Johto no Densetsu von xRajani ================================================================================ Kapitel 7: Vom Schicksal betrogen --------------------------------- Hayatos blaue Augen funkelten dem Gegner kühn entgegen, der zu einer regungslosen Statue erstarrt war, mit dem Ausdruck des Schreckens im blassen Gesicht. Der junge Mann, der dreiundzwanzig Sommer erlebt hatte, schenkte dem zierlichen Jungen kein aufmunterndes Lächeln, wie er es sonst tat, wenn junge Trainer ihn übermütig zum Kampf aufgefordert hatten und schließlich den bitteren Geschmack der Niederlage schmeckten. „Ist das alles, was du drauf hast?“ Nun aber begegnete der Luftmeister ihm mit unnahbarer Härte und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Von der Darbietung seines Gegenübers war er sichtlich gelangweilt. „Ich hätte etwas mehr von dir erwartet, Luca“, äußerte sich der Arenaleiter, der nicht die Absicht hatte, den Jungen zu beleidigen oder in seinem Stolz zu kränken. Schließlich war es sein eigener Bruder, wenn auch Stiefbruder, der ihm gegenüberstand. „Es ist noch nicht vorbei“, erwiderte Luca entschlossen, der in eine schwarzen Yukata gekleidet war und seine nahezu schmächtige Figur verhüllte. Hayato verzog die Lippen zu einem überheblichen Grinsen, während seine Hände in den Taschen seines frühlingshaften, hellblauen Yukatas verborgen waren und mit gerecktem Kinn auf Lucas Pokémon deutete. „Ach ja? Siehst du nicht, dass dein Pokémon müde ist?“ Während die stolze Adlerdame des Arenaleiters, die er liebevoll Aeris zu nennen pflegte, mühelos die Schwingen auf- und abbewegte, wirkte Staraptor, ein kräftiger Jungfalke, erschöpft. Sein braunes Federkleid schien zerrupft und das weiche, beigefarbene Brustgefieder war leicht verrußt, als wären die dortigen Daunen verbrannt worden. Den wachen, braunen Greifvogelaugen vermochte jedoch kein Detail zu entgehen. Sich in der Luft zu halten, schien aber eine große Belastung für Staraptor darzustellen. Unter den Trainern und ihren Pokémon gähnte der tiefe Abgrund, eine unüberwindbare Distanz zwischen ihnen. Irgendwo ließen sich für das geübte Auge Kampflinien der Bodenarena erahnen, doch in jener Höhe, in der Hayato und Luca auf emporragenden Podesten standen, erstreckten sich bloß die grauen Dächer Violas. Unerbittlich zerrte der Wind in jenen Gefilden an ihren Leibern, und die Trainer fanden nur an der Reling Halt. Um ihren Flugpokémon besonders nahe zu sein, waren die Podien mit Triebwerken in Schwindel erregenden Lüften empor gefahren worden. Um sie herum waren Zuschauertribünen angebracht, die am heutigen Tag leer waren. Nur einzelne Schaulustige hatten sich eingefunden, aber die Kämpfenden schenkten ihren Gästen keine Notiz. Einen Augenblick umklammerte Hayato die Metallstange, als befürchte er, dass sein Halt unter den Füßen wich. Gelassen schloss der Luftmeister die Augen und lauschte. Es war bloß ein leises Geräusch, was Staraptor verriet. An die geübten Ohren des Luftmeisters drangen das tief aus der Brust kommende Keuchen und der Verlust des rhythmischen Flügelschlags, der nun taktlos und schwerfällig klang. „Staraptor kann weiterkämpfen“, beharrte Luca eisern. Jegliche Nervosität, die ihm das Urteilsvermögen zu Beginn des Kampfes getrübt hatte, war verschwunden. Jetzt war sein Blick fest auf den Arenaleiter und Bruder gerichtet. Mut, Entschlossenheit, Ehrgeiz und Stolz. Soviel vermochte Hayato aus seinen Gesichtszügen herauszulesen. Je länger er auf Luca blickte, desto mehr Gefallen fand der Arenaleiter an den Fortschritten des jüngeren Stiefbruders. „Wenn du dies glauben magst. Allerdings werde ich mich nicht zurückhalten, nur weil du mein Bruder bist“, warnte Hayato schließlich und sah zu seinem Tauboss empor, „Aeris, weitermachen mit Aero-Ass!“ Tauboss schraubte sich mit wenigen Schlägen der eleganten Schwingen hoch in die Lüfte hinauf, begleitet von einem durchdringenden Vogelschrei, und schnellte sofort wieder herab. Dabei hatte Aeris den Falken mit nahezu mathematischer Genauigkeit ins Auge gefasst. „Glaubst du, ich will, dass du Rücksicht nimmst? Schüttel’ es ab, Staraptor!“ Aufgebracht kreischte Staraptor und drehte sich unter den massigen Adlerkörper und Krallen hinweg. Einem Schreckensmoment erstarben die Flügelschläge, die Staraptor in Luft hielten. Dann spannte der Jungfalke seine Schwingen und schnellte, durch einen Aufwind begünstigt, hoch in die Luft. Seine Pupillen verengten sich zu schmalen Schlitzen und die Instinkte befahlen ihm, sich zur Wehr zu setzen. Diese Demütigung des Adlerweibchens würde er nicht länger erdulden! „Jetzt Nahkampf!