Johto no Densetsu von xRajani ================================================================================ Kapitel 5: Streben nach Glück ----------------------------- Als Soul die Drachenhöhle verlassen hatte, versank die Sonne hinter dem westlichen Gebirge. In diesen letzten Augenblick, bevor sie vollends unterging, um am nächsten Morgen erneut Kraft zu finden, erreichte das Abendrot seinen Höhepunkt, und es schien, dass die Lichtkugel, eines verzweifelten Versuches gleich, sich den Fängen der Nacht entziehen wollte. Hell strahlte der Himmel, als würden tausende Flammenzungen ihn erleuchten, während sich das Gebirge wie dunkle Silhouetten von diesem bizarr schönen Spiel abhob. Beinahe glühend wurden die Gipfel in einen blendenden, gar goldenen, Lichtkranz getaucht. Ein letztes Mal hatte ein schwacher, roter Lichtschein geflackert, bevor der hereinbrechende Abend alle Farben tilgte und durch ein sich verdunkelndes Grau ersetzte. So wanderte die Brünette fröstelnd durch die spärlich erhellten Straßen und ging gemächlich an der abseits liegenden Arena vorbei, die zu dieser Zeit bereits geschlossen war. Groteske Schatten zeichneten sich, durch das grelle Licht, auf dem Boden ab, welche das Mädchen unentwegt begleiteten und ein Gefühl der Unruhe in der Trainerin weckten. Sie rieb sich die unbekleideten Oberarme, als der kühle Novemberwind ihre Haut streichelte. Ein fröstelnder Schauder überkam das Mädchen. Die prachtvollen, gar frohen Farben des Herbstes vergingen, und bereits im November fühlte man die Ankunft des baldigen Winters: Die Tage wurden kürzer, die Abende kälter und der Wind bissiger. Ja, die kalte und triste Zeit des Jahres, die Soul so sehr verabscheute, denn zu jener Zeit verspürte die Trainerin eine ebenso kühle Stimmung. Näherte sich etwa eine Winterdepression? Missgelaunt trat Soul einen kleinen im Weg liegenden Stein vor sich her und beschleunigte den Takt ihrer Schritte. Sie fluchte leise und ärgerte sich, dass sie am heutigen Morgen ihre Jacke im Pokémon Center vergessen und sich nun zu lange beim Ältesten aufgehalten hatte, der ihr keinen guten Rat mitgeben wollte. Warum mussten weise Menschen stets in Rätseln sprechen? Konnten sie sich nicht deutlich artikulieren, sodass jeder Depp sie zu verstehen vermochte? Ein unvermuteter, freundlicher Gruß riss Soul aus ihren Gedanken. Erschrocken hob sie den Kopf und sah eine junge Frau, die an ihr lächelnd vorbei ging. Soul kannte diese Frau nicht, erwiderte aber den Gruß mit einem knappen Kopfnicken. Seitdem sie Champion war, fühlte sich Soul, als liefe sie als buntes Farbeagle unter den Menschen umher. Ständig begegneten ihr Menschen, die sie auf der Straße vollkommen unerwartet begrüßten. So war es beinahe unmöglich nicht aufzufallen, in der Menschenmasse unterzutauchen. Erleichtert stellte Soul fest, dass sie nun endlich ins belebte Stadtinnere zurückgekehrt war. Mit zu Boden gesenktem Kopf folgte Soul der Straße, um zu verhindern, dass sie erneut erkannt wurde. Binnen weniger Minuten war Soul vor dem Gebäude des Pokémon Centers gelangt und schritt sodann in den Eingangsbereich, vor dessen Räumen sich die Schiebetür beinahe lautlos öffnete. Wohlige Wärme strömte ihr entgegen, als sie den geheizten Innenraum betrat, die die Kälte, somit auch ihre schlechte Laune, vertrieb. Aufmerksam sah sich das Mädchen in der betriebsamen Lobby um, war nicht überrascht darüber, dass jene gut gefüllt war, denn am morgigen Tag sollte ein Wettbewerb stattfinden. Im selben Moment war Soul froh darüber, dass sie bereits am Morgen in Ebenholz City angekommen war, sonst hätte sie womöglich kein freies Zimmer mehr bekommen. Als sie zum Tresen ging, achtete die Trainerin gewiss nicht auf die neugierigen Blicke, die ihr zuteil wurden. Rasche Schritte nahm Soul im Augenwinkel wahr, und plötzlich stellte sich jemand dem Champion in den Weg. Den Blick hob sie überrascht und sah sich einer Gruppe von Trainern gegenüber. „He Süße“, grölte er. „Dich kenne ich doch? Bist du nicht die Trainerin, die Wataru besiegt hat?“ Kühl musterte Soul den groß gewachsenen, dunkelhaarigen Jungen vor sich. Er straffte seine Schultern, baute sich vor dem zierlichen Mädchen auf, die resigniert seufzte. Nur in der Gruppe waren solch armseligen Typen stark. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“ Angespannt legten sich ihre Finger um einen am Gürtel befestigten Pokéball. Warum konnten manche Menschen einfach nicht einschätzen, wann sie sich zurückzuziehen hatten? Mit einer fahrigen Bewegung strich sich der Fremde eine störende Strähne aus dem Gesicht. Seine Lippen waren zu einem höhnischen Grinsen verzogen. „Oh, da wird aber jemand zickig. Seht ihr?“ Spöttisch begann der Trainer zu lachen, streckte dann seine Hand aus und umfasste grob ihren rechten Arm. „Vielleicht ist sie ja doch nicht so mutig und stark, wie alle Welt von ihr spricht!“ „Lass mich los“, sagte Soul ruhig, wohl bedacht die Ruhe zu bewahren. Ein tiefer Atemzug gab ihr dazu die Kraft, aber als der Griff um ihren Arm fester und sie dicht den Fremden gezogen wurde, war es zuviel. Ihre Hände zitterten, bebten nahezu, ballten sich hernach zu Fäusten, so fest, dass ihre Nägel sich schmerzhaft in ihre Haut bohrten. Was konnte dieser Idiot es wagen, sie so grob anzufassen? „Lass deine Drecksflossen von mir!“, fauchte Soul ungehalten, als sie ihre angestaute Wut nicht mehr zu zügeln wusste. „Sonst was?“, höhnte er weiter. „Wird das arme, kleine Mädchen dann etwa böse?“ Kalt funkelten Souls Augen den jungen Mann an, der spöttisch die Lippen verzog. „Seth.“ Aus einer Lichtflut materialisierte sich der imposante Alligator, der sich schützend vor seiner Trainerin aufbaute. Ein tiefes, gereiztes Grollen stieg seiner Kehle empor, während sich seine Lefzen warnend kräuselten. „Du bluffst doch nur!