Cod3s von _Myori_ ================================================================================ Epilog: Restart --------------- Es war Anfang März und seit einigen Tagen war die Sonne wieder stark genug, die Gehwege und Blumenbeete in den Vorgärten von ihrer Schneedecke zu befreien. Wenn man leise genug war, konnte man dem Eis dabei zuhören, wie es von den dicken Zapfen an den Dachschindeln und Rohren heruntertropfte und platschend auf den tauenden Boden fiel. Überall sangen Vögel, die die zurückkehrende Wärme genossen und den Frühling begrüßten. Der Mann verweilte kurz und ließ den Blick über die unter ihm liegende Stadt schweifen, die rechte Hand immer noch auf der geöffneten Autotür ruhend. Er schloss die Augen und hörte den Konzerten der Vögel zu, was eigentlich ganz und gar nicht seinem Charakter entsprach, aber so selten, wie er aus der lauten Stadt kam und solch friedliche Geräusche dementsprechend wenig zu hören bekam, drückte er mal beide Augen zu und gönnte sich diesen Luxus für seine Ohren. Wind kam auf und fröstelnd langte er nach seiner Jacke, die auf der Rückbank seines Wagens lag. Dabei blieb sein Blick an der zierlichen Frau kleben, die auf dem Beifahrersitz saß, zwei bunte Blumensträuße auf dem Schoß und in Gedanken versunken nach vorne durch die Fensterscheibe schauend. Er verharrte in der Bewegung, nach seiner Jacke zu greifen und sah sie stumm an. Als erwache sie aus einem Traum, blinzelte sie auf einmal und lenkte ihren Blick in seine Richtung. Er runzelte die Stirn. „Willst du nicht aussteigen? Wir sind da.“, erwiderte er ihren fragenden Blick, unsicher was er genau sagen sollte- was, wie die meisten wussten, ebenfalls untypisch für ihn war… Die Frau schüttelte den Kopf und lächelte. „Geh schon mal vor. Ich brauche noch ein paar Minuten für mich.“ Der Mann schaute sie schweigend an, dann zuckte er mit den Schultern, griff endlich nach der Jacke und richtete sich auf. Leise ließ er die Autotür zufallen und ging den kleinen Kiesweg entlang, der von dem Parkplatz zu dem alten Friedhof führte. Der Kies knirschte leise unter seinen Lederschuhen und vermischte sich mit der harmonischen Ruhe, wie sie nur ein Ruheort der Toten erzeugen konnte. Der Wind wehte unter sein Jackett, ein Kleidungsstück, was er für gewöhnlich nicht zu tragen pflegte und zupfte an seinem Hemd, das er sich akkurat in die Hose gesteckt hatte- und das auch nur, weil sie ihn den ganzen Morgen über mit hochgezogener Augenbraue begutachtet und sich jeden weiteren Kommentar zu seinem „legeren“ Stil geklemmt hatte, die auch gar nicht nötig gewesen wären. Manchmal, so dachte er in solchen Momenten, kam es ihm vor, als sei sie die Erfinderin der tötenden Blicke gewesen… Der Stoff seines Hemdes strich über die frische Narbe auf seiner Brust und er widerstand nur schwer dem Drang, sich zu kratzen. Um seine Hände anderweitig zu beschäftigen, griff er in seine Hosentasche und holte eine Schachtel Zigaretten zum Vorschein. Er zündete sich eine an und blies den bläulichen Qualm durch den Mund wieder aus. Er war kein Kettenraucher, der Tag und Nacht den Drang verspürte, eine nach der anderen zu rauchen, allerdings würde er sich auch nicht als Gelegenheitsraucher betrachten- irgendwas dazwischen würde schon auf ihn zutreffen und solange er in kein Extrem verfiel, das selbst seinem Umfeld negativ auffallen würde, würde er auch nicht weiter darüber nachdenken. An irgendetwas müsse man ja sterben, sagte er