“ „Stahlflügel“, konterte Hayato gelassen, nicht mehr viel und der Sieg gehörte ihm. Und da sah Staraptor seine Gelegenheit, um sich zu rächen. Der Falke legte die Flügel an seinen schlanken Leib und raste Tauboss entgegen, das sich ebenfalls für deinen Angriff bereits wappnete. Hell wandelten sich Tauboss’ Schwingen in eisenharte Klingen, aber Staraptor schreckte nicht davor zurück. Mit ausgestreckten Klauenfüßen schoss er auf den Adler zu. Dann kam es zum Aufprall. Staraptor vergeudete keinen Moment, um wie ein Berserker auf Tauboss einzudreschen. Krallen und heftige Flügelschläge prügelten nahezu besinnungslos auf Tauboss ein, und Staraptor spürte wie die Klauen Federn und Haut verletzten. Dem eigenen Schmerz seines aufbegehrenden Körpers schenkte er keine Beachtung. Schließlich trennten sich die Raubvögel voneinander und starrten sich kampfeslustig in die Augen. Triumphierend stieß Staraptor einen lang gezogenen Schrei aus. Von unzähligen blutigen Schrammen und tieferen Verletzungen war Tauboss’ Leib übersäht und erschwerten ihr, den Takt ihrer Flügelschläge im Gleichklang zu behalten. Dem Jungfalken dagegen erging es erstaunlich gut. Nur leichte Kratzer durch Tauboss’ stählernen Schwingen hatte er sich zugezogen, die zwar wie brennendes Feuer schmerzten, aber nicht weiter von Bedeutung waren. Hayato wartete. Er wollte dem Jungen eine Gelegenheit geben, um ihm seine Stärke und Tapferkeit zu beweisen. Sonst hätte er gnadenlos angegriffen und seinen Gegner bis zur Erschöpfung durch die Luft gehetzt. Luca schien diesem Angebot nachzukommen. Seinen knappen Befehl trug der Wind jedoch davon, daher beobachtete der kundige Luftmeister die fließenden Bewegungen des Falken. Ein übermütiges Manöver wagte Staraptor. Eine enge, gar halsbrecherische Kurve flog er, um an Geschwindigkeit zu gewinnen. Schließlich ging Staraptor zum Angriff über. Hayato wog Luca in Sicherheit. Mit jeder verstrichenen Sekunde wuchs die Zuversicht seines Bruders, die er sodann verfluchen wird. Stets auf das Kommende gefasst sein, ohne leichtsinnig zu werden. Dies war schlichtweg eine Lektion, die jeder Trainer lernen muss. Auch Luca. „Nun mit Agilität beschleunigen und Doppelteam!“ Lucas Entschlossenheit wich einer Miene der Fassungslosigkeit. Wie versteinert stand er da, als Tauboss an Geschwindigkeit zulegte, während sie Dutzend Täuschungen erschuf und sich unter ihnen verbarg. Staraptor hackte auf einen Doppelgänger ein, der sich zischend auflöste. Der Falke wirbelte herum und stieß einen ärgerlichen Schrei aus. Dieser löste Luca aus seiner Starre. „Unheilböen!“ Ein Wind, welcher von böser Macht erfüllt war, kam auf, als Staraptor zwei, dreimal mit den Flügeln geschlagen hatte. Während er seinen Gegnern die Pein durch den Körper jagte, stärkte der finstere Lufthauch denjenigen, der ihn ins Leben gerufen hatte. Doch so kraftvoll er auch sein mochte, gegen Normalpokémon brandete seine Gewalt wie Wasser an eine Klippe. Die geisterhaften Böen zogen wirkungslos an Tauboss’ Flanken vorbei, jedoch gingen mit ihnen ihre Täuschungen von dieser Welt. „Bevor es versteht, was passiert ist!“, eilte Luca so sehr, dass seine Stimme drohte, sich zu überschlagen. „Sternschauer!“ Funken schwebten um den Falken, die allmählich eine sternenförmige Gestalt aus goldener Energie annahmen. Hernach schickte Staraptor die Geschosse wie sirrende Pfeile auf seine Konkurrentin herab. Seinen Gegner Anerkennung und Höflichkeit zollen, das wurde Hayato von seinem Vater beigebracht. Jeder Trainer war es wert, der seinen Pokémon Liebe und Achtung schenkte, auch als solcher beachtet zu werden. Soeben hatte sich Luca bewiesen, dass der Respekt des Luftmeisters gerechtfertigt war. Doch Hayatos Vater hatte ihm auch gelehrt, dass man nicht aus einem Gefühl der Freundlichkeit den anderen den Sieg schenken sollte. „Schluss mit dem Geplänkel“, sprach Hayato kühn aus. Er war kein Mann der großen Taten. Er war es nie gewesen, selbst vor dem Tod seines Vaters nicht. „Aeris, Windhose!“ Ungnädig erschuf Tauboss einen alles vernichtenden Tornado. Über ihren Köpfen am freien Himmel sammelten und verdichteten sich bereits die Wolken. Der Wind frischte auf, wurde zunehmest stärker, ja fordernder. Sodann begann schließlich die Luft zu rotieren und formte sich zu einem röhrenähnlichen Gebilde, welches alles in sein Inneres sog, was nicht hieb und nagelfest war. Gierig verschlang der Tornado Staraptors Sternschauer, deren helles Funkeln noch kurze Augenblicke in den Windmassen aufblitzten. Dann waren sie vollends verschluckt. Auch Staraptor fiel dem Hunger des Wirbelsturms zum Opfer. Der Falke wurde durch die Luft geschleudert, wie ein Spielball herumgerissen, bis der jäh erschaffene Sturm an Macht verlor und Staraptor in die gähnende Tiefe stürzte. „Staraptor!“ Wie vom Donner gerührt stand Luca steif da und vermochte nichts gegen den Fall seines Gefährten unternehmen. Zu aufgebracht war der Junge in jenem Moment. Geistesgegenwärtig reagierte Hayato: „Verhindere Staraptors Absturz, Aeris, schnell!“ Das einstige Familienhaupt hatte seinem Sohn ebenfalls ermahnt, stets den Schutzlosen zur Hilfe zu eilen. Den ungläubigen Blick seines Tauboss spürte Hayato einen Herzschlag lang auf sich ruhen. Auch ihr war bewusst, dass dies ein waghalsiges Unterfangen war. Eventuell funktionierte es, andererseits konnte sein Vorhaben misslingen und… Der Arenaleiter schüttelte den lästigen Gedanken ab. „Auf was wartest du, Aeris? Willst du, dass sich Staraptor alle Knochen bricht?“ Protestierend plusterte sich die Adlerdame auf und zeterte, gehorchte ihrem Trainer aber. Es bräche ihr das Herz, wenn sie sich widersetzte. Dies würde garantiert ein Nachspiel für ihren über alles geliebten Trainer haben! Entsetzt sah Luca dem tollkühnen Luftmeister entgegen, der seinetwegen solch ein Manöver versuchte, dessen Erfolg äußerst fragwürdig war. „Hayato, tu das nicht!“, wollte er aufbegehren. Hayato, trotz seiner jungen dreiundzwanzig Jahren Mentor, Vorbild und vor allem Stiefbruder des Jungen, ließ sich nicht von seinen Gedanken abbringen. „Verlier nicht den Kopf, Luca, ich schaffe das schon!