“, spottete der junge Mann, der die Gefahr nicht einschätzen konnte. Er war allem Anschein nach der Anführer der Gruppe. „Bluffen? Glaubst du wirklich, dass mein Impergator nur bluffen würde?“ Soul deutete mit einer Kopfbewegung ihr Pokémon an dem jungen Trainer das Gegenteil zu beweisen. Impergator nickte und stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus, während seine Füße den Boden verließen. Seine Zähne blitzten auf, als sie wenige Zentimeter vorm Gesicht des Fremden zu schnappten. Alle Farbe war aus dem Gesicht des Jungen gewichen, nachdem der kräftige Alligator ihn zu Boden gerissen hatte. Mit Schlägen und Tritten wehrte er sich gegen Impergator, welches keinen Zentimeter zurück wich. Die Kameraden des Anführers traten mit bedrohlich langsamen Schritten auf Soul zu, umzingelten das Mädchen und zogen den Kreis rasch enger, was sie mit einem flüchtigen Seitenblick erkannte. „Pfeif dein Mistvieh zurück!“ Impergator hob den schweren Kopf, während es seine rechte Klaue auf der Brust des Jungen platzierte und ihn mit einem unwirschen Knurren zum Stillhalten brachte. „Überlegt, was ihr tut“, meinte Soul nüchtern, äußerlich gelassen und innerlich aufgewühlt. Doch selbst diese Holzköpfe schienen ihre warnende Botschaft zu verstehen. So wich die Gruppe, bestehend aus vier Jungen und zwei Mädchen, zurück. Furchtsame Blicke warfen sie ihrem Anführer zu, bevor sie sich umwandten und aus dem Pokémon Center flüchteten. Eine natürliche Reaktion? Gewiss nicht! Nur Feiglinge ließen einen Freund im Stich. „Du hast dir ja tolle Freunde ausgesucht“, schnaubte Soul entrüstet. Mit einem Wimmern antwortete der Angesprochene leise. „Lass mich gehen!“, flehte? Jammerte der junge Mann. „Bitte!“ Soul verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte entrüstet. „Oh? Jetzt so kleinlaut? Ein bisschen mehr Respekt hätte ich schon vor dem Champion erwartet, aber ich will mal nicht so nachtragend sein.“ Sie legte Impergator die flache Hand auf sie Schulter. „Seth, lass ihn laufen.“ Grollend zog sich Impergator zurück, entblößte die Zähne unter den Lefzen und knurrte ein weiteres Mal, während der Junge sich hastig erhob und auf schwankenden Beinen versuchte das Weite zu suchen, stolperte jedoch und drohte erneut Bekanntschaft mit dem Boden zu machen. Höhnisch verzog Impergator eine Furcht einflößende Grimasse. Wie schnell er nun laufen konnte! „Ist alles in Ordnung?“, erklang die freundliche Stimme der Schwester Joy, die die Trainerin zusammen zucken ließ. Soul, die ihren Kopf zur Seite neigte, bevor sie sich vollends der jungen Frau zuwandte, nickte knapp, während sie auf die gerötete Druckstelle ihres Armes sah. Dann schnippte sich Soul eine störende Strähne aus dem Gesicht. „Ja, wird nur ein blauer Fleck werden.“ Die vor Wut zitternden Hände erregten die Aufmerksamkeit der Trainerin. Sie verfluchte sich, weil sie erneut nicht wusste, wie sie ihre aufgebrachten Emotionen zu besänftigen vermochte. Obwohl sich Soul einredete, dass dieser Vorfall keinesfalls eine Bedeutung inne wohnte, wühlte das letzte Ereignis sie auf. „Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?“, fragte Schwester Joy, die die Anspannung des Mädchens erkannt hatte. Auf Souls Lippen stahl sich ein bitteres Lächeln. „Mein Temperament ist mit mir durchgegangen“, wehrte die Brünette ab, „das ist alles.“ Schon lange war ihr bewusst, dass ihre Launenhaftigkeit ein Gift für ihren Verstand war. Sobald sie Wut verspürte und diese sich staute, so gewann jene vollends die Kontrolle über ihre Gedanken und trübte ihr Urteilsvermögen. „Du wirkst niedergeschlagen“, bemerkte Schwester Joy. „Konnte dir der Älteste nicht helfen?“ Soul seufzte und verneinte mit einem wortlosen Kopfschütteln. Es deprimierte das Mädchen, dass sie in allem, was sie tat, sich entmutigt fühlte, und niemand vermochte ihr einen Rat zu geben, damit sie sich besser fühlte. „Ich hoffe aber, dass du in Zukunft deine Launen nicht an Anderen auslässt, sondern solche Angelegenheiten in Zukunft außerhalb des Pokémon Centers klärst.“ Konnte Soul diese Botschaft zwischen den Zeilen lesen, so verstand sie gewiss den Vorwurf der Krankenschwester. Unmerklich ballte Soul ihre Hände erneut zu Fäusten und stieß, gegen den Groll ankämpfend, langsam den angehaltenen Atem aus. Man spottete über Soul, tuschelte hinter ihrem Rücken, und die Menschen trauten einer Sechzehnjährigen das würdevolle Amt eines Champion nicht zu. Unter den zahlreichen Pflichten, die Soul nicht alleine zu schultern vermochte, würde das zierliche Mädchen zerbrechen. Energisch hob Soul das Kinn. Sollten die Menschen doch denken, was sie wollten! Wer hatte sich Team Rocket im Alleingang gestellt? Sie waren jedenfalls zu feige, um es herauszufordern! „Ja, tut mir Leid, dass ich Unruhe gebracht habe“, entschuldigte sie sich um die Etikette der Höflichkeit zu wahren. „Es war nur eine Frage der Zeit, bis Takeo und seine Bande vertrieben werden würden“, meinte die Krankenschwester seufzend. „Sie kannten diese Typen?“ Die junge Frau bejahte mit einem knappen Nicken. „Sie halten sich seit einigen Tagen in der Stadt auf, haben die Leute angepöbelt und Aufruhr verbreitet.“ „Ich denke, die kommen nicht so schnell wieder“, lachte Soul erheitert. Wenigstens gab es einen Lichtstreifen an diesem grauen Tag, der nicht enden wollte. Insgeheim war sie jedoch froh darüber, dass ihre Misslaune für etwas nützlich gewesen. „Vielleicht entspannt mich ein angenehmes Bad“, fügte Soul hinzu. „Können Sie solange meine Pokémon untersuchen?“ „Natürlich, ist ja schließlich mein Job.“ Soul löste die sechs Pokébälle von ihrem Gürtel, beorderte Impergator in den Seinen zurück, bevor sie ihre Pokémon der Krankenschwester übergab. „Vielen Dank“, sagte das Mädchen knapp und machte kehrt. „Ich werde sie mir später abholen.