sich immer. Obwohl es schon fast zwei Monate her war, als er das letzte Mal hier war, ging er zielstrebig an den kleinen Gräbern vorbei, die zum Teil noch unter Schnee bedeckt lagen, bog hier ab, stieg dort ein paar Treppen hoch, bis er vor einem Grab mit einem niedrigen Grabstein stehen blieb. Es war schlicht dekoriert, beinahe so, als wolle es nicht auffallen oder vorgeben, einfach nur eine freie Stelle in Mitten all der anderen Gräber zu sein. Der Schnee, der die spärlichen und nun verwelkten Kränze bedeckte, die vor zwei Monaten noch frisch hingelegt worden waren, tat sein Übriges und komplettierte den Eindruck des Unscheinbaren. Zumindest war der Schnee soweit vom Grabstein weg geschmolzen, dass man den eingravierten Namen wieder lesen konnte. Ihm kam der ungewohnte Name immer noch schwer über die Lippen. Er hatte die Person nie so genannt und jetzt, wo sie tot war, nahm er ihren Namen sowieso kaum noch in den Mund. Er wollte nicht zu viele Gedanken an diesen Mann verschwenden und da sein Name in seiner näheren Umgebung eh immer längere Diskussionen oder Gefühlsausbrüche jeglicher Art hervorrief, schürte dieser Name auf dem Grabstein bei ihm weniger Trauer, als mehr Wut und Verachtung. Zu seiner Beerdigung war er auch nur des Anstandes wegen gegangen. Er betrachtete das Grab und zog ein letztes Mal an der Zigarette, ließ sie fallen und trat sie mit dem Absatz aus. „Dreckskerl…“, fluchte er leise und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Dass er für einen Mann gekämpft hatte, der nur sein eigenes Ziel vor Augen gehabt hatte, störte ihn weniger; vielmehr die Tatsache, dass er, wenige Monate, nachdem er ihm zu seinem Ziel verholfen hatte, die Dreistigkeit besessen hat, einfach zu sterben, bereitete ihm Magenschmerzen. Aber hatte er nicht Zeit seines Lebens nach seinen eigenen Regeln gespielt und seine Untergebenen nach ihnen spielen lassen? War es da noch verwunderlich, dass er auch noch die Ironie des Schicksals für sich ausnutzte, um seine Spielfiguren- in seinen Augen- angemessen zu entlassen? Der geräuschvolle Kies, der eine herannahende Person ankündigte, unterbrach seine angefangene lautlose Schimpfhymne und lies ihn aufschauen. Er sah seine Partnerin den Weg heruntergehen, den Kopf leicht gesenkt und nur noch einen Blumenstrauß in den Armen haltend. Sie setzte ihre Füße, die in niedrigeren Pumps steckten, ungewohnt vorsichtig und langsam. Ihr Dunkelblaues Kleid, das sie sich vor ein paar Wochen anlässlich dieses Ausflugs gekauft hatte, wehte leicht in dem stetigen Frühlingswind und umspielte ihre wohlgeformte Silhouette. Bevor sie ihn erreichte, wischte sie sich wie beiläufig über die geschminkten Augen und lächelte. „Alles in Ordnung?“, fragte er und sie beeilte sich, schnell zu nicken. „Ja, alles bestens. Ich habe die Stelle, wo sie ihn beigesetzt haben, nur nicht wiedergefunden. Das war ein wenig frustrierend.“, fügte sie, um ein authentisches Lachen bemüht, hinzu. Er zuckte mit den Schultern und seufzte. „Es ist ein anonymes Grab, Helen. Es ist der Sinn und Zweck eines solchen, nicht gefunden zu werden.“, sagte er im sanftesten Tonfall, den er hinbekam. Sie nickte. „Ich weiß.“, erwiderte sie ruhig und senkte den Blick. „Er hätte nur etwas Besseres verdient. Ein echtes Grab- mit seinem Namen.“ „Du weißt, dass das nicht geht. Für eure Familie ist er schon lange tot- ihr beide seid es! Wenn sie durch einen Zufall ein zweites Grab mit seinem Namen finden, erzeugt das nur Verwirrung.