“ Das Gefühl des rauschenden Adrenalins in seinen Adern liebte der junge Arenaleiter. Es beflügelte ihn auf magische Weise und ließ, so unerwartet es auch sein mochte, die Dinge klarer zu sehen, als betrachtete Hayato sie mit scharfen Adleraugen. Das Taubossweibchen hatte die Schwingen eng an den Körper gezogen. Die Winde rauschten pfeifend an ihr vorbei und dröhnten in den Ohren, während ein schriller Vogelschrei ihrem aufgerissenen Schnabel entwich und sie sich todesmutig in die Tiefe wagte. Die Augen leicht verengend, spähte Hayato hinab. Noch immer blieb Staraptor regungslos, kein Zittern rann durch die kräftigen Muskeln. „Es ist bewusstlos“, murmelte der Arenaleiter jene Erkenntnis. Etwas musste gegen den Kopf des Falken geschleudert worden sein, eventuell seine eigenen Energiesterne im Inneren des Tornados. Erneut handelte Hayato schnell: „Aeris, es ist nicht bei Bewusstsein. Versuche es mit Stahlflügel wachzurütteln!“ Wieder erwiderte die Adlerdame ein kühnes Kreischen. Dann wurden die Flügel im Sonnenlicht zu silbernen glühenden Stahl und der darauf folgende Schlag erweckte Staraptors Geister aus schlafgleichen Zustand. In erstem Moment wirkte er benommen, fing sich aber jäh, als Staraptor begriff, dass er sich im freien Fall befand. Noch rechtzeitig vermochte Staraptor diesen abzumindern und erklomm rasch wieder luftigere Höhen. Luca atmete sichtlich auf, auch Hayato schien erleichtert zu sein. Die Gefahr der Bewusstlosigkeit und des freien Falls war stets ein Risiko des Luftkampfes. Maßnahmen zu lesen und verstehen, war leicht, doch jenes Wissen in die Praxis umzusetzen, war eine Entscheidung in Sekunden. „Du kannst abbrechen, Luca, wenn du es willst. Möchtest du weiter kämpfen?“ Gerade als dieser zu erwidern versuchte, widersprach der Jungfalke. Er war geschwächt, sehr sogar, aber sein Kampfeswille und sein Stolz gebot es ihm nicht, zu verlieren. Diesen Gedanken schrie er aus seiner Kehle. Luca seufzte ergeben. „Ich würde ja gerne, aber…“ Er schaute zu seinem Staraptor und schwieg. Mitfühlend nickte Hayato. Ihm war bewusst, in welchem Gewissenskonflikt er sich befand. Seine Aeris hätte ein freiwilliges Einverständnis einer Niederlage niemals akzeptiert. In Augen eines anderen käme dies sicherlich verantwortungslos vor, ein sehr erschöpftes Pokémon weiter kämpfen zu lassen, aber das Ehrgefühl eines geflügelten Geschöpfes war so leicht verletzbar wie ein schutzloses Junges. Niemals würde sein Tauboss ihm diesen Vertrauensbruch verzeihen. Daher wandte sich Hayato wortlos Luca zu und nickte aufheiternd. „Und Himmelsfeger!“ „Halt durch, Staraptor, Sturzflug!“ Beharrlich kreischten die Vögel zur Antwort. Während der Falke erneut einen Luftwirbel nutzte, um an Höhe zu gewinnen, harrte Tauboss regungslos aus. Der Adlerkörper streckte sich durch und rückte von seiner natürlichen Form ab. Sein Gefieder leuchtete so grell wie ein Stern. Einen Herzschlag später zerging Tauboss in den Farben der gleißenden Sonne, strahlte so hell, dass das Licht beinahe die Augen blendete. Wie ein Hoffnung bringender Phönix schwebte der Adler in der Luft, aber für Luca bedeutete jene atemberaubende Gestalt seinen Untergang. „Auf was wartest du, Staraptor? Wir haben keine Zeit mehr!“ Furchtlos stürzte sich Staraptor senkrecht in die Tiefe, die Flügel an den stromlinienförmigen Leib gelegt. Lodernde Flammen glühten auf und umschmeichelten liebevoll seine Umrisse. „Abwarten!“, rief Luca, wachsam von Hayato beobachtet, seinem Pokémon zu. Tauboss schnellte nun ebenfalls vorwärts, kam mit jeder verstrichenen Sekunde näher, die unweigerlich Staraptors Niederlage besiegelte. „Jetzt!“ Schlagartig öffnete der Falke seine Flügel, während die Feuersäulen erkalteten und sich blau färbten. Dabei löste Staraptor eine kraftvolle Druckwelle aus, die Tauboss entgegen brandete und die Wucht des Himmelsfegers minderte. Dann kam es zur unvermeidbaren Kollision. Tauboss und Staraptor waren aufeinander geprallt und kreischten schmerzerfüllt auf. Durch den Impuls des Sturzfluges war Tauboss zuvor abgebremst und die Heftigkeit des Himmelsfegers verringert worden. Dem Zweikampf zwischen Tauboss und Staraptor unterlag die Adlerdame und federte nun zurück. Staraptor keuchte zwar, reckte aber stolz sein Haupt und ließ jeden seines Sieges wissen. Anerkennend nickte Hayato dem Jungen zu und klatschte Beifall, dem ein dankbares Lächeln über die Lippen huschte. „Gut gemacht, Luca, du hast mich wahrlich überrascht“, lobte der Arenaleiter, „und außerdem hast du dazugelernt.“ „Wäre auch schlecht, wenn nicht, oder?“, erwiderte Luca grinsend. „Aber danke für die Blumen.“ Die Augen glitten zu ihren Pokémon, die nicht gedachten, aufzuhören. „Sollen wir fortfahren?“ Luca lernte erstaunlich rasch. Sein Nachname lautete nicht nur Takigawa, sondern auch Ehrgeiz. Seit er einst gegen seinen großen Bruder verloren hatte, hatte er Hayatos vollste Aufmerksamkeit. Der Luftmeister fühlte sich an jene Zeit zurück erinnert, in der einst sein Vater Mentor für ihn und seine Geschwister war. Nun war es an Hayato sein gelerntes Wissen an die Jüngeren weiter zutragen, damit der Clan nicht ins Vergessen geriet. Stolz fühlte sich der Arenaleiter, wenn er sah, dass sein Bruder seinen Rat beherzigte, denn dies geschah selten. Oft wollte Luca seinen eigenen Kopf durchsetzen. Koste, was es wolle! Hayato nickte. „Lasst uns weitermachen, Luca.“ Staraptor betrachtete Aeris und ihren Trainer hochmütig, während er seinen Hals vorstreckte und mutig schrie. Tauboss erwiderte den Kampfesruf volltönend. „Werd‘ nicht übermütig!