“ Schwester Joy nickte bestätigend und nahm die Pokébälle behütend in ihren Schutz. „Bis später“, konnte die Krankenschwester das Mädchen nur noch hastig verabschieden, denn Soul eilte, in Gedanken versunken, rasch davon. Stets auf’s Neue hatte sich Soul ermahnt, sich auf solche Provokation nicht einzulassen, versuchte sich an gewisse Stichworte zu halten. Ignorieren. Nicht ernst nehmen. Stark sein und gelassen bleiben. Zahlreiche Anweisungen standen Soul in den vergangenen Monaten zur Verfügung, sobald man über sie höhnte und lachte. Und doch hinterließen der Spott und die Verachtung Spuren. Die Folge waren Zweifel und Furcht. Furcht vor Konfrontationen. Furcht vor Verhöhnung. Furcht vor Erniedrigung. Eine einzelne Träne, die sie nicht zu verhindern wusste, rann über Souls gerötete Wangen. Verletzten die Worte des jungen Trainers ihr Selbstbewusstsein etwa so sehr, dass sie nun an sich zweifelte? Erneut schweiften ihre Gedanken ab. Ein blauer Schein wirbelte vor ihrem inneren Auge umher, bis er sich langsam zu verformen schien. Zugleich erschien die dunkle Silhouette Watarus vor ihr. Wataru… Der einzige Mensch, der an ihre Fähigkeiten glaubte und überzeugt war, dass sie dem Druck ihrer neuen Pflichten widerstünde, hatte sie gar als eine starke und mutige junge Frau bezeichnet. Soul öffnete die halbgeschlossenen Augen, in denen sich Tränen gesammelten hatten. Wataru irrte sich! Sie war nicht stark und auch nicht mutig. Was sie wirklich war, war das Erscheinungsbild eines jämmerlichen Mädchens, das nicht wusste, wie sie mit einer Niederlage umzugehen hatte. Nicht aus eigener Kraft konnte sie dem Schmerz solch tiefer Wunden überwinden, sondern war auf die Hilfe Anderer angewiesen. Ein Schluchzen entkam ihrer Kehle. Das Bild ihrer Augen verschwamm in Tränen. Sie begann zu schwanken, als sie die alte, hölzerne Treppe betrat, die unter jedem Schritt grässlich knarrte. Als zwei Trainer heiter lachend die Treppe hinab schritten, wischte sich Soul rasch die Tränen aus den Augen und ermahnte sich nicht mehr zu jammern. Es waren nur noch wenige Schritte bis Soul an ihrer Zimmertür angelangt war; es lag rechts vom Gang und war das Einundzwanzigste. Doch die junge Trainerin hielt inne. Sich nicht mehr entmutigen lassen, fügte sie ihren Gedanken leise seufzend hinzu. Dann schüttelte das Mädchen den Kopf und fingerte in ihrer Handtasche nach ihrem Schlüssel, auf dem eben jene verschnörkelte Zimmernummer, die Einundzwanzig, eingraviert war. Ein leises Klacken ertönte, als das Schloss entriegelt wurde, und mit einem ebenso vertrauten Geräusch die Tür wieder in die Verriegelung zurück fiel, als Soul, noch immer nachdenklich, hinter sich zu zog. Dunkel war es in dem Raum. Soul machte sich nicht die Mühe das Licht einzuschalten. Niedergeschlagen setzte sich das Mädchen auf das Bett und ließ sich, nachdem sie einige Zeit in die Finsternis gestarrt hatte, erschöpft auf den Rücken fallen. Erneut kreisten ihre Gedanken, waren Erinnerungen an den vergangenen Stunden. Vor Souls innerem Auge erschien Silver, und sie verspürte ein zartes Gefühl von Wehmut. Es war seltsam, wie sehr er sich doch geändert. Damals hatte Soul ihn als Dieb kennen gelernt. Er hatte ein Pokémon, sein Endivie, welches inzwischen zu einem stattlichen Meganie heran gewachsen war, aus dem Labor von Professor Utsugi gestohlen. Wie grausam, kaltherzig und stolz er doch gewesen war! Seinen Pokémon gegenüber zeigte er zu keiner Zeit Zuneigung oder Mitgefühl. Vertrauen und Dankbarkeit waren Fremdwörter für ihn gewesen. Und doch war Silver der Beweis, dass sich Menschen zu ändern vermochten, auch wenn die Wurzeln ihrer Persönlichkeit nie gänzlich verschwanden. Bei diesem Gedanken verzogen sich ihre Lippen zu einem schwachen Lächeln. Sein Stolz hatte ihm verboten mit ihr als Team zusammen zu arbeiten, und doch hatte er auf sein Herz gehört, obwohl sie stets geglaubt hatte, dass er keines besäße. Erneut entkam ein tiefes Seufzen dem Mädchen, bevor sie sich auf die Beine raffte und sich entschied ihr wohltuendes Bad zu nehmen. Das Badezimmer war modern eingerichtet. Blau waren die Fliesen, freundlich und hell, während die Kacheln am Boden weiß waren. Akzente wurden gesetzt, indem man dunklere Blautöne in die Wand gesetzt hatte. Souls Finger tasteten an den Wasserhahn und zog diesen leicht nach vorne. Soul hielt die Finger in den Strahl, doch ihr fröstelte es sogleich. Zu kalt! Im Sommer war die Kühle eine Wohltat, aber im nahenden Winter empfand sie ein armes Bad als angemessen, um die Kälte zu verjagen. Soul richtete sich auf und löste die Schnallen ihrer Hose. Die Träger erschlafften, sodass sie sich der unbequemen Jeans entledigen konnte. Hernach vergrub sie ihre Finger im Stoff ihres T-Shirts und zog dieses über den Kopf. Achtlos warf sie vollkommen zerknittert es zu Boden. Das Mädchen rieb sich die Oberarme, die sie um ihren Oberkörper geschlungen hatte, während sie darauf wartete, dass die Badewanne gänzlich mit Wasser gefüllt war. Vorsichtig ließ sie sich in das warme Nass und schloss verträumt die Augen. Inzwischen waren bereits eineinhalb Stunden vergangen, nachdem Soul sich ein erfrischendes Bad genommen hatte. Nachdem sie sich angekleidet und ihre wenigen Habseligkeiten an sich genommen hatte, begab sich die Trainerin in die Eingangshalle des Pokémon Centers, um, wie versprochen, ihre Pokémon von Schwester Joy abzuholen. Danach wollte Soul sich ins Restaurant des hiesigen Pokemon Centers setzen. Zu dieser Stunde herrschte dort reges Treiben. Vielleicht fand sie für den heutigen Abend eine nette Unterhaltung, die sie etwas von ihren Gedanken ablenkten? „Ich habe