“ Helen schwieg und er fasste das als stille Zustimmung auf. Ohne ein Wort zu sagen, legte sie im nächsten Moment den Blumenstrauß, den sie getragen hatte, auf das Grab vor ihnen ab und legte ihre Hände zum Gebet zusammen. Er ließ sie gewähren und unterdrückte nur mit Mühe ein Augenrollen. Nach ein paar Sekunden senkte sie ihre Hände wieder und schlang sie stattdessen um ihren Körper, den Blick immer noch auf die Lettern auf dem Stein gerichtet. „Schon komisch, seinen echten Namen zu lesen.“, murmelte sie. „Es kommt mir vor, als liege hier jemand fremdes und nicht Zeus…“ Als er ihr nicht antwortete, fuhr sie traurig fort: „Wir hatten endlich unser Ziel erreicht und dann? Ich verstehe immer noch nicht, warum er so plötzlich gestorben ist. So alt war er doch gar-“ „Zeus starb an einem Herzinfarkt, du selbst hast den Bericht gelesen. Und im Übrigen war es nicht unser Ziel, sondern nur sein verdammtes Ziel gewesen.“, fiel er ihr brüsk ins Wort, woraufhin sie ihn wieder mit ihrem berühmten Todesblick anschaute. „Kannst du nicht zumindest jetzt, wo er tot ist, aufhören, schlecht von ihm zu reden, John?“, antwortete sie wütend. John seufzte innerlich. Genau wegen solchen und ähnlichen Reaktionen auf seine Äußerungen zum Thema verstorbener Gottheiten, vermied er es, Zeus` Namen- sei` s nun seinen bürgerlichen oder unsterblichen- auch nur in den Mund zu nehmen. Trotzig vergrub John seine kalten Hände noch tiefer in den Taschen und zog die Schultern hoch. „Warum sollte ich ausgerechnet jetzt damit anfangen, ihn in den Himmel zu loben? Er hört` s doch eh nicht oder glaubst du, ich muss jetzt Angst haben, dass er mir nun von da oben Blitze herunter schleudert, wenn ich schlecht über ihn rede?“ John schüttelte mit dem Kopf. „Wenn du mich fragst, hat der Alte das hier gar nicht verdient. Er sollte genau wie Hades irgendwo vergraben sein, wo niemand weiß, dass er dort liegt.“ „Jeder hat ein anständiges Grab verdient, Ares…“, gab Helen zurück und John zuckte unter dem schroffen Tonfall leicht zusammen. Dass sie seinen alten Namen verwendet hatte, zeigte ihm deutlich, dass er sich auf gefährlichem Terrain bewegte und mit einem Bein schon über dem Abgrund tastete. Er schwieg kurz, dann schob er beleidigt die Unterlippe vor und schaute in die Ferne. „Und dass du so viele Gedanken an ihn verschwendest, hat er auch nicht verdient…“, murmelte er leise, mehr zu sich selbst, als zu ihr. Helens aufkommender Zorn verpuffte aus ihren hart gewordenen Gesichtszügen und verschmitzt lächelnd schaute sie ihn an. „Sag bloß, du bist eifersüchtig.“, stichelte sie. John blinzelte verdutzt und errötete, sodass Helen anfing zu lachen. Ja, das war auch so eine Eigenart, die er erst seit neustem aufwies und die ebenfalls untypisch für ihn war- und er wurde den Verdacht nicht los, dass dieses Frauenzimmer daran schuld war. Er hatte schon immer gewusst, dass sie ihn irgendwann ins Grab bringen würde… hier, auf dem Friedhof, war er ja schon mal! Als fiele ihm plötzlich etwas ein, schaute er auf seine Armbanduhr. „Wann geht ihr Flug eigentlich noch einmal?“, fragte er aus dem Nichts. Helen hörte auf zu lachen und schaute ebenfalls nachdenklich auf ihre eigene Uhr. „In drei Stunden. Wenn wir sie noch erwischen wollen, sollten wir uns beeilen.“, antwortete sie und wandte sich zum Gehen. Ohne noch einmal zurückzuschauen, folgte John ihr. „Fin hat vor, dort drüben ihren Vater zu besuchen, oder?