“, tadelte Luca seinen Falken und holte ihn dementsprechend von seinem großen Triumph in die Wirklichkeit zurück. Jener wandte ruckartig das Haupt und starrte seinen Trainer aus dunklen Augen durchdringend an, der den Blick seines Greifvogels, der zwar sehr viel kleiner war als Tauboss, aber nicht minder gefährlich war, mit Mühe standhielt. Dass Lucas Staraptor einen ebenso großen Dickkopf besaß, war dem Arenaleiter durchaus bewusst. Schon oft war der Falke – und auch Luca – durch diese Eigenschaft aufgefallen, weil er sich hin und wieder den Befehlen seines Herrn trotzte und stattdessen tat, was ihm beliebte. Auch dieses Mal vermochte Hayato den stummen Widerwillen in den flackernden Augen des Vogels zu lesen, gleichsam bemerkte er den inneren Konflikt zwischen Gehorsam und dem Freiheitsdrang. „Der Kampf ist noch lange nicht vorbei“, schärfte Luca ihm ein, woraufhin Staraptor wild seinen Kopf nach links und rechts warf, so als ob der Falke nach einem Fluchtweg suchte. Schließlich wandte Staraptor seine vor Entschlossenheit leuchtenden Augen der Adlerdame zu. Die Treue zu Luca war stärker als jeder Ruf der Freiheit. Erneut nickte Hayato anerkennend. Seit Lucas Mutter vor siebzehn Jahren nach Johto gekommen war, kannte Hayato den Jungen, denn er war in Viola geboren. Wie das Schicksal es so gewünscht hatte, verliebte sich Hayatos Vater Gin in Hannah, Lucas Mutter. Hayato war damals zehn Jahre alt gewesen. „Wir können weitermachen“, sprach der junge Schüler und hob den Blick empor. „Ab in die Luft, Staraptor, und dann stürz dich schnell wieder nach unten!“ Hayato bedachte seinen Stiefbruder fest. Welchen Plan er wohl dieses verfolgte? „Das lassen wir uns nicht gefallen, Aeris, nicht wahr? Ruckzuckhieb!“ Tauboss antwortete mit einem verwegenen Kreischen. Sie gehorchte und beschleunigte blitzschnell. Wie ein herabschießender Pfeil stieß der Adler auf Staraptor zu. Auf Lucas Lippen schien sich ein Lächeln zu stehlen, soweit Hayato seinen Gesichtszug zu deuten wusste. „Du bist mir in die Falle getappt, Bruderherz!“, lachte der Braunhaarige erheitert. „Begrüßen wir Aeris mit deinem Sternschauer!“ Dass Aeris mehr oder minder hilflos war, wollte Luca ausnutzen. Aus nächster Nähe schossen Energiesalven aus Staraptors Rachen, welcher an die Form von Sternen erinnerten. Sie schlugen zu dutzenden auf das gegnerische Pokémon ein und ließen es zu Boden stürzen. Erfreut lehnte sich Luca über das Geländer und sah Aeris nach. Ein provokantes hinterher Winken vermochte er nicht zu unterdrücken. Hayato stand wie vom Donner gerührt da. Seine Finger ballten sich zu Fäusten, dann entspannten sie sich wieder. Wie blöd musste er sein? Ausgerechnet auf Lucas Finte hereinfallen! Das würde der kleine Bruder, der sicherlich nun innerlich jubilieren mochte, ihm noch die nächsten zwei Wochen vorhalten! Seine Freude war rasch verflogen. Kurz vor Aeris‘ Aufprall fächerte sie ihre mächtigen Flügel und schoss dann wieder empor. Wie zwei Raubtiere auf Beutezug umkreisten sich die Greifvögel aneinander und kreischten animalisch, denn sie wollten einander beeindrucken. „Aero-Ass!“ Dann ließen sich Tauboss und Staraptor fallen, umgeben von starken Auf- und Abwinden, mit der Gewissheit, dass sie aufeinander prallen würden. „Hayato, Luca!“ Abrupt nahm das kämpferische Schauspiel ein Ende. Luca wandte jäh sein Haupt und erkannte augenblicklich seine ältere Schwester, die von Hayato und auch von ihm selbst überragt wurde. „Stopp!“, befahl er seinem Staraptor und dem Tauboss seines Stiefbruders, die sofort versuchten, ihre Geschwindigkeit zu drosseln, um die Kollision zu verhindern. Der Jungfalke brach nach links aus, und Aeris raste knapp an ihm vorbei. Der scharfe Windzug zerzauste ihnen das Gefieder. Das anklagende Zetern der Greifvögel war groß, wurde aber nicht beachtet. Die Kontrahenten atmeten tief ein, füllten ihre Lungen mit Luft, um die Gedanken zu sortieren und den dröhnenden Pulsschlag zu beruhigen. Für wenige Momente standen Hayato und Luca erstarrt da, ehe ihre Blicke zu der jungen Frau wanderten, die ihre Hände in die Hüfte stemmte. Das kurze, bis zum Kinn geschnittene tiefbraune Haar, wippte leicht in einem schwachen Windhauch. Links und rechts fielen längere Strähnen herab, während der Schnitt der Haare nach hinten kürzer wurde – eine eher jungenhafte Frisur. Ihre Kleidung ließ es ebenfalls nicht zu, dass man sie aus den Augen verlor, denn der Kleidungsgeschmack war doch sehr eigen. Die Baumwolle, im Farbton schwarz, die im Ausschnitt geraffte Damenbluse und aus Wildleder gefertigten edlen Mieder machten vielmehr den Eindruck als stammten sie aus einer längst vergangenen Epoche, dem Mittelalter. Luca merkte, dass mit seiner Schwester etwas nicht stimmte. Sie wirkte unruhig und angespannt, denn normalerweise achtete sie die Trainingsstunden, egal ob mit Schülern oder den Geschwistern. „Elena!“, stieß er überrascht aus. „Was machst du hier?“ Neben ihr hockte auf dem Geländer ihr Grypheldis und klapperte mit dem Schnabel gegen das Metall; ein großer, imposanter Geier, dessen Flügelspannweite gewiss drei Meter erreichte. Das Federkleid des mächtigen Greifvogels war braun, während sich die Halskrause beige bis weißlich vom restlichen Erscheinungsbild abhob. Fleischfarbend war der Hals, der in einen recht kleinen Kopf und schmalen, grauen Schnabel überging. Über den scharfen Greifvogelaugen prangten Kopffedern und ein schauerlicher Knochenschmuck. Argwöhnisch betrachteten Grypheldis‘ Augen die nahe Umgebung, und sie wandten sich jäh zu Staraptor und Tauboss, die noch immer durch Auf- und Abschlagen ihrer Flügel sich in der Luft befanden. Mit einer fahrigen, leicht in Hast geratener, Handbewegung schob Elena eine Strähne beiseite. „Die Altstadt brennt“, berichtete sie atemlos, „und etwas nähert sich sehr schnell vom südlichen Stadttor.