bereits auf dich gewartet“, wandte sich die Krankenschwester an Soul, die soeben an die Theke heran getreten war. Sie blickte auf ihre sechs Bälle, die sorgfältig auf einen Tablett lagen. „Ich hoffe, dass ich Sie nicht zu lange hab warten lassen“, entschuldigte sich die junge Champion. Sanft glitten ihre Finger über die Bälle, von denen bloß drei die üblichen Standard-Pokébälle waren. Darin befanden sich Seth, ihr Impergator, Meganie namens Riku und ihr eigenwilliges Despotarweibchen Gaia. Die Anderen waren andersfarbig. Daemons Ball war ein Finsterball, ein Pokéball von schwarzgrüner Farbe. Gefangen in einem blauen, der von gelben Balken verziert war, einem Flottball, war ihr Tauboss, Velox, und Lyrana, das Ampharos, war in einem Freundesball gefangen worden. Grün war die Grundfarbe jenes Balls, während rote Ornamente ihn verzierten. Soul richtete wieder ihren Blick auf Schwester Joy. „Ist meine Bande Ihnen auch nicht allzu sehr auf die Nerven gefallen?“ Verneinend schüttelte Schwester Joy den Kopf. „Nein, sie haben sich sehr gesittet verhalten, obwohl sie vor nur so Kraft strotzen.“ Erleichtert seufzte Soul. Sie war jedes Mal froh zu hören, dass sich ihre Pokémon auch benehmen konnten. Schon so manche Situation hatte Soul zum Grübeln gebracht. Einst hatten sie ein derartiges Chaos in einem Pokémon Center angerichtet, sodass Soul sich nur noch gewünscht hatte vor Scham im Boden zu versinken. „Ich muss ihnen wohl auch danken“, sagte das Mädchen höflich, nachdem sie die sechs Pokébälle an ihren rechtmäßigen Platz deponierte. „Auch wenn mir der Besuch beim Ältesten keine Erleuchtung gebracht hat, war es gut nach Ebenholz City zu kommen.“ Unwillkürlich dachte sie an das unerwartete Treffen mit Silver und den Kampf an seiner Seite. Seine Gesellschaft hat ihr gut getan, nicht das Gespräch mit dem Ältesten. Gut getan? So ein Schwachsinn!, schalt sich Soul verbissen und verdrängte rasch wieder den aufkeimenden Gedanken. Schwester Joy lachte. „Ja, es gibt nur wenige Personen, die seine Worte verstehen, beispielsweise sein Enkel Wataru“, erwiderte sie. „Es war jedoch schön dich mal wieder zu sehen.“ Soul lächelte. Es gab tatsächlich noch Menschen, die ihre Anwesenheit genossen! „Ich danke Ihnen.“ Sie sah auf ihren PokéCom und entschied, sich nun ins Restaurant des Pokémon Centers zu begeben. Daher verabschiedete sich Soul mit einem knappen „Bis später“ und wandte sich zum Gehen um. „Warte!“, hielt die Krankenschwester sie auf und veranlasste, dass Soul sich irritiert zu ihr drehte. Joy kam auf sie zu, mit einem zusammengefalteten Papier in der Hand. „Diesen Brief habe ich von einem Jungen bekommen. Ich soll ihn dir geben“, sprach sie und übergab das zerschlissene Papier an Soul. „Einem Jungen?“, wiederholte Soul, die ihre Finger ausstreckte, und nun hastig den Zettel entfaltete, um den Inhalt in sich aufzusaugen. „Ja, bevor er ging“, erwiderte Joy, doch Soul schien ihre Worte nicht zu vernehmen. Mit jeder Zeile, die sie las, zitterten ihre Finger mehr. Mit einem apathischen Blick, dennoch einem sanften Lächeln auf den Lippen, starrte sie ins Leere. Dann aber richtete sie ihre Augen auf Schwester Joy. „Wann?“, keuchte sie wispernd. „Wann ist er gegangen?“ Überrascht schaute Joy das Mädchen an und schaute auf die Uhr. „Vor einer dreiviertel Stunde, schätze ich.“ „Verdammt!“, rief Soul unabsichtlich mit erhobener Stimme. „In welche Richtung?“ Konnte sie ihn noch einholen, obwohl der Vorsprung, den er hatte, bereits zu groß war? „Zur Route fünfundvierzig, schätze ich.“ Rasch schulterte sie ihre Tasche, vergewisserte sich hastig, ob sie ihre Pokémon sicher verstaut hatte, bevor sie unter Zeitdruck stehend sagte: „Vielen Dank nochmals, aber ich muss jetzt wirklich gehen!“ Beinahe fluchtartig begab sich Soul mit eilenden Schritten zum Ausgang. „Aber! Es ist beinahe zweiundzwanzig Uhr“, versuchte die Krankenschwester das Mädchen aufzuhalten, jedoch ignorierte sie die Einwände der Älteren. Sie durfte nicht mehr zögern, wenn sie ihn noch einholen wollte! Zögernd, einen Schritt vor den Anderen setzend, bewegte sich durch die Finsternis. Eines dunklen Schleiers gleich hatte sich die Dunkelheit um das Mädchen gelegt. Obwohl sie Daemon an ihrer Seite wusste, fühlte sie ihr hämmerndes Herz. Tief bohrte sich ein beklemmendes Gefühl in ihre Brust. Die Angst. Jedes noch so leise Geräusch, sogar der Wind, der mit den Blättern spielte, veranlasste jedes Mal, dass sich eine kalte Kralle der Furcht um ihr schwaches Herz schloss. Besinnend schloss Soul die Augen, atmete tief durch, jedoch vermochten sich ihre angespannten Muskeln nicht zu lösen. Wäre sie doch im Pokémon Center geblieben! Warum hatte sie gedacht, dass sie ihn einholen konnte? Dumm musste Soul sein, als dass sie glaubte sich alleine, ohne menschliche Begleitung, in der Nacht zurecht zu finden! Und noch dümmer war es, dass nach einer Person zu suchen, von der sie noch nicht Mal wusste, in welcher Richtung diese gegangen war! Ein Noctuhschrei zog durch die Nacht. Schrill und durchdringend war jenes Kreischen. Erschrocken blickte Soul gen Himmel. Bloß flatternd vermochte Soul zu erkennen, dass sich der Uhu entfernte. Tief in die Nacht verschwand das Pokémon, begleitet von seinen schaurigen Rufen. Minuten verstrichen, indem Soul Noctuh verschreckt hinterher blickte. Das Blut geriet in Wallung. Panik überkam das Mädchen und presste sich die Hände auf ihre Ohren, bis die auf- und abschwellenden Schreie verklangen. Lautlos näherte sich Hundemon seiner Trainerin, die er behutsam mit der Schnauze gegen die Hand stupste. Seine intelligenten Augen sahen das Mädchen einige Momente an, bevor sich ein Lächeln auf ihr Gesicht stahl. Ihre Anspannung löste sich und glaubte gar, dass ihr Herzschlag begann sich wieder zu normalisieren. Die Finger streckte Soul aus, um Hundemons Schnauze liebevoll zu kraulen. „Es ist blöd, dass ich denke, ich wäre alleine, oder, Daemon?