“, fragte er nach ein paar Metern und Helen nickte zustimmend. „Meinst du, das ist eine gute Idee?“, fuhr er fort und hob die Schultern. „Wenn ich das damals richtig verstanden hab, ist ihr Verhältnis zu ihm- naja… schwierig.“ „Ich finde es gut, dass sie diesen Schritt wagt.“, erwiderte Helen und schaute ihn an. „Sie haben sich so viele Jahre nicht gesehen, ich denke, da wird es langsam mal Zeit.“ Sie machte eine Pause und schaute wieder zu Boden. „Jeder sollte eine Familie haben, auf die er sich verlassen kann…“, fügte sie leise hinzu. John zog verwundert eine Augenbraue hoch, verkniff sich allerdings jeglichen Kommentar und so gingen sie schweigend zurück zum Parkplatz, auf dem sein Wagen stand. Besorgt schaute Helen beim Einsteigen auf ihre Uhr. „Glaubst du, wir schaffen es in einer Stunde da zu sein?“ John zuckte mit den Schultern und grinste breit. „Das schaffen wir locker- wenn ich fahre…“ „Wenn du fährst, schaffen wir es locker, von der Polizei angehalten zu werden.“, konterte Helen spitz. „Süße, darf ich dich an deine eigenen Worte von damals erinnern? Meine Schlüssel, mein Auto?“, antwortete John vielsagend und klimperte mit dem Schlüsselbund, den er in der Rechten hielt. Helen schüttelte nur den Kopf und stieg ein. „Ich hab dich gewarnt, klar?“, sagte sie und deutete mit dem Finger auf ihn. John salutierte gespielt, setzte sich auf den Fahrersitz und startete den Motor. Der Stadtverkehr war, wie zu erwarten, um diese Uhrzeit zähflüssig und stockend. An fast jeder Kreuzung standen sie beinahe Minutenlang und warteten, bis die Ampel wieder auf grün umsprang, sodass wieder vier bis fünf Autos weiterfahren konnten. Für Johns Geschmack gab es viel zu viele Ampeln und die meisten waren seiner Meinung nach eh überflüssig. Sie waren noch nicht zu spät dran, aber diese ewige Warterei sägte unaufhaltbar an seinem Geduldsfaden. Um Beherrschung kämpfend, trommelte er mit den Fingern auf das schwarze Lenkrad und schaute zu dem dämlichen roten Licht direkt vor ihm. Wäre der verdammte Nissan vor ihm nur ein paar Km/h schneller um die Kurve gekrochen, würde er jetzt hier nicht mehr stehen! Gereizt stieß er die Luft aus seinen Lungen aus. Helen neben ihm schwieg. Seit sie losgefahren waren, hatte sie kein Wort gesagt. Schielte er mal kurz zu ihr rüber, nestelte sie mit den Fingern an dem Stoff ihres Kleides oder schaute aus dem Fenster. Dieses nachdenkliche, niedergeschlagene Verhalten entsprach eigentlich gar nicht ihrem Charakter- für gewöhnlich kritisierte sie seinen Fahrstil am laufenden Band oder redete einfach nur mit ihm über irgendeinen Nonsens, dass er immer froh war, wenn sie an ihrem Ziel angekommen waren. So still wie heute hatte er sie bis jetzt selten erlebt. Allerdings schrieb John das der Tatsache zu, dass sie gerade ihren toten Bruder besucht hatte. Vielleicht sollte er das nächste Mal einfach mitgehen, sagte er sich. „John?“, sagte sie plötzlich und er schaute sie fragend an. „Ich muss dir etwas sagen…“ Er zog die Stirn kraus, schaute aber wieder auf die Ampel, die gerade auf gelb umsprang. Endlich! Er drückte die Kupplung und schaltete in den ersten Gang. „Schieß los.