“ Hayatos Augen glitten über die Stadt, die von ihrem Standpunkt sogar gut zu sehen war. In ihrem Kampfesrausch hatten sie nicht den beißenden Gestank von Rauch und Feuer wahrgenommen, den der Wind allmählich mit sich trug. Alle Farbe wich aus Hayatos Gesicht, auch Luca keuchte und wankte. Er suchte nach Halt an der Reling. Dass, was sie sahen, erschütterte sie: Dichte Rauchsäulen stiegen unweit von der Arena in die Luft empor, begleitet von fernen Schreien der Menschen, die um ihre Existenz und Leben fürchteten. Jenen Gedanken, der den Geschwistern im Geiste aufblitzte, bestätigte Elena betrübt: „Die Stadt wird angegriffen.“ Die Geschwister traten aus der Arena heraus. Angewidert rümpften sie die Nasen, denn der stechende Brandgeruch hing wie eine unheilvolle Wolke über der Stadt. Der Wind hatte gedreht und trieb nun den Rauch, der aus der Altstadt empor stieg, in die übrigen Bezirke. Hoben sie den Kopf, dann erblickten die jungen Trainer das Übel, welches ihre Heimatstadt heimsuchte: Grell leuchteten die Flammen in den Himmel und lechzten am höchsten Turm von Violas ältester Kirche. Die dicht gedrängten Häuser waren bereits Opfer des gierigen Infernos geworden. Zahlreiche Dachstühle hatten Feuer gefangen, während manche Häuser schon lichterloh brannten. Die Menschen suchten ihr Heil in der Flucht. Hinter den Geschwistern drängten sich die übrigen Schüler, die zu dieser schicksalshaften Stunde am frühen Nachmittag in der Arena waren, um ihre täglichen Übungen zu vollziehen. Die Jüngsten unter ihnen stießen belegte Entsetzenschreie aus, andere starrten bloß bestürzt die Kirche an. Dann geschah etwas, woran sich Menschen in ihren Lebzeiten erinnerten: Eine ohrenbetäubende Explosion ließ die kirchlichen Mauern erzittern und ächzen. Ein fernes, aber dennoch schrilles und schauderhaften Kreischen, als würde Metall über Gestein kratzen, drang an ihre Ohren. Alsbald wehte der trockene und reizende Geruch von Staub über die alten Bezirke Violas, den die Geschwister und die Schüler wahrnahmen. Unvermittelt verstummte das Kreischen, aber Risse klafften im Mauerwerk auf und brachen weiter, bis er mehrere Fuß maß. Wie ein Blitz raste er das Mauerwerk herab und zertrümmerte vermutlich den Schlussstein, denn in diesem Moment regnete es kieselgroße Steine. Die Kirche und der Turm knarrten, und dann begann die Front des Turmes in eine Schräglage nach außen zu neigen, während Dachbalken zersplitterten und die Decke nicht mehr zu tragen vermochte. Unter markerschütterndem Getöse und dem Schreien der Menschen stürzte das Dach in sich zusammen als wäre es ein Kartenhaus. Und da fiel der Turm. Wie gelähmt standen Hayato, Elena und Luca dort und vermochten kaum einen klaren Gedanken zu fassen. „Wir müssen die Stadt evakuieren“, löste sich Elena schließlich aus ihrer Erschütterung und wandte sich an ihre Brüder, die noch immer mit bleichen Gesichtern dem Szenario beiwohnten. „Sofort!“ Widerstand ließ die Schärfe ihrer Stimme nicht zu. Achtlosigkeit gewährte auch die momentane Situation nicht. „Du hast recht“, murmelte Hayato, offenbar schockiert über die allgegenwärtige Lage. Ihm fiel es nicht leicht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, aber es war notwendig, dass er einen klaren Kopf bekam. Er durfte nicht zulassen, dass sein Entsetzen ihn übermannte. Nachdem Hayato sich wieder gesammelt hatte und seine Gedanken wieder frei von Bestürzung waren, drehte er sich seinen dreiundzwanzig Schülern zu. „Wir bilden sieben Gruppen mit drei Leuten. Ihr führt die Menschen aus der Stadt heraus.“ Mit einer raschen Handbewegung deutete er ihnen an, dass sie auf eigenes Zutun ihre Gruppen formieren sollten. „Moment! Wer führt sie an und wo sollen sie die Menschen hinbringen? Und was tust du überhaupt?“, äußerte Elena ihr Bedenken und blickte ihren Stiefbruder kritisch an, der ihren Blick ebenfalls erwiderte. „Sag jetzt nicht, dass ich sie hinaus führen soll!“ Hayato nickte. „Sie werden die Bewohner zum Waldrand führen, nahe an der Kreuzung zu Teak City. Dort werdet ihr auf mich warten.“ Kurzes Gemurmel nahm er unter den Schülern wahr, niemand aber erhob Einwände, daher lächelte der Arenaleiter, auch wenn er wusste, dass die härteste Diskussion noch vor ihm lag. „Macht euch auf den Weg“, ordnete er knapp an und sah seinen Schützlingen nach. Hayato spürte bei dem Anblick, wie seine Schüler ihre Wege gingen ohne Widerworte zu geben, einen Stich ins Herz. Furcht erfüllte ihn, gleichzeitig hoffte er, dass Ho-oh sie beschützen und ihnen den Weg weisen möge. „Weichst du mir aus? Du hast meine Frage nicht beantwortet“, riss ihn Elenas verärgerte Stimme aus seinen trüben Gedanken. „Du schickst mich doch nicht als Babysitter hinterher?!