“ Ein tiefes Grollen entgegnete der Schattenhund seiner Trainerin. Sie war nicht alleine. Sechs ausgewachsene, starke Pokémon waren an ihrer Seite, die sich für Soul aufopfern würden. „Komm, Daemon“, lächelte seine Trainerin auffordernd. Einen Herzschlag lang zögerte das Mädchen, bevor sie langsam ihren Weg fortsetzte, begleitet vom geräuschvollen Knirschen des Sandes und des Kies unter ihren Füßen. Sie bewegte sich in einer kargen Landschaft, die von den Ausläufern der Dunkelhöhle geprägt worden war. Dementsprechend war die Flora dieser Umgebung nicht besonders üppig, sondern eher abweisend und karg, obwohl ein reißender Fluss sich seinen Weg mitten durch den zerklüfteten Canyon bahnte. Einzelne Grashalme klammerten sich an den ausgedörrten Boden und boten den kleinen Pokemon zumindest ein wenig Schutz vor der unerbittlichen Sonne dieser Gegend. Es verstrich eine weitere Stunde, in der sie keinen Hinweis auf den Aufenthaltsort des Trainers fand, und Zweifel begannen sich in Souls Herz zu bohren. Zudem schwand das unsichere Gefühl nicht, beobachtet zu werden, welches sich in ihrem Magen festgesetzt hatte. Ein weiteres Vogelkreischen durchzog die Stille der Nacht, und Soul konnte keinen erschreckten Schrei unterdrücken. Mit geweiteten Augen glitten ihre Augen unruhig umher. „Du gehst weiter“, flüsterte Soul. „Du gehst weiter!“ Leise murmelnd schritt das Mädchen weiter, jagte weiter einem Phantom nach, den sie zu suchen gedachte. War er überhaupt dieser Route gefolgt? Vielleicht hatte sich Schwester Joy ja geirrt? Sollte sie vielleicht umkehren? Nein!, dachte sie stur. Ich kann nicht umkehren. Wie soll ich überhaupt zurückfinden? Ich muss weiter suchen! Ihr blieb nichts anderes übrig, als dem Pfad weiter zu folgen. Ein kühler Windhauch streifte ihre Haut und überzog sie mit einer schaurigen Gänsehaut. Wie ein gehetztes Tier drehte Soul ihren Kopf in jede Richtung. Schmerzhaft pochte ihr Herz in ihrer Brust, ihr Blut rauschte in ihren Ohren, während ihre Finger kalt und schwitzig wurden. Hundemons aufgerichteter Schweif peitschte kurz, sein Kopf wandte sich blitzschnell um. Dort im Dickicht! Ein Rascheln?! „Ist da wer?“, rief Soul ängstlich in die Finsternis. Keine Antwort. Sie schluckte und drängte sich an Hundemon, der die Furcht seiner Trainerin spürte, und, was auch immer dort draußen lauerte, mit einem tiefen Knurren warnte. Abermals bewegte sich das hohe Gras, während das verräterische Knacken eines Astes an ihr Ohr drang und sich Souls Körper unwillkürlich anspannte. „Wer ist da?“, erklang erneut ihre zittrige Stimme, als Soul eine dunkle Silhouette erkannte. Doch wieder bekam die Trainerin keine Antwort. „Daemon?“ Dunkle Augen sahen das Mädchen durchdringend an, dann nickte der Schattenhund, während er seinen Kopf abwandte und eine Pfote vorsetzte. „Nicht nötig“, erklang eine männliche, tiefe Stimme. Langsam löste sich aus den tiefen Schatten ein Junge, dessen flammendrotes Haar im fahlen Mondlicht rubinfarben funkelte, während seine Haut blass war und einen seltsam kränklichen Eindruck machte. Pfeifend verflüchtigte sich der angehaltene Atem. „Silver!“, entkam ihr ein erleichterter Ausruf. Seit wann war sie so froh, ihn zu sehen, als zu dieser Stunde? „Ach, du bist es.“ Kühl klangen seine kargen Worte, nachdem er Soul wenige Herzschläge später erkannt hatte. „Warum bist du mir gefolgt?“ Und ebenso kühl musterte Silver das Mädchen, welches ihn wie ein verschrecktes Damhirplex ansah. Jegliche Verwirrung war ihm nicht anzumerken. Soul senkte den Blick, versuchte fieberhaft Worte zu finden, die ihr in diesem Moment als angemessen schienen, aber alles, was sich in ihren Gedanken in den Vordergrund drängte, war die Frage, warum sie ihm gefolgt war. „Du-Du hast mir di-diesen Brief geschrieben.“ „Ja, und? Um mich daran zu erinnern, bist du mir nachgelaufen?“ Ein Grinsen umspielte Silvers Lippen. „Ist das nicht eigentlich so, dass du mich sehen wolltest?“ Erzürnt blickte Soul den Jungen an, der sie mit einem arrogant kühlen Blick ansah. Wie gern würde sie ihm diese Überheblichkeit austreiben! „Nein!“ Energisch stampfte sie mit dem Fuß auf den Boden, um ihrer Aussage Kraft zu geben. „Träum weiter, du eingebildeter Großkotz!“ Wie ein wütendes Snobilikat funkelte das Mädchen ihn an, und Silver wusste, dass sie auch so launenhaft war, wie eines er wunderschön gefährlichen Pokémon war. Daher zog er es vor zu schweigen, als sie weiter zu erzürnen. Doch er unterließ es nicht, sie weiterhin grinsend anzusehen. „Ich wollte dir danken, dass ist alles“, fügte sie hinzu und unterstrich diese Erklärung mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Danken? Für was?“, wollte er wissen. Seine kalten, grauen Augen lagen auf ihr, machten sie nervös und diese Tatsache blieb ihm nicht verborgen. Soul aber wich seinem vielsagenden Blicken aus. „Ich… Ähm…“ Unruhig bohrten sich ihre Fingernägel in ihre Haut. Ja, für was wollte sie danken? Sie wusste es nicht! „Fü-Für deine Hilfe beim Kampf“, stammelte Soul, nicht wissend, dass sie errötete. „Und dafür bist du mir hinterher gerannt?“ Ungläubig schüttelte Silver den Kopf. „Dummes Mädchen.“ Er wandte sich von ihr ab und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. Langsamen Schrittes entfernte er sich von ihr. Als er jedoch merkte, dass Soul zögerte, drehte der Trainer ihr den Kopf zu. „Worauf wartest du? Du wirst da festfrieren, wenn du stehen bleibst.“ Beißende Belustigung lag in seiner Stimme. Am liebsten hätte Soul ihm Kontra gegeben, aber kein Laut drang aus ihrer Kehle. Stattdessen folgte sie Silver, hielt sich dicht an ihm, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. „Du bist mutig einfach so alleine in der Nacht herum zu spazieren.