“, erwiderte er und machte sich bereit, loszufahren. Helen sagte nicht viel. Sie sagte die Worte schnell- und genauso schnell ließ John die Kupplung kommen, mit dem Ergebnis, dass der Wagen lautstark abwürgte. Er vergaß zu atmen, starrte sie nur an und war sich nicht sicher, was er fühlen oder sagen sollte. Helens Wangen waren leicht rosa geworden und sie schaute ihn immer noch nicht an, sondern deutete lächelnd auf die Ampel. „Es ist grün…“ Und wie zur Bestätigung, hupten auf einmal mehrere Autos ungeduldig hinter ihnen. Als erwache John aus einem Traum, schaute er zu dem grünen Licht, schaute dann wieder sie an und startete endlich den Motor. Als sie ein paar Meter gefahren sind, schluckte John und suchte nach den passenden Worten. Mit klopfenden Herzen holte er Luft. „Und… und du-“ „Ich bin mir sicher…“, fiel sie ihm sanft ins Wort. Wieder schluckte er. „Oh.“, brachte er krächzend vor und nickte perplex. „…Okay.“ Jetzt war er sich sicher: er würde nicht an Lungenkrebs oder in einem Autounfall sterben- nein, sein persönlicher Sensenmann saß direkt neben ihm. Die Anzeigetafel sortierte sich neu und endlich wurde auch ihr Flug angezeigt. Fin schluckte den riesigen Kloß in ihrem Hals herunter und umfasste den Tragegriff ihres Handgepäcks noch stärker. Bald würde sie im Flugzeug nach Amerika sitzen und in weniger als 48 Stunden würde sie ihrem Vater gegenüberstehen. Nach so vielen Jahren! Wie er wohl reagieren würde? Wollte er sie überhaupt wieder sehen? Wollte sie ihn eigentlich wieder sehen? Eine Hand umschloss ihre und sie drehte sich von der Anzeigetafel weg und ein Teil ihrer Zweifel verflog beim Anblick seiner dunkeln Augen. Neros Anwesenheit hatte sie schon immer beruhigt, aber in letzter Zeit konnte sie es kaum noch unterdrücken, zu lächeln, wenn sie ihn ansah. Sein rechter Unterarm war immer noch eingegipst und unter seinem hellen Shirt musste er weiterhin den dicken Verband tragen, aber sonst sah er fast wieder normal aus und nicht, als wäre er vor einem Maschinengewehr hergelaufen. Die letzten Monate waren schrecklich für Fin gewesen. Lange war unklar, ob Nero seine Verletzungen überleben würde; man hatte ihn für Wochen in ein künstliches Koma gelegt und ihn so oft operiert, dass Fin aufgehört hatte, mitzuzählen. Doch jetzt ging es ihm wieder besser und die Ärzte hatten ihm erlaubt, zu fliegen. Nero schaute an ihr vorbei zu der Anzeigetafel und grinste. „Bald geht es los.“, sagte er und Fin nickte nervös. Er runzelte kurz die Stirn, dann verstand er und zog sie lachend an sich. „Wovor hast du Angst, Fin?“, fragte er sanft und strich ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht. „Er ist dein Vater. Er wird dich schon nicht zurückweisen, egal was in der Vergangenheit zwischen euch vorgefallen ist. Und außerdem…“, fügte er hinzu. „Möchte ich deinen Vater auch gerne kennen lernen- immerhin bin ich doch jetzt offiziell dein Freund.“ Bei den Worten löste sich Fin aus seiner Umarmung und schaute ihn schief an. „Du willst dich ihm echt vorstellen? Sag bloß, du willst ihn auch noch fragen, ob du mit mir ausgehen darfst?“, lachte sie. Nero zog nur die Schultern hoch. „So gehört sich das doch, oder?“ „Na, ich weiß ja nicht, in welchem Jahrhundert du lebst, aber in meinem musst du so was nicht mehr machen.“ „Hast du Angst, dass ich einen falschen Eindruck bei ihm hinterlassen könnte?“, mutmaßte Nero und grinste. „Glaubst du, ich bin in seinen Augen ein schlechter Umgang für dich?“ Fin zog eine Augenbraue hoch und hob die Schultern. „Es lässt sich nicht leugnen, dass ich dank dir ein paar Bekanntschaften geschlossen habe, auf die ich gut und gerne verzichtet hätte.“, erwiderte sie vielsagend und schüttelte bei dem Gedanken an gewisse Personen den Kopf. „Aber ich bereue keine einzige Entscheidung, die ich in den letzten Monaten gefällt habe.