“ Sorgfältig versuchte er die Worte zu wählen, die Elena möglicherweise überzeugen mochten, kam aber zu dem Schluss, dass jede Schmeichelei gewiss auf taube Ohren stoßen würde. Er musste zum Turm gehen, um die Ältesten aufzusuchen. Nur sie vermochten ihm Rat geben und Trost zu spenden, die er in diesem Moment brauchte. Unter Umständen war die Prophezeiung eingetroffen, die sie ihm vor einem halben Jahr offenbart hatten. „Ich geh zu den Ältesten und frage sie um Rat. Du weißt warum, aber dafür muss ich mich auf dich verlassen können“, setzte er an, aber die Brünette verschränkte bloß trotzig die Arme vor der Brust. „Ich brauche deine Erfahrung, Elena. Niemand anders könnte es tun.“ „Ach, du brauchst jemanden, auf den du dich verlassen kannst? Was für eine Ehre, dass du auf mich zurückkommst“, stichelte Elena spöttisch, „aber denkst du, ich lasse dich im Stich? Niemals!“ Hayato seufzte schwer. Welches Argument hatte so viel Gewicht, dass jenes seine Schwester hätte überzeugen können? „Ich tu’s“, mischte sich Luca ein, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte. Entschlossen hatte er die rechte Hand zur Faust geballt und wirkte, als könnte niemand seine Entscheidung erschüttern. „Nein! Das lass ich nicht zu“, widersprach Elena aufgewühlt, während die Liebe zu ihrem Bruder mit der Treue zu Hayato in ihrem Inneren tobte, gleichzeitig wusste sie, dass es an der Zeit war, Luca eigene Wege beschreiten zu lassen. Er war siebzehn und kein kleines Kind mehr, das es zu beschützen galt. „Du weißt, dass ich es tun muss“, sagte Luca bedrückt. „Du hast dich entschieden, mit Hayato zu gehen, und ich gehe meinen eigenen Weg.“ Unwillkürlich spürte Elena Hayatos Hand auf ihrer Schulter ruhen. Ein tröstendes Gefühl, das die Tränen verhinderte, gegen die sie anzukämpfen versuchte. „Lass ihn gehen. Du kannst ihn nicht ewig beschützen“, wisperte Hayato seiner Schwester zu. Sie gab nach, wenn gar widerwillig, denn ihr blieb nichts anderes übrig, als die Zeichen zu deuten, dass es an der Zeit war, Luca ziehen zu lassen, ganz gleich welche Gefahren bei seiner Aufgabe auf ihn lauerten. „In Ordnung, aber pass auf dich auf!“, beschwor Elena eindringlich und umarmte ihren Bruder flüchtig. Jener erwiderte die Umarmung und schlang seine Arme um sie, hielt sie ganz fest, als befürchtete er, dass es das letzte Mal war, seine Schwester im Arm zu halten. Er drückte sein Gesicht gegen ihre Schulter und verkrampfte seine Finger in dem Stoff ihrer Kleidung. „Jetzt hau schon ab“, flüsterte sie ihm lächelnd zu, als sie sein leises Schluchzen wahrnahm, „sonst überlege ich mir es doch noch anders.“ Widerstrebend löste sich Luca, und einen Moment glaubte Hayato in seinen Augen eine Unsicherheit zu spüren, die an der Entschlossenheit seines Bruders zweifeln ließ. Als Luca merklich einatmete und die Luft wieder aus den Lungen stieß, verflüchtigte sich dieser Eindruck. „Passt auf euch auf!“ Dann machte er kehrt und rannte seinen Kameraden hinterher, die sich kurz darauf in die befohlenen Dreier-Gruppen splitterten. Luca schien sich einer anzuschließen, die bloß aus zweien bestand. „Du hast eine gute Entscheidung getroffen“, sprach Hayato anerkennend und streifte Elena mit einem kurzen Blick, die eisern ihre Augen auf Luca gerichtet hatte, der sich immer weiter von ihr entfernte. Unwillig drehte sie sich weg und verzog die Lippen zu einem leichten Grinsen. „Ach ja? Du nennst es Weisheit, meinen kleinen Bruder solch einer großen Gefahr auszusetzen? Ich habe das Gefühl, dass ich ihn heute zum letzten Mal sehe“, gab Elena süffisant zurück, fügte rasch hinzu, bevor Hayato widersprechen konnte: „Komm, wir sollten zu den Ältesten und zwar schnell.“ Es war riskant, zu Fuß den Turm aufzusuchen, der zwar unweit von der Arena über der Stadt in den Himmel empor ragte, aber der Wind spielte ihnen nicht sonderlich in die Karten. Lodernde Flammen und Rauch versperrten ihnen die Straßen, sodass sie einige Umwege in Kauf nehmen mussten, die zu viel Zeit in Anspruch genommen hätte. Die Zeit rann ihnen davon. Daher entschieden sich Hayato und Elena zu fliegen. Hayatos Tauboss war zu erschöpft, um die jungen Erwachsenen gemeinsam auf dem Rücken zu tragen. So entließ Elena ihr Aerodactyl aus dem Pokéball; ein mächtiges Pterosaurierweibchen, das die fledermausähnliche Flügel an den Leib presste, um den Menschen den Aufstieg zu erleichtern. Aerodactyls graue Drachenhaut wirkte ledrig und glatt, aber sie war keinesfalls kalt, sondern die Schuppen waren warm und eher rau. Legte man die Hand flach auf den Körper, so fühlte man die Hitze und das Spiel der Muskeln bei jeder noch so kleinen Bewegung darunter. Rasch waren Hayato und Elena auf den Rücken geklettert, und die Trainerin gab ihrem Pokémon den Befehl, in die Luft zu steigen. Aerodactyl spannte den Leib an, öffnete die Flügel und hob mit einem kräftigen Satz in die luftigen Höhen empor. Die brennende Stadt schrumpfte in rasanter Geschwindigkeit zu einem winzigen Punkt zusammen. Die flammenden Infernos wirkten, als wären es rote harmlose Flecken, die der Maler auf sein Bild kleckern gelassen hatte. Selbst in dieser Entfernung war aber die gleißende Hitze deutlich zu spüren, und der beißende Rauch machte das Luftholen zu einer unendlichen Qual. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis Aerodactyl in einen sanften Sinkflug überging, begleitet von einem durchdringenden Kreischen, der Elena und Hayato dazu veranlasste, ihre Augen vorwärts zu richten. Vor ihnen triumphierte eine traditionell erbaute Pagode aus einer längst vergessenen Epoche, in der es üblich gewesen war, dass jene heiligen Stätte oft mehrgeschossig in die Höhe ragten, als würden ihre Spitzen den Himmel zaghaft berühren wollen. Jedes Stockwerk wurde von einer Terrasse liebevoll umarmt, welche in ein elegant geschwungenes Dach mündete. Die Schindeln jener vorrausspringenden Gesimse waren dunkel, wirkten beinah schwarz, und glänzend, als wären sie soeben poliert worden, während der Anstrich des Turmes rot gehalten und golden verziert war. Zentrum jenes Gebäudes war ein monströser Balken, der stets in Bewegung war. Darum nannte man diesen Tempel „Knofensa-Turm“. Hayato fühlte bei diesem Anblick einen schmerzenden Stich. Viola war eine schöne und altertümliche Stadt, die ähnlich erbaut war wie Teak. Die Architektur des längst vergangenen Zeitalters ließ die zahlreichen Reisenden im Glauben, sie seien in eine Zeitkapsel gestiegen und in die Ära des Kaisers zurückgekehrt. Möglicherweise, wenn sie den Flammen nicht Einhalt gebieten konnten, würde dieser Tempel genauso dem Inferno zum Opfer fallen wie die zerstörte Kirche. Als Aerodactyls Körper unsanft auf den Boden aufsetzte und ein mächtiger Ruck durch seine Muskeln floss, sprangen Elena und Hayato hastig von seinem Rücken. Der Arenaleiter eilte voraus, während Elena einen Moment noch bei Aerodactyl blieb. „Du wartest hier, Bashira, okay?“ Aus klugen Augen sah das Pterosaurierweibchen ihre Trainerin an und ließ ein zärtliches Gurren aus seiner Kehle aufsteigen. Dann wandte sich Bashira ab, faltete die Schwingen zusammen und machte es sich auf dem Boden bequem. Elena lächelte. „Braves Mädchen.“ Damit wandte sich die junge Frau um und folgte Hayato ins Innere des Turmes. Unter ihren Füßen knarrte das Holz der Treppen. Hayato hasste dieses Geräusch. Noch dazu war der Aufstieg besonders beschwerlich, denn die Stufen waren ebenso schmal wie Aufgänge in die höheren Stockwerke. Nicht, dass er Höhen- oder Platzangst hatte, aber ihm war zumindest unwohl in solch engen Räumlichkeiten. Er liebte die Freiheit und brauche jene ebenso sehr wie der Mensch Luft brauchte, um zu atmen. Er brauchte die Freiheit, um sich lebendig zu fühlen. „Wo bleibst du? Trödel‘ nicht so!“, mahnte Elena, die ihn schnell eingeholt und in jenem engen Treppenhaus die Führung übernommen hatte. Ihm kam es so vor, als bewegte sie sich, trotz der beängstigenden Enge, mit der Wendigkeit eines Wieseniors. Auf der schmalen Leiter war so wenig Platz vorhanden, dass Elena Probleme hatte, Halt unter ihren Füßen zu finden und ihren Oberkörper zu wenden, um sich leicht verärgert, leicht besorgt nach ihm umzusehen. Wortlos nickte Hayato ihr bloß knapp zu und konzentrierte sich schließlich, Sprosse für Sprosse langsam empor zu klettern. Insgeheim bewunderte er seine Stiefschwester, die er genauso liebte wie seine leiblichen Geschwister. Während Hayato seine Unruhe und sein Entsetzen kaum zu zügeln vermochte, schien Elena bedachtsam und gleichmütig zu denken und zu fühlen. Ob es ihrer tatsächlichen Gefühlswelt entsprach, wusste Hayato nicht – oder er ahnte zumindest, dass es nur eine Maske war, um ihre Erschütterung nicht preiszugeben. Schließlich war sie stets der Fels in der Brandung gewesen; der kühle Kopf, der stets weise Entscheidungen traf und sich nicht durch persönliche Gründe verwirren ließ. Abermals hielt er inne und unterdrückte ein Nießen, das unangenehm in der Nase kribbelte. Der Geruch feuchten Holzes war in diesen Räumen allgegenwärtig und die Luft roch durch den Staub beinahe unerträglich muffig. Hayato verfluchte seine Stauballergie. Stets reizte sie seine Atemwege und trieb ihm die Tränen in die Augen. Als das Jucken nachgelassen hatte, setzte er wieder Fuß vor Fuß und nahm Stufe für Stufe und war froh darüber, dass die Kletterei scheinbar ein Ende genommen hatte. Elena wartete auf dem Treppenabsatz auf ihren Stiefbruder. „Da bist du ja“, begrüßte sie ihn grinsend, „und ich dachte schon, du wärst auf dem Weg verloren gegangen.“ Schon aus Prinzip ignorierte Hayato ihre leicht spöttische Bemerkung. Natürlich war ihm durchaus bewusst, dass Elena ihn bloß auf andere Gedanken bringen wollte, aber dabei hatte sie bloß mäßigen Erfolg. Nachdem er die Hochebene erreicht hatte, musste er einen kurzen Moment zu Atem kommen und seinen Rücken dehnen. Durch die immerzu gebückte Haltung schmerzte sein Rückgrat. „Los weiter“, keuchte er. Die Geschwister betraten den Raum, welcher nur sporadisch beleuchtet war. Fackeln stellten Lichtquellen dar und waren an der Wand, nahe der Tür, platziert worden, brachten aber kaum Helligkeit ins Dunkle. Entschlossen schritt Elena vorwärts, während Hayato inne hielt und von Zweifel ergriffen wurde. Elena bemerkte sein Zögern und sah ihn besorgt in die Augen. Sie spürte wie aufgewühlt ihr Bruder war. Hayato ballte die Faust. Was war, wenn die Worte der Prophezeiung, die unentwegt in seinem Herzen brannten, eingetreten waren? War die Vernichtung Violas ein Werk des Schicksals, der Wille der Götter? Allzu gerne würde Elena ihrem Bruder beistehen, doch sie wusste weder um seinen Kummer Bescheid noch wusste sie wie sie ihm seine Besorgnis zu befreien vermochte. „Vielleicht wissen die Ältesten Rat“, wagte sie den Versuch, ihren Bruder aufzumuntern. Hayato wusste nicht, ob jener besagte Rat die Stadt retten konnte. Vielleicht war die Vernichtung der Stadt der Preis, den sie zu zahlen hatten. Wie damals, als sein Vater Team Rocket vor fünf Jahren erstmals in die Schranken gewiesen hatte, doch forderte jener Triumph sein Leben. Er wurde von Schutttrümmern erschlagen und unter ihnen begraben. Alles, was ihm von Gin geblieben war, war die Erinnerung an seinen tugendhaften alten Herrn, der Vater und Meister für ihn gewesen war. Rasch trat er an Elena heran, legte seine Hand auf die ihre, welche bereits auf dem kalten Stahl der Klinke ruhte, und nickte ihr knapp zu. Gemeinsam drückten sie gegen das Holz der Tür und schoben sie auf. Hayato ließ Elena den Vortritt und folgte ihr anschließend. „Willkommen, Hayato, ich freue mich, dich zu sehen“, erklang die brüchige Stimme eines alten Mann, dessen getrübter Blick zu Elena wanderte, „auch du seist hier willkommen, Elena.