“ Ihre Hände begangen zu zittern, und um einen tiefen Schluchzer zu unterdrücken, biss sich Soul schmerzhaft auf die Unterlippe. „Ich bin nicht mutig“, hauchte Soul wispernd. Aus den Augenwinkeln betrachtete Silver die Brünette, die ihren Kopf gesenkt hielt. Mit einem kurzen Lachen wandte er sich von ihr ab. „Wenn du meinst“, waren seine einzigen Worte. Es vergingen bloß wenige Minuten, bis Silver und Soul an einen geschützten Ort kamen, der nahe an der Dunkelhöhle und versteckt zwischen Tannen verborgen war. Allem Anschein nach hatte sich Silver an dieser Stelle sein Nachtlager aufgeschlagen, denn in der Mitte eines errichteten Steinkreises flackerte ein helles Feuer. Rund einen Meter entfernt stand ein Campingkocher, auf dem sich eine Dose befand. Weißer Dampf zog von ihr auf und verströmte den angenehmen Geruch einer vor sich hin köchelnden Suppe. Sniebel, Silvers schwarze Wiesel, hob den Blick, als seine Pfoten frühzeitig die Erschütterungen des Bodens spürten. „Snie?“ Fragend verweilten die Augen auf Souls Antlitz, dann glitten sie auf seinen Trainer zurück, der den leeren Pokéball anhob. „Gut gemacht“, bedankte sich Silver bei seinem Pokémon, ohne auf Sniebels Skepsis einzugehen. „Du kannst dich nun ausruhen.“ Als der rötliche Lichtstrahl auf Sniebels grazile Gestalt traf, wurden seine Umrisse durchsichtiger, bis es sich gänzlich auflöste und nichts als die Luft hinterließ, die leicht silbern schimmerte. Nun wandte sich Silver an Soul, die unschlüssig stehen geblieben war. Ihre Augen streiften durch die erhellte Umgebung, rastlos und nervös wie sie war, fand sie keine Ruhe. „Du wirkst müde“, erklang Silvers Stimme, die beinahe ein leises Flüstern war und ihr eine Gänsehaut bereitete. Erschrocken sah sie den Jungen vor sich an, ein schwaches Grinsen auf den Lippen, während er ihr lässig, die Hände in den Hosentaschen vergraben, entgegen sah. „Möchtest du dich nicht setzen?“ Scheu wich Soul seinen Blicken aus, spürte aber, wie ihre Wangen vor Verlegenheit brannten. Warum fühlte sie sich nun wie ein verschrecktes Damhirplex? Hatte er vielleicht wirklich Recht mit seiner Vermutung, dass sie bei ihm sein sollte? Welch ein Schwachsinn dieser Gedanke doch war, schalt sie sich. Selbstbewusst straffte Soul ihre Schultern und hielt ihm mit trotzig vorgeschobenem Kinn stand. Dies hätte dieser Großkotz wohl noch gerne! „Doch“, widersprach sie knapp, aber höflich. Sie wusste, was gute Manieren war, auch Silver gegenüber, der sie sonst bloß herablassend und kühl behandelt hatte. Leisen Schrittes näherte sie sich ihm, der sich an einem bemoosten Felsbrocken niederließ und seinen Rücken an diesen lehnte. Genügend Schutz bot jener Stein vor den schneidenden Winden, die in diesem Tal üblich waren. Soul tat es ihm nach, die Beine nah an den Körper gezogen und die Arme um sie geschlungen, während sie sich an das kalte Gestein lehnte. Doch ein Frösteln durchrann das Mädchen. Ein Schauder zog sich über ihre Haut, sodass sie ihre Arme rieb, in der Hoffnung, dass dies sie wärmte. Diese Tatsache blieb dem Rothaarigen nicht verborgen. Aufmerksam musterte er Soul. „Ist dir kalt?“, wandte Silver sich an Soul, die leicht zusammen zuckte, als er sie ansprach. Zögernd aber nickte sie. „Ja, etwas“, gab Soul ehrlich zu, auch wenn sie am liebsten das Gegenteil geantwortet hätte, aber ihr eigener Körper hätte ihre Lüge aufgedeckt. Silver kehrte sein Gesicht von ihr ab und beugte sich vor. Er streckte seine Finger, die sogleich eine bereit gestellte Schüssel umfassten, und hernach goss er die dampfende Flüssigkeit mithilfe einer Kelle in das Behältnis hinein. „Hier. Die Suppe wird dich aufwärmen.“ Skeptisch betrachtete Soul die mit Suppe gefüllte Schüssel, hob den Kopf, um Silver ebenfalls eines kritischen Blickes zu würdigen. „Was ist mit dir?“ „Ich habe keinen Hunger.“ „Wirklich?“ Ihre rehbraunen Augen sahen ihn durchdringend an, versuchten zu erahnen, ob er eventuell log. Zu ihrer Enttäuschung stellte sie fest, dass sich der Junge in eine eiserne Mimik kleidete. Sie vermochte nicht zu erkennen, was in ihm vorging. Ob sie ihn zu wenig kannte? Gewiss war es so, denn Kaoru, ihren Kindheitsfreund, sah sie jede Stimmungsschwankung an, ganz gleich, wie sehr er versuchte diese vor Soul zu verbergen. „Wirklich“, beteuerte Silver gelassen, gleichsam eines sanften Lächelns auf seinen Gesichtszügen, und reichte die Schüssel an Soul, die ihm zwar noch immer zweifelnd ansah. Schließlich aber siegte doch der Hunger. Seitdem sie aus der Drachenhöhle ins Pokémon Center zurückgekehrt war und sich ein entspannendes Bad gegönnt hatte, hatte sie nichts gegessen. Eigentlich wollte sie sich einen schönen Abend in der Cafeteria des Pokémon Centers machen. Nachdem sich Soul dann aber überstürzt auf die Suche nach Silver gemacht hatte, hatte sie vollkommen vergessen etwas zu sich zunehmen. „Danke.