“, schloss sie und küsste ihn kurz. „Allerdings solltest du dennoch zuallererst diesen Spezialisten aufsuchen, den der Arzt empfohlen hat und dich untersuchen lassen.“ Fin schaute besorgt auf sein eingegipstes Handgelenk. Der Bruch war äußerst kompliziert gewesen und hatte viele Sehnen und Bänder in Mitleidenschaft gezogen. Das Gelenk war zwar längs verheilt, doch man hatte es bei all den anderen Eingriffen vernachlässigt, sodass die Fraktur nun erneut gebrochen und neu gerichtet werden müsste. Der Orthopäde, den ihr Arzt schon vorsorglich kontaktiert hatte, war als Geheimtipp verschrieben und im Endeffekt war dieser Arzt auch der eigentliche Grund für ihre Reise nach Amerika. Eine Frau sagte durch den Lautsprecher ihren Flug an und bat die Passagiere, sich zum Terminal zu begeben. In Fin zog sich alles zusammen. Nervös tastete sie nach Neros Hand. Dieser nahm kurzerhand ihr Gesicht in beide Hände und schaute ihr tief in die Augen, dass sie vergaß zu atmen. „Mach dich nicht verrückt, okay?“, murmelte er sanft und lächelte. „Ich bin bei dir, egal was passiert.“ „Für immer?“ „Solange du es mit mir aushältst. Du bist die wichtigste Person in meinem Leben.“, erwiderte er und küsste sie auf die Stirn. Fin schielte kurz zur Seite, gab ihm einen flüchtigen Kuss und grinste dann. „Die wichtigste? Das solltest du aber nicht deinen Ziehvater hören lassen.“, feixte sie. Nero runzelte die Stirn. „Wen?“, fragte er verwirrt. „Gott, könnt ihr nicht mal fünf Minuten die Finger von einander lassen?“, ertönte die gewohnt tiefe Stimme. Nero schaute auf und die ‚wichtigste Person in seinem Leben’ war für den Moment vergessen- soviel zu dem Thema, dachte sich Fin seufzend und schüttelte den Kopf. Gegen diese Männerfreundschaft würde sie wohl nie gewinnen können. Strahlend lief Nero auf John zu und umarmte ihn stürmisch, als hätten sie sich für Jahre nicht mehr gesehen- in der normalen Zeitrechnung waren es gerade mal drei Wochen gewesen. Hinter John tauchte Helen auf und ging breit grinsend auf Fin zu. Das Mädchen verstand nach ein paar Sekunden und umarmte die Frau ebenfalls. „Tut uns leid, dass wir erst jetzt auftauchen, aber der Verkehr war die Hölle.“, sagte John irgendwann, als der Freudentaumel abgeklungen war. Fin schaute erleichtert zu dem Mann, der selbst Nero um fast einen Kopf überragte. Auch er war nach dem Vorfall damals schwer verletzt gewesen und hatte lange Zeit im Krankenhaus gelegen. Persephone war beinahe täglich da gewesen und hatte sooft an seinem Bett gesessen, wie es die Umstände zugelassen hatten. Sie hatte nach langem Hin und Her die Rolle von Zeus` rechter Hand übernommen und ihm dabei geholfen, das, was noch von Olymp übrig gewesen war, zu ordnen und die zersprengten Mitglieder zu organisieren. Doch kurz, nachdem sie das schlimmste Übel überstanden hatten, war Zeus überraschend gestorben und das ganze Projekt kam zum Erliegen. Persephones letzte Amtshandlung, die sie noch als Mitglied von Olymp tat, waren die neuen Identitäten für sich selbst und die anderen Überlebenden. Auch Nero hatte eine neue Identität erhalten, aber es fiel Fin immer noch schwer, sich daran zu gewöhnen. Für sie würde er immer Nero bleiben... Durch die Lautsprecher kam die letzte Ansage für den Flug nach New York und Fin und Nero rafften ihr Handgepäck zusammen. Fin umarmte Helen, die in den letzten Monaten so unglaublich wichtig für sie geworden war. „Machs gut.