“ Die Angesprochenen streckten ihren Rücken, legten die Hände aufeinander und verbeugten sich wortlos. Dann richteten sie sich auf und ließen ihre Blicke zum Triumvirat Violas schweifen. Drei Männer im hohen Lebensalter stellten den hohen Rat dar. Sie entsprangen edlen Familien und waren die Ältesten in der Stadt. Sie hatten bereits zwei Generationen durchlebt und hatten durch ihr langes Dasein auf Erden Weisheit erlangt. Zu beschützen war ihre Aufgabe und die Zeichen der Götter mit ihrem kostbaren Wissen zu deuten. Unter den Männern befand sich Hayatos Großvater; der Vater des verehrten und in den Erinnerungen lebenden Gins Takigawa. Noch nicht lange war er Mitglied des Rates, denn er war der Jüngste des Trios. Sie hatten sich auf Kissen niedergelassen, die auf den Boden gelegt worden waren. Die Männer saßen versetzt zueinander. Der Älteste – Genshin lautete sein Name – war das Oberhaupt und hatte die vorderste Position inne, während Hayatos Großvater als jüngstes Mitglied sich eher im Hintergrund befand. Der Letzte im Bunde saß rechts von Genshin. Ronin hieß er und stammte aus einer Familie, die mit den Takigawas gut befreundet war. „Was hat euch hergeführt, Kinder?“, fragte das Oberhaupt und hob seinen lebhaften Blick auf die jungen Menschen. „Wir sind hergekommen, weil…“ „…die Stadt in Flammen liegt. Wir wissen es bereits.“ Ronin betrachtete sie abschätzig, beinahe prüfend. Hayato ärgerte sich. Warum erkundigten sie sich nach dem Grund ihres Kommens, wenn sie bereits darüber informiert waren, was in Viola vor sich ging? Ein entrüstetes Schnauben entfuhr Elena. In ihren Augen lag ein ungläubiges Funkeln. „Wenn ihr es ohnehin bereits wisst, warum fragt ihr auch noch?“, sprach Hayatos Stiefschwester seinen Gedanken aus, als wären sie durch Telepathie miteinander verbunden. „Zügel‘ dich, Elena.“ Beschwichtigend hob Hayatos Großvater die faltenreiche Hand. „Ihr seid nicht hergekommen, um uns über den Angriff zu informieren, vielmehr begehrt ihr zu wissen, wer sich erlaubt, unsere Stadt zu überfallen, nicht wahr?“, ließ nun Kenzo verlauten. Seine Augen ruhten auf seinen Enkelsohn. Kritisch musterte Elenas Blicke den Ältesten und Hayato. „Ihr scheint mehr zu wissen als ich.“ Genshin nickte. „Du kennst die Prophezeiung auch, Hayato. Du wusstest, dass dieser Tage käme.“ „Prophezeiung? Wovon reden sie, Hayato?“ Verwirrung war in ihren Gesichtszügen zu erkennen. Hayato aber wich ihrem Blick aus und vermochte nicht in ihre Augen zu schauen, denn es belastete ihn schwer, dass er seiner Schwester seit Monaten die Wahrheit verschwiegen hatte. So zitierte er mit belegter Stimme: „Wenn die Zeit kommt, werden Flammen unser Verderben sein. Die Dunklen erheben sich aus der Asche, und plötzlich nahet ein Heer Dämonen. Rebellen bereit zur Schlacht. Ein Verbündeter im eigenen Blute. Doch Mut allein wird scheitern, und nur die Sonne ist alles, was uns bleibt.“ Die Farbe wich aus Elenas Antlitz, während sich die Mimik des Erstaunens in eine Gebärde der Fassungslosigkeit wandelte. Gewiss klangen die vorgetragenen Worte grotesk, doch schien die junge Frau die verborgene Interpretation zu verstehen. „Du hast es gewusst? Du hast es gewusst und hast mir nichts erzählt?“ „Was hätte es geändert, wenn ich es dir erzählt hätte? Dass wir etwa den Angriff hätten verhindern können? Du weißt selbst, dass wir das nicht hätten tun können, Elena!“, setzte Hayato dem Vorwurf entgegen. Er fühlte sich, als wäre er in die Ecke gedrängt worden. „Außerdem weiß ich die Bedeutung dieser Worte nicht.“ Ablehnend verschränkte sie die Arme vor der Brust und strafte ihren Bruder, indem sie verstummte anstatt zu diskutieren. Elenas Schweigen traf ihren Bruder mehr als wenn sie die Meinungsverschiedenheit fortsetzte, das wusste sie. „Es war unser eigener Wunsch, dass dein Bruder dir die Prophezeiung verschwieg haben, Elena, aber wir haben ihm bewusst nicht die Wahrheit über die Worte gesagt. Die Bedeutung hätte Hayato wahnsinnig gemacht“, trat Genshin schließlich in die geräuschlosen Streitigkeiten der Geschwister ein. Unvermittelt fügte er im tadelndem Ton hinzu: „Ihr solltet euren Geist und eure Kraft auf das bevorstehende Gefecht konzentrieren. Ihr seid unsere einzige Hoffnung, um die letzte Würde unserer Stadt zu bewahren.“ „Ihr wisst, wer uns angreift, Meister Genshin?“ Neugierde blitzte in Hayatos Augen auf, als er für einen Augenblick Elenas Groll vergaß. Gleichzeitig focht sein Interesse gegen die aufkommende Verachtung. Wer mochte so grausam sein, um eine gesamte Stadt in Schutt und Asche zu legen, wohl wissend, dass Menschen in den Flammen ihr Leben ließen? Bestürzung flackerte in Kenzos Augen auf, denn er wusste, welche Qual die Wahrheit für seine Enkelkinder bedeutete. „Team Rocket.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)