“ Entspannt lehnte sich Silver zurück, während ein Grinsen seine Lippen zierte. „Iss, sonst wird die Suppe kalt“, erinnerte er Soul, die sich dieses Mal nicht zweimal ermahnen ließ. Hungrig widmete sich das Mädchen nun ihrer Mahlzeit. Sie nahm die Stäbchen in traditionell japanischer Manier auf, beugte sich vor und schlürfte genüsslich die Nudeln. Soul war besseres Essen gewöhnt; es war eine schlichte Nudelsuppe, auch genannt Shoyu-Ramen, dessen Brühe klar und leicht bräunlich war. Rasch erkannte Soul den starken Geschmack von japanischer Sojasauce, die üblich für einen Shoyu-Ramen war. „Deinem Gesicht zu urteilen, hast du etwas Besseres erwartet“, ließ Silver mit rauer Stimme verlauten. „Ich hab schon Mal Schlechteres gegessen“, verriet Soul mit einem Lächeln. Als sie an dieses Ereignis dachte, schmeckte sie einen bitteren Geschmack auf der Zunge, daher verdrängte das Mädchen schnell den unangenehmen Gedanken wieder. Die Jugendlichen verfielen in ein nahezu verlegendes Schweigen. Die Einsamkeit wurde durch eine unheimliche Stille erfüllt, bloß die leisen Geräusche der Nacht drangen an ihre Ohren. Irgendwo erklang ein andauernder schriller Ton, den Soul eine Weile lauschte, bevor ihr ein leises Seufzen entrann, während sie ihre Arme um die Beine schlang, die sie eng an ihren Leib gezogen hatte. Ihren Kopf bettete sie auf ihre Knie und schloss halb die Augen. „Du hast mich vorhin als mutig bezeichnet“, flüsterte sie leise, als die drückende Stille beinahe unerträglich wurde. Unbewusst ballten sich ihre Hände zu Fäusten und zitterten. „In Wahrheit bin ich ziemlich feige.“ Verzweifelt versuchte Soul ein Schluchzen zu unterdrücken. Hatte sie sich nicht geschworen, nicht mehr schwach zu sein? Sogleich fühlte sie Silvers Blicke auf sich ruhen und vermochte nicht zu sagen, was sie ausdrückten. Waren sie kalt? Mitfühlend? „Feige?“, wiederholte der Trainer. „Wie kommst du darauf?“ Soul versuchte seinen grauen Augen auszuweichen, als sie glaubte, dass sie ihm zu tief Einblick in ihre Seele gab. Einen kurzen Augenblick schwieg das Mädchen, bevor sie tief einatmete und fortfuhr: „Seit… Seit ich Team Rocket besiegt und Wataru geschlagen habe, begegnen mir manche Menschen, die mich als Heldin feiern… Ich…“ Silvers raues Lachen unterbrach Soul, die ihn nun zaghaft ansah. Er schaute sie ebenfalls an und mochte sich wohl bewusst sein, dass es ihr schwer fiel, sich ihm anzuvertrauen. Schließlich hatten sie zuvor kein sonderlich gutes Verhältnis zueinander gepflegt. „Wächst dir der Ruhm etwa über deinen Kopf?“, wollte er sanft wissen. Schwach lächelnd zuckte Soul mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, Silver, vielleicht hast du teilweise Recht“, erwiderte sie schwer seufzend, während ihre Blicke wieder fort wanderten, hinaus in die Dunkelheit starrend. „Manche Menschen verachten mich.“ Silver senkte den Kopf, schwieg. Ihrer Stimme schwang ein unterdrücktes Schluchzen bei, und er wusste nicht, wie er ihr helfen konnte. Zum ersten Mal fühlte sich der Junge hilflos. „Dir ist die Meinung anderer wichtig, nicht wahr?“, brach Silver die unangenehme Stille, aber erhielt keine Antwort. Schweigend blickte Soul teilnahmslos in die gähnende Leere der Finsternis und lauschte den Geräuschen der Nacht. Silver sah auf seine Hände herab, ballte sie zu Fäusten und entspannte seine Finger einen Herzschlag später wieder. Ihm war, als trenne eine unsichtbare Wand ihn von Soul, die er nicht zu überwinden vermochte. „Weißt du… Als ich jünger war, war mir auch die Meinung einer Person sehr wichtig.“ Soul hob den Kopf und schaute Silver an, ungläubig, dass er einst anders war, als er heute war. Sie konnte ihm ansehen, dass er sich unwillkürlich anspannte. „Wem?“ „Meinem Vater“, erwiderte Silver, während seine Hände sich zu Fäusten ballten. „Ich habe immer versucht es ihm recht zu machen, aber nie war er zufrieden.“ Er wandte ihr seinen Kopf zu, lächelte. „Diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass ich meinen eigenen Weg gehen muss. Daher tue das, was dir richtig erscheint.“ „Richtig?“ Melancholie erfüllte das Mädchen. Erneut verstärkte sie den Griff um ihre Beine, zog diese eng an ihren Körper, als stünde sie an einem Abgrund und versuchte Halt zu finden. „War es richtig, dass ich meine Pokémon in einen Kampf geschickt habe, von dem ich wusste, dass ich ihn verlieren würde?“ Als Silver sich in Schweigen hüllte, legte Soul ihren Kopf auf ihre Knie. „Ich habe gewusst, dass ich dem Kampf nicht gewachsen sein würde, und trotzdem habe ich Hideki herausgefordert.“ Abrupt spürte Soul den unfassbaren Blick ihres Rivalen auf sich ruhen. „Du hast Hideki, die Legende, herausgefordert?“ Zweifel lagen in Silvers Stimme, aber diese konnte Soul ihm nicht übel nehmen. Wohl niemand hatte den Mut gefunden, um gegen Hideki, den besten Trainer Johtos und Kantos, zu kämpfen. Sie aber hatte ihn herausgefordert. Und verloren. Ein Nicken bestätigte ihm seine Frage. „Auf dem Gipfel des) Silberbergs.“ Fassungslos schweiften seine Blicke von ihr ab. Immer wieder schaffte das Mädchen ihn zu beeindrucken. Sie war – wie sollte er es sagen? – einzigartig, draufgängerisch. Unerwartet lachte er schallend auf. „Und du willst nicht mutig sein! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich dich wahnsinnig nennen.“ „Nenn mich wie du möchtest“, sagte das Mädchen kühl. Tränen kullerten an ihren Wangen herab. Silver starrte sie an, sah ihre Tränen und fühlte, wie unangenehm es ihm war.„Äh… Weinst du?“, erkundigte er sich vorsichtig. Welch bescheuerte Frage! „Ich wollte dich nicht zum Weinen bringen.“ Als sie bloß ein leises Schluchzen erwiderte, fühlte Silver, dass sie ihm nicht gleichgültig war. „Du bist nicht feige, Soul“, versuchte Silver sie zu besänftigen, wohl darauf bedacht die richtigen Worte zu finden. Verdammt, so was lag ihm gar nicht! „Du hast Team Rocket zerschlagen, und du hast Wataru besiegt.“ Er verfiel in Schweigen, bevor er eindringlich hinzufügte: „Du bist das mutigste Mädchen, das ich je kennen gelernt habe.“ „Aber ich bin es nicht! Ich verstecke mich hinter meinen Pokémon, um anderen nicht zeigen zu müssen, dass ich in Wahrheit schwach bin“, schluchzte Soul und vergrub ihr Gesicht zwischen ihren Knien. „Soul“, flüsterte er leise, zögerte als er ihr eine Hand auf die Schulter legen wollte. Wie so oft in seinem Leben fühlte sich Silver hilflos, auch wenn das Wohlbefinden von Fremden ihn nicht interessierte. Aber bei Soul? Sie war so etwas wie eine Freundin geworden, obwohl er in der Vergangenheit nicht besonders freundlich gewesen war, sondern war ihr stets arrogant und kalt begegnet, dennoch hatte er etwas von ihr gelernt – zu vertrauen. Und es schmerzte ihn, sie unglücklich zu sehen. Oft hatte Soul ihn angespornt, ihm Mut gegeben. Daher verdrängte Silver jeden Gedanken an ihre Rivalität und legte einen Arm um das Mädchen, um sie an sich zu ziehen, während Soul es geschehen ließ. Die Finger krallte Soul in den schwarzen Stoff seiner Jacke und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter. Hemmungslos begann sie zu weinen, als fiele eine schwere Bürde von ihr herab. „Es ist normal, zu verlieren. Jeder verliert“, begann Silver zaghaft, der sich innerlich für seine Ratlosigkeit verfluchte, dennoch stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. „Ich muss es ja schließlich wissen. Du hast mir oft genug in den Hintern getreten.“ Er ließ seine Hände über ihren Rücken kreisen, versuchte sie zu beruhigen und war erleichtert, als der Tränenfluss verebbte. „Es ist normal, wenn man sich Gedanken macht, warum man verloren hat.“ Während sie ihren Kopf auf seiner Schulter ruhen ließ, wandte sie ihm den Blick zu. „Und was hast du getan, wenn… wenn ich dich besiegt habe?“ Nachdenklich lehnte sich Silver zurück und gewährte ihr, dass sie ihn weiterhin als Kopfkissen benutzen zu dürfen. „Ich habe trainiert wie ein Vollidiot, weil ich nicht verstanden habe, was dieser Drachenfreak damals zu mir gesagt hat“, sagte Silver, betonte seine Abneigung Wataru gegenüber, als er ihn indirekt nannte. „Dass meine gefühllose Art Pokémon zu trainieren falsch sei…“ Bedrückt schwieg der Junge und schaute in den schwarzen Himmel, an dem vereinzelt leuchtende Punkte zu sehen waren. „Ja, Vollidiot ist passend“, offenbarte Soul ihre Bezeichnung für ihn. „Wie oft du mich angerempelt umgestoßen hast… Ich hatte sicher unzählige blaue Flecken.“ Sie verfiel in ein melancholisches Lächeln. „Und wie sehr ich dich vor einiger Zeit noch gehasst habe, wie du deine Pokémon behandelt hast.“ Damals war noch alles so einfach gewesen. Sie war eine schlichte Trainerin, ohne Rang und Verantwortung. „Aber du hast dich verändert“, fügte sie flüsternd hinzu, während sie ihre Augen geschlossen hatte und tief durchatmete. Sein Geruch drang in ihre Nase, und da wurde ihr bewusst, dass sie noch immer an ihn schmiegte. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss und entwand sich seiner Umarmung. Verwirrt sah Silver sie an, begann jedoch zu feixen, als er ihre geröteten Wangen sah. Ob seines Grinsens entspannte sich das Mädchen wieder und sah auf den durchnässten schwarzen Stoff herab. „Ich hab dich voll geheult“, stellte Soul missmutig fest und deutete auf die feuchten Flecken. „Egal.“ Mit gesenktem Haupt saß sie neben ihm, schwieg. „Das… Das Gespräch hat sehr gut getan“, gestand Soul. In diesem Moment war sie der Wahrheit verpflichtet. Verleugnen konnte sie es nicht, dass sie sich durch Silvers Worte ermutigt fühlte, als ob sie aus einem langen Schlaf erwachte. „Danke.“ Silver schaute sie schwach lächelnd an, froh darüber, dass sie nicht mehr bedrückt wirkte. Er wollte Soul weder unglücklich noch entmutigt sehen. Das Mädchen war stets fröhlich, bezauberte ihre Mitmenschen mit ihrer nie enden wollenden Freude und Güte. „Was wirst du nun tun?“ Soul zuckte mit den Schultern, nicht wissend, was sie als nächstes tun sollte. Ein Hauch von Wehmut hüllte das Mädchen, als sie an ein Gespräch zwischen ihr und Kaoru dachte, der ihr damals mitgeteilt hatte, dass er nach Hoenn gehen wollte. Und sie? Sie war durch ihre Pflichten an Johto gekettet. „Ich weiß nicht. Vielleicht besuche ich mal meine Mutter und gönne mir eine Auszeit“, antwortete die junge Champion. Wie lange war es her, dass sie ihre Mutter besucht hatte? „Verstehe.“ „Und du?“ „Genau wie du“, gab Silver trocken zu. „Keine Ahnung.“ Erneut breitete sich Schweigen zwischen den Jugendlichen aus, die in die tanzenden Flammen des beinahe gänzlich herab gebrannten Lagerfeuers starrten. „Es ist spät. Wir sollten uns schlafen legen“, wies Silver schließlich auf die vorangeschrittene Zeit hin. Er deutete auf seinen Schlafsack, der rund zwei Meter vom Feuer entfernt lag. „Ich nehme an, du hast auch einen?“ Knapp nickte Soul und deutete mit einer Kopfbewegung auf ihre Taschen. „Liegt da“, sagte sie und erhob sich daraufhin. Sie machte sich daran den Schlafsack neben Silvers auf der Erde auszubreiten, während sie glaubte, dass Silvers Augen auf ihr ruhten. Eines kurzen Blickes warf Soul Silver zu, um sich zu vergewissern, dass dem wirklich so war. „Was ist?“ Ihre schroff klingende Frage riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah sie an, räusperte sich. „Nichts.“ Aber seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln, verrieten ihn seine Gedanken und ließ Soul bloß ungläubig mit dem Kopf schütteln. Sie verkniff sich jedoch eine spitze Bemerkung ob seines fragwürdigen Verhaltens. Stattdessen setzte sich Soul nun nieder und kletterte in ihren Schlafsack. Einen Moment später vernahm sie das Rascheln seines Schlafsackes, in den sich Silver zu legen schien. Dann kehrte erneut Stille ein. Eine Weile lag die Trainerin wach in ihrem Schlafnest, dachte schweigend nach. „Silver?“, erklang Souls behutsam wirkende Stimme. „Hm?“, war die leicht genervte Erwiderung. Der Stoff raschelte, als Silver sich zu ihr wandte. Auge im Auge sahen sie sich nun einander an. „Danke nochmals…“, flüsterte Soul, bevor sie sich abwandte und sich im Schlafsack zusammen rollte. Ihre Lider schlossen sich über ihren Augen, und Soul versank bloß wenige Minuten später in den Schlaf. Regungslos sah Silver das Mädchen an, lächelte. „Schlaf gut.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)