“, sagte Fin glücklich. „Ich wünsch euch viel Glück da drüben.“, erwiderte Helen und küsste das Mädchen auf die Wange. Dann ging Fin auf John zu und stellte sich auf die Zehenspitzen, damit sie seinen Hals umfassen konnte. „Tut nichts, was ich nicht auch tun würde…“, brummte er im väterlichen Tonfall. Sie lachte hell auf. „Dann haben wir alle Freiheiten der Welt?“, feixte sie. Als John sie losließ, bedeutete sie ihm, sich zu ihr runter zu beugen, was er dann auch etwas verwundert tat. Lächelnd hielt sie ihre Hand an sein Ohr und flüsterte: „Wehe, du passt nicht gut auf die beiden auf…“ Überrumpelt starrte John sie an, doch ehe er etwas sagen konnte, hatte Fin sich von ihm entfernt, griff nach Neros unverletzter Hand und zog ihn in Richtung Terminal. Die beiden drehten sich noch einmal um und winkten John und Helen. „Was hast du gerade zu John gesagt?“, fragte Nero verwundert, doch Fin zog nur die Schultern hoch. „Das soll er dir mal lieber selber sagen…“, sagte sie und grinste ihn an. Nero schaute nur verdutzt zurück. Als die beiden die Schalter hinter sich gelassen hatten und John sie nicht mehr sehen konnte, drehte er sich mit verschränkten Armen zu Helen um. „Sag mal, kann es sein, dass Fin von der ganzen Sache schon wusste?“, fragte er leicht pikiert. Helen lächelte unschuldig. „Jede Frau hat eine beste Freundin, die so etwas immer zuerst erfährt.“ Sie drehte sich von dem Terminal weg und ging in Richtung Ausgang. „Ach, echt?“, fragte John und folgte seiner Freundin. „Und wie lang genau wusste sie das jetzt schon?“ Helen schnaufte. „Hör zu, ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte.“ „Was ist denn daran bitte schwer zu formulieren?“, erwiderte er aufgebracht und stellte sich Helen in den Weg. Diese verschränkte die Arme und sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. „Mach doch mal nen Vorschlag…“ John blinzelte verdutzt. „… Weiß nicht…“, brummte er und zuckte mit den Schultern. „Irgendwie halt…“ Helens zweite Braue wanderte ebenfalls in Richtung Haaransatz. „Na, das ist mal `ne schlüssige Formulierung.“, entgegnete sie staunend, ging an John vorbei und ließ ihn beleidigt an Ort und Stelle stehen. Nach ein paar überrumpelten Sekunden setzte er sich dann wieder in Bewegung und holte zu ihr auf. „Ich meine ja nur…“, fing er an und ging mit weit ausgreifenden Handbewegungen neben Helen her. „Ich hätte das nur gerne etwas früher erfahren- immerhin bin ich doch der Vater… oder?“, fügte er zögernd und etwas leiser hinzu, allerdings war es noch so laut, dass Helen es mitbekam. Abrupt blieb sie stehen, fuhr auf dem Absatz um und starrte ihn fassungslos an. Schnell biss sich John auf die Unterlippe und verwünschte zum ersten Mal in seinem Leben sein loses Mundwerk. Dass auf diesen Blick keine Ohrfeige folgte, grenzte schon glatt an ein Wunder… „Tut mir Leid, das war beschissen von mir.“ „Äußerst beschissen.“, zischte Helen wütend und betroffen schaute John zu Boden. Für Sekunden sagte niemand etwas, dann fuhr sich Helen seufzend durchs Haar. „Ich habe die ganze Zeit hin und herüberlegt, was ich machen soll.