu akzeptieren. Stattdessen fragte sie: „Wenn Ihre Theorie richtig ist und dieser Lord immer mehr von seiner Menschlichkeit verliert, wie viel Menschlichkeit wird dann noch in ihm übrig sein, wenn er und seine Anhänger ihre Ziele erreicht haben? Wie...“ Obgleich Petunia weder den Dunklen Lord noch die Todesser wirklich kannte – geschweige denn kennen wollte –, schauderte es sie bei dem Gedanken, den sie nun aussprach: „Wie wird eine solche Herrschaft unter seinem Zepter, oder eher Zauberstab, aussehen?“ Regulus nickte beklommen und in seinem Blick lag wieder jener Ausdruck verzweifelter Tiefe, der Petunia bereits fasziniert hatte, als er sie nach dem Weg gefragt hatte. „Das habe ich mir auch schon überlegt. Und ich komme immer wieder zu dem gleichen Schluss: Der Dunkle Lord muss aufgehalten werden, ehe er das zerstört, für das wir kämpfen.“ In diesem Moment erkannte Petunia, warum sie sich von Anfang an zu diesem jungen Mann hingezogen gefühlt hatte: Aus ihm sprach eine verwandte Seele. Auch er war an einem Punkt angelangt, wo das Schicksal ihn zwang, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen, sich gegen den Strom des Nichtstuns zu stellen. Und mit der gleichen fatalistischen Klarheit erkannte er die Konsequenzen. Beide waren sie im Begriff, ihre Träume zu begraben, ihr Leben, wie sie es sich einst erhofft hatten, aufzugeben. Er im wahrsten Sinne des Wortes, sie im übertragenen Sinn. Beide waren sie bereit, sich zu verleugnen, sich zu Gefangenen ihrer Entscheidungen zu machen. „Ich verstehe“, sagte sie und legte eine Hand auf sein Bein. In ihren Augen, mit denen sie ihn offen anblickte, lag keine Spur von Mitleid, nur grenzenlose Akzeptanz. Überrascht erwiderte er den Blick. Es war, als würde er sie zum ersten Mal in dieser Nacht wirklich sehen, und ohne dass sie noch ein weiteres Wort verloren, wussten beide, dass sich die Dinge zwischen ihnen unwiderruflich geändert hatten. Als der Morgen graute, erhob sich Petunia widerstrebend von dem improvisierten Lager, das Regulus aus ihren Jacken gezaubert hatte. Magie war schon etwas Praktisches, dachte sie mit einem wehmütigen Lächeln, während sie ihre Bluse zuknöpfte. Wer wusste schon, an welchen möglichen und unmöglichen Stellen sie sonst später Sand gefunden hätte, mit dem der Boden dieser Spielplatz-Beton-Höhle bedeckt war. Regulus neben ihr regte sich, ebenfalls im Begriff, sich wieder anzukleiden. Keiner von ihnen sprach auch nur ein Wort. Wozu auch? Beide wussten sie, dass, egal was auch immer sie für den anderen empfinden mochten, sie sich nie wieder sehen würden. Diese Nacht, mit all ihrer Verzweiflung, ihren Erkenntnissen und all ihrer Nähe, würde alles sein, was ihnen blieb. „Versprich mir nur eines“, sagte Regulus, als sie sich an der Bushaltestelle verabschiedeten. „Versprich mir, dass du keinem Zauberer gegenüber verrätst, dass du die Schwester von Lily Evans bist. Es könnte dich das Leben kosten.“ Petunia lächelte sanft. „Keine Sorge, ich werde sogar jegliche Kenntnis der magischen Welt leugnen.“ Schließlich hatten derlei Abnormitäten wie Zauberei in ihrem künftigen Leben als Mrs. Vernon Dursley keinen Platz. Hosted by Animexx e.V. 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