“, erklärte sie beherrscht, sodass John es wagte, wieder aufzusehen. „Ich hatte Angst davor, dass du sagen würdest, dass du das Kind nicht haben willst oder-“ Sie brach den Satz ab, schlang ihre Arme um ihren Oberkörper und sah, die Lippen aufeinander gepresst, zur Seite. John schaute sie für einen Moment lang unschlüssig an, dann griff er nach ihrer Hand, sodass sie wieder zu ihm aufsah. Tränen schimmerten in ihren Augenwinkeln. „Ich bin weder ein Befürworter der Abtreibung, noch würde ich dich wegen so etwas, das wir uns beide zuzuschreiben haben, verlassen. Es gehören immer noch zwei dazu. Und…naja, “ Er lächelte schüchtern. „Ich habe mich schon immer gefragt, wie wohl ein Kind von mir aussehen würde- immerhin weiß ich ja nicht mal, wie ich selbst als Kind ausgesehen hab…“, fügte er lachend hinzu und verzog bei dem Gedanken nachdenklich das Gesicht. Auch in Helens Gesicht stahl sich ein Lächeln. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf. „Es ist nur…“, fuhr er weiter fort und holte tief Luft, sodass sie besorgt den Kopf schief legte und die Stirn runzelte. „…ich befürchte, dass ich als Vater komplett versagen werde. Ich meine- was könnte ich dem Kleinen bieten? Was kann ich denn schon, was er in seinem späteren Leben mal bräuchte? Kämpfen? Ihm zeigen, wie man mit einem Schwert umgeht?“ Er zuckte hilflos mit den Schultern. Helens Blick klärte sich und lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Glaubst du, dass ich eine so viel bessere Mutter sein werde?“ „Naja, müssten bei dir nicht diesbezüglich irgendwelche Instinkte vorhanden sein?“, fragte er vorsichtig. „Danke.“, entgegnete Helen daraufhin trocken und sah ihn vielsagend an, sodass John nur abwehrend die Schultern hob. „Nein, im Ernst.“, fügte sie nach ein paar Sekunden seufzend hinzu. „Denk nicht so schlecht von dir. Du bist willensstark, man kann dir vertrauen und du würdest nie einen Menschen, der dir etwas bedeutet, im Stich lassen und es tut mir Leid, dass ich zu Anfang etwas anderes von dir gedacht habe. Das alles sind wunderbare Eigenschaften, John.“, sagte sie sanft, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Aber die Erziehung überlässt du bitte mir, ja?“, hauchte sie abschließend und grinste. John blinzelte und nun zog er die Stirn kraus. „Ach ja und warum? Nero hab ich ja wohl auch groß gekriegt.“ „Groß ja, aber nicht so, wie du es vorgehabt hast...“ Und auf einen verwirrten Blick von John hin, fügte sie schulterzuckend hinzu: „Du wolltest aus ihm einen Killer machen und jeder weiß ja, was im Endeffekt daraus geworden ist. Tut mir leid, Liebling, aber du scheinst prädestiniert dafür zu sein, die Leute ins Gegenteil zu kehren…“ Beleidigt schob John die Unterlippe vor. Diese Frau machte ihn noch wahnsinnig. „Aus Fehlern lernt man ja für gewöhnlich.“, brummte er. „Bei dem Kleinen werd ich mich schon besser anstellen.“ „Warum redest du eigentlich die ganze Zeit davon, dass es ein Junge wird?“, fragte Helen und verschränkte die Arme. John lachte und zeigte mit dem Daumen auf sich selbst. „Weil es mein Kind ist, ganz einfach…“ „Ach ja, ich vergaß.“, nickte Helen und schaute ihn spöttisch an. „Ihr Männer könnt das ja so einstellen, dass ihr nur Y- Chromosome produziert. Wir können richtig von Glück reden, dass euch manchmal Systemfehler unterlaufen und so Frauen entstehen- was würden wir nur ohne euch machen…?“, sinnierte sie und ihr Grinsen wuchs zusehends- genauso wie Johns Schmollen. „Du trampelst gerade auf meiner Männlichkeit herum, ich hoffe, dass ist dir bewusst…“, maulte er und drehte sich zum Gehen um. Kichernd schloss Helen zu ihm auf und hakte sich bei ihm unter. „Ja und es macht unglaublich viel Spaß.“ „Du bist die Pest